Trauma ist nicht alles (Leben Lernen, Bd. 304) - Luise Reddemann - E-Book

Trauma ist nicht alles (Leben Lernen, Bd. 304) E-Book

Luise Reddemann

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Beschreibung

Viele in unserem Land haben ihr Bedürfnis, Mitmenschen in Not beizustehen, in aktive Hilfe umgesetzt. Andere würden gerne helfen, hegen jedoch Befürchtungen, der Situation nicht gewachsen zu sein oder über zu wenig Expertise zu verfügen. Die AutorInnen geben in diesem Buch Einblicke in ihre langjährige Arbeit mit Geflüchteten und teilen ihre persönlichen Eindrücke und Erfahrungen. Sie arbeiten heraus, was gute Begleitung bedeutet: • In allererster Linie bereit sein zur Begegnung auf Augenhöhe • Mitgefühl sowie echtes Interesse am Gegenüber und seiner Geschichte zeigen • Ermutigung und Hoffnung geben Hilfreiche Anregungen aus dem traumatherapeutischen Ansatz von Luise Reddemanns PITT und Praxis-Tools ergänzen die Erfahrungsberichte. Nicht nur professionelle Helfer gewinnen hierdurch Sicherheit, sondern auch engagierte ehrenamtliche Begleiter. Dieses Buch richtet sich an - PsychologInnen und ÄrztInnen für Psychiatrie und Psychosomatische Medizin - SozialarbeiterInnen - Helfende und Begleitende

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Seitenzahl: 275

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Luise Reddemann, Ljiljana Joksimovic Simone D. Kaster, Christian Gerlach

Trauma ist nicht alles

Ein Mutmach-Buch für die Arbeit mit Geflüchteten

Zu diesem Buch

Nach wie vor ist der Bedarf an Begleitung und Hilfe für Geflüchtete riesengroß. Das Buch macht allen Fachleuten, wie Psychotherapeutinnen, Ärztinnen oder Sozialarbeiterinnen, aber auch ehrenamtlichen Helfern Mut, ihre Unterstützung anzubieten. Die Autoren und Autorinnen des Bandes berichten authentisch von ihren Erfahrungen in der Begleitung geflüchteter Menschen. Zahlreiche Hinweise zu den Besonderheiten in diesen Begegnungen sowie praktische Vorschläge aus den traumatherapeutischen Interventionsmöglichkeiten geben konkrete Hilfestellung. Eine zentrale Aussage des Buches lautet: Wir behandeln und begleiten Menschen, nicht Traumata! Mitgefühl, Respekt und echtes Interesse sind die Grundlagen, damit Menschen in Not wieder Mut schöpfen können. Gerade in Deutschland, dessen Erfahrungen mit Flucht und Vertreibung gerade einmal 75 Jahre zurückliegen, sollte dieses Wissen nicht verlorengehen.

Die Reihe »Leben Lernen« stellt auf wissenschaftlicher Grundlage Ansätze und Erfahrungen moderner Psychotherapien und Beratungsformen vor; sie wendet sich an die Fachleute aus den helfenden Berufen, an psychologisch Interessierte und an alle nach Lösung ihrer Probleme Suchenden.

Impressum

Leben Lernen 304

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2019 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Cover: Jutta Herden, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © rawpixel on Unsplash

Gesetzt aus der Dokumenta von Kösel Media GmbH, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-89241-3

E-Book: ISBN 978-3-608-11542-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20405-6

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1

Sich Begegnung (zu)trauen

1.1 Was Sie erwartet

1.2 Erste Begegnung mit Herrn Okeke

1.3 Erste Begegnung mit Frau Mulumba

1.4 Erste Begegnung mit Frau Schiller

1.5 Hinweise für die Praxis

Kapitel 2

Respektvoll begleiten, auch wenn wir nicht immer alles verstehen können

2.1 Was Sie erwartet

2.2 Noch einmal Herr Okeke

2.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 3

Vertrauen

3.1 Was Sie erwartet

3.2 Yohannes

3.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 4

Suizidalität und Krisen aushalten

4.1 Was Sie erwartet

4.2 Herr Okeke

4.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 5

Leichtigkeit zulassen: Plaudern als hilfreiche Art, Gespräche zu beginnen

5.1 Was Sie erwartet – eine längere Einleitung

5.2 Frau Nura und ihre Begleiter

5.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 6

Stellungnahmen in der Therapie

6.1 Was Sie erwartet

6.2 Frau Mulumba

6.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 7

Über die Notwendigkeit und über Grenzen der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen

7.1 Was Sie erwartet

7.2 Frau Mulumba

7.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 8

Kleine Schritte

8.1 Was Sie erwartet

8.2 Frau Ashija

8.3 Hinweise für die Praxis

Kapitel 9

Den ganzen Menschen sehen – Trauma ist nicht alles

9.1 Was Sie erwartet

9.2 Herr Okeke

9.3 Weitere Mutmachgeschichten

9.4 Hinweise für die Praxis

Kapitel 10

Therapieübungen

10.1 Schnelle Stabilisierungsübungen

10.2 Haptische Hilfsmittel und Bewegung

10.3 Ressourcenaktivierende Übungen

10.4 Imaginationsübungen

Kapitel 11

Woran wir noch denken sollten

11.1 Umgang mit dem Körper (feste Nahrung und Flüssigkeit) und evtl. Beschwerden

11.2 Umgang mit Geschenken

11.3 Netzwerkaufbau: Kontaktstellen und Internetadressen für die therapeutische Arbeit mit Geflüchteten

Kapitel 12

Grenzen des Einzelengagements wahrnehmen und darüber hinausgehen

12.1 Was Sie erwartet

12.2 Herr Jocanovic oder einfach Zivko

12.3 Herr Ali Badru

Kapitel 13

Über einen traumasensiblen und ressourcenorientierten Umgang bei Extremtraumatisierung

Kapitel 14

Blick zurück nach vorn: Wie sich die Folgen von Zweitem Weltkrieg, Flucht und Vertreibung in der Gegenwart auswirken

Zitierte Literatur

Weitere Literaturempfehlungen

Vorwort

Klaus Ottomeyer

Ungefähr vor 25 Jahren habe ich angefangen, neben meiner Lehrtätigkeit an der Universität Klagenfurt mit Kriegsflüchtlingen zu arbeiten. Wir haben länger gebraucht zu lernen, wie ein sinnvolles psychotherapeutisches Hilfsangebot aussehen kann. Unsere akademische Besserwisserei mussten wir auf jeden Fall ablegen. In unsere im Jahr 1999 auch formell gegründete Einrichtung »Aspis« (Schutzschild), die mit den »Psychosozialen Zentren« für Flüchtlinge in Deutschland vergleichbar ist, kamen später Angehörige anderer Flüchtlingsgruppen: aus dem Iran, aus Tschetschenien, aus Afghanistan, aus einigen afrikanischen Ländern und seit den allerletzten Jahren natürlich vor allem aus Syrien und aus dem Irak. Obwohl zwischen Kärnten und Nordrhein-Westfalen, wo die Autorinnen und Autoren des vorliegenden Buches arbeiten, 1000 Kilometer liegen und wir uns manchmal als ziemlich kleine Provinzeinrichtung fühlen, war ich beim Lesen immer wieder erstaunt und erfreut, wie ähnlich die Spannungsfelder und die Szenenbilder hier wie dort sind. Auch bei uns kann es passieren, dass eine Dolmetscherin aus Mitleid mit einem untergewichtigen Flüchtling zu Hause ein Gebäck nach einem Rezept aus seiner Heimat herstellt und wir dann zu dritt einen Teil der Therapiestunde mit Essen und Plaudern verbringen. Beides ist therapeutisch sinnvoll. Ein langsam entstehendes Gefühl der Sicherheit ist überhaupt das Wichtigste. Entlastend ist auch der Hinweis der Autorinnen und Autoren, dass man »nicht immer alles verstehen« kann, aber versuchen kann, so aufmerksam und empathisch zu sein, wie es uns möglich ist. Oft geht es nur um das Aushalten der Erzählung und das Umkreisen des Schreckens. Das Spüren der eigenen Irritation ist nicht zu vermeiden. Die Irritationen öffnen manchmal den Weg zu einer Annäherung an die traumatische Angst und die Kulturkonflikte, welche die Patientinnen beschäftigen. Man muss über das Land und die Kultur der Flüchtlinge auch gar keine umfangreichen Vorinformationen haben, wie manche Skeptiker behaupten, sondern man sollte versuchen, sich über das Irritierende und kulturell Befremdliche auszutauschen. Die meisten Flüchtlinge lieben es, wenn wir sie um landeskundlichen Nachhilfeunterricht bitten. Ich habe mich schon oft am Ende der Therapiestunde spontan bei einem Klienten oder einer Klientin bedankt, weil ich so viel bekommen habe: nicht nur Vertrauen, sondern auch sehr interessante Informationen aus einem ganz anderen Teil der Welt.

Eingebettet in die eher unspektakuläre Kommunikation, die sich um Alltagsprobleme der Flüchtlinge, um Beruhigung, Ermutigung und manchmal lustige kleine Geschichten dreht, kommt es natürlich auch zu fachlich-therapeutischen Interventionen oder bedeutsamen Wendungen, die dazu beitragen, dass sich das Befinden unserer Klientinnen spürbar verbessert. So habe ich mich mitgefreut über die von Simone D. Kaster erzählte Geschichte von »Herrn Ibrahimi«, der, wie sehr viele Flüchtlinge, von einer hartnäckigen »Überlebensschuld« gequält wird. Ein Kamerad starb nach einem Feuergefecht in den Armen von Herrn Ibrahimi. Herr Ibrahimi erlebte das schreckliche Bild immer wieder. Der Therapeutin gelingt es, den Patienten durch eine psychodramatische Technik, nämlich durch einen Wechsel von Stühlen und ein gespieltes Interview mit dem fachlich informierten Sanitäter, der Herr Ibrahim früher einmal war, aus dem Dauertief seiner Selbstvorwürfe herauszuholen. Die Überlebensschuld lässt sich nach meinen Erfahrungen erstaunlich leicht durch ein Spiel abmildern, zu dem auch die verstorbene oder zurückgelassene Person (oft die Mutter des Überlebenden) selbst psychodramatisch oder imaginativ eingeladen werden kann. Diese Person freut sich dann fast immer darüber, dass es zumindest dem Angehörigen oder Freund gut geht, der es geschafft hat, lebend in ein sicheres Land zu kommen.

Bescheide, wie der im Fall von Frau Mulumba erwähnte, sehen wir leider oft. Das Management der Empörung ist eine eigene Kunst, die man in unserem Geschäft lernen muss. Im vorliegenden Fall zeigt uns der Therapeut vorbildlich, wie man es trotz aller Widerstände und allen Ärgers machen sollte. Er versetzt sich in die Rolle eines argumentationswilligen Juristen der zweiten Instanz und erklärt ihm in einer schriftlichen fachlichen Stellungnahme Schritt für Schritt, dass und auf welche Weise das seltsame Verhalten und die fragmentierte, inkonsistente Erzählung eher als typische Traumafolgestörung und nicht einfach als Hinweis auf die mangelnde Glaubwürdigkeit der Asylbewerberin gesehen werden können. Und er darf sich freuen. Frau Mulumba bekommt Asyl und wirkt danach wie eine andere Person. Dies sind die Highlights, die wir manchmal haben. Viele Therapien drehen sich um solche Stellungnahmen, die so abgefasst und erklärt werden müssen, dass alle Beteiligten sie verstehen können.

Bei der Traumaverleugnung handelt es sich nicht so sehr um Bosheit und politische Willkür (die natürlich auch wirksam sind), sondern vor allem um unbewusste Abwehrmechanismen, die mit der Angst vor einem unsagbaren Grauen, vor einer Hölle mit entsetzlichen Qualen an Körper und Seele zu tun haben, die es in einigen Zonen unserer Welt tatsächlich gibt. Es gab sie auch in den Lagern und Folterstätten der Nazis. Die Vorstellung, dass eine albtraumartige Welt des Wahnsinns, ein »psychotischer Kosmos« uns in Gestalt der Opfer und ihrer Geschichten begegnen und unser Urvertrauen und den kindlichen Glauben an eine gerechte Welt zerstören kann, produziert eine reflexhafte Abwehr von Empathie. Hier spielt auch ein von der rechten Politik geschürter Geschwisterneid (auf die »nach uns Gekommenen«) hinein, der es erschwert, die Flüchtlinge (wie es an einer Stelle im Buch heißt) als unsere »Weltgeschwister« wahrzunehmen.

Als Therapeutinnen und Helferinnen sollten wir in Ruhe und Beruhigung vermittelnd weiterarbeiten. Weder Dauerprotest noch Überarbeitung sind hilfreich. Luise Reddemann hat einmal gesagt, dass wirksame Traumatherapie vor allem darin besteht, den Hilfesuchenden die Fähigkeit zur Selbstberuhigung zu vermitteln. Im Falle der Klientinnengruppe der Flüchtlinge ist das schwierig, leichter gesagt als getan. Das vorliegende Buch kann uns helfen, aus dem Einzelkämpferinnen-Gefühl, in welchem wir als Individuum und als Team manchmal stecken, herauszukommen und uns gegenseitig zu ermutigen.

Unbedingt zuzustimmen ist der These der Autorinnen, dass Therapeuten, welche mit Kriegs- und Terroropfern arbeiten, ihre eigene Familiengeschichte reflektieren sollten. Diese Geschichte ist, wenn man nur zwei oder drei Generationen zurückgeht, so gut wie immer mit Krieg, Verfolgung, Flucht oder Vertreibung verbunden, welche auch Spuren und Verhärtungen in uns hinterlassen haben. In den akademischen Ausbildungen wird das nicht vermittelt. Als ich beim Lesen über diese Bezüge nachdachte, kamen mir nach langer Zeit erstmals wieder die Bilder von der schlechten Behandlung einquartierter Flüchtlingsfamilien in den Sinn, die ich als Kind Anfang/Mitte der 50er Jahre noch miterlebt habe.

Das Thema Flucht und Vertreibung ist überall präsent.

Dr. Klaus Ottomeyer ist em. Professor für Sozialpsychologie in Klagenfurt, Vorstand des Kärtner Forschungs- und Beratungszentrums für Traumaopfer »Aspis«.

Einleitung

Dieses Buch richtet sich an ärztliche und psychologische Psychotherapeuten, aber auch an Ärztinnen und Ärzte anderer Fachgebiete, insbesondere für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Sozialarbeiterinnen und andere Helfende, die Geflüchtete besser verstehen möchten und ihnen beistehen wollen auf einer Basis von Respekt und Mitgefühl. Das kann im Rahmen von Richtlinien-Psychotherapie geschehen, aber auch durch andere Formen der Begleitung, z. B. im Rahmen »niederfrequenter Psychotherapie«, Krisenintervention, psychiatrischer Beratung und Behandlung, sozialarbeiterischer Beratung und Begleitung. Sie alle möchten wir einladen, sich auf die eine oder andere Weise zu engagieren, denn der Bedarf ist laut der ersten bundesweiten Untersuchung zum gesundheitlichen Zustand von Geflüchteten, die vom wissenschaftlichen Dienst der AOK durchgeführt und ausgewertet wurde, riesengroß. Allein drei Viertel der in Deutschland lebenden Geflüchteten aus den wichtigsten Herkunftsländern Syrien, Afghanistan und dem Irak  – hochgerechnet mehr als 600 000 Menschen – seien laut Studie oft gleich mehrfach traumatisiert1. An einer weiteren deutschen Studie nahmen 200 erwachsene syrische Flüchtlinge mit einer Aufenthaltserlaubnis teil: Hiervon war jeder Dritte an einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), Depressionen oder einer generalisierten Angststörung erkrankt2. Nach wie vor gibt es zu wenige Therapeutinnen, die sich bereit erklären, psychotherapeutische Hilfe für geflüchtete Menschen anzubieten. Wir wissen, dass nicht jeder und jede Traumatisierte eine psychotherapeutische Einzelbehandlung benötigt – häufig auch nicht an erster Stelle. Verschiedene Arten von Hilfen, wie z. B. die Unterstützung durch Ehrenamtliche und Laienhelferinnen, können entlastend sein. Daher gehen wir davon aus, dass auch helfende Laien von diesem Buch profitieren können, wenn es um tieferes Verstehen geht.

Wer wir sind

Wir, die wir dieses Buch schreiben, sind die Psychotherapeutin Simone D. Kaster und der Psychotherapeut Christian Gerlach, die lange neben eigener Praxistätigkeit in einem Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge mitgearbeitet haben, eine Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Ljiljana Joksimovic, die aufgrund persönlicher Erfahrungen als Migrantin und Geflüchtete seit Jahrzehnten im Bereich der klinischen Behandlung von Zugewanderten und Geflüchteten tätig und engagiert ist, und eine Psychiaterin und Psychotherapeutin, Luise Reddemann, die sich seit über drei Jahrzehnten mit der Behandlung von traumatisierten Menschen befasst. Wir kommen aus verschiedenen Therapieschulen und erlebten unseren Austausch während des Entstehungsprozesses dieses Buches als sehr fruchtbar und bereichernd. Wir kommen auch aus unterschiedlichen beruflichen Kontexten: Praxis, Klinik, Beratungsstelle. Es ist uns daher bewusst, dass in einer Einzelpraxis nicht alles geleistet werden kann, was in den Arbeitsstrukturen einer Beratungsstelle oder einer Klinik möglich ist. Dennoch hoffen wir, dass unsere Ausführungen auch für niedergelassene Kolleginnen und Kollegen hilfreich sind, sich zuzutrauen, Geflüchtete zu begleiten oder zu behandeln. Es wurde uns sehr deutlich, dass es uns allen in unseren unterschiedlichen Praxisfeldern um gelingende Beziehungen mit den Klientinnen geht. Die Tatsache, dass wir aus vielfältiger und unterschiedlicher professioneller Erfahrung schreiben, dass wir jeweils in unserem persönlichen Stil schreiben, mag zeigen, dass Teamwork, fachlicher Austausch und Diversität der Perspektiven im Umgang mit den hier beschriebenen Herausforderungen sehr sinnvoll sind. Vielleicht kann dies an der einen oder anderen Stelle aber auch irritieren, und eventuell wird hierdurch der Lesefluss beeinträchtigt. In unseren Augen jedoch stellt gerade diese Vielfalt ein wertvolles Abbild der Arbeit mit Geflüchteten dar, sodass wir bewusst auf die einheitliche Stilisierung des Textes verzichtet haben.

Bevor wir im Folgenden einige unserer Grundhaltungen beschreiben und auch, welchen Themen Sie in diesem Buch begegnen werden, möchten wir uns bei Frau Annette Windgasse und Frau Monika Schröder für ihre hilfreichen Anregungen für das Buch bedanken.

Ethische Grundhaltung

Eine ethische Grundhaltung ist uns ein Anliegen, daher verweisen wir auf das Ethikhandbuch des Weltärztebundes. Hier heißt es in der neuesten Version der World Medical Association, dass der Arzt/die Ärztin verspricht: »to consecrate my life to the service of humanity« und »the health and wellbeing of my patient will be my first consideration«. Dies wird dann weiter ausgeführt mit »I will respect the autonomy and dignity of my patient«3.

Dies kann eine Orientierung für alle Helfenden sein, selbst wenn sie nicht direkt ärztlich-therapeutisch tätig sind. Sein Leben dem Dienst an der Menschlichkeit zu weihen, das sind große Worte, vor denen man zurückschrecken kann. Wir lesen sie aber auch als Ermutigung und vor allem so, dass die Ärzte, die das formuliert haben, nicht meinen, dass Einzelne von uns die Welt retten können, sondern dass unser Dienst an jeder einzelnen Patientin/an jedem Patienten sinnvoll ist. Manche Kollegen scheinen Angst vor der Aufgabe zu haben, sich um Geflüchtete in ihren Praxen zu kümmern, und erwarten große Probleme, denen sie sich nicht gewachsen fühlen. Wir wünschen uns, den Lesern diese Ängste nehmen und Vorbehalte ausräumen zu können; wir haben aber auch Respekt vor den Bedenken, weil wir sie von uns selbst kennen. Weiter unten gehen wir unter der Überschrift »Können wir alle retten?« auf dieses Dilemma näher ein. Wir werden auch Überlegungen anstellen zum würde- und mitgefühlsorientierten Umgang mit Geflüchteten. Auch wenn in einer Einzelpraxis anders gearbeitet werden muss und eine multiprofessionelle bzw. interdisziplinäre Arbeit wie z. B. in einer Beratungsstelle oder Klinik in dieser Weise nicht möglich ist, hoffen wir, dass unsere Ausführungen auch für niedergelassene Kolleginnen hilfreich sind, Geflüchtete zu behandeln oder zu begleiten. Wir unterscheiden dies, weil nicht jede/r Geflüchtete Psychotherapie will oder benötigt, selbst wenn er – oder sie – traumatisiert ist.

Wir behandeln und begleiten Menschen, nicht Traumata! Die Menschheit wäre längst untergegangen, wenn Traumatherapie allein helfen würde, denn diese gibt es bei großzügiger Rechnung allenfalls seit einem guten Jahrhundert, nämlich seit dem Ersten Weltkrieg. Damals machten sich einige Psychoanalytiker, u. a. auch Freud, Gedanken, wie man traumatisierte Soldaten behandeln könne4.

Wir möchten Sie einladen, sich kurz in das folgende Szenario hineinzuversetzen, weil wir davon ausgehen, dass das, was wir hier verdeutlichen möchten, Einfühlung voraussetzt.

Stellen Sie sich bitte vor: Sie sind gezwungen, Ihre Heimat kriegsbedingt zu verlassen oder weil Sie einem mörderischen System entkommen möchten. Sie können nur mitnehmen, was Sie auf dem Leib tragen; nach langer, beschwerlicher und teils lebensbedrohlicher Flucht kommen Sie in einem anderen Teil Ihres Landes an. Dort hoffen Sie, wieder ein Zuhause zu finden, denn dort leben Verwandte, Freunde, zumindest aber Menschen, die Ihre Sprache sprechen und die ihre Heimat nicht verloren haben. Sie hoffen, freundlich und verständnisvoll aufgenommen zu werden und Mitgefühl und Gastrecht zu erfahren. Doch weit gefehlt. Man begegnet Ihnen mit großem Misstrauen, man lässt Sie spüren, dass Sie unerwünscht sind, dass man in Ihnen einen minderwertigen Menschen sieht, der zu Recht seine Heimat verloren hat. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Ihnen solches widerfahren würde, wenn Sie erleben müssten, dass Jahr um Jahr sich nichts ändert und sogar Ihre Kinder, die bereits dort geboren werden, wo Sie versuchen, eine neue Heimat zu finden, immer noch als Fremde, als Unerwünschte, Minderwertige behandelt werden?

Würden Sie darum kämpfen, dass Sie eine Entschädigung erhalten, dass Sie, sobald das möglich ist, wieder zurückkönnen in die verlorene Heimat? Würden Sie resignieren? Würden Sie versuchen, sich dort, wo Sie jetzt sind, so gut anzupassen, dass in Vergessenheit gerät, woher Sie kommen und was Sie erlitten haben? Welche anderen Wege würden Sie beschreiten, um mit dem, was Sie durchgemacht haben, fertig zu werden? Und wie würden Sie sich fühlen, wenn schließlich Ihre Kinder oder gar Enkel von Ihnen Genaueres wissen wollten? Würden Sie schweigen wollen und meinen, man solle um Himmels willen diese alten Geschichten in Ruhe lassen, oder erleichtert beginnen, über das lang Unterdrückte zu sprechen?

Dieses und Ähnliches ist hierzulande nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Menschen widerfahren, und vieles spricht dafür, dass diese Erfahrungen immer noch nachwirken, nicht zuletzt transgenerational. Dass dies so ist, bestätigt sich neuerdings durch zahlreiche öffentliche Zeugnisse von alten Menschen, die jene Zeit miterlebt haben. Es spricht auch vieles dafür, dass die Verarbeitung oder Nichtverarbeitung der hieraus entstandenen Probleme über Wohl und Wehe der Menschen mitentscheiden kann, die jetzt hilfesuchend zu uns kommen. Seit Langem hören wir Klagen von Menschen, deren Eltern und Großeltern Flüchtlinge waren, wie sehr sie teils durch Erzählungen, teils auch durch »sprechendes Schweigen« der Vorfahren belastet waren bzw. sind. Und wie es scheint, führt die Familiengeschichte teilweise zu mehr Verständnis für die Geflüchteten, die heute zu uns kommen, leider aber auch zu großer Feindseligkeit. Was möglicherweise dadurch erklärt werden kann, dass direkt, aber auch transgenerational Betroffene vermeiden, an die alten schmerzhaften (Familien-)Geschichten erinnert zu werden.

Beispielhaft beschreibt Hans-Ulrich Treichel in seinen Werken, wie ihm als Kind von Flüchtlingen zumute ist. »Und so habe ich mich, der ich aufgrund meines Geburtsortes ein WESTFALE genannt werden könnte, in Wahrheit mehr als ein Pole denn als ein Deutscher oder gar Westfale gefühlt, obgleich auch für mich meine Eltern in erster Linie Menschen aus der Fremde waren, MENSCHEN AUS DEM OSTEN, mit denen mich, der ich in Westfalen geboren war, keine gemeinsame Herkunft verband«5. Hans-Ulrich Treichel wurde 1952 in Versmold in Westfalen geboren. In den meisten seiner Bücher ging es immer wieder um das Thema »Heimatverlust der Eltern« und seine damit einhergehende jahrzehntelange Sprach-Verwirrung. Damit brachte er etwas zum Ausdruck, was viele seiner Generation betrifft. »Alle Antworten, die mir gegeben wurden, haben immer nur die verwirrendsten und abwegigsten Geschichten hervorgebracht, in denen neue Namen, Jahreszahlen, Ereignisse auftauchten und die meine Fragen erstickten und erledigten … (So) beschloss ich, nie wieder auch nur einen einzigen Gedanken an diesen Ort und an diese Frage zu verschwenden und meine Eltern als herkunfts- und antwortlos zu erklären. Doch diese herkunft- und antwortlosen Wesen, die meine Eltern irgendwann einmal für mich geworden sind, haben mir immer wieder neue Geschichten erzählt und mir immer wieder neue Antworten auf meine nun nicht mehr gestellten Fragen gegeben, und mit jeder weiteren Geschichte und mit jeder weiteren Antwort hat sich die Wahrheit über die Herkunft meiner Eltern, die ja nicht zuletzt auch die Wahrheit über meine eigene Herkunft war, immer weiter verzweigt«6.

Genauer lässt sich das psychische Elend, das aus einer unverarbeiteten und unbetrauerten Vergangenheit der Eltern resultiert, wohl kaum beschreiben; und dass diese weiterwirken kann.

In mancher Gruppentherapie ist die Hälfte der Teilnehmer Kinder von Vertriebenen mit schrecklichen Erfahrungen. Sogar wenn diese Kinder weit nach dem Krieg geboren wurden, wurde all das Entsetzen, all die Furcht der Eltern weitergegeben. Und häufig eben die Identitätsunsicherheit mit der Frage: Wo gehöre ich hin?

Zur Sprache kommen Themen wie Vertreibung, Flucht, Schrecken, Schutzbedürfnis, Albträume, Ängste, Hilflosigkeit, Todesangst, Identitätsverlust, Tod, Kontrollverlust, Scham- und Schuldgefühle.

Außerdem Fragen nach der Bedeutung der Erfahrungen. Und auch: Vertrauen, Kontrolle, Orientierung, Ordnung, Öffnung, Hoffnung, Anpassung, Perspektiven, Abschied, um nur einiges zu nennen.

Die hier genannten Themen können viele Menschen betreffen, die ihre Heimat verloren haben, insbesondere, wenn dies unter Gewaltbedingungen geschehen ist. Und auch deren Kinder und Enkel. Die Themen gelten auch für all diejenigen, die jetzt aus anderen Ländern zu uns kommen und unseres Verständnisses und unserer Hilfe bedürfen. Wir kommen im letzten Kapitel unter der Überschrift »Blick zurück nach vorn« nochmals ausführlicher auf die historischen Zusammenhänge zu sprechen.

Viele von uns kennen solche und ähnliche Erfahrungen. Wir können fähig sein, uns einzufühlen, nicht zuletzt, weil wir ähnliche Erfahrungen, persönlich oder transgenerational vermittelt, kennen, allerdings nur dann, wenn wir uns mental und gefühlsmäßig erlauben, uns einzufühlen in uns selbst und unseren Schmerz.

Was gebraucht wird

Wir möchten einladen, nicht zuletzt aufgrund dieser Kenntnisse unserer Geschichte, sich zuzutrauen, Geflüchteten beizustehen. Je belasteter jemand ist, desto ähnlicher wird das, was jemand benötigt, dem, was alle Menschen in Not benötigen.

Ein trauernder und verzweifelter Mensch ist ein trauender und verzweifelter Mensch, egal, wo er herkommt, welche Sprache er spricht und welcher Religion er angehört.

Und er braucht Mitgefühl, Ermutigung und das Nähren von Hoffnung.

Dazu gehört, Geflüchtete trotz aller Traumata auch immer wieder als die starken und mutigen Menschen zu sehen, die sie einst waren und immer noch sind, dies kann ressourcenreiche innere Anteile wieder verfügbarer machen.

Wir möchten einigen Vorurteilen widersprechen. Wir wünschen uns, dass viele unserer Kolleginnen sich entschließen, sich auf die eine oder andere Weise um Geflüchtete zu kümmern. Es muss nicht immer eine große Psychotherapie sein, es kann sogar eine Entscheidung helfen, einem Menschen als Mitmensch beizustehen. Wir kennen einige Kolleginnen, die sich auf den Weg gemacht haben, auf die letztgenannte Art zu helfen, und dies als befriedigend erleben. Und wir kennen einige Flüchtlinge, die gerade diese Art des Helfens als sehr wohltuend erleben.

Wir möchten auch empfehlen, dass Helfende Hilfesuchenden deren Mut bewusst machen. In unseren Fallgeschichten wird einerseits deutlich, welches Grauen die Betroffenen durchlitten haben und wie viel Kraft sie aufgebracht haben, um zu überleben. Es wird deutlich, wie viel an wohlwollender Begleitung und Unterstützung manche von ihnen nach der Flucht benötigen. Es geht uns darum, beides wahrzunehmen: das Leidvolle und daneben auch Resilienz und Ressourcen. Wichtig ist abzuwägen, was in den Blick genommen werden sollte und welche Hilfe unsererseits sinnvoll ist. Hier einige Beispiele, die in weiteren Kapiteln ausführlich beschrieben werden7:

Trotz jahrelanger Folter war Herrn Okekes Ja zum Leben nicht gebrochen worden. Er trug eine immense innere Kraft in sich, die ihn nie hat aufgeben lassen, weder unter Folter noch unter sehr schweren Bedingungen während seines Asylverfahrens. Er hat den Blick nach vorne gerichtet und sein Leben im Rahmen seiner Möglichkeiten immer selbst »in die Hand genommen«. Trotz einer großen kulturellen Entfernung lernte der Therapeut in der Behandlung von Frau Mulumba, dass uns als Menschen mehr eint, als uns die unterschiedliche Sozialisierung entfremden mag – Mensch bleibt Mensch. Hinter einer komplexen dissoziativen Symptomatik schlummerten viel Kraft und Entschlossenheit, sich für die eigenen Kinder und für das eigene Leben einzusetzen. Durch eine Behandlung, in der auch die therapeutisch sehr wirkungsvollen Möglichkeiten fachlicher Stellungnahmen genutzt wurden, ließen sich zuvor vergessene Fähigkeiten zur Selbstfürsorge und Selbstorganisation wieder freilegen. Nebenbei durfte in die bunte und energiegeladene kongolesische Kultur eingetaucht werden, und es ließ sich erspüren, wie viel Entschlossenheit und Lebenswillen in dieser Frau stecken, die trotz Traumatisierung für ihre Familie tagtäglich gegen Armut und Widrigkeiten gekämpft hatte.

Dank seiner großen Ressourcen konnte Herr Ibrahimi innerhalb kurzer Zeit zurück in seinen Beruf, was zeigt, dass es Fälle gibt, bei denen auch eine Kurzzeittherapie schon vieles bewirken kann.

In der Behandlung von Yohannes durfte der Therapeut erleben, wie ein junger Mann, der nicht mehr an die Güte von Menschen glauben konnte, seine Fähigkeit zu vertrauen zurückerlangte. Es ermutigte zu sehen, wie der Funken des Vertrauens und der Hoffnung im Rahmen einer ehrlichen, respektvollen und vertrauensvollen therapeutischen Beziehung wieder an Kraft gewann. Es erinnert an die Worte Nelson Mandelas: »Die Güte des Menschen ist eine Flamme, die zwar versteckt, aber nicht ausgelöscht werden kann.«

In der Begleitung von Frau Hasani hat es der Therapeutin Hoffnung gegeben, dass in einer Frau, die 17 Jahre in absoluter Zurückgezogenheit gelebt hatte, ganz langsam Mut und Vertrauen wachsen konnten und die Teilhabe am sozialen Leben möglich wurde. Obwohl die Patientin die Bearbeitung ihres Traumas ablehnte, gab es der Therapeutin Mut zu merken, dass auch durch die therapeutische Beziehung viel Heilsames bewirkt werden konnte.

Für Herrn Zivko öffnete die Therapie die Möglichkeit, sich mit dem so oft tabuisierten Thema der innerfamiliären Gewalt und Zwangsehen zu beschäftigen. Der Therapeutin hat Mut gegeben, dass sie den verborgenen Schutzcharakter der Zwangserkrankung des jungen Mannes bald verstehen konnte. Seine Erkrankung schützte ihn vor der Zwangsverheiratung, die von der Familie als ein Weg gesehen wurde, ihm zu helfen. Für ihn war aber die Intimität mit einer Verwandten unvorstellbar. Die Therapeutin wurde auf Schicksale von Männern aufmerksam, die, wahrscheinlich häufiger als von ihr bisher angenommen, zwangsverheiratet werden.

Die Therapie mit Herrn Ahmed bereicherte durch wunderschöne Metaphern und kraftgebende Geschichten aus einer reichen und weltoffenen Kindheit. Der Therapeut durfte zwischenzeitlich zum Schüler dieses historisch und gesellschaftspolitisch gebildeten Arbeiters werden und erleben, wie dieser Rollenwechsel dem Patienten half, seine inneren Reichtümer wieder spüren und nutzen zu können.

Eine Herausforderung kann es sein, wenn Menschen sich zwar aus Trauerzuständen lösen möchten, jedoch ohne ihre bisherigen kulturellen Überzeugungen zu verletzen. Es stellt sich dann die Frage, welche angemessenen Formen des Wiederfindens von Freude möglich sind, die nicht unbedingt immer unseren entsprechen! Das kann herausfordernd sein.

Es trifft nicht immer zu, dass man die Sprache der anderen gut sprechen können muss (siehe Beispiel S. K.) oder dass Geflüchtete ein sehr gutes Deutsch sprechen müssen (siehe Beispiel L. J.). Was benötigt wird, ist einerseits Respekt vor der Differenz, d. h. vor den Unterschieden, was übrigens in jeder Psychotherapie wichtig ist und in jeder zwischenmenschlichen Begegnung! Und andererseits ein freundlicher Blick auf alles, was uns alle miteinander verbindet. Schließlich Respekt vor Erfahrungen, die uns nur von den Betroffenen selbst erklärt werden können, weil wir entweder das Glück hatten, sie nie gemacht haben zu müssen oder sie in dieser Form nicht gemacht haben. Es braucht die Bereitschaft, Schubladendenken aufzugeben und neue Räume zu betreten.

Jede und jeder von uns fühlt sich besonders herausgefordert, wenn offensichtlich zutage tritt, dass es Klienten nicht besser gehen »darf«. Zum Beispiel diejenigen, die Kinder oder auch alte Eltern in unsicheren Situationen zurückgelassen haben. Oder auch solche, die reale Angst um Angehörige haben oder Angehörige von Verschollenen sind.

Wir gehen davon aus, dass wir, um diese Anliegen zu erfüllen, Mitgefühl und Gerechtigkeitssinn benötigen. Mitgefühl scheint inzwischen »angekommen« zu sein. Es sollte nicht nur den Patientinnen und Patienten gelten, sondern auch uns selbst, um unsere Grenzen freundlich anerkennen zu können.

Der Hirnforscher Fabrizio Benedetti8 schrieb, dass Hoffnung zu haben für Patienten und deren Heilung wichtig ist und – das ist uns besonders wichtig! – dass es der mitfühlende Arzt oder die mitfühlende Ärztin ist und alle Begleitenden, die Hoffnung bei ihren Patientinnen durch ihr Mitgefühl hervorrufen. Wir ergänzen: wenn die Patienten oder Begleiteten es zulassen können! Es scheint eine direkte Verbindung zwischen Hoffnung und Mitgefühl im Prozess der Behandlung und ggf. Heilung oder auch Linderung zu geben.

Hoffnung zu haben ist etwas, das Möglichkeitsräume eröffnet, und zwar jetzt, nicht in einer nicht beeinflussbaren Zukunft.

Unsere Erfahrung mit zahlreichen traumatisierten Menschen ist, dass viele sich immer schon mit heilkräftigen Vorstellungen getröstet und so Hoffnung/Vertrauen und Mut geschöpft haben, um zu überleben.

Bei aller Diskussion, die über »falsche Signale« geführt wird, sollten wir aus therapeutischer Sicht bedenken, dass das Hoffen-Können auf ein Leben in Sicherheit in einer stabilen Demokratie ein großer Resilienzfaktor sein kann. Überhaupt die Kühnheit zu besitzen, an einen Ort der – zumindest relativen – Freiheit, Sicherheit, Menschlichkeit und Fairness zu glauben, wenn die täglichen Erfahrungen im Heimatland – und leider manchmal auch im Land der Zuflucht – nur zu zeigen scheinen, dass Menschen missgünstig, brutal und egoistisch sind, ist an sich bereits ein Wunder. So können Patient und Therapeutin gemeinsam Hoffnungsanker finden.

Es geht darum, Hoffnung zu nähren, wenn sie bereits da ist; häufig aber auch, erst einmal Räume für Hoffnung zu eröffnen. Dazu ist es wichtig, dass wir selbst Hoffnung haben, denn wir können sie kaum ermöglichen und fördern, wenn wir selbst hoffnungslos sind.

Hoffnung wird erleichtert, wenn Begleitende präsent sind, sich Zeit nehmen und wenn sie Informationen auf mitfühlende, aufrichtige und respektvolle Art geben und sich zugewandt verhalten. Fürsorgliches Verhalten wie achtsame Gesten und Warmherzigkeit und Echtheit fördern ebenfalls Hoffnung.

In der Psychotherapieforschung sind es Forscher wie Bruce Wampold9, die nicht müde werden, darauf hinzuweisen, dass es die therapeutische Beziehung ist, eine therapeutische Beziehung, die vor allem dazu dient, die Selbstheilungsmöglichkeiten oder die salutogenetischen Faktoren herauszuarbeiten, die viel mehr zum Erfolg einer Behandlung beitragen als irgendeine Methode oder Technik – Wampold spricht von »common factors«. Demnach ist es wichtig, dass Behandlerinnen und Begleitende so für sich und die, die sie begleiten/behandeln, sorgen, dass Hoffnung und vor allem Mitgefühl auf welche Art auch immer stets zugänglich sind.

Wir möchten an dieser Stelle an die Erzählung vom barmherzigen Samariter erinnern. Der Samariter entstammte einem fremden Volk, nämlich dem als religiös minderwertig angesehenen, verachteten Nachbarvolk. Und das bedeute ja wohl, meint Steinkamp, »dass Christen Compassion (auch) von anderen lernen können«. Wir könnten miteinander erfahren, dass Compassion kein christliches »Sondergut« ist, sondern ein »Geschenk des Himmels« an alle Menschen, »die guten Willens« sind. Compassion ist das lateinische oder auch englische Wort für Mitgefühl10. Daraus ergibt sich auch die Frage:

Können wir allen helfen?

Im Kontext unseres gemeinsamen Nachdenkens über unsere Begegnung mit Geflüchteten kam immer wieder die Frage auf, wie weit unsere Verpflichtung geht, andere (Fremde) zu unterstützen, und wir bemerkten, dass wir uns oft in einem Zwiespalt befanden.

Können wir freundlich mit uns sein und doch versuchen, uns in die Not anderer einzufühlen? Wollen wir uns fragen, ob wir Liebgewordenes ein wenig zur Seite schieben wollen? Würde uns das vielleicht sogar Freude machen? Es kommt auch die Frage auf: Was hat wirklich Bedeutung für mich? Was halte ich für wesentlich im Leben?

Wir bemerkten, dass es um Ohnmachtsgefühle gehen kann und dass es helfen könnte, sich zu fragen, ob man sich wirklich ohnmächtig fühlen muss, wenn man nicht die Welt retten kann. Es kann bereits helfen, sehr genau hinzuschauen; sich nichts vorzumachen, die eigenen Grenzen zu respektieren. Aber vielleicht fühlt es sich manchmal gut an, wenn ich meine Grenzen ein wenig überschreite?

Vielleicht ist es aber auch gar nicht nötig, die eigenen Grenzen zu überschreiten, um helfen zu können. L. J. empfindet, dass Menschen, deren wertvolle Hilfe sie als Geflüchtete erfuhr, nicht unbedingt ihre eigenen Grenzen überschritten haben. Vielmehr haben sie den ihnen auferlegten Grenzen die Stirn geboten, indem sie manchmal nur einfach ihre Meinung gesagt haben (siehe Beispiel Frau Schiller). Das half auch und machte vor allem Hoffnung, dass es noch mehr dieser Menschen gibt, die bereit sind, sich zu widersetzen, wenn sie Unrecht sehen.

Unsere Grundhaltung

Wir fragten uns, was im Zusammenhang mit Helfen ein »Tropfen auf den heißen Stein« eigentlich heißt. Wörtlich genommen heißt es ja wohl, dass alles verpufft, keinerlei Wirkung zeigt. Vielleicht würde es helfen, sich so realistisch wie möglich klarzumachen, dass auch kleine Dinge, z. B. ein einmaliges Gespräch, einiges bewirken kann. Das ist nichts Großes, aber eben doch etwas, was nicht verpuffen muss, sondern Wirkung zeigen kann. Es wurde uns immer klarer, dass es um das Zurückschrauben von großen Ansprüchen geht und um eine würdevolle Anerkennung dessen, was uns möglich ist.

Wir bemerkten, dass für uns neben Mitgefühl Gerechtigkeit eine zentrale Bedeutung hat11. Wenn wir uns als Erwachsene mit Gerechtigkeit gegenüber unseren Weltgeschwistern befassen, sollten wir uns eingestehen, dass es in der Tat sehr viel Ungerechtigkeit gibt, und uns gegebenenfalls fragen, inwieweit es helfen könnte, sich mehr politisch zu engagieren, und dass wir diesen Mangel an Engagement für soziale Fragen nicht mit Beratung oder Psychotherapie – wenn überhaupt – ausgleichen können12. Wir sind aktuell privilegiert, und nicht zuletzt deshalb entscheiden wir uns, uns zu engagieren. Das Ergebnis des Engagements kann in der Flüchtlingshilfe immer nur begrenzt sein. Daher ist es uns wichtig, die eigenen Grenzen dessen zu erkennen, was uns möglich ist, um nicht zu resignieren. Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes halten wir für eine bedeutsame Ermutigung13.

Mitgefühl14 hat damit zu tun, dass man spüren kann, wie es einem anderen geht, und dass man Hilfreiches – Heilsames heißt es auch – bewirken will. Dabei sollte aber die Freundlichkeit sich selbst gegenüber nicht unter den Tisch fallen. Ehrlich mit sich sein, sich nicht größer und großzügiger machen wollen, als es eben geht, hat Bedeutung.

Ohne dass wir uns vorstellen können, was gut ist für uns selbst und andere, können wir nicht gerecht sein. Dankbarkeit als eine Empfindung, die erkennen lässt, dass andere uns wohltun, kann das Bedürfnis fördern, dafür zu sorgen, dass es allen gut gehen sollte.