Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung - Luise Reddemann - E-Book

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung E-Book

Luise Reddemann

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Beschreibung

Die Bezeichnung „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ steht für ein Spektrum von Störungsbildern, das typischerweise als Folge chronischer und kumulativer Traumatisierungen auftritt. Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen befinden sich häufig in einem festgefahrenen Muster von Kontrollverlust, Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Eine Therapie, die auf einzelne Symptome wie z.B. Depression oder eine „einfache“ Posttraumatische Belastungsstörung fokussiert, wird ihnen häufig nicht gerecht. Der vorliegende Band stellt ein psychodynamisches therapeutisches Vorgehen für diese Patientengruppe vor. Es hat zum Ziel, die Selbstheilungstendenzen zu fördern und so eine gesunde Weiterentwicklung der Person zu ermöglichen. Nach einer Beschreibung des Konzepts der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung wird auf Störungstheorien und -modelle sowie das diagnostische Vorgehen eingegangen. Ausführlich erläutern die Autoren anschließend die Therapie. Ein zentraler Aspekt der Behandlung ist es, mithilfe gezielter Interventionen die Wiederaufnahme des Traumaverarbeitungsprozesses zu fördern. Dazu gehören z.B. Imaginationen zur Emotionsregulierung, die Benennung, Validierung und Differenzierung von Gefühlen und die Förderung der Selbstfürsorge. Ebenso werden Voraussetzungen und Methoden für die Traumaexposition illustriert. Ein abschließendes Kapitel geht auf die Wirksamkeit der Behandlungsmethode ein.

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Luise Reddemann

Wolfgang Wöller

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

Praxis der psychodynamischen Psychotherapie –

analytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie

Band 11

Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung

Prof. Dr. Luise Reddemann, PD Dr. Wolfgang Wöller

Herausgeber der Reihe:

Prof. Dr. Manfred E. Beutel, Prof. Dr. Stephan Doering, Prof. Dr. Falk Leichsenring, Prof. Dr. Günter Reich

Prof. Dr. Luise Reddemann, geb. 1943. Nervenärztin und Psychoanalytikerin. 1985–2003 Leiterin der Klinik für Psychotherapie und psychosomatische Medizin des Evangelischen Johannes-Krankenhauses in Bielefeld. Seit 2007 Honorarprofessorin für Psychotraumatologie und psychologische Medizin an der Universität Klagenfurt. Durchführung zahlreicher Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen.

PD Dr. Wolfgang Wöller, geb. 1952. Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie sowie für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytiker. Ärztlicher Direktor und Leitender Abteilungsarzt der Abteilung 1 (Schwerpunkt Traumafolgeerkrankungen) der Rhein-Klinik, Krankenhaus für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Bad Honnef. Lehrtätigkeiten an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, am Institut für Psychoanalyse und Psychotherapie Düsseldorf sowie in Kigali/Ruanda.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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[email protected]

www.hogrefe.de

Satz: Beate Hautsch, Göttingen

Format: EPUB

1. Auflage 2017

© 2017 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2301-2; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2301-3)

ISBN 978-3-8017-2301-9

http://doi.org/10.1026/02301-000

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Anmerkung:

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Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1 Beschreibung der Störung

1.1 Bezeichnung

1.2 Definition

1.3 Epidemiologische Daten

1.4 Verlauf und Prognose

1.5 Differenzialdiagnose

1.6 Komorbidität

2 Störungstheorien und -modelle

2.1 Traumagenese

2.2 Psychoanalytische Modellbildungen

2.3 Dissoziations- und Gedächtnisforschung

2.4 Neurobiologisch fundierte Entwicklungs- und Bindungsforschung

3 Diagnostik

3.1 Diagnostik der Symptomatik einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung

3.2 Diagnostik psychischer Traumatisierungen

3.3 Diagnostik dissoziativer Störungen

4 Behandlung

4.1 Allgemeine Prinzipien der Arbeit mit komplex traumatisierten Patientinnen

4.1.1 Psychodynamisches Beziehungsverständnis

4.1.2 Phasenorientiertes Vorgehen

4.1.3 Förderung salutogenetischer Faktoren und Ressourcenaktivierung

4.1.4 Keine Entfaltung der Pathologie in der therapeutischen Beziehung

4.1.5 Stellenwert von Imaginationen

4.1.6 Beobachtende Haltung

4.1.7 Strukturbezogene Interventionen

4.1.8 Ego-State-Arbeit

4.2 Therapeutische Beziehung

4.2.1 Aufbau und Aufrechterhaltung einer haltenden Beziehung

4.2.2 Parteiliche Abstinenz

4.2.3 Der Umgang mit Übertragungsphänomenen

4.3 Psychoedukation

4.4 Traumaspezifische Stabilisierung (Phase 1)

4.4.1 Imaginationen zur Emotionsregulierung

4.4.2 Schutz vor weiterer Traumatisierung

4.4.3 Benennung, Validierung und Differenzierung von Gefühlen

4.4.4 Eigene Bedürfnisse wahrnehmen

4.4.5 Selbstfürsorge fördern

4.4.6 Progressionsorientierte Interventionen

4.4.7 Stärkung des Selbstwertgefühls

4.4.8 Zusammenfassung

4.5 Traumaexposition (Erinnerungsarbeit) (Phase 2)

4.5.1 Voraussetzungen

4.5.2 Beobachtertechnik

4.5.3 Hinweise zur Anwendung von EMDR bei komplex traumatisierten Patientinnen

4.6 Die Phase des Trauerns und Neubeginnens (Phase 3)

4.7 Umgang mit speziellen Situationen

4.7.1 Selbstverletzendes Verhalten

4.7.2 Grenzüberschreitungen und destruktive Persönlichkeitsanteile

4.7.3 Aggressives Verhalten

4.7.4 Maligne Introjekte

4.7.5 Dissoziative Symptome

5 Wirksamkeit der Methode

5.1 Allgemeines zur Wirksamkeitsforschung bei Komplexer Posttraumatischer Belastungsstörung

5.2 Die Studie von Lampe et al. über das Konzept der Psychodynamischen Imaginativen Traumatherapie (PITT)

5.3 Weitere Studien mit vergleichbaren Konzepten zur Behandlung der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung

6 Literatur

|1|Einleitung

Komplexe Traumatisierungen können die gesunde Entwicklung der Persönlichkeit nachhaltig prägen und negativ beeinflussen. Wie bei körperlichen Wunden gibt es einen natürlichen Heilungsverlauf auch bei seelischen Verletzungen, daher streben wir mittels einer psychodynamischen Traumatherapie an, uns an diesen „natürlichen Heilungsverlauf“ anzuschließen. Die Förderung natürlicher Selbstheilungstendenzen mittels Therapie kann langfristige Erfolge ermöglichen, weil Patientinnen lernen, auch im nachtherapeutischen Zeitraum mit sich selbst weiterzuarbeiten1.

Bei den manualisierten Vorschlägen zur Behandlung von Traumafolgestörungen geht es uns darum, pathogene wie salutogene Tendenzen aufzugreifen, Ressourcen zu stärken und Reifungsprozesse zu fördern. Wir verstehen psychodynamische Traumatherapie als eine Form der Psychotherapie, die nicht nur den traumatischen Prozess, sondern das gesamte Krankheitsgeschehen der Verhinderung einer Entwicklung einer gesunden Persönlichkeit aufgreift, um es in eine salutogene Richtung zu lenken. Wir sind daher bemüht, an den Entwicklungsprozess des Kindes, der Jugendlichen oder jüngeren Erwachsenen dort wieder anzuschließen, wo er unterbrochen wurde, und streben an, eine kreative Weiterentwicklung der Person zu unterstützen.

Wir gehen außerdem davon aus, dass Symptome – eben weil die Patientin deren progressiven, salutogenen Anteil in ihr Selbst- und Weltverständnis integrieren kann – auch als Ressource genutzt werden können. Das Therapieziel in der psychodynamischen Traumatherapie beschränkt sich daher nicht auf die Beseitigung von Symptomen, wenngleich wir es für notwendig erachten, Patientinnen bei der Bewältigung von Symptomen, die zu massiven Beeinträchtigungen führen, frühestmöglich zu einer verbesserten Selbstkontrolle und vor allem Selbstberuhigung anzuregen.

Entsprechend verfolgt das therapeutische Vorgehen zwei Ziele:

mithilfe gezielter Interventionen die Wiederaufnahme des Traumaverarbeitungsprozesses zu fördern,

progressive Entwicklungsschritte zu unterstützen.

|2|Traumafolgestörungen bzw. der Zusammenhang zwischen der sich präsentierenden Belastungssymptomatik und der Erfahrung multipler frühkindlicher Traumatisierungen werden häufig nicht erkannt bzw. erfragt. Das führt dazu, dass Patienten in einzel- oder gruppentherapeutischen Sitzungen ohne ausreichende Stabilisierung für sie extrem belastenden Erinnerungen ausgesetzt werden. Die unvorbereitete und manchmal auch unreflektierte Aufforderung zu erzählen, führt dann schnell zu einer für die Patientin unkontrollierbaren Affektüberflutung, die zu einer Symptomverstärkung oder gar einem Therapieabbruch führen kann.

Versteht man unter Traumakonfrontation das detaillierte Erinnern traumatischer Ereignisse, verbunden mit dem Erleben zum Teil extrem schmerzhafter Gefühlszustände und körperlicher Abreaktionen, so sollte dieses niemals ohne eine vorhergehende Stabilisierungsphase und die Sicherstellung von innerer und äußerer Sicherheit stattfinden.

Die Traumaverarbeitung kommt erst dann zu einem Abschluss, wenn die Persönlichkeit in der Lage ist, Erinnerungen und Gefühle im Zusammenhang mit dem Trauma bewusst hervorzurufen, ohne ihnen verhaftet zu bleiben. Ein weiteres Kriterium ist die Integration der traumatischen Erfahrung in die Selbststruktur und Ich-Identität.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das Ziel der Therapie vor allem bei Men-made-Desastern die Wiederherstellung der persönlichen Sicherheit und Identität der Betroffenen ist. Es geht uns daher um Kontrolle von Dissoziationen, Stärkung und Integration des Selbstbewusstseins und des Selbstwerterlebens sowie der Selbstwirksamkeit unter Einbezug der Innenwelt in ihrer ganzen Tiefe und Breite in den therapeutischen Prozess. Die Arbeit mit den „Gestalten der inneren Bühne“, bei der wir uns am Ego-State-Modell nach Watkins und Watkins (2012) orientieren, erscheint uns notwendig im Sinne der Nachreifung der Persönlichkeit. Für einen psychodynamischen Zugang halten wir es für entscheidend, den inneren Zusammenhang der Symptomatik zu verstehen.

Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass wir bei unserem Modell der psychischen Traumatisierung von der Annahme ausgehen, dass der Prozess der Traumaverarbeitung auch sozialer Natur ist bzw. dass er durch soziale Faktoren massiv beeinträchtigt werden kann. Wird den Opfern nicht jene Anerkennung und Unterstützung zuteil, die von ihrem Gerechtigkeitsempfinden her angebracht erscheint, so kann sich das erschütterte Selbst- und Weltverständnis nicht regenerieren. Das Trauma bleibt „unfasslich“. Die Betroffenen fühlen sich fremd in einer sozialen Welt, die das Unrecht, das ihnen widerfuhr, als solches nicht anerkannt hat. Auch durch – äußerlich betrachtet – geringe „Dosen“ von Retraumatisierung kann der Erholungsprozess unterbrochen werden. Die Betroffenen können dann die Hoffnung auf einen relativen Abschluss des Verarbeitungszyklus und eine Restitution |3|ihres erschütterten Weltverständnisses verlieren. Nicht zuletzt deshalb ist es uns ein wichtiges therapeutisches Anliegen, Hoffnung zu ermöglichen.

Wir wollen im Folgenden anhand einer fiktiven Patientin, die aber in allen Details realen Patientinnen entspricht, darstellen, wie wir arbeiten. Auf diese Patientin, Frau X, wird also im Laufe des Buches immer wieder eingegangen werden.

Fallbeispiel: Erstkontakt

Frau X, Mitte 40, hat sich zur Behandlung angemeldet mit folgenden Beschwerden: Sie könne „fast gar nicht schlafen“. Seit dem Tod ihrer Mutter vor gut einem Jahr leide sie an Depressionen, Panik, Schuldgefühlen. Schon lange leide sie unter nicht erklärbaren Unterbauch- und Menstruationsbeschwerden.

Die Anamneseerhebung erweist sich als schwierig, da die Patientin bei vielen Fragen nicht in der Lage erscheint zu antworten, sie scheint in dissoziative Zustände zu geraten. Daher erklärt ihr die Therapeutin, dass es ihr wichtig sei, dass dieses Gespräch nicht dazu führe, dass der Zustand der Patientin sich verschlechtere, und fragt sie, ob sie etwas darüber hören wolle, wie sie sich besser schützen könne. Dies wird von der Patientin mit Erstaunen bejaht. Die Therapeutin erklärt ihr, dass man sich vor innerer Überlastung z. B. dadurch schützen könne, dass man eine sich beobachtende Haltung einnehme, die dazu führen könne, dass man die Dinge aus einer gewünschten Distanz betrachten würde. Die Patientin findet das interessant und meint, das mache sie doch sowieso, wenn sie dissoziiere. Ja, das sei ähnlich, aber es sei ein wichtiger Unterschied, meint die Therapeutin, wenn man das bewusst mache. Die Patientin versucht dann, diese innere Haltung einzunehmen. Sie ist überrascht, dass sich ihr Befinden dadurch verändert und dass sie ein Erleben von Kontrolle bei dieser Art des Über-sich-Sprechens hat. Ohne dass die Therapeutin es vorgeschlagen hat, redet sie bald von sich in der 3. Person, als „das Kind“. Die Therapeutin beantwortet dies mit einer bestätigenden Nachfrage, ob sie merken könne, dass ihr dies gut tue, was sie bejaht.

Frau X erzählt dann, wie sehr sie an ihrer Mutter hing, dass diese ein sehr lieber Mensch gewesen sei, der Vater allerdings sei ein gewalttätiger Mann gewesen, er habe die Mutter geschlagen, die Kinder, sie und ihre Schwester, auch, und er habe sich „an ihr vergangen“. Bei dieser Mitteilung meint sie, jetzt habe sie Unterbauchschmerzen und sie schäme sich, das auszusprechen. Die Therapeutin bringt zum Ausdruck, dass sie sich vorstellen könne, dass diese Erfahrungen für die Patientin sicher extrem belastend waren, und dass es sie erneut sehr belaste, wenn sie daran denke, und fragt dann: „Wie haben Sie das alles überlebt, |4|Frau X, was hat Ihnen geholfen oder wer hat Ihnen geholfen, zu überleben?“ Die Patientin nennt ihre Mutter, und die Therapeutin geht an dieser Stelle nicht darauf ein – es wäre viel zu früh! –, dass die Mutter sie ja nicht geschützt hat. Später sei eine Lehrerin sehr wichtig gewesen. Die Therapeutin fragt, ob sie von guten Momenten mit der Mutter und der Lehrerin mehr erzählen wolle, was die Patientin bejaht.

Die Therapeutin bemerkt, wie die Patientin sich entspannt und nimmt dies zum Anlass, sie zu fragen, ob sie bemerken könne, dass sie jetzt, wo sie über gute Erfahrungen spreche, mehr zur Ruhe komme. Als die Patientin dies bejaht, kann die Therapeutin ihr erklären, dass eine Möglichkeit der Zusammenarbeit darin bestehen könne, dass die Patientin eingeladen sei, zwischen leidvollen und angenehmen Erinnerungen und auch aktuellen Erfahrungen zu pendeln, um so immer wieder Kräfte zu sammeln. Ob sie damit einverstanden sei, dass die Therapeutin sie dazu einlade. Auch hier stimmt die Patientin zu. Die Therapeutin bittet auch darum, dass die Patientin genau prüfen möge, wie viel sie erzählen wolle. Sie könne verstehen, dass es schwer sei, über manche Dinge zu sprechen, sie werde daher jetzt und auch in Zukunft, falls sie zusammenarbeiten würden, immer wieder fragen, ob sie Fragen stellen dürfe und die Patientin sei eingeladen, auszusprechen, wenn ihr etwas zu viel würde. Andererseits könne sie, wenn sie es wolle, über alles mit der Therapeutin sprechen. Die Patientin meint, mehr wolle sie jetzt nicht erzählen. Darauf erläutert ihr die Therapeutin die wesentlichen Punkte des therapeutischen Vorgehens und beantwortet eine Reihe von Fragen der Patientin dazu.

Am Ende der Stunde angekommen, fragt die Therapeutin, ob in diesem Gespräch etwas für die Patientin hilfreich war. Diese meint: „Ja, dass man sich nicht nur mit dem Schlimmen befassen muss.“ Sie habe das anders gehört und habe große Angst gehabt. Jetzt wisse sie ja, dass sie das selbst bestimmen könne, wie viel sie sagen wolle, und das tue ihr gut.

1

Die folgenden Überlegungen zur psychodynamischen Behandlung gehen auf Gespräche und kollegialen Austausch von Luise Reddemann mit Gottfried Fischer und Monika Becker-Fischer über Jahrzehnte des gemeinsamen Engagements in der Behandlung traumatisierter Menschen zurück. Eine geplante gemeinsame Arbeit mit Gottfried Fischer konnte aufgrund seines plötzlichen Todes nicht mehr ausgeführt werden.

|5|1 Beschreibung der Störung

1.1 Bezeichnung

Die Bezeichnung „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ steht für ein Spektrum von Störungsbildern, das typischerweise im Gefolge chronischer und kumulativer personaler Traumatisierungen auftritt. Es geht weit über das hinaus, was mit den ICD-10-Kriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beschrieben ist. Aufgrund fehlender Klassifikation als eigenständige Störung sowohl in der ICD-10 (World Health Organization, 2000) als auch in der überarbeiteten DSM-5-Klassifikation (American Psychiatric Association, 2013) bleibt diese Gruppe von Patienten und Patientinnen diagnostisch immer noch namen- und heimatlos, und Therapeuten sind gezwungen, die zugehörigen Einzelsymptome unabhängig voneinander wie komorbide Störungsbilder zu kodieren.

Gehen wir davon aus, dass die unter diesem Begriff zusammengefassten Störungsbilder komplexe somatische, kognitive, affektive und verhaltensbezogene Folgen komplexer psychischer Traumatisierungen darstellen können, so hat dieses singularisierende Vorgehen weitreichende Folgen für den therapeutischen Prozess und den Therapieerfolg. Menschen mit komplexen Traumafolgestörungen befinden sich häufig aufgrund ihrer Erfahrungen von Verrat und Missbrauch – oft durch primäre Bezugspersonen in einer für sie wichtigen Entwicklungsphase – in einem festgefahrenen Muster von Kontrollverlust, Unzulänglichkeit, Hilflosigkeit und Abhängigkeit. Eine Reduktion der Therapie auf einzelne Symptome wie beispielsweise Depression, Angststörung oder auch die „nicht komplexe“ Posttraumatische Belastungsstörung wird daher den Patientinnen nicht gerecht und verfehlt letztendlich das Ziel der höchstmöglichen Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Frauen und Männer.

Als erste hat Judith Herman (Herman, 1992) die Bezeichnung „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ vorgeschlagen, um die bei chronischen Traumatisierungen auftretenden Störungen im affektiven und interpersonellen Bereich zu beschreiben, die nicht mit den diagnostischen Kriterien der PTBS erfasst wurden. Gebräuchlich wurde auch der Begriff „DESNOS“ (Disorders of Extreme Stress Not Otherwise Specified), um Veränderungen in sechs Funktionsbereichen zu beschreiben: Regulation von Affekten und Impulsen, Aufmerksamkeit oder Bewusstsein, Selbstwahrnehmung, Beziehung zu anderen, Somatisierung und persönliche Bedeutungssysteme.

|6|Empirische Überprüfungen dieses Konzepts einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung wurden in verschiedenen Studien realisiert (Herman & van der Kolk, 1987; Kunzke & Güls, 2003; Luxenberg et al., 2001; Pelcovitz et al., 1997; Teegen & Schriefer, 2002; van der Kolk, 1997, van der Kolk et al., 2005; Spitzer et al., 1989). Als strukturiertes klinisches Interview für DESNOS wurde das SIDES (Structured Interview for Disorders of Extreme Stress) entwickelt. Es verfügt über eine befriedigende Konstruktvalidität und war Grundlage verschiedener Studien (Pelcovitz et al., 1997). Eine deutsche Fassung des SIDES-Interviews liegt von Teegen und Vogt (2002) vor. Auf dem SIDES-Interview basiert auch das für den deutschen Sprachraum entwickelte „Interview zur komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung“ (I-kPTBS; Boroske-Leiner et al., 2008).

Aufbauend auf dem DESNOS-Konzept von Herman (1992) wurde in den letzten Jahren der Versuch gemacht, die Diagnosekategorie der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung präziser zu definieren und dieses Konstrukt erneut auf der Basis dieser neuen Definition empirisch zu validieren. In diesem Kontext konstituierte sich eine Forschergruppe mit dem Ziel, einen Vorschlag für die Definition einer neuen Diagnosekategorie „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ in der künftigen ICD-11 zu erarbeiten.

Die neu definierte Diagnosekategorie „Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung“ fordert die Präsenz der Symptome der „klassischen“ PTBS und zusätzlich das Vorliegen von Symptomen aus den Bereichen (a) Affekt, (b) negatives Selbstkonzept und (c) Probleme der interpersonellen Beziehungsgestaltung (Cloitre et al., 2012, 2013; Maercker, Brewin, Bryant, Cloitre, Ommeren et al., 2013; Maercker, Brewin, Bryant, Cloitre, Reed et al., 2013).

Verschiedene Studien konnten die Konstruktvalidität einer so definierten Diagnosekategorie „Komplexe Posttraumatischen Belastungsstörung“ bestätigen (Cloitre et al., 2013; Ford & Courtois, 2014). Patienten, die auf der Basis von Selbstbeurteilungsbögen dieser Kategorie zugeordnet worden waren, gaben im Vergleich zu „reinen“ PTBS-Patienten mehr depressive Symptome, Angstsymptome, Dissoziationen, Schlafstörungen, Somatisierungsstörungen, zwischenmenschliche Irritierbarkeit und Aggressivität an (Elklit et al., 2014).

Parallel zu diesen Bemühungen wurden in der amerikanischen DSM-5-Klassifikation (American Psychiatric Association, 2013) die Kriterien der PTBS dahingehend erweitert, dass auch Symptome aus dem Bereich der Emotionsregulierung und der interpersonellen Regulation eingeschlossen wurden. Diese Erweiterung erfasst jedoch nicht alle Phänomene, die in den beiden genannten Definitionen der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung beschrieben sind.

Aus klinischer Sicht ist die Diagnose einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung in mehrfacher Hinsicht nützlich: Zum einen, weil mit ihr für die zahlreichen, diffusen und oft widersprüchlichen Symptome, die im |7|Gefolge kumulativer personaler Traumatisierungen auftreten, eine Begrifflichkeit von hoher konzeptueller Kohärenz geschaffen wurde. Weiterhin, weil durch die Aufnahme des Beziehungsaspekts in die Definition die tiefgreifenden Störungen der psychischen Entwicklung und des Bindungssystems berücksichtigt werden, mit denen die frühen intrafamiliären Traumatisierungen so gut wie immer verbunden sind2. Vor allem aber könnten mit ihr die traumabedingten Persönlichkeitsveränderungen – die Änderungen der Selbst- und Fremdwahrnehmung, die chronischen Schuldgefühle, die Selbstwertdefizite, die Reviktimisierungsneigung sowie die Veränderungen der persönlicher Glaubens- und Wertvorstellungen – komplex traumatisierter Patienten einen angemessenen diagnostischen Ort finden (Gast & Wabnitz, 2013; Herman, 1992; Huber, 2012; Reddemann, 2012; Sack, 2004; Sack, Sachsse & Schellong, 2013; Wöller, 2005, 2006, 2013). Schließlich ist sie von hoher therapiepraktischer Relevanz, weil sich das therapeutische Vorgehen in vieler Hinsicht von einer „einfachen“, d. h. nicht komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung unterscheidet.

Die Etablierung einer valide diagnostizierbaren Diagnosekategorie einer Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung stellt nach unserer Auffassung im Vergleich zu den bisherigen diagnostischen Möglichkeiten eine wichtige Errungenschaft dar. Diese Tatsache kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es noch weitere Störungsbilder gibt, die – zumindest teilweise – in so engem Zusammenhang mit lang anhaltenden psychischen Traumatisierungen stehen, dass es gerechtfertigt ist, auch bei ihnen von Traumafolgestörungen zu sprechen. Dies kommt auch in der Untersuchung von Knefel et al. (2015) zum Ausdruck, die in einem Update zur Evaluation der ICD-11-Kriterien (Knefel & Lueger-Schuster, 2013) eine Gruppe von Patienten identifiziert hatten, die weder die Kriterien der „klassischen“ noch diejenigen der Komplexen Posttraumatischen Belastungsstörung erfüllen und dennoch unter psychopathologischen Symptomen leiden, die ganz offensichtlich im Zusammenhang mit den erlittenen Traumatisierungen stehen. Dazu zählen:

depressive Störungen,

Essstörungen,

Angst- und Panikstörungen,

Persönlichkeitsstörungen, insbesondere die Borderline-Persönlichkeitsstörung,

Abhängigkeitserkrankungen,

Zwangssymptome (Bryant et al., 2010; Sack, Sachsse, Overkamp & Dulz, 2013; Wöller, 2013).