Traumhafte Kindheit - Catherine Millet - E-Book

Traumhafte Kindheit E-Book

Catherine Millet

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Beschreibung

Catherine Millet gilt in Frankreich als eine der wichtigsten Kunstkritikerinnen, ihre Fachbücher und Essays sind maßgebliche Beiträge zur Kulturgeschichte. Weltweit in Erstaunen versetzte sie Kritiker und Leser aber mit ihren Bestsellern "Das sexuelle Leben der Catherine M." und "Eifersucht", beides autobiografische Schilderungen ihrer intimen Erfahrungen. Traumhafte Kindheit schließt an diese beiden Werke an, Catherine Millet rekapituliert mit äußerster Präzision die Entwicklung ihrer Wahrnehmung, ihrer Gefühle und ihres Bewusstseins und spiegelt so anhand scharf beobachteter und packend erzählter Episoden, wie sich ihre Persönlichkeit bildete. Offen und frei spricht sie von der Einsamkeit, den diffusen Schuld- und Schamgefühlen, den Ängsten eines jungen Menschen, der seine eigene Familie als "Glutofen der Hölle" empfindet und sich nicht anders zu helfen weiß, als auf dem Schulhof das alltägliche Elend der Eltern in ausgeschmückten Schilderungen noch einmal zuzuspitzen, um den gesellschaftlichen Makel in Stoff für exklusive Geschichten zu verkehren. Mit der zärtlichen Stimme einer sensiblen Seherin und einer humorvollen und zugleich dem Ziel einer beobachtenden Objektivität folgenden Darstellung sozialer Abgründe eröffnet Catherine Millet dem Leser Einblicke in die Rätsel der Seele und zitiert wie nebenbei eine Fülle zeitgeschichtlicher Impressionen. Fotografisch genau erinnerte Details fügen sich zu einem Milieu- und Epochenbild, das die Autorin mit hohem Unterhaltungswert zu zeichnen versteht. Wer den Blick mit Millet auf seine eigene Kindheit zurücklenkt, wird in vielen der hier geschilderten Erfahrungen seine eigenen wiedererkennen und herausgefordert sein, sie besser zu verstehen.

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Seitenzahl: 308

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Catherine Millet

TRAUMHAFTE KINDHEIT

Aus dem FranzösischenVon Paul Sourzac

Catherine Millet

Traumhafte Kindheit

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Une enfance de rêve«.

© 2014 Flammarion, PARIS

Der Übersetzer dankt Thomas Herth.

Erste Auflage

© 2017 by Secession Verlag für Literatur, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Paul Sourzac

Lektorat: Alexander Weidel

Korrektorat: Kristina Wengorz

www.secession-verlag.com

Gestaltung und Satz:

Erik Spiekermann & Marco Stölk, Berlin

Herstellung:

Renate Stefan, Berlin

Druck und buchbinderische Verarbeitung:

Friedrich Pustet, Regensburg

Papier Innenteil: 100g Fly 05

Papier Vor- und Nachsatz: 115g Fly 05

Papier Überzug: Surbalin Linea 5155

Gesetzt aus Lyon und Mistral

Printed in Germany

ISBN 978-3-906910-12-3eISBN 978-3-906910-17-8

Inhalt

Der Aufruf

Rückkehr aus der Gefangenschaft

Alle möglichen Ängste

Die Marquise und der Müller

Von-der-Académie-française

Der Aufruf

ES WAR ENDE OKTOBER 1951, als meine Eltern an einem späten Vormittag nach Hause kamen und meine Mutter auf den Diwan, der ihrer Mutter als Bett diente, einen Säugling legte, von dem mir einzig das Bild der Hand in Erinnerung geblieben ist, die ich damals streicheln durfte. Dazu muss man sagen, dass der Diwan im Halbdunkel stand, an der Wand gegenüber dem Fenster, im Hauptraum unserer kleinen Wohnung, die auf einen engen Hof hinausging. Man beginnt sein Leben mit geballten Fäusten, und wie bestimmt vielen kleinen Mädchen machte es mir Spaß, die winzigen Finger auseinanderzufalten, wobei ich diese Hand mit den Händen meiner dicken Babypuppe aus Zelluloid verglich. Sie war ganz zart. In einer Mischung aus Ernst und Aufmerksamkeit ermutigte mich meine Mutter zu diesem Spiel: »Du darfst ruhig anfassen. Na, komm, fass ruhig an.«

Eine weitere Erinnerung wurde zwanzig Jahre später dank einer Psychoanalyse in mir wach und lautet wie folgt: Wir hatten sehr lange auf Lieferanten gewartet, und da diese nicht kamen, beschlossen meine Mutter und meine Großmutter schließlich, spazieren zu gehen. Als wir durch die Glastür gingen, die das Treppenhaus vom Gebäudeflur trennte, brach ich in Tränen aus. Die beiden Frauen amüsierten sich darüber, beeilten sich aber zugleich, mich zu trösten. Als diese Erinnerung dann später wiederauftauchte, lebte meine Mutter noch, und ich befragte sie dazu. Sie entsann sich der Szene. Ihr zufolge hatte sie sich an einem Nachmittag abgespielt, an dem wir auf die Lieferung neuer Betten warteten. Ich hatte bis dahin im Zimmer meiner Eltern geschlafen, doch nach der Geburt meines Bruders hatte man dessen Gitterbett dort aufgestellt und entschieden, dass ich künftig im selben Raum wie meine Großmutter schlafen sollte. Nun fehlte in meiner Erinnerung, dass wir beim Hinausgehen auf die Lieferanten gestoßen waren, mit denen wir schon nicht mehr gerechnet hatten. Sie brachten Ausziehbetten, und von diesem Tag an musste allabendlich das eine unter dem anderen hervorgezogen und durch Aufstellen der Füße auf dieselbe Höhe gebracht werden, und so schliefen meine Großmutter und ich Seite an Seite in aus Platzmangel zusammengerückten Betten, während der Rest des Zimmers von einer Anrichte sowie einem rustikalen Esszimmertisch mit dazugehörigen Stühlen eingenommen wurde. Man hatte mir das Bett an der Wand zugewiesen, da meine Großmutter natürlich früher aufstand als ich.

So haben wir zu fünft in dieser Zweizimmerwohnung gelebt. Man gelangte durch einen winzigen Flur hinein, links befand sich die lang gestreckte Küche, hinten der Hauptraum. Rechts die Flügeltür eines Schranks, in den man mich bei der nächsten Dummheit zu sperren versprach; bisweilen sperrte man mich tatsächlich hinein, und ich verharrte dort reglos und verängstigt, weil die Strafe mit folgender Drohung verbunden war: Der Schrankboden habe eine Falltür, durch die ich leicht in die Hölle stürzen könne. Um in das Zimmer zu gelangen, aus dem man mich ausquartiert hatte, musste der Hauptraum durchquert werden. Ich weiß nicht mehr, wo sich das WC befand, aber ich erinnere mich noch, dass wir unsere Toilette über der Küchenspüle erledigten (wobei wir das eher Katzenwäsche nannten).

Das war in der Stadt Bois-Colombes bei Paris, in der Rue Philippe de Metz 1. Dort, in der Zweizimmerwohnung im dritten Stock, war ich zur Welt gekommen, plötzlich aufgetaucht, ein Privileg, das ich meinem Status als Älteste vorbehalten glaubte, da meine Mutter zur Entbindung meines Bruders in die Klinik gefahren war. Ich war nicht nur froh, vor ihm da gewesen zu sein, sondern fand es auch ehrenwerter, im Schoße der Familie geboren zu werden statt an einem fernen, anonymen Ort. Der Vorrang des Ältesten wird weniger dadurch bedingt, älter, größer oder stärker zu sein, als vielmehr durch seine Rolle eines Gastgebers in diesem familiären und häuslichen Ganzen, das den Jüngeren aufnimmt und ihm einen Platz einräumt. Als ich mir später in etwa vorstellen konnte, was eine Entbindung ist, und meine Mutter sagen hörte: »Das erste Mal«, beziehungsweise: »Von Catherine wurde ich zu Hause entbunden«, stellte ich mir sie beim Geburtsakt vor, wobei sie mich nicht in ihrem eigenen Bett zur Welt brachte, sondern auf dem mit tannengrünem Taft bezogenen Diwan, dort, wohin sie nach ihrer Rückkehr aus der Klinik auch den Säugling gelegt hatte. Im Gegenzug bekam mein kleiner Bruder den Vornamen Philippe, wodurch ein geheimes Band zwischen seiner Person und der Straße bestehen mochte, irgendein relikthaftes Feudalrecht, mit dem er sich in kindlicher Fabulierlust brüstete. Kleinen Jungen gefallen Adelsprädikate mehr als kleinen Mädchen, vielleicht weil ihre Helden, die Ritter, stets Ritter von irgendetwas sind, und so verlieh er sich den Titel Philippe de Millet, ja sogar Philippe de Reyssac de Millet, weil wir einmal Cousins meines Vaters besucht hatten, die in einem Dorf namens Reyssac im Departement Corrèze wohnten, und er den Klang von Reyssac wohl mochte, lieber als den von Millet.

Gleich nach ihrer Hochzeit im Mai 1939 hatten sich unsere Eltern in dieser kleinbürgerlichen Stadt nordwestlich von Paris niedergelassen, die friedlich war, aber damals im Aufschwung, und so wohnten sie auch in der Nähe meines Onkels und meiner Tante väterlicherseits, beide bereits verheiratet. Bois-Colombes liegt in einer Seine-Schleife, die man die Halbinsel von Gennevilliers nennt. Es war damals eine noch junge Gemeinde, die in den 1880er- und 1890er-Jahren ihre Unabhängigkeit von der Vormundschaft Colombes’ erlangt hatte. Viele Straßen wurden zu Ehren der glühenden Separatistenkämpfer benannt: Joseph Mertens, Charles Duflos oder auch Charles Chefson, wohlklingende Namen von Personen, die vielen Einwohnern Bois-Colombes’ heute sicherlich kein Begriff mehr sind, von denen ich selbst damals nie reden hörte, die in meiner Vorstellungswelt jedoch auf Napoleons Generäle und die großen Gelehrten, die Wohltäter der Menschheit, trafen. Parallel zur vorausschauenden Imagination, die Proust etwa beim Namen Balbec in Reiseträume verfallen ließ, existiert auch eine rückschauende Imagination: Orts- und Straßennamen unserer Kindheit, vor allem wenn es sich dabei um Eigennamen handelt, verankern unser Leben in einer Regionalgeschichte, die in der Stadt gewiss vager ist als auf dem Land, aber ebenso mythisch wie die im Schulunterricht behandelte Alte Geschichte. Wir empfinden uns als Hüter dieser Geschichte, ganz gleich, in welcher körperlichen oder geistigen Entfernung wir uns später zu ihr aufhalten. Selbst wenn meine Zunge sich seit Jahren nicht mehr an diese zischende Alliteration von Charles Chefson schmiegt, die mir damals so merkwürdig erschien, dass ich sie mit Künstlernamen von Filmschauspielerinnen und Sängerinnen wie Doris Day oder Mick Micheyl verglich, klingt sie für mich doch so endgültig vertraut wie der Name meiner Cousins, die Schneckenburger heißen! Ländlich konnotierte Bezeichnungen wie »Carrefour des Quatre-Routes«, »Les Vallées«, »Les Bruyères«, oder auch »Rue des Aubépines«, die uns helfen, unsere private Geografie zu verorten, und sogar eine »Rue Victor Hugo«, von der ich irgendwo höre und die nichts mit jener Straße von damals an der Ecke zur Rue Philippe de Metz zu tun hat, können mich prompt in die Dichte dieser eigenartigen Zeit zurückversetzen.

Allein schon der Name: Bois-Colombes! In der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts war der Wald von Colombes, im Ancien Régime noch ein Jagdrevier, zu einem Ausflugsziel für die Pariser Bürger geworden. Sie aßen dort in Gasthöfen zu Mittag, bauten Wochenendhäuser, bis eine bald schon gebaute Bahnstrecke einige dazu bewog, sich dauerhaft dort niederzulassen. Das Viertel blühte auf, und seine Bevölkerung litt es immer weniger, für den Großteil der Gemeindeausgaben eines noch sehr ländlichen Colombes aufzukommen, das in den Augen der Beamten, der Händler und auch der paar Künstler des Bois de Colombes von Bauerntrampeln bewohnt war, Geizkragen, die sich sträubten, ihnen Gehwege zu bauen und Straßenlaternen aufzustellen. Ganz in unserer Nähe, im Verwaltungsbereich von Asnières, der anderen älteren Nachbarstadt, hatte noch ein Bauernhof überdauert, auf dem Milchkühe gezüchtet wurden, doch ich hatte nie Gelegenheit, sie mir anzusehen. Dieser Hof war von einer sehr hohen, nackten Mauer umgeben, die gleichsam die Trennlinie zwischen meiner Alltagswirklichkeit und dieser längst vergangenen Zeit bildete, die mir meine Eltern und meine Großmutter wie ein drolliges Kuriosum beschrieben, zu dem ich nie Zugang haben würde, einer Zeit, die wahrscheinlich weniger Annehmlichkeiten hatte, mich aber dennoch sehr reizte, weil sie der Zeit in den Büchern glich; das Gros der Kinderliteratur hegte noch das Bild eines eben erst dem neunzehnten Jahrhundert entstiegenen Frankreichs.

Bis heute hat Bois-Colombes seinen bürgerlich-idyllischen Anblick bewahrt. Zahllos sind die »Avenues« und »Villas«, bei denen es sich um schmale, verkehrsberuhigte Seitenstraßen handelt, die zu den Privathäusern führen. Die meisten Straßen sind gesäumt von Gartenzäunen, die dann und wann in löchrigen Liguster- oder Thujenhecken verschwinden. Das Pflanzengewirr lässt auf das Alter der Gärten schließen. Viele der großen Häuser, die aus Kalk- oder Backstein, manchmal aus beidem gebaut sind, mit ihren Friesen über den Eingängen – dicken roten und rosa Keramikblumen auf blauem oder lindgrünem Hintergrund –, haben eine asymmetrische Fassade, deren eine Seite durch einen Giebel erhöht wird, über dem wiederum manchmal eine Holzlaterne oder ein Zinkpfeil angebracht ist, was wie ein Türmchen wirkt und diese Bauten, die sich an einem Modell aus den Anfangsjahren des zwanzigsten Jahrhunderts orientieren, wie kleine, in den Studios von Walt Disney gezeichnete Schlösser aussehen lässt. Entlang der meisten Straßen, die ich auf dem Weg zur Schule einschlug, konnte ich diese typischen Villen sehen oder erahnen, und ihr Dornröschenschlaf weckte meine Sehnsucht und Neugierde. Weil ich auf dem Gymnasium mit Kindern befreundet war, die das Glück hatten, in ihnen zu wohnen, war ich später in manchen zu Gast, woher nun meine Nostalgie für diese reglose Vorortstimmung rührt – auch wenn ich sicher in Depressionen verfiele, wenn ich weiterhin dort leben müsste –, denn diese Häuser waren die erste Form eines idealen Lebens, die ich mir greifbar vor Augen führen konnte. Die Kinder der Fünfzigerjahre hatten weitaus weniger Bilder zur Verfügung als die Kinder heute, und ihr Blick auf die Zukunft wurde viel stärker von ihrer unmittelbaren Umwelt begrenzt. Die Bilderbücher, die Dokumentarfilme, die man uns in der Schule zeigte, die ersten Ferien bei meinen Großeltern in Tulle und am Meer in Quiberon haben meinen Horizont erweitert, doch war mir dieses Repertoire an Bildern nicht vertraut genug, als dass ich mich dauerhaft hätte hineinversetzen können. Meine innigen Fiktionen füllten zuerst meine alltäglichen Wege aus. Jenseits der vorgezeichneten Wege zur Schule, zu den Wohnungen meiner Tanten und Onkel oder zum Bahnhof blieb Bois-Colombes genauso undurchdringlich wie der dichte Wald, der sich hinter dem Prinzen schließt, als dieser kommt, um Dornröschen zu befreien. Die lange Rue Charles Chefson, in der sich meine Schule befand, machte einige Meter dahinter eine Biegung, und da ich nie Gelegenheit hatte weiterzugehen, erfuhr ich auch nie, wie der restliche Verlauf der Straße aussah, die ich lange für eine Sackgasse hielt. Es gab dort nur noch Flachbauten, die ich mir nicht anders ausmalen konnte als beliebig in die Landschaft gestellt, ohne einem Straßenmuster zu folgen – wie eine Siedlerkolonie auf einem riesigen Territorium, das aus unerklärlichen Gründen aufgegeben wurde –, ein grenzenloses Niemandsland, das ich in Gedanken brachliegen ließ.

Neben dem »neuen« Bahnhof, der in den 1930er-Jahren in modernistischem Stil gebaut wurde, mit seinem quadratisch geschnittenen Kampanile, der auf der ganzen Höhe von Glasfenstern durchbrochen ist (der Bahnhof entsprach nicht dem Geschmack aller Bürger, aber er demonstrierte die Dynamik der Kommune), hat das große Café von Bois-Colombes, das Louis XV, das sich ungefähr an der Stelle eines im neunzehnten Jahrhundert sehr beliebten Tanzlokals befindet, den Anblick einer Lehmhütte bewahrt, mit Spitzdach und stilisiertem Geäst im Fassadenmauerwerk. Im Gegensatz zu den Pionierzeiten, von denen dieser Stil zeugt, und auch im Gegensatz zu meinen Kinderjahren, trifft man heute, wenn man mitten am Tag durch Bois-Colombes spaziert, kaum einen glücklichen Bewohner, der sich an diesen Annehmlichkeiten, nur acht Zugminuten vom Pariser Bahnhof Saint-Lazare entfernt, erfreuen würde. Man bewegt sich in dieser so eigenartigen Stille der Vorortsiedlungen, die weder die geschäftige Scheinstille auf dem Land ist, noch jene reglose der Nacht, sondern eher eine Stille, die man als Leck empfindet, als ein Abfließen der Lebensgeräusche, die von den Fassaden geschluckt werden. Außer in der Rue des Bourguignons, einer langen Geschäftsader, die die Grenze zu Asnières markiert, kann man das Gefühl bekommen, auf den Wegen eines Friedhofs zu gehen. Und tatsächlich ist es auch der Friedhof des Milchverkäufers, des Kohlenhändlers, des Schneiders, der Flickerin, zu der mich meine Mutter schickte, um die ausgebesserten Strümpfe abzuholen, des Kurz- und Schreibwarenhändlers, des Drogisten, des Schallplattenverkäufers, des Buchhändlers, der sein Geschäft schließlich aufgegeben und auf dem Metallrollladen einen nun verblassten Aushang mit der Aufschrift »zu vermieten« hinterlassen hat, und es ist sogar der Friedhof der Kinder, die Himmel und Hölle spielten und denen ich mich zu meinem großen Leidwesen nie anschließen durfte. Vom Herumlungern auf der Straße, hatten die beiden Frauen befunden, die für meine Erziehung zuständig waren, könne man nur in schlechte Gesellschaft geraten, und sie waren umso strenger, als die Straße für sie die Domäne der einfachen Leute darstellte und sie fest entschlossen waren, sich von ihrer eigenen Herkunft abzugrenzen; als Tochter eines elsässischen, in Paris niedergelassenen Friseurs hatte meine Großmutter – wie damals viele andere Kinder von Kleinunternehmern – ihre Jugend halb im Salon ihres Vaters, halb auf dem Asphalt verbracht.

Also malte ich mein eigenes Hüpfspiel auf einem der zwei großen Balkons unserer neuen Bleibe, in die wir gezogen waren, als meine Eltern nach langem Suchen endlich eine Dreizimmerwohnung direkt neben meinem Geburtshaus gemietet hatten, im Haus Nummer 3, siebte Etage, unterm Dach, zur Straße hin, viel Licht. Ein Glück, denn wenn wir vom Balkon auf die Straße hinabsahen, glich diese einem See aus Schatten am Grund eines tiefen Burggrabens. In der ganzen Gemeinde wird die Rue Philippe de Metz, die nur ein Dutzend Hausnummern zählt, als einzige Straße gänzlich begrenzt von Wohngebäuden, die sich aneinanderreihen und alle gleich hoch sind, fast identisch, gebaut Ende der 1920er-Jahre aus gelbem Backstein mit roten Backsteinstreifen auf der Seite mit den ungeraden Nummern, aus rotem Backstein mit gelben Streifen auf der Seite mit den geraden. Eine Art Festung also, die innerhalb ihrer Mauern einen Baum bewahrt hatte, der von einer abgezäunten Nische im Haus gegenüber von unserem geschützt wurde, ein pflanzlicher Überrest, der uns viel zum Lachen brachte, weil er der einzige unserer Straße war, in einer Stadt, in der es den meisten anderen Straßen an Baumschatten nicht mangelte; wir machten uns damit über uns selbst lustig, wir waren die Avantgarde der Chlorophyllberaubten, richtige Städter im Grunde, Kinder unserer Zeit. Viel später erst fand ich heraus, dass dieser Baum der Überlebende von dreien war, für deren Erhalt sich die Grundstücksbesitzer eingesetzt hatten. Nur unter dieser Bedingung hatten sie ihren Besitz der Gemeinde übertragen. Monsieur und Madame Philippe hießen diese Leute, und der Straßenname würdigt ihren aus Metz stammenden Vater beziehungsweise Schwiegervater. Mein Bruder hat das nie erfahren. Heute ist der letzte Baum tot und wurde nicht ersetzt.

Mir blieb es zwar versagt, beim Himmel-und-Hölle-Spiel in aller Öffentlichkeit bis zum Himmel zu springen, aber ich wurde bestimmt nicht daran gehindert, bei sonntäglichen Waldspaziergängen frische Luft zu schnappen, oder während der Ferien am Meer, wohin wir seit meiner frühesten Kindheit jedes Jahr fuhren. Wann habe ich zum ersten Mal den Horizont betrachtet? Ab welchem Alter sind wir fähig, die Ausmaße unseres kleinen Nerven- und Muskelgeflechts in Relation zu einer Ebene zu setzen, die endlos erscheint, zu einem Berg, dessen Gipfel in den Wolken verschwindet? Geschieht es plötzlich oder allmählich, dass der Raum nicht länger diese Masse an Licht ist, die uns bei der Geburt überfallen und geblendet hat? Im Zuge welcher Bewusstwerdung befreien wir uns aus dieser Sphäre, in der es noch kein Oben oder Unten gibt oder keine sonst irgendwie konstante Richtung, weil wir hin und her gekippt und geschwenkt werden von diesen Armen, die doch nur unser Wohlergehen im Sinn haben? Ist es möglich, einen Sinn für räumliche Kontinuität zu entwickeln, solange zwischen den Orten, an die man uns bringt, die Gefilde des Schlafes liegen oder solange wir beim Öffnen der Augen höchstens das Innenfutter eines Kinderwagenverdecks betrachten? Wie viele stampfende Schritte müssen wir vor dem Sturz auf das Parkett getan haben, damit wir begreifen, diese Ganzheit lässt sich gliedern, zähmen, damit sie uns nicht länger, in einem unerklärlichen und grausamen Wechselspiel, erst gleichgültig schluckt, dann schmerzhaft ihren Widerstand spüren lässt, damit wir uns diese Ganzheit vielmehr zu eigen machen?

Im Unterschied zu den Erwachsenen, die sich auf Fotos oft im Hintergrund halten, das Kinn einziehen und sogar mürrisch wirken, weil die Sonne blendet und sie vor allem schon wissen, dass sie diese beinahe fremde Person an ihrem Platz auf dem Glanzpapier nicht besonders mögen werden, nehmen Kleinkinder diese nach vorn strebende Haltung ein, blicken geradewegs in die Kamera, als wollten sie sich an die Oberfläche des Bildes klammern. Auf einem Foto vom Juli 1949 halte ich mich, um aufrecht stehen zu können, an einem Gartenzaun fest, doch es scheint, als wollte ich ihn mit aller Kraft überwinden und in den Bereich gelangen, von dem er mich trennt, mich an die Person schmiegen, die sich dort, den Fotoapparat in Händen, aufhält, als wollte ich die elementare Verbindung wahren zur Welt und ihren Wesen.

Während dieser Lehrzeit werden wir natürlich von den Erwachsenen begleitet und unterstützt. Nichts erfreut diejenigen, die ein Kind in die Welt gesetzt haben, mehr, als es anschließend der Welt auszusetzen, den physischen Elementen, aus denen sie besteht. Während die Eltern selbst erneut diesem Entdeckungsdrang frönen, der auch ganz am Anfang ihres eigenen Lebens stand, aber in jenen dauerhaft schlummernden Teil des Gedächtnisses gesunken ist, lernen sie das Glück kennen, uneigennützig zu geben. Für allzu kurze Zeit sind sie Götter, die ihrer Nachkommenschaft die Gesamtheit der Weltphänomene zum Geschenk machen. Ein Kind in den letzten Ausläufern der Wellen planschen und es spüren zu lassen, wie der Sand zwischen den Fingern sanft zerbröselt, oder ihm später zu zeigen, wie man am Himmel den Großen Bären ausmacht, erweitert die Bedeutung des Ausdrucks »Leben schenken«, und diese Gabe ist so viel spontaner, deutlich unkomplizierter und auch grundlegender als alle folgenden Gaben, wenn die Eltern mehr schlecht als recht versuchen, ihrem Kind eine Erziehung zu geben und seltener eine Erlaubnis, die ihnen vielmehr abgerungen wird, oder auch, wie es sich beide erhoffen, ihm irgendetwas mitzugeben! Das Glück des Elterndaseins ist das kürzeste, aber auch das vollkommenste. Beim allerersten Aufenthalt am Meer hielten es meine Eltern nicht länger aus. Sie waren müde von der Reise, es wurde schon dunkel, doch bevor wir die gebuchte Unterkunft aufsuchten, wollten sie im Auto am Strand entlangfahren, um mir das Meer zu zeigen. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich weder Haus noch Baum, weder Gras noch irgendeine Menschenseele, ich war allein mit der grauen Leere der glitzernden, unebenen Weite des Strandes von Riva-Bella, hier und da ein paar Wasserflächen und Rinnsalen. Wir kamen bei Ebbe an, und da sich an diesem Küstenabschnitt der Normandie das Meer besonders weit zurückzieht, war nichts davon zu sehen. Wahrscheinlich machte ich ein ausdrucksloses Gesicht, das meine Mutter als Enttäuschung auslegte, weil ich sie mit gedehnter Stimme sagen hörte: »Sie glaubt, das sei das Meer!« Aber war nicht vielmehr sie enttäuscht, dass sie mir nicht gleich etwas so Außergewöhnliches vorführen konnte? Denn ich erwartete ja nichts, ich war viel zu jung, um mir auf Grundlage von Bildern oder Berichten bereits eine klare Vorstellung gemacht zu haben und sie mit dem zu vergleichen, was sich meinem Blick bot. Ich war noch nicht einmal wie ein Urmensch, der sich angesichts eines unüberwindlichen Berges vorstellt, auf der anderen Seite würde sich ein wundersames Königreich erstrecken, ein Paradies. Solange sich unsere Augen und Nasenflügel nicht nennenswert von unseren Füßen entfernt haben, sind wir da überhaupt fähig, weiter vorauszuschauen als ein Tier? Müssen wir uns nicht mit den Signalen begnügen, die nach und nach unsere Sinne erreichen? Die Bemerkung verwirrte mich. Fühlte ich mich womöglich schuldig, den Erwartungen meiner Mutter nicht gerecht zu werden, während ich mich kaum sattsehen konnte? Solange ein Kind zwischen sich und seine Umwelt nicht die landläufigen Vorstellungen über diese gesetzt hat, kann es auch nichts missverstehen und nicht enttäuscht werden, hat es keinen Grund, mit der Welt nicht voll und ganz im Einklang zu sein; es nimmt sie so, wie sie sich ihm bietet, ohne Zögern, ohne Vorbehalte, mit der Arglosigkeit des Heiligen, der vor allen Dingen und vor allen Wesen niederkniet, vor einem Grashalm oder einer Made, weil sie alle Gaben Gottes sind. Es stellte mich vollauf zufrieden, dass das Meer dieser riesige, farblose Sandhaufen in der Dämmerung mit stellenweise zarteren, glatteren Flächen war. Hat das Bild sich mir nicht deshalb so dauerhaft eingeprägt, weil es mich ganz ausfüllte? Salvador Dalí verleiht dieser Empfindung in mehreren Gemälden Ausdruck, in denen er sich als Kind dargestellt haben soll, als winzige vereinsamte Gestalt in einer endlosen, gelben und nackten Ebene. Der Raum, den der Körper noch nicht durchquert hat, ist frei von Fantasiegebilden; nichts, was den Blick bannt, hat dort schon seinen festen Platz, es ist ein ausufernder Raum, der den Körper mitreißt. Seltsamerweise erinnere ich mich nicht an mein erstes richtiges Meererlebnis, an die ersten Wellen etwa, die mich bespritzten, obwohl dieses Phänomen doch wesentlich erstaunlicher und unterhaltsamer ist als vereinzelte Wasserpfützen.

Sind wir erst aus dem Laufstall entlassen, hinter dessen Gitter man uns anfangs sperrt – natürlich zu unserer Sicherheit, doch faktisch wie ein Tier im Käfig –, und haben wir begriffen, dass die Welt nicht nur aus Türen besteht, die verschlossen bleiben müssen, und Steinen, an denen man sich die Knie aufschürft, nehmen wir den Raum endlich als Kontinuum wahr. Sieht man die Zahl erwachsener Personen, die hinter anderen, kleinen Personen mit nur halb so langen Beinen herrennen, dann lädt dieses Kontinuum offenbar dazu ein, unverzüglich und unentwegt in ihm voranzukommen. Mit dem Ergebnis, dass der angehende Ausflügler, der in seinen Zellen die warme Erinnerung an die ideale, unlängst noch bewohnte Behausung speichert, sich Verstecke baut, die ab einem gewissen Alter – wenn man begreift, dass moralische Verbote schwerer zu überwinden sind als materielle Beschränkungen – vielleicht Orte der Vorstellung sein werden, der zufolge draußen alles möglich bleibt. Im Grunde sind diese Orte, mehr denn provisorische Refugien für den wagemutigen Körper, Anreize für die Fantasie. Der Raum, den wir dem Blick der Erwachsenen entziehen, ist der Kinosaal, wo wir den Film der Welt abspielen, jener Erwachsenenwelt, der wir uns eines Tages anschließen müssen, doch für eine Weile noch bleibt der Film auf unsere Wünsche zugeschnitten. Wie alle Kinder habe ich mir ein kleines Haus zwischen vier Tischbeinen gebaut und mit Bettlaken das Entdeckerzelt aufgeschlagen. Aufgrund einer Träumerei, die zum Teil von Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern beeinflusst war, habe ich diese Spiele lange Zeit weitergeführt. Ich hatte das Buch von einer Preisverleihung in der Schule mitgebracht; ursprünglich hatte ich eins mit rotem Einband erhalten, vergoldet und auf alt gemacht, es aber am Schulausgang bei einer Freundin gegen dieses Exemplar eingetauscht, das größer und geschmeidiger war und in dem vor allem viel mehr Bilder in unterschiedlichen Grau- und Blautönen waren. Ich sah mich als bettelarmes, fahrendes, in ein Schneegestöber geratenes Mädchen, groß genug, um einen Kinderwagen mit einem Säugling darin zu schieben, bei dem es nie eine Rolle für mich spielte, ob er meiner oder ein Findelkind war, und doch war ich klein, klein genug, um unter dem Kinderwagen zu kauern und mich vor den Flocken zu schützen. Dieser lächerliche Unterschlupf, vergleichbar mit der Streichholzflamme im Märchen, verschaffte mir in meinem Elend großes Wohlbehagen.

Durch die Kontrastwirkung erscheint dem Kind, das sich in seine Höhle verkriecht, der Raum außerhalb unendlich größer: Das Esszimmer ist ein Garten, das Schlafzimmer ein Urwald, und all das findet völlig simultan in seinen Gedanken statt. Während der Erwachsene sich mit seinen Träumen in die Zukunft versetzt, sind die des Kindes unmittelbar greifbar. Wenn der Erwachsene seine Träume mit der Zeit verwirklicht, verengt sich zudem seine Vorstellungswelt, weil er hinnehmen muss, dass die Wirklichkeit niemals den Zauber von Träumen entfaltet, und so passt er diese ganz unbewusst den Grenzen des Vernünftigen an, verzichtet auf Amerika zugunsten der Villa Sans-Souci; die gesamte Kindheit über, und solange der Lebensraum größer wird, dehnen sich Träume hingegen aus.

Die entscheidende Wende, der Auftakt des unvermeidlichen Abgleitens in den Trichter, der ins Erwachsenenalter führt, vollzieht sich, wenn wir allmählich das Ausmaß des Raums erkennen, wenn wir das Größenverhältnis zwischen unserem Körper und unserer Umwelt einigermaßen gut abschätzen, wenn uns also niemand mehr an der Hand hält, wenn sich nicht mehr ständig ganz nah bei uns ein mittelgroßer Körper aufhält, der aufgrund seiner Höhe und seiner Erfahrung weiter blickt, uns warnt und bremst – »Die Böschung ist zu hoch … Der Abhang ist zu steil … Das wäre ein zu großer Umweg, wir haben keine Zeit mehr, lass uns heimgehen« –, und wir die Welt somit allein begreifen müssen als in den Makrokosmos entlassene Mikrokosmen, die weder die nächste Etappe noch das Endziel kennen. Die meisten von uns machen die erste Erfahrung dieses einsamen Kampfes mit den Rätseln und Tücken der weiten Welt am ersten Schultag.

An diesem Tag habe ich nicht geweint. Ich stand zwischen den anderen Kindern in einer Pausenhalle, die ich, vielleicht weil ich von der schmucklosen Ritterburg der Rue Philippe de Metz kam, als ganz außergewöhnlichen Ort wahrnahm: ein riesiger, kreisrunder Saal – so etwas hatte ich wirklich noch nie gesehen –, erhellt von Fensterfronten, die auf den Hof hinausgingen, auch dieser wesentlich größer als der unseres Wohnhauses. Die Vorschule ist ein eigenartiger Zwischenort, wo die Ausbildung für die Erwachsenenwelt beginnt, wo jedoch manche Facetten des Lebens, die den ganz Kleinen zumeist lästig sind, an sie angepasst werden, als Entschädigung dafür, dass sie sich in Zukunft daran gewöhnen müssen, immer seltener entschädigt zu werden. Damit sie lernen, ihre Jacken aufzuhängen, werden die Kleiderhaken in ihrer Reichweite angebracht, sie können sich an einen Tisch, auf einen Stuhl setzen, ohne auf Klettertour gehen zu müssen, und noch dazu die Toilette wie die Großen benutzen, auf einem richtigen Sitz, der aber nicht höher ist als ein Töpfchen. Der Zaun, der den Schuleingang von der Pausenhalle trennte und vor dem meine Mutter mich küsste, weil die Eltern im Prinzip nicht weitergehen durften, war ebenfalls auf die Größe der Kinder abgestimmt, sodass er eigentlich nur sie an der Überschreitung hinderte – ein subtiles Mittel, sie an die Gefangenschaft zu gewöhnen. So erweitert sich der Bereich unseres Kommens und Gehens, während die Objekte, die ihn unterteilen und uns dort binden, sich annähern: Der erste soziale Raum, durch den wir uns bewegen, ist ständigen Maßstabsveränderungen ausgesetzt, wie Alice’ Wunderland, nur dass er nicht so viele Wunder bereithält.

Meine Mutter arbeitete, doch da ihre Mutter bei uns zu Hause wohnte und sich tagsüber um die Kinder kümmern konnte, hatte man meinen fünften Geburtstag abgewartet, um mich erst in das dritte und letzte Vorschuljahr zu schicken. Man hatte mich in einer der zwei städtischen Schulen angemeldet, in der Jules Ferry, die zu Beginn des Jahrhunderts entstanden und Mitte der 1930er-Jahre vergrößert worden war. Seitdem ist die Schule fast unverändert geblieben. In der Rue Charles Chefson, Ecke Rue de l’Amiral Courbet, präsentiert sie sich als langes, modernes Gebäude aus ockerrotem Backstein, der von hohen, breiten Fenstern durchbrochen ist. Der Mittelteil der Fassade ist besonders ansprechend, mit einem Dachfirst, der zu einem von Kinderhand gemalten Haus gehören könnte, und der schönen Uhr, deren schwarze Zeiger und weiße Punkte, die die Stunden symbolisieren, direkt im Backstein befestigt sind. Dieser Mittelteil weist zwei symmetrisch gebaute Eingänge auf, den der Vorschule und den der Grundschule, welcher die Aufschrift »Mädchen« beibehalten hat, obwohl die Geschlechtertrennung nun aufgehoben ist. Es sind breite, durch ein paar Stufen erhöhte Portale, abgerundet wie Tunneleingänge und von Gittern verschlossen, auf denen sich spielerisch verstreut die Buchstaben des Alphabets abzeichnen. Jedes der beiden Portale ist gerahmt von einem dicken, gleichfalls aus Backstein bestehenden Wulst, der dieser glatten Fassade fast schon einen obszönen Charakter verleiht, ob Ogermund oder fleischige Vulva! Doch aus der Distanz und frontal besehen ähneln diese Portale eher zwei großen, gütigen Augen, deren schwere, runde Lider Verwunderung ausdrücken, während die Glastüren, die in die Gitter der Augenhöhlen eingefasst sind, als erstarrte Pupillen herhalten. Die Jules-Ferry-Schule ist eine schöne Schule, in der ich mich immer wohlfühlen sollte. Nun merke ich, dass sie eine Art Clownskopf mit weit aufgerissenen Augen hat.

Das Klassenzimmer war ebenfalls sehr groß, doch hermetisch verschlossen, vielleicht weil es noch früh und das Wetter Anfang Oktober nicht besonders gut war; zwar gab es viele breite Fenster, die jedoch höher waren als mein Schädel und ein Licht verbreiteten, das die gleiche neutrale Farbe hatte wie die Wände. Es waren zu viele Leute um mich herum, und mir wurde etwas ängstlich zumute. Ich setzte mich an die Wand, recht weit entfernt von der Lehrerin, die sich in der Mitte aufhielt. Alle Köpfe waren ihr zugewandt, und von meinem Platz aus sah ich nicht mehr als ihre Haare im Zwielicht – wie eine Gespensterschar. Die Lehrerin sagte etwas, das ich nicht deutlich hören konnte, und begann dann, alle Familiennamen einzeln aufzurufen, und jedes Kind antwortete sogleich, doch ich verstand noch immer nicht, worum es ging. Es ging alles so schnell, ich gab mir allergrößte Mühe zu begreifen, aber die Aufregung machte mich wohl etwas taub. Plötzlich hallte mein eigener Name, und überrascht rief ich: »Catherine!« Meine Nachbarin drehte sich zu mir, und ihr Blick ließ keinen Zweifel, ich hatte die falsche Antwort gegeben. Auch andere blickten in meine Richtung, wenn auch gleichgültiger. Es war nicht ihr erster Schultag, sie wussten, was zu sagen war. Tief in mir war diese kleine Alchemie am Werk, die mit einem Anflug von Scham, mit dem unerfreulichen Gefühl, ein Außenseiter zu sein, einhergeht und das Bewusstsein spüren lässt, was es noch nicht benennen kann, nämlich seine Einzigartigkeit; wie wenn man auf einen schmerzhaften Punkt drückt, damit der Schmerz langsam schwindet, die Aufmerksamkeit von diesem Punkt abgelenkt wird und man die ganze Fülle seines Körpers wiedererlangt. So habe ich diese flüchtige Demütigung nicht in allzu schlechter Erinnerung behalten. Die Lehrerin unterbrach ihre Aufzählung, suchte mit den Augen nach mir und fuhr dann fort, da sie es bestimmt nicht für nötig hielt, mir sofort zu erklären, dass ich bei Aufruf meines Namens nunmehr mit »anwesend!« zu antworten hatte.

Ich mochte die Schule, die Verwandlung der Dinge unter den Fingerspitzen, die Klappen, die man in ein gefaltetes Blatt Papier schneidet, um eine darunter geschriebene Nachricht freizulegen, die Sterne aus Glanzpapier, aus denen man gleichmäßige, leuchtende Sträuße zusammenstellt. Ich gab mir Mühe, die Grüße abzuschreiben, die man uns für Weihnachten, zum ersten Mai und zum Muttertag beibrachte, fügte bald schon Eigenes hinzu, verzierte meine Seiten mit Initialen, um die ich Ranken und Vögel zeichnete, übertrug in Schönschrift selbst erdachte Gedichte. Und ich fand meinen Platz auf dem Pausenhof. Zu meinem Repertoire gehörte das Vorzeigen kleiner Geschenke, Mitbringsel meines Vaters, der bei Darl’mat arbeitete: winzige Wappen zwischen Löwenkrallen, dem Emblem des Karosseriebauers, manchmal als Schlüsselanhänger, sowie Plastikfiguren, die an Tankstellen verschenkt wurden. Eines Tages führte ich ein Esso-Männchen aus Schaumgummi vor, ein kleiner Grobian spielte damit und riss ihm den öltropfenförmigen Kopf ab. Ich zuckte nicht mit der Wimper. Ich räumte die zwei Teile nebeneinander in meinen Schulranzen und sagte mir, wenn ich zu Gott betete, den ganzen Heimweg über, würde ich sie zu Hause geklebt vorfinden. Gott wusste, wie wichtig mir das war. Als ich den Schulranzen wieder öffnete, glaubte ich, nicht genug gebetet zu haben, und gab mich mit dieser Erklärung zufrieden. Es gibt Kinder, die verwandeln sich in schäumende Wasserspeier, wenn sie auf den Widerstand der Wirklichkeit stoßen. Mir jedoch war eine Form von Passivität eigen, die mich an der Oberfläche der Welt dahingleiten ließ, ich folgte den sanften Steigungen und schmiegte mich nebenbei an die Unebenheiten. Ich malte für mein Leben gern, und vielleicht ist derjenige, der seinen Blick an die Dinge um sich herum heftet und mit der Nase dicht über dem Blatt darauf achtet, dass seine Hand nicht abrutscht, gegen das Gefühl irgendeiner Kluft zwischen sich und den Dingen geschützt. Auch handelt ein Kind, das etwas mitgehen lässt, nicht unbedingt im Gedanken, sich anzueignen, was ihm nicht gehört, vielleicht will es ganz einfach nicht den Blick vom bewunderten Gegenstand lassen und legt deshalb die Hand darauf. Leider sind Eltern selten offen für diese Interpretation; meine kreuzehrliche Mutter fügte mir die erste Demütigung meines Lebens zu. Ich hatte sie in eine Parfümerie begleitet. Zu Hause angekommen bemerkte sie, dass ich eine Schachtel mitgenommen hatte, in der zu Werbezwecken eine Auswahl unechter, in sämtlichen Rot- und Rosatönen glitzernder Nägel angeordnet war. Ich wurde prompt ins Geschäft zurückgeschleppt, wo sie meinen Arm schüttelte und von mir verlangte, das Diebesgut zurückzugeben und eine Verkäuferin um Vergebung zu bitten, die sich wesentlich großherziger zeigte. Ich bin mir nicht sicher, ob ich bei dieser Gelegenheit lernte, was Diebstahl ist, und doch verstand ich wohl, dass man sich bisweilen von dem abwenden muss, was sich der Betrachtungslust so großzügig darbietet.

Das Aufrufen der Namen zu Beginn jeder Unterrichtsstunde war nicht das Einzige, was mir zur Bewusstwerdung meiner selbst als einzigartiger Person verhalf, da war auch noch das Gebet, das mich zu einer Gesprächspartnerin machte. Lange bevor ich den Religionsunterricht besuchte, als der Gipsjesus, den man für die Krippe aus der Weihnachtskiste holte, mein wichtigster Bezugspunkt war, sprach ich zu Gott, und Er hörte mich so gut, dass ich mich, ohne dass es jemand mitbekam, an Ihn wenden konnte, in der Gewissheit, dass Er meine zarte innere Stimme erkannte unter all denen, die von der Erde zu Ihm aufstiegen. Selbst wenn Seine Antworten indirekt und manchmal enttäuschend waren, hielt ich in Gedanken heimlich mit Ihm Zwiesprache. Was bedeutet, dass ich außerhalb des Kreises meiner Familie und außerhalb der Schule dachte. Und ich zweifelte nicht an meiner Fähigkeit, mit der Kraft meiner Wünsche zu handeln, die Gott in ihrer Aufrichtigkeit erkennen würde. Nun füllten diese Wünsche eine so weite Zukunft aus, verglichen mit einer so kurzen Vergangenheit, von der mein Gedächtnis ohnehin so wenig behielt, dass ich keinerlei Grund hatte, zwischen der Welt und mir irgendein Hindernis zu spüren, das für Unzufriedenheit hätte sorgen können; die grenzenlose Zukunft würde das Hindernis aus dem Weg räumen; eine Sorge, eine Enttäuschung, ein Rätsel vermochten nicht mehr als eine Welle, die nimmt und bald zurückgibt.

Bei seiner Umarmung der Welt geht ein ganz kleines Kind noch nicht ins Detail. Oder besser gesagt: Es sieht ausschließlich Details vor sich, die es jedoch als Ganzheiten auffasst; die Brust und vielleicht ein Lächeln sind alles, was es vom nährenden Körper begreift. Wenn man ein Kind so oft vor Fremden warnt, von denen es auf der Straße angesprochen werden könnte, dann doch nur, weil die banalsten Worte der Zuneigung genügen, damit es den Fremden in den offenen Schwarm der Familie aufnimmt. Die Zeit, da es groß sein und sich endlos Gedanken machen wird über die vielen Facetten der Liebe, über ihre Stärke und ihre Täuschungen, wird noch früh genug kommen! Meine Klassenlehrerin war eine hübsche junge Frau, jünger als meine Mutter, aber sie ähnelte ihr; sie war schlank, brünett und auf die gleiche Art frisiert, das kurze Haar zu einem Lockenkranz um das Gesicht gelegt, auf der einen Seite gescheitelt, sodass es auf der anderen leicht abstand. Einmal nutzte ich den Tumult am Ende des Unterrichts und hängte mich in einem Anflug fröhlicher Zuneigung an ihren Rock, hielt das Gesicht hin, forderte mit einer solchen Inbrunst Küsse ein, dass sie sich einigermaßen fassungslos, doch freundlich zu mir neigte und fragte, ob ich denn zu Hause keine bekäme. Worauf die Frage wirklich anspielte, konnte ich kaum wissen, doch um an Liebkosungen zu kommen, war ich instinktiv so listig, nicht zu antworten.

Einige Tage später saßen meine Mutter und ich im Büro der Direktorin. Es herrschte dort das gedämpfte Licht eines abgeschirmten Raumes. Die Direktorin war eine leutselige, würdevolle Frau, die ihre Autorität durch einen großen Busen hervorhob, der wie bei meiner Großmutter weich ihre Bluse ausfüllte. Diese Körperform ist in unserer heutigen Gesellschaft so gut wie verschwunden, doch lange haben »ältere Damen« diese Oberweite mit undeutlichen Konturen gezeigt, die weniger über der Taille ruhte, als dass sie sich unter der Last der Jahre dort verteilte, so wie die schönen Tonkurven der Badenden von Mahoudeau, dem Bildhauer in Zolas Das Werk