Traut den Weißen nicht! - Alain Badiou - E-Book

Traut den Weißen nicht! E-Book

Alain Badiou

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Beschreibung

Alain Badiou untersucht in Auseinandersetzung mit philosophischen, politischen und dichterischen Texten – unter anderem Derridas Von der Gastfreundschaft und Chamoiseaus Migranten –, wie es aktuell um die Sache des universalen nomadischen Proletariats steht. Ausgehend von dem französischen Phänomen der Gelbwesten und der Arroganz der Politikerkaste rückt Badiou den Gedanken in den Mittelpunkt, dass die Welt unsere Heimat ist und dass die sogenannten Migranten eine zentrale Rolle in der Gegenwartspolitik spielen. Das Ertrinken im Mittelmeer, die Festnahmen und Abschiebungen dürfen nicht länger geduldet werden. Gemeinsam mit dem universalen nomadischen Proletariat muss an einer Ethik des Welt-Lebens gearbeitet werden, an dem, was Badiou den neuen Kommunismus nennt.

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Seitenzahl: 40

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Alain Badiou

Traut den Weißen nicht!

Inhalt

Vorbemerkung

Haupttext

Anmerkungen

An die Schwelle zu diesem Buch stelle ich ein „madagassisches Lied“, das 1783 von Évariste de Parny geschrieben wurde, der dabei, wie es scheint, auf madagassische Überlieferungen zurückgegriffen hat. Es zeigt, und das ist eine gute Nachricht, dass ein radikaler, ja sogar gewalttätiger Antikolonialismus ebenso alt wie der Kolonialismus ist. Ravel, selbst ein wahrer Progressist, der insbesondere die Bolschewiken unterstützte, hat diesem Text 1926 eine herrliche Melodie gegeben.

A. B.

Trauet den Weißen nicht,

ihr Bewohner des Ufers!

In den Zeiten unsrer Väter

landeten die Weißen auf dieser Insel.

Man sagte zu ihnen: da ist das Land,

eure Frauen mögen es bauen;

seid gerecht, seid gut,

und werdet unsere Brüder.

Die Weißen versprachen, und dennoch

warfen sie Schanzen auf.

Eine drohende Festung erhob sich;

der Donner ward in eherne Schlünde gesperrt;

ihre Priester wollten uns

einen Gott geben, den wir nicht kennen;

sie sprachen endlich

von Gehorsam und Sklaverei.

Eher der Tod!

Lang und schrecklich war das Gemetzel;

aber trotz den Donnern, die sie ausströmten,

die ganze Heere zermalmten,

wurde sie alle vernichtet.

Trauet den Weißen nicht!

Neue, stärkere und zahlreichere Tyrannen

haben wir ihre Fahne am Ufer pflanzen gesehn.

Der Himmel hat für uns gefochten.

Regengüsse, Ungewitter und vergiftete Winde

sandt’ er über sie, sie sind nicht mehr,

und wir leben und leben frei.

Trauet den Weißen nicht,

ihr Bewohner des Ufers.1

In gewissen Situationen scheint eine Frage eine andere zum Verschwinden bringen zu können, die gerade noch als die wichtigste erschien.

Wir alle wissen, dass die sogenannte Immigrationsfrage – die Frage der Migranten, der Ausländer, der Flüchtlinge – noch vor kurzer Zeit die öffentliche Meinung in Frankreich, in Europa und schließlich in der gesamten sogenannten westlichen Welt, das heißt in der Gesamtheit der privilegierten Länder unseres Planeten, spaltete und heftig spaltete. Man könnte behaupten, dass seit ein paar mageren Wochen die Frage der sogenannten Gelbwesten in Frankreich die sogenannte „Migrantenfrage“, was die Äußerungen des Entsetzens und der Begeisterung in der öffentlichen Meinung angeht, ersetzt habe.

Nun ist aber die Frage der Gelbwesten in gewisser Weise das genaue Gegenteil der Frage der sogenannten „Migranten“. Es handelt sich nämlich um das Schicksal des alten Frankreichs, das bedroht ist. Zuerst sind da die französischen Angestellten auf der untersten Ebene – Handwerker, Händler, kleine Chefs und Bauern –, die sich gegen das offensichtliche Schwinden ihrer gesellschaftlichen Stellung und ihres Einkommens auflehnen, die Angst haben und wütend sind über das geringe Interesse, das man ihnen entgegenbringt, über die Verachtung, die die transnationale Oligarchie, die heute an den Schalthebeln des globalen Kapitalismus sitzt, ihnen zollt. Es handelt sich um ein Aufbegehren der Regionen und Landkreise, der schrumpfenden Städte der Provinz, der Welt der Jäger und der Gemeinderäte. Es gibt aber auch ein großes vorstädtisches Kleinbürgertum und namentlich eine große Anzahl an Rentnern, die am Ende ihrer schwierigen Monate das Gespenst der Verarmung, der Proletarisierung umgehen sehen. Es handelt sich um jene Welt, die erlebt und ausspricht, dass sie von den Staatsmächten – Mächten, die selbst im Dienste der Mächte des Kapitals stehen – in einem sehr spürbaren Sinne aufgegeben worden ist. An dieser Aufgabe, dieser Verlassenheit lässt sich auch der schleichende erdgeschichtliche Niedergang ablesen, in dem sich heute Europa und die Welt, die sich westlich und demokratisch nennt, dahinschleppen. Die Aufgabe und Verlassenheit einer alten, provinziellen, alternden, vorstädtischen und kolonialen Welt, die den jungen Schnöseln aus den Wirtschaftshochschulen, der Sciences Po oder der ENA, deren Prototyp Macron ist, herzlich gleichgültig ist.2

So stehen sich eine globalisierte Moderne, in Gestalt einer arroganten und letztlich kriminellen kapitalistischen Oligarchie, und der Archaismus einer landesweiten und umfassenden Reaktion gegenüber, die von jenem Teil der Gesellschaft vorangetrieben wird, der durch die Entfaltung des zeitgenössischen Kapitalismus in dem bedroht wird, was lange Zeit seine kleinen Privilegien waren. Frankreich – ein im Vergleich zu den Ungeheuern vom Typ der Vereinigten Staaten oder Chinas kleines und im Niedergang begriffenes Reich – kann die Unterstützung der unteren Mittelschichten, die immer das waren, worauf sich unsere berühmten „Demokratien“ im Wesentlichen stützten, nicht länger zu einem vernünftigen Preis – in Form von Gehältern, öffentlichen Dienstleitungen und „sozialen Vergünstigungen“ – erkaufen.

Wir stehen also auf der einen Seite unvermeidlicher Weise einem Staat gegenüber, der den Erfordernissen des Weltmarktes und einer Handvoll Milliardäre unterworfen ist, und auf der anderen Seite einer Protestbewegung, die zwar aus dem Volk zu kommen scheint, deren politische Vision aber undeutlich, schüchtern (man gelangt nicht zum Kern der Frage, das heißt zur Frage nach dem Privateigentum der Produktionsmittel und der internationalen Konkurrenz), nationalistisch (in einer Zeit, in der Frankreich ein zukunftsloses Gebilde ist) und aus falschen Gerüchten gestrickt ist. Der einzige wirklich auf der parlamentarischen Bühne organisierte Teil dieser Bewegung ist die extreme Rechte.