Triskelion - Finn Raven - E-Book

Triskelion E-Book

Finn Raven

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nachdem seine Mutter spurlos verschwunden ist, muss der achtzehnjährige Joe mit seinen drei Geschwistern allein klarkommen. Um nicht voneinander getrennt zu werden, verheimlichen die vier ihre Situation, müssen aber rasch für ihren Lebensunterhalt sorgen. Da kommt ein Untermieter für ihr Gartenhaus gerade recht! Aber hat wirklich ein glücklicher Zufall ausgerechnet den undurchschaubaren Dany zu ihnen geschickt oder steckt etwas anderes hinter seiner Anwesenheit? Als Dany sich immer mehr in die Herzen seiner Geschwister schleicht, muss Joe mit Erschrecken feststellen, dass sein geheimnisvoller Untermieter Polizist ist – und anscheinend mehr über das Verschwinden seiner Mutter weiß, als gut für alle Beteiligten ist

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 550

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog
Allein
Ein Untermieter
Triskele
Kleine Schwindeleien unter Freunden
Versuchungen
Ein böser Verdacht
Angst und Besessenheit
Erpressung
Ein Verdacht bestätigt sich?!
Das ist SM
Spiel, Satz und Sieg
Zweifel
Konfrontation
Unangenehme Beweise
Strafen
Endspiel?
Fallengelassen?
Provokation?
Verwirrende Signale
Ausweg oder Strafe?
Trophäe
Outing
Wahrheit
Entführt
Gehorsam
In der Höhle des Löwen
Immer und ewig?
Die Endgültigkeit des Endes
Epilog

Finn Raven

Triskelion

Fremden vertraut man nicht

Romantic Thrill

Finn Raven

Jahrgang 1996, studierte Finn Raven Anglistik und vergleichende Religionswissenschaften.

Nach einigen englischsprachigen Veröffentlichungen ist nun sein erstes Buch bei Elysion-Books erschienen.

Finn Raven

Triskelion

Fremden vertraut man nicht

Romantic Thrill

ELYSION-BOOKS

Print; 1. Auflage: August 2022

eBook; 1. Auflage: August 2022

VOLLSTÄNDIGE AUSGABE

ORIGINALAUSGABE

© 2022 BY ELYSION BOOKS GMBH, LEIPZIG

ALL RIGHTS RESERVED

UMSCHLAGGESTALTUNG: Ulrike Kleinert

www.dreamaddiction.de

FOTO: © Bigstockphoto

ISBN (vollständiges Ebook) 978-3-96000-153-9

ISBN (gedrucktes Buch) 978-3-96000-130-0

www.Elysion-Books.com

Triggerwarnung

Hier sollte eine Triggerwarnung stehen.

Im Sinne der Kunstfreiheit habe ich mich aber erst einmal dafür entschieden, den geschätzten Leser vor der Triggerwarnung zu warnen und ihm hier die Chance zum Umblättern zu geben.

Wer sich also nun genügend gewarnt fühlt (es ist ein Thriller!), bitte jetzt umblättern.

Ansonsten möchte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass das Buch Gewalt, Entführung, Erpressung, Missbrauch, Folter und homophobe Darstellungen enthält.

Des Weiteren kommt es im Rahmen der Handlung zu nicht einvernehmlichen sexuellen Begebenheiten.

Prolog

Sie lag im Sterben und er sah ihr dabei zu, ruhig wie der Tod.

Aus leicht geöffneten Augen betrachtete sie den attraktiven Mann, der am Fußende ihres Bettes stand und versuchte, in ihm nicht den Feind zu sehen. In all den Stunden hatte sie keinen einzigen Ton von sich gegeben, keine seiner Fragen beantwortet und voller Genugtuung beobachtet, dass er aus nichts, was sie bei sich trug, einen Hinweis auf ihre Familie hatte finden können.

Sie war eine Jane Doe und würde es auch weiterhin bleiben. Beinahe andächtig strich sie mit ihren verätzten Fingerspitzen über das weiße Laken des Krankenhausbettes und dachte daran, wie seltsam es war, dabei kaum etwas zu empfinden. Ihre ganze Kraft war einzig darauf fokussiert, ihrem Gegenüber keinen Anhaltspunkt zu geben. Auch, wenn ihre Selbstsicherheit unter seinem Schweigen langsam aber sicher Risse bekam. Er war unheimlich. Sein Schweigen furchteinflößend. Noch nie war ihr jemand untergekommen, der so still stehen konnte. Wie ein Jäger, der auf einen einzigen Fehler seiner Beute lauerte.

Selbst diese Erkenntnis kostete sie beinahe mehr Kraft, als ihr noch verblieben war, und sie konnte förmlich spüren, wie das Blut in ihrem Körper langsamer floss. Doch die schönen Gedanken wollten einfach nicht kommen, die Erinnerung an ihre Kinder und die tollen Jahre, die ihnen vergönnt gewesen waren. Stattdessen blieb die Furcht vor dem Dunkelhaarigen und die Angst um ihre Familie allumfassend.

Dann war er da, der langanhaltende, durchgehende Ton des medizinischen Überwachungsgerätes und er durchdrang jedes andere Empfinden. Wie von Außen sah sie die Krankenschwestern und den Arzt in den Raum strömen, doch auch ihr Wie-von-Außen-Blick war auf den Mann fixiert. Nur am Rande nahm sie wahr, dass auf weitere Maßnahmen verzichtet wurde. Der Krebs hatte gesiegt. Sie hatte gesiegt!

Allein

Joe starrte auf die Uhr und seine Laune sank im selben Maße, in dem er sein Pokerface verlor.

In den letzten zwei Jahren hatte er sich einen Panzer der Unnahbarkeit gehüllt und die Rolle des Erwachsenen nach außen hin perfekt verkörpert. Aber seine Unschuld hatte er erst in den letzten drei Monaten verloren und war noch fast 8400 Stunden davon entfernt, einundzwanzig und damit volljährig zu sein. Etwas, was ihn nicht daran gehindert hatte, in den letzten zwei Jahre die Verantwortung für seine Familie zu übernehmen und in den letzten drei Monaten die komplette Position als Familienoberhaupt zu beanspruchen. In derselben Geschwindigkeit, in der seine Mutter zerfiel und Opfer ihrer Krankheit wurde, hatte Joe gelernt, älter zu wirken, mit Finanzen zu jonglieren und eine Scheinwelt für sich und seine Geschwister aufzubauen. Natürlich hatte er ab und zu überlegt, den US-Bundesstaat zu wechseln, um seiner Verantwortung auch offiziell gerecht werden zu können, aber der Papierkram war gigantisch und eine Garantie, dass alles wie geplant klappte, gab es nicht. Außerdem konnte er es sich schlichtweg finanziell nicht leisten.

Er seufzte, als er im Geiste die Bundesstaaten durchging, in denen er bereits jetzt mündig wäre. Aus den meisten von ihnen hatte seine Mutter in den letzten Monaten aus öffentlichen Telefonzellen heraus angerufen. Leider nicht an diesem Morgen. Und das machte alles anders.

Joe überlegt, wie er die schlechten Nachrichten überbringen sollte. Aber der Anruf war von dem Wegwerfhandy für den letzten Tag gekommen, daran gab es nichts schönzureden. Genauso wenig wie an dem Haufen Schrott, der sein letztes Geburtstagsgeschenk gewesen war und nun nur noch rudimentär an ein tragbares Telefon erinnerte. Ebenfalls nicht zurückverfolgbar. Trotzdem hob Joe mit zittrigen Fingern alles auf, was auch nur entfernt an Elektronik erinnerte, und ließ es in sein Wasserglas fallen. Sicher war sicher.

Noch während er zusah, wie alles auf den Boden sank, sickerte die Erkenntnis in sein Bewusstsein: Es ging zu Ende!

Nein, er schüttelte den Kopf. Es war bereits zu Ende. Schon seit einer gefühlten Ewigkeit. Er hatte es nur nicht wahrhaben wollen. Er unterdrückte die Tränen. Selbst jetzt, nach dem Anruf, konnte und wollte er es nicht glauben. Erst wenn er sie sah … Er schluckte und versuchte, den Kloß in seinem Hals zu ignorieren und den Gedanken zu verdrängen. Wenn er den Gedanken nicht verdrängen würde, würde es auch für ihn zu spät sein – und für seine Geschwister.

Joe konnte den Blick seines Bruders Michael spüren und lächelte ihm aufmunternd zu, während der Sechzehnjährige näher kam.

»Meinst du immer noch, dass es klappt?«, erkundigte er sich und setzte sich neben Joe.

»Es muss!« Entschlossen ballte dieser die Hände zu Fäusten, als könne er sich so gegen das Schicksal auflehnen. Aber es musste einfach funktionieren! Es war alles, was ihm blieb. Nur noch elf Monate, dann konnten sie einer Jane Doe aus New York einen Namen geben und ihr eine würdevolle Beerdigung zukommen zu lassen. Bei dem Gedanken daran, dass seine tapfere Mutter eingefroren werden würde, schüttelte Joe den Kopf. Sie würde einfach nur eine namenlose Tote unter vielen sein und fast zwölf Monate im Leichenschauhaus aufgebahrt liegen, bevor sie den Weg in ein trauriges Grab fand. Ob es irgendwo eine Extraparzelle gab für all die Jane Does oder John Does dieser Welt?

Joe wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und hoffte, dass Michael den kurzen Moment der Schwäche nicht mitbekommen hatte. Schwäche konnte er sich nicht leisten. In den nächsten Monaten musste er stark sein für die Familie, für seine kleinen Geschwister. In elf Monaten – ja, in elf Monaten, da konnte er dann auch endlich trauern.

Michael lehnte sich vertrauensvoll an seine Schulter. Gerade als Ricarda in sein Sichtfeld trat. Sie sah abgearbeitet und müde aus – und viel älter als sie es mit ihren vierzehn Jahren sollte. Trotzdem schwenkte sie fröhlich einige Geldscheine, die sie sich beim Rasenmähen in den Gärten der Nachbarn verdient hatte.

»Bob hat gesagt, ich kann bei ihm auch einmal die Woche putzen«, rief sie den beiden schon von Weitem zu. »Und Frau Young wollte ihre Cousine fragen, ob ich dort auch Rasenmähen kann.«

Joe schenkte ihrer Schwester ein aufmunterndes Lächeln und ein »Thumbs up«, obwohl er sich nach allem fühlte, aber nicht nach Fröhlichkeit und guten Nachrichten. Denn so richtig gut waren diese trotz allem nicht. Selbst selbst wenn er diese zwei neuen Jobs mit einrechnete und die Extrastunden, die Michael gestern in der Frittenbude herausgeschlagen hatte … dazu die psychologischen Fachartikel, die er selbst neben der Uni schrieb, würde es knapp werden. Joe seufzte, weil er wusste, dass er sich etwas vormachte. Es würde nicht knapp werden, es war unmöglich. Zumindest, wenn sie weiterhin essen wollten.

Er drehte sich zum Haus um und betrachtete die abbröckelnden Farben, die welken Blumen und die verschobenen Dielen, die den Weg zur Tür zu einer wackeligen Angelegenheit machten. Die guten Zeiten waren schlichtweg vorbei. Waren es schon seit der ersten Diagnose.

Es war unfair, so zu denken, er wusste, wie gerne Ma ihnen Geld dagelassen hätte ... Aber sie hatte wegen der Krankheit ihren Job verloren und keine Chance mehr gehabt, etwas Neues zu finden. Die Ersparnisse waren für die Therapie draufgegangen und zum Schluss – also zurzeit – lebten sie von der Hand in den Mund.

»Wir könnten das Gartenhaus vermieten«, schlug Michael vor, der den Blick seines großen Bruders richtig interpretiert hatte, und deutete Ricarda, sich ebenfalls zu ihnen auf die Treppe zu setzen.

»Klar, wie in dem Film mit dem Mentalisten«, meinte Joe und verdrehte die Augen. »Wie heißt der Schauspieler aus der Serie doch gleich?«

»Sehe ich aus wie ein Filmlexikon?«, konterte Michael, überlegte aber einen Moment und fragte: »War der da nicht ein Serienkiller?«

»Keine Ahnung, aber es war ein Krimi«, meinte Joe. »Es ist eine Ewigkeit her, seit wir den Film gesehen haben und ich weiß nur noch, dass der Typ heiß war.«

»Dann brauchen wir wohl eine Untermieterin für mich – gegen was Heißes hätte ich nichts!«, seufzte Michael und Joe war froh über die Ablenkung.

»Ich auch nicht!«, gab er deswegen zu. »Aber wie verzweifelt müsste man sein, um bei uns zur Miete zu wohnen?«

Sein Blick schweifte zu der Gartenhütte. Als Dad noch bei ihnen gewesen war, war sie schick gewesen, jetzt diente sie als großer Abstellraum. Unbrauchbar war die Toilette, ungenutzt der Kamin und die Kochnische, die Dad extra für Gartenpartys gebaut hatte, – Partys, die es seit seinem Verschwinden nicht mehr gegeben hatte – war längst eine Heimat für unzählige Spinnen. Allein der Gedanke an die Atelierwohnung mit der Schlafnische unter dem Dach erinnerte Joe an den Streit am Vorabend von Dads Verschwinden.

Trotzdem wäre es eine Alternative und die Hütte hat ja auch früher oft als Gästewohnung hergehalten, überlegte er.

»Wenn das Dach noch dicht ist, könnte ich mir das gut vorstellen!«, gab Joe zu und fügte geistig hinzu: Und wenn es im Inneren ordentlich und aufgeräumt wäre, könnte es sogar dreihundert Dollar im Monat bringen.

»Man könnte sogar ein Stück von unserem Garten abtrennen, damit der Mieter ein eigenes kleines Reich hat«, schlug Michael vor und sein Lächeln verriet Joe, woran sein kleiner Bruder dachte: An das weibliche Pendant zum Mentalisten und wie sie im Bikini im Garten schuftete.

»Simon Baker«, meinte Ricarda andächtig und riss ihre Brüder aus den Tagträumen und zurück in die Trauer, die sich innerhalb von Sekunden bleischwer über die kleine Gruppe legte. Auch ohne Erklärung ahnte Ricarda, was das zerstörte Handy zu bedeuten hatte, und auch Julian, dessen Ankunft durch das Knatschen der Dielenbretter verraten wurde, schien die Stimmung innerhalb von Sekunden richtig zu deuten. Er umarmte Joe von hinten und klammerte sich so fest an ihn, dass es beinahe schmerzhaft war.

»Hei, Kleiner!«, begrüßte Joe das Familien-Nesthäkchen und zog ihn ein wenig zur Seite, um seinen Griff zu lockern.

»Ich vermisse sie«, murmelte Julian in Joes Schulter.

»Ich vermisse sie auch!«, meinte der Älteste und Michael und Ricarda nickten stumm und ließen zu, dass Joe auch sie umarmte.

Der Sonnenuntergang ist beinahe zu schön, um nicht kitschig zu sein, dachte er und konzentrierte sich auf die Farben, um das Handy verdrängen zu können – und alles, was damit zusammenhing.

Es klappte nicht.

Entschlossen, weiterhin der Familienfels in der Brandung zu sein, löste sich Joe von den anderen und stand auf, um ins Haus zu gehen. Dabei fiel sein Blick auf seinen kleinsten Bruder.

»Wo ist das denn her?« Die Frage war ihm entschlüpft, bevor er den Tonfall und seinen Gesichtsausdruck unter Kontrolle hatte bringen können. Aber das blaue Auge und der dicke Kratzer auf Julians Oberarm waren zu prägnant, als dass sein erster Gedanke den Umweg übers Gehirn hatte nehmen können. Er musterte seinen kleinen Bruder besorgt und sein Blick blieb an den Schuhen hängen – oder besser dort, wo Julians Schuhe sein sollten. »Was ist passiert?«

»Justin ist passiert«, gab Julian zurück.

»Schon wieder?« Joe war entsetzt, hatte er doch allein in den letzten zwei Wochen bereits dreimal wegen ähnlicher Vorfälle mit Justins Mutter telefoniert.

»Tut mir leid«, meinte Julian so zerknirscht, als sei es seine Schuld, dass der ältere Junge ihn nach der Schule abgezogen hatte.

»Es reicht!« Joe stampfte entschlossen los. Er war genau in der richtigen Stimmung, um einmal persönlich bei Justin und seinen Eltern aufzutauchen. Die Ablenkung kam ihm gerade recht!

***

Als er vor der dem Haus der anderen Familie stand, war sich Joe nicht mehr sicher, ob er wirklich eine gute Idee gehabt hatte. Im Gegensatz zu den anderen Häusern in der Straße wirkte dieses hier ungepflegt und irgendwie … anders. Dazu kam die heruntergekommene Hundehütte in der Auffahrt und ein bellender Köter, der zum Glück angekettet war und sich nur auf kleinem Radius bewegen konnte.

»So fangen immer die ganzen blöden Horrorfilme an«, murmelte er leise und dachte daran, wie oft er irgendeiner doofen Tussi im Kino den Tod gewünscht hatte, nur weil diese nicht auf ihre innere Stimme gehört hatte.

Joe schüttelte den Kopf, atmete kurz durch und dachte daran, dass Justin nur ein kleiner, ungezogener Junge war und seine Familie einfach nur ein wenig … überfordert, bevor er entschlossen auf die Türklingel drückte.

Danach dachte er nur noch daran, wie unfair das Leben sein konnte und wie wütend er darüber war, dass er hier stehen musste und nicht seine Mutter diesen Job übernehmen konnte.

»Ja?« Die Tür wurde aufgerissen und ein Mann in einem Feinrippunterhemd und Boxershorts stand vor ihm. Fehlte nur noch eine Bierdose in seiner Hand, aber auf die hatte das Schicksal glücklicherweise verzichtet. Trotzdem wirkte der Mann ungehalten und so als habe Joe ihn eben aus dem Schlaf gerissen – immerhin war der Hund bei dem Auftritt verstummt und hatte sich in seine Hütte verzogen. »Wir kaufen nix an der Tür!«

»Das ist gut, denn ich verkaufe auch nichts«, meinte Joe und versuchte sich an einem höflichen Lächeln. »Mein Name ist Joe Schreiber, ich bin der Bruder von Julian.«

»Soso …« Der Blick des Mannes wurde noch abschätziger und er musterte den Jüngeren von oben bis unten. »Sie haben hier schon mal angerufen?!«

»Ihr Sohn hat meinem Bruder heute die Schuhe geklaut, so dass Julian barfuß nach Hause laufen musste«, erklärte Joe, ohne auf die Frage seines Gegenübers einzugehen.

»Passen ohnehin nicht«, entgegnete der Feinrippträger ungehalten und so, als interessiere ihn dieses Gespräch und Joes Verärgerung nicht wirklich – oder sein Sohn.

»Bitte?« Joe trat einen Schritt zurück und wusste nicht, ob er seinen Ohren trauen konnte oder ob ihm seine Fantasie einen Streich gespielt hatte.

»Wir müssen eben sparen«, erklärte Justins Vater.

»Ah, und das ist ein Grund, um zu klauen?«, hakte Joe nach.

»’nen besseren gibt es nicht!« Justins Vater zuckte mit den Schultern und lächelte kalt, bis Joe den Blick abwandte. Verwirrt blinzelte er und versuchte, die Antworten des Vaters in einen Zusammenhang mit seinem Wunschgespräch zu bringen. Aber alle Worte, die er sich zurechtgelegt hatte, ergaben angesichts seiner Unverfrorenheit einfach keinen Sinn mehr. Er versuchte, auf sichereres Terrain zurückzurudern. »Passen Sie auf, bis jetzt habe ich darauf verzichtet, Anzeige zu erstatten, weil Ihr Sohn noch ein Kind ist. Aber Dank dieses Gesprächs sehe ich mich nun gezwungen, die Polizei zu rufen«, erklärte er so würdevoll, wie es ihm überhaupt möglich war.

»Da sind Sie zu spät!« Der Vater trat einen Schritt aus der Tür heraus und erst jetzt, wo er beinahe frontal vor ihm stand, fiel Joe auf, wie groß er war – und wie bedrohlich.

»Das habe ich schon gemacht!« Er trat einen Schritt vor und drängte Joe allein durch sein Näherkommen zurück und in die Ecke der Veranda. »Aber wenn du jetzt brav bist, werde ich den Polizisten erzählen, es sei nur ein Missverständnis gewesen.«

Vollkommen überrumpelt starrte Joe sein Gegenüber an und registrierte den Klang von Polizeisirenen in der Ferne. Keine Frage, sie kamen näher.

»Schade, dass ich nicht schwul bin, sonst könntest du mir einen blasen oder mir deinen kleinen Arsch hinhalten, du Homo-Schwächling!«, meinte der Mann, der Joes Verwirrung als Angst deutete, und kam noch einen Schritt näher.

Ohne nachzudenken, stieß Joe den Mann mit beiden Händen zurück und versuchte instinktiv aus der Ecke zu kommen. Eine Flucht, die ihm fast gelang. Im nächsten Moment traf ihn der Schlag und ließ ihn zu Boden gehen. Einige Sekunden lang versuchte er, zu begreifen, was geschehen war und wie er von der Veranda auf den Rasen gefallen war, aber der Schmerz in seiner linken Gesichtshälfte war zu intensiv, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte.

Erst nach einigen Atemzügen gelang es ihm, den Schmerz zuzuordnen und zu realisieren, was geschehen war. Beinahe im selben Augenblick wurde er von hinten gepackt und auf die Beine gerissen. Benommen wankte er und wäre wieder zu Boden gegangen, wenn die fremden Hände ihn nicht aufrecht gehalten hätten.

Er konnte hören, dass derjenige, der ihn hielt, sprach, aber die Worte ergaben keinen Sinn und klangen sowieso wie durch Watte gesprochen. Dafür nahm er umso genauer wahr, dass ein Kind weinte. Justin! Joe drehte sich um und sah, dass im Türrahmen des Hauses eine Frau stand, vermutlich die Frau des Unholds, der ihn geohrfeigt hatte und die ihre Arme schützend um ihren Sohn gelegt hatte. Beide versteckten sich scheinbar verängstigt hinter dem Vater und Justin jammerte und klagte, was das Zeug hielt, und zeigte beim Schauspielern deutlich mehr Talent denn als Dieb. Unterstützt wurde sein Auftritt von einem Veilchen und einer blutenden Lippe.

Joe blieb der Mund offen stehen, aber er war nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu verfolgen oder einen Ton von sich zu geben.

***

Richtig zu Sinnen kam Joe erst, als er im Polizeiauto saß. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie lange er bereits auf der Rückbank saß und nach draußen starrte. Hinaus zu dem Mann, der in wenigen Minuten sein Weltbild und sein Selbstbewusstsein erschüttert hatte, und dafür verantwortlich war, dass er wie ein Schwerverbrecher behandelt wurde. Trotzdem war er unglaublich froh darüber, dass die Polizei ihn aus der Situation gerettet hatte. Etwas, was er auch sagte, sobald die zwei Polizisten wieder im Auto saßen und losfuhren.

»Sie müssen jetzt noch keine Aussage machen, warten Sie, bis wir auf dem Revier sind«, meinte der Fahrer und starrte danach so konzentriert auf die Straße, als mache er Joe für das blaue Auge des Jungen verantwortlich.

»Aber ich habe überhaupt nichts gemacht!«, protestierte Joe. »Ich habe weder das Kind angerührt, noch den Vater. Ich wollte nur mit einem Erziehungsberechtigten von diesem Justin reden, da er die Schuhe meines Bruders geklaut hat.«

Der Polizist sah in den Rückspiegel, musterte ihn und langsam verschwanden die Wut und die Abscheu aus seinem Blick. »Hören Sie, ich möchte Ihnen wirklich glauben, aber die Sachlage scheint doch sehr eindeutig zu sein!« Er schwieg einen Moment. »Wir haben drei Zeugen und alle drei sagen dasselbe.«

»Lass gut sein, Hank!«, unterbrach der Beifahrer, der sich bislang damit begnügt hatte, zuzuhören und drehte sich zu ihm. »Es ist ja nicht so, als sei der Vater ein Unbekannter und der Junge hat auch schon dreimal Ärger wegen Diebstählen bekommen und ist von seiner letzten Schule geflogen.«

»Aber ...«, protestierte der Jüngere, wurde jedoch von dem anderen unterbrochen.

»Findest du es nicht auffallend, dass der Vater des Jungen sofort Name und Adresse des Angreifers zur Hand hatten?« Er lachte leise. »Oder dass nagelneue Schuhe bei der Hundehütte lagen – als Kauspielzeug?«

Er drehte sich nach hinten und sah Joe direkt an. »Also? Was ist wirklich passiert?«

Joe starrte ihn einen Moment lang an, dann begann er zu erzählen. Auch von den Tagen zuvor, Julians Lederjacke und der Erpressung, für Justin die Hausaufgaben zu machen. Als er endete, meinte er nur, seine Wut kaum noch unterdrückend: »Ich hatte schon mehrfach mit der Mutter gesprochen.«

Der Polizist nickte und selbst der Fahrer wirkte nun, als glaube er ihm. »Sie sah nicht so aus, als habe die viel zu melden!«

Joe kämpfte gegen die Tränen an und wusste selbst nicht, ob es Tränen der Wut waren, welche aus verletztem Selbstvertrauen entstanden oder weil er wirklich traurig über die Situation war.

»Passen Sie auf, Jungchen!« Der Beifahrer seufzte. »Ich glaube Ihnen.« Er sah zu Hank. »Wir schreiben in den Bericht: Häuslicher Unfriede geklärt und lassen alles andere verschwinden.«

»Wirklich?«, meinten Joe und Hank beinahe zeitgleich. Doch während Joe erleichtert wirkte, schien die Sache Hank nicht zu gefallen, denn er wiederholte: »Wirklich, George?«

»Wirklich!«, meinte der Angesprochene, drehte sich um und zwinkerte Joe aufmunternd zu. »Allerdings bringen wir Sie nach Hause. Sind Ihre Eltern da?«

»Mein Vater ist vor Jahren mit der Haushälterin davongelaufen und meine Mutter ist arbeiten«, erklärte Joe und log nur bei der zweiten Hälfte der Erklärung. Mit gemischten Gefühlen sah er zu, wie sie in die Straße einbogen, die er auf dem Hinweg zu Justin gegangen war und sich seinem Haus näherten.

»Deswegen haben Sie den Retter für Ihren kleinen Bruder gespielt?«, erkundigte sich der nette Beifahrer.

»Habe ich zumindest probiert«, meinte Joe und musste sich keine Mühe geben, um geknickt zu wirken. Es reichte ihm vollkommen, dass sein Bruder die Ankunft des Polizeiautos vor ihrem Haus aus dem Fenster beobachtete. Selbst auf die Entfernung konnte er sehen, wie er erschrak, als der Fahrer die hintere Tür öffnete und Joe aussteigen hieß.

Auch George stieg aus. »Nächstes Mal warten Sie besser auf Ihre Mutter!«, riet er und sah ihn direkt an. »Oder rufen mich an, bevor Sie eine Heldennummer abziehen!«

George kramte in seiner Tasche und zog schließlich eine Visitenkarte hervor, danach einen Stift. »Das ist meine Handynummer«, erklärte er, während er schrieb. Dann reichte er Joe die Karte mit einem Lächeln. »Ich hatte auch mal einen kleinen Bruder, für den ich der Held sein wollte!«

»Danke!«, meinte Joe und versuchte sich ebenfalls an einem Lächeln. Es wollte ihm nur halbherzig gelingen, weil er immer noch schockiert war, aber sein Gegenüber schien es ihm nicht übel zu nehmen, sondern deutete noch einmal auf die Karte, bevor er einstieg.

Erst als das Polizeiauto aus seinem Blickfeld verschwunden war, traute sich Joe, die Realität zu akzeptieren und auf die Karte zu sehen: Er hatte versagt!

***

Immer noch war Joe so wütend und so aufgekratzt, dass er förmlich spürte, wie Adrenalin durch seine Adern pochte. So ein Arschloch!

»Rose?«, rief er, kaum, dass er das Vorzimmer der Professorin betreten hatte. »Ich bin da!«

»Du bist spät dran!«, behauptete eine weibliche Stimme aus einem der Zimmer. Das Schaben eines Stuhls auf dem Laminatboden war zu hören.

»Ich hatte einen Zusammenstoß mit einem Vater aus der Schule«, erklärte Joe und wunderte sich darüber, dass noch kein Dampf aus seinem Mund quoll.

»Justin?«, riet Rose, die in der Tür erschienen war und ihn über den Rand ihrer Brille hinweg besorgt musterte. Immerhin schien die Ältere zu ahnen, dass die Begegnung nicht gut gelaufen war.

»Volltreffer!«, bestätigte Joe.

»Und, hast du den kleinen Scheißer angezeigt?«, erkundigte sich die Professorin und achtete auf jede Reaktion ihres Schützlings, damit ihr keine Regung entging.

»Nein, aber der Vater mich. Nachdem er versucht hat, mich zu sexuellen … Dienstleistungen zu erpressen.« Joe stampfte wütend auf und offenbarte damit zum ersten Mal sein wahres Alter.

»Was?« Rose wirkte entsetzt, dabei war die Professorin wirklich tough und nicht umsonst Dozentin für Psychologie und Kriminologie.

»Von den beiden hätte ich gerne ein Persönlichkeitsprofil«, meinte sie und schien über das, was ihrem Schützling geschehen war, genauso wütend wie Joe selbst.

»Kann ich dir geben«, behauptete Joe. »Der Kleine ist ein Serientäter in Ausbildung und der Vater ist ein Frauen-verachtendes Weichei, dem die Fresse poliert werden müsste.«

»Ich liebe es, wie du Dinge so diplomatisch und fachlich präzise auf den Punkt bringst.« Rose strich sich einige der dunklen Haare, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, aus dem Gesicht, und kramte anschließend in den Unterlagen, die sie in der Hand hielt. »Da bin ich doch gleich doppelt gespannt darauf, wie du dich demnächst bei deiner Doktorarbeit schlägst!«

Joe jubelte und griff nach der Mappe, die seine Freundin ihm lächelnd entgegenhielt. Ein Blick auf die Überschrift ernüchterte ihn.

»Das?« Verwirrt drehte er die Mappe in den Händen, als könne sie sich in etwas anderes verwandeln. »Das habe ich nicht eingereicht.«

»Nein, aber ich«, grinste Rose und schien gar nicht zu bemerken, dass Joe von dem Thema nicht sonderlich angetan war.

»Wieso?«, fragte Joe und hörte auf die Mappe zu drehen, da er begriff, was seine Mentorin ihm angetan hatte.

»Weil deine ersten vier Vorschläge abgelehnt wurden und die nächsten zwei auch nicht besser waren. Außerdem denke ich, dass du dafür ein Händchen hast.«

»Für Serienkiller?«, platzte es aus Joe heraus, die die Idee immer schlechter fand.

»Das ist kein Killer!«, korrigierte Rose automatisch. »Zumindest vermutlich nicht. Oder auch ‚noch nicht‘.«

»Mmmhhh...« Joe wog die Unterlagen in den Händen.

»Wir haben ziemlich viel Material über ihn oder sie und ich möchte, dass du dich auf diese Aufgabe genauso stürzt, wie du dich auf alles andere gestürzt hättest«, meinte Rose, die langsam registrierte, dass ihr Thema bei Joe nicht gut ankam.

»Natürlich!«, erwiderte Joe, klang aber sogar für seine eigenen Ohren nicht sehr überzeugend.

»Vielleicht schnappt die Polizei ihn ja aufgrund deiner Arbeit«, versuchte Rose zu motivieren.

»Der ist noch frei?!«, erkundigte sich Joe entsetzt, da er bislang nur die erste Seite überflogen und die Fotos der Opfer betrachtet hatte. Aber plötzlich fühlten sich die Unterlagen deutlich schwerer an. »Du hast mir seit den Jahren, in denen ich nun für dich arbeite immer gesagt, ich soll auf meinen Instinkt vertrauen, richtig?«

Rose nickte.

»Dann sollte ich ablehnen.«

»Warum?«

»Keine Ahnung, ist nur ein Gefühl!« Joe schüttelte den Kopf. Bei einem freilaufenden Täter klingelten seine Warnsirenen.

»Schau es dir ein paar Tage lang an«, lockte Rose. »Ich bin mir sicher, du findest es interessant und kannst eine gute Einschätzung abgeben. Eine, die vielleicht wirklich helfen wird.«

Joe nickte, obwohl alles in ihm nach einem weiteren »Nein« schrie. Aber wenigstens einen längeren Blick hinein war er Rose schuldig.

Die Professorin schien das genauso zu sehen, denn sie ließ Joe stehen und war aus dem Raum geflohen, bevor ihrem jungen Wissenschaftler aufgehen konnte, dass er weit mehr als nur überrumpelt worden war.

In der Woche Urlaub, die sich Joe für seine Geschwister gegönnt hatte, hatte Rose sein kleines Arbeitszimmer aufgehübscht: Die Zeitungsartikel über Joe waren gerahmt worden und hingen neben der Tür. Genau wie Joes Magisterzeugnis von der Uni. Beides hatte bislang ein eher unauffälliges Dasein im hinteren Winkel des Zimmers gefristet. Schließlich konnte Joe nichts dafür, dass er hochbegabt war und seinen Abschluss als einer der jüngsten Absolventen schon in der Tasche hatte. Wenn die Zeitungen das spannend fanden, schön für sie. Für Joe war es Normalität. Eigentlich ohnehin erschreckend. Er sollte eine Doktorarbeit schreiben, verdiente sein eigenes Geld (nicht viel, aber immerhin), war aber noch nicht volljährig genug, um im Zweifelsfall für seine Geschwister sorgen zu dürfen. Lächerlich!

Er ignorierte den Umstand, dass er die Artikel und den neuen Farbton seiner Wände – mit einem Hauch Himmelblau – hasste und setzte sich an seinen Schreibtisch, um das verfügbare Thema seiner Doktorarbeit und die dazugehörigen Unterlagen zu prüfen.

Die erste Seite war eine Zusammenfassung seiner Mentorin und erklärte, dass es um einen Unbekannten ging, der Männer entführt und gefangen gehalten hat, um sie abzurichten und zu dressieren.

Keiner der Entführten hat sein Gesicht gesehen und auch sonst seien die Aussagen widersprüchlich. Die einen meinten, er sei ein Farbiger, die anderen beschrieben ihn als weißen Mann, einige meinten, er sei dick, andere aber sagten aus, er sei dünn. Es gab Berichte über seine hohe Stimme, andere berichteten von seiner tiefen Stimme.

Joe überflog die nächsten Seiten und fasste zusammen: »Sechs entführte Männer innerhalb von einem Jahr, dann ein Jahr nichts, dann wieder sechs entführte Männer innerhalb von einem Jahr, ein Jahr Ruhe und wieder sechs Männer innerhalb von einem Jahr, seit einem Jahr ist Ruhe. Es gab keine neuen Entführungsfälle, bei denen Männer verschwanden und an ihrer Stelle eine gefärbte Rose auftauchte.«

Er starrte auf den Zettel und fuhr die Zahl nach, die er aufgeschrieben hatte: Achtzehn. Das war doch Wahnsinn! Jemand hatte über einen Zeitraum von sechs Jahren achtzehn Männer entführt, ohne genug Spuren zu hinterlassen, um dingfest gemacht zu werden?

Als Joe dieses Mal nach den Fotos der Männer griff, war er aufmerksamer und betrachtete nicht nur die Optik, sondern auch den Hintergrund der Entführten und ihren Lebenslauf. Auf den ersten Blick gab es keine Gemeinsamkeiten.

»Nur ihr Alter«, murmelte Joe und machte sich eine Notiz: Die Männer sind im Durchschnitt um die fünfundzwanzig Jahre alt gewesen.

»Daraus folgt«, murmelte er und schrieb: Vermutlich ist er zwei bis fünf Jahre älter als die Männer, höchstens zehn. Also ist er damals zwischen zweiundzwanzig und fünfundzwanzig Jahre alt gewesen.

Joe stutzte, als ihm etwas auffiel und er verglich noch einmal die Daten. Die Entführungen hatten mit einem Siebzehnjährigen angefangen und im Laufe der Zeit waren die Männer älter geworden. Vermutlich zusammen mit dem Täter. Hatte der mit neunzehn angefangen und danach das Alter der Männer an seines angepasst? Dann war er jetzt zwischen fünfundzwanzig und achtundzwanzig und hatte vor allem eines: Scheiße früh angefangen!

Joe schrieb die Worte hinter die Notiz. Dann bemerkte er, was er tat. Er machte sich Stichpunkte und beschäftigte sich mit dem Fall.

»Verdammt Rose!«, fluchte er leise. Seine Mentorin hatte wirklich gewusst, dass Joe nicht ablehnen würde! »Allein schon, weil ich in der Stadt wohne, in der er begonnen hat und jetzt in dem Alter bin, in dem ich vielleicht immer noch ein perfektes Opfer wäre«, murmelte Joe und ihm lief ein Schauer über den Rücken. Mit dem Gedanken an seinen Bruder, der sich ebenfalls in einem gefährdeten Alter befand, packte er die Mappe ein und schob auch die anderen Unterlagen, die Rose bereits auf seinen Schreibtisch abgelegt hatte, in die Tasche.

Dabei fiel sein Blick auf die Filme und Interviews, die die Profilerin zusammengetragen hatte und auf das Ausleih-Datum. Es war über eine Woche her und schlagartig fühlte sich Joe noch schlechter, hintergangen.

Ein Untermieter

Als Joe nach Hause kam, hielt er die Unterlagen von der Uni immer noch fest umklammert und hatte es nicht über sich gebracht, sie im Rucksack zu verstauen.

Aufgewühlt von dem Gelesenen und von seinen eigenen Schlussfolgerungen öffnete er das Tor, ging durch den Vorgarten, ins Haus und direkt hoch in sein Zimmer. Dort legte er die Unterlagen, die Interviews und die Filme zurecht, um sofort mit der Arbeit beginnen zu können.

Doch als er sich bückte, um seinen Computer anzuschalten, hielt er inne. War jemand im Garten? Er lauschte, aber konnte das Geräusch nicht noch einmal hören und auch durch sein Fenster war nichts zu erkennen – nur schönes Wetter.

Joe lachte leise, weil er so eine lebhafte Fantasie hatte. Vielleicht sollte er sich doch etwas Harmloseres als Doktorarbeit suchen – oder wenigstens einen Fall, bei dem der Täter schon dingfest war.

Allerdings war das Wetter wirklich traumhaft!

Nach kurzer Überlegung beschloss Joe, seinen Arbeitsplatz nach draußen zu verlegen. Er nahm die Zusammenfassung zur Hand, einen Block mit Stift, holte sich ein Wasser aus der Küche und ging auf die Veranda hinter dem Haus. Dort setzte er sich auf einen Stuhl, der zu einer kleinen Sitzgruppe gehörte, kam aber einfach nicht zur Ruhe.

Ob es an den Unterlagen lag, oder an dem Vorfall mit Justins Vater, konnte er nicht ergründen, aber die innere Unruhe zwang ihn beinahe augenblicklich wieder auf die Beine.

Er stand auf und schlenderte die Veranda entlang, einmal um das ganze Haus herum. Wie immer quietschten die Dielen auf der Frontseite, aber auch hinten bei der Sitzecke hatten sich einige der Bretter verzogen. Vielleicht sollte er einmal eine Woche opfern und versuchen, das Haus ein wenig herzurichten? Sein Blick blieb an dem Pool hängen. Es war kein Fertigpool, sondern einer aus echten Steinen und mit einem künstlichen Wasserlauf, der in einem breiten Fall endete und eine exquisite Beleuchtung aufwies. Für ihren Vater war immer nur das Beste gut genug gewesen. Aber er hatte ja auch handwerkliches Geschick gehabt und alles selbst gemacht. Joe versuchte, sich an ihn und sein Gesicht zu erinnern, aber es war zu lange her. Nur Bruchstücke tauchten in seiner Erinnerung auf. Sätze, Belehrungen, die Berührung einer Hand, sein Bart.

Aber genauso leer und schmutzig, wie der Pool war, war das Bild von seinem Vater in Joes Inneren unvollkommen und von den Jahren getrübt.

Ein wenig wütend auf sich selbst, weil er nicht gegen die plötzliche Melancholie ankam, schüttete sich Joe ein Glas Wasser ein. Er hob das Glas, setzte zum Trinken an, aber da war es wieder: das Gefühl, beobachtet zu werden.

Joe drehte sich um und da stand er. Ein Beobachter, mitten in seinem Garten!

Joe erstarrte vor Schreck. Erst ein Geräusch schreckte ihn auf, zerberstendes Glas. Instinktiv sah er nach unten. Trotzdem benötigte er einige Sekunden, um zu begreifen, dass er das Glas aus der Hand gefallen war.

Ein Einbrecher!, war sein nächster Gedanke und trotzdem konnte er sich nicht vollständig aus der Starre reißen, kam sich vor, wie in Zeitlupe gefangen, während der junge, dunkelhaarige Mann näher schlenderte und von der Diele zu den Glasscherben sah und Joes Verstand jedes Detail an ihm registrierte: Seine Bluejeans, das schwarze T-Shirt und die ebenfalls schwarzen Schuhe, eine 08/15 Uhr und ein fröhliches Lächeln auf den attraktiven Zügen, das nicht von dieser Welt zu stammen schien.

»Scheint nicht Ihr Tag zu sein!«, meinte der Fremde mit einer Stimme, die an Benedict Cumberbatch erinnerte. »Ich habe auch noch Handyreste gefunden.«

Der Mann hielt etwas hoch, was mit ein wenig Fantasie ein Stück Plastik war und mit noch mehr Fantasie ein Stück Handyplastik.

Joe räusperte sich, aber noch wollte kein Ton kommen – oder gar ein Schrei. Hatte er nicht einmal irgendwo gelesen, dass man »Feuer« rufen sollte, nicht »Hilfe«?

»Ich denke, die Dielenbretter könnte ich hinbekommen!« Der Mann lächelte und zeigte auf die Veranda. »Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.«

»Wer sind Sie und was machen Sie in meinem Garten?«, fragte Joe, der endlich seine Stimme wiedergefunden hatte, und wunderte sich darüber, wie aggressiv er klang.

»Woha!« Der Mann hob entschuldigend die Hände. Die Handflächen in seine Richtung geöffnet, eine Geste die zeigen sollte, wie harmlos er war. »Ihr Bruder ist also tatsächlich noch nicht dazu gekommen, Sie anzurufen?«

Joe konnte spüren, wie sich seine Stirn runzelte, während er versuchte, die Information in einen Zusammenhang mit der Anwesenheit eines Fremden im Garten zu bringen.

»Sie haben eine Gartenhütte zu vermieten und ich suche eine Bleibe«, erklärte der Mann, als könne er Gedanken lesen.

Joe schluckte ein »Schön für Sie!« runter und zwang sich zu einem Lächeln. Den Luxus, zu einem potentiellen Untermieter pampig zu sein, weil er ihn erschreckt hatte, konnte er sich nicht leisten. Auch wenn er ihn komisch fand.

Joe schüttelte den Gedanken ab. Wahrscheinlich war er wirklich nur sauer, weil der andere ihn so vollkommen unvorbereitet erwischt hatte – und mit dem Gedanken voller seltsamer Hirngespinste von Serienkillern und dem Mentalisten als Untermieter.

»Also«, stellte sich der Fremde vor, »Ich bin Ihr neuer Untermieter, Dany Perlham. Michael hat Ihnen einen Brief auf den Küchentisch gelegt.« Er zuckte mit den Achseln und sah zum Haus, als wollte er sagen: Sie waren doch eben im Inneren, da lag der Brief doch.

Unbehagen rieselte kalt über Joes Rücken nach unten. Wie lange hatte dieser Dany Perlham ihn beobachtet? Lange genug, um ihm dabei zuzusehen, wie er die Dielenbretter geprüft und sich Gedanken um den Pool gemacht hatte. Nein, sogar noch vorher, seit seiner Ankunft. Und er hatte keinen Ton gesagt. Warum nicht?

Perlham grinste süffisant und wirkte, als wüsste er mehr über Joes Gedankengänge, als dem lieb war. Etwas, was Joe sehr enervierend fand. Plötzlich wünschte er sich, er hätte noch sein Handy. Damit würde er sich deutlich sicherer fühlen. Eine trügerische Sicherheit, aber trotzdem.

Sein Untermieter in spe schien wieder Gedanken zu lesen, denn er hielt ihm das Handyteil hin. Dabei wirkte er äußerst belustigt und offenbarte beim Lächeln zwei Grübchen auf den Wangen.

Joe nickte ihm zu und ging in Richtung Hauseingang. Perlham folgte ihm.

»Warten Sie bitte hier?!«, forderte Joe und hasste es, weil seine Stimme so gehetzt klang. Ängstlich. Mit einem Mal fiel ihm auf, dass er gar nicht mehr wusste, wie man sich ohne Angst fühlte. Ohne Angst, jemanden zu verlieren, ohne Angst davor aufzufliegen. Und jetzt hatte er auch noch Angst vor diesem Mann. Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Er schluckte, als ihm aufging, dass alle Angstformen auf diesen Kontrollverlust hinausliefen.

Zu seiner Überraschung ließ ihn dieses Wissen plötzlich ruhiger atmen. Aber das mochte auch an der Tatsache liegen, dass Perlham tatsächlich stehen blieb, zusah, wie Joe aufschloss und die Tür gewissenhaft hinter sich zuzog. Natürlich wusste Joe, dass Perlham das Glas der Hintertür nicht lange aufhalten würde, und machte sich eine geistige Notiz, die Tür austauschen zu lassen und auch die Fenster zu sichern.

Mit schnellen Schritten ging er zum Küchentisch. Dort lag tatsächlich ein Zettel mit einer Zeile in Michaels Schrift:

Wir haben einen Untermieter :-)

Mehr nicht. Keine Infos, nicht wie der Untermieter aussah, keinen Namen. Nada. Großartig, aber typisch Michael. Es entsprach seiner Lebenseinstellung »Alles wird gut!«

Klar wurde alles gut! Aber nur, weil Joe sich darum kümmerte.

Seufzend trat Joe ans Fenster und betrachtete den Fremden. Zumindest wollte er das. Aber der ging einen Schritt nach vorne, als spüre er Joes Blick, und verschwand durch die Bewegung aus dem Blickfeld des Jüngeren. Joe wog die Chancen gegeneinander ab. Wie groß war die Möglichkeit, dass Perlham ein Killer war? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Bank ihm und seinen Geschwistern das Haus wegnahm und dann auch jemand bemerkte, dass ihre Mutter nicht mehr da war, war größer. Viel größer. Schicksalsergeben verließ er die Küche und das Haus, aber sein Gesichtsausdruck musste ihn verraten haben.

»Michael sagte schon, dass Sie es nicht mögen und sich überrumpelt fühlen würden«, meinte Perlham und musterte Joe ausgiebig.

»Verdammt richtig!«, stimmte Joe zu und tat es dem Anderen gleich. Im Gegensatz zu ihm wirkte der vollkommen entspannt, beinahe schon lässig, mit seinen dunklen Haaren, den ebenso dunklen Augen und dem leichten Lächeln, welches seine Augen nicht erreichte. Als spiele er nur den fröhlichen, ungezwungenen Untermieter.

Joe schob diesen Gedanken seiner Nervosität zu, denn eigentlich wirkte Perlham jugendhaft und süß und außerdem hatte Joe gar keine Wahl. Nicht, wenn er das Haus behalten wollte – und seine Geschwister. »Wie habt ihr die Bezahlung abgesprochen?«

Sein Gegenüber zog die Augenbraue hoch, als könne er Geldmangel riechen. »Ich habe bereits bar bezahlt – für die nächsten drei Monate.«

Joe blinzelte, doch zwischen Unglaube und Misstrauen regte sich auch eine Spur Hoffnung in ihm.

»Haben Sie Referenzen?«, brachte er trotzdem zustande.

Perlham trat einen Schritt näher an Joe heran, als weide er sich an der Unsicherheit des Jüngeren und wolle sie verstärken – oder als wolle er dem anderen die Gelegenheit geben, sich ein besseres Bild von ihm zu machen.

»An was hatten Sie gedacht?«, erkundigte sich Perlham.

»Eine Bestätigung vom Arbeitgeber und zwei Freunde mit Anschrift und Aussage zu Ihrer Person?«, schlug Joe vor.

»Reichen dreihundertfünfzig Euro im Monat?« Perlham wirkte belustigt.

Joe nickte. Wer wusste schon, wann sonst der nächste Mieter kam, der irre genug war, für das Gartenhäuschen Geld zu zahlen? »Wenn Sie Hilfe brauchen …«, begann er, »… wissen Sie ja, wo ich wohne.«

Perlham nickte und wirkte zum ersten Mal, als habe er keinen Hintergedanken. »Danke, für das Angebot. Ich werde sicher ein paarmal darauf zurückkommen müssen.«

Er drehte sich um und nahm den kleinen Seitenpfad, der zu der ziemlich zugewachsenen Hütte führte.

»Hei!«, rief Joe ihm hinterher und Perlham drehte sich langsam um. So, als überlege er noch, ob es überhaupt noch etwas zwischen ihnen zu klären gab. »Wann ziehen Sie ein?«

»Ich bin quasi schon eingezogen!« Perlham lachte, als hätte Joe eine höchst amüsante Frage gestellt und ging weiter.

Nachdenklich sah Joe dem Dunkelhaarigen hinterher und stellte fest, dass er trotz der Nachricht seines Bruders und trotz des Geldes einfach nicht wohl dabei war, einen attraktiven, geheimnisvollen Fremden in seiner Nähe zu haben. Ganz und gar nicht.

***

Er wurde durch Michaels Lachen geweckt. Der Jüngere musste wirklich früh aufgestanden sein, umso verwunderlicher war seine gute Laune. Normalerweise musste man ihn mit einem Wasserwerfer aus dem Bett spülen.

Joe wälzte sich aus dem Bett und sah aus dem Fenster, nur um festzustellen, dass ein Wasserwerfer die bessere Alternative gewesen wäre. Sein kleiner Bruder stand bei ihrem neuen Untermieter, der dem Gestrüpp, das um die Hütte herum gewachsen war, bereits mit einer Unkrautschere zu Leibe rückte und sogar schon die meisten Möbel aus seinem Mietobjekt geräumt hatte. Dabei trug Perlham eine Jeans und sein verschwitztes, weißes Hemd stand offen wie bei einem Fotomodel. Etwas, was bei ihm sehr passend wirkte, auch wenn es für die schweißtreibende Tätigkeit absolut unpassend war.

Joe unterdrückte ein Schaudern. Es gefiel ihm nicht, Michael bei dem Fremden stehen zu sehen. Perlham war … unheimlich.

Aber ohne echte Argumente ... Joe verfolgte den Gedanken nicht weiter. Jedes Verbot würde bei dem Teenager genau das Gegenteil bewirken und auch eine Warnung hätte einen eher konträren Effekt. Vermutlich half nur die Freundschaftsmethode, um zumindest das Schlimmste verhindern zu können.

Mit einem Tablett voll Gläser und Getränkeflaschen bewaffnet verließ Joe nur Minuten später das Haus.

»Oh, was für ein Service!«, meinte Perlham schon von Weitem, wirkte aber, als hätte er Joe und seine Absicht durchschaut. Zumindest schien er kein bisschen überrascht, ihn zu so einer frühen Zeit im Garten zu sehen.

Das gereichte Glas trank er auf Ex leer und meinte dann: »Und das Timing ist auch erstklassig!« Er deutete auf die Möbel. »Ich bräuchte Hilfe beim Reintragen.«

»Ich kann helfen!«, behauptete Michael ganz beflissen.

»Du musst zur Schule!«, tadelte Perlham und kam Joe zuvor. »Das ist wichtig und davon möchte ich dich auf keinen Fall abhalten!«

Michael zog die Nase kraus, aber es war nicht Dany, dem er einen bösen Blick zuwarf, sondern seinem Bruder. Nur langsam setzte sich der Teenager in Bewegung und stolzierte durch den Garten, griff sich den bereits bereitgelegten Rucksack und machte sich auf den Weg. Nicht ohne seinem Bruder noch einen weiteren bösen Blick zuzuwerfen.

Wieso musste Michel immer gleich alles so persönlich nehmen?

»Können wir?« Perlham unterbrach Joes Gedanken und als er ihn fragend ansah, deutete er auf das Bett.

»Wie haben Sie das Ungeheuer die Leiter herunter bekommen?«

»Keine Ahnung,« gab Perlham zu und zuckte mit den Achseln. Dabei wirkte er plötzlich ganz harmlos und wirklich wie ein netter junger Mann. Ganz ohne Serienkillerallüren oder Soziopathengehabe. Diese neue Sichtweise wurde noch verstärkt, als er gespielt nachdenklich meinte: »Aber ich habe auch keine Ahnung, wie wir es wieder hochbekommen.«

Unwillkürlich musste Joe lachen. Das Ding wieder auf die Empore zu bekommen, schien ihm unmöglich – aber das war auch das Runtertragen.

Sein Untermieter sah ihn ernst an und meinte dann, ein wenig so, als sei er selbst überrascht: »Sie haben ein schönes Lachen.«

»Aus welchem Film haben Sie das geklaut?«, prustete Joe, nicht im Mindesten von dem kurzen Anflug von Charme beeindruckt. Aber sehr darüber erleichtert, dass sich sein Untermieter bei näherer Betrachtung als nett und harmlos entpuppte.

»Dany«, korrigierte er.

»Bitte?«

»Nicht Sie. Ich bin Dany. Ich darf dir doch das ‚du ‘ anbieten, oder?« Er musterte ihn. »Ich denke, ich bin nur fünf Jahre älter als du.«

»Joe«, stellte er sich vor und reichte Dany die Hand. »Tut mir leid wegen gestern.«

»Was war denn gestern?«, schwindelte Perlham.

»Ich denke, wir hatten einen schlechten Start.« Joe griff nach dem Bett. »Ich bin einfach ein wenig misstrauisch und mache mir Sorgen um den Rest der Bande.«

»Das Los der älteren Geschwister!« Dany nickte verständnisvoll.

»Haben Sie kleinere Geschwister?« Joe korrigierte sich, bevor es Dany tun konnte: »Hast du, Dany, kleinere Geschwister?«

»Nein, ich habe Glück gehabt«, behauptete er und hob seine Seite des Betts an.

»Oha! Du bist also eines dieser kleinen Monster, um die sich ein großer Bruder oder eine große Schwester immer Sorgen machen muss?«, fragte Joe und trug das Bett vorsichtig in die Hütte, während Dany den rückwärtsgehenden Part übernahm.

Im Inneren angekommen, blieb ihm im wahrsten Sinne des Wortes der Mund offenstehen. Die Gästewohnung war komplett entrümpelt und bereits grundiert. Dany musste die ganze Nacht gearbeitet haben.

»Ja, irgendwie schon«, meinte der, ohne die Verwirrung des Anderen zu spüren, »andererseits …«, er lachte leise, »… bin ich aus der Art geschlagen, das liegt vielleicht daran, dass wir zwei zeitlich nicht so weit auseinander sind.«

»Gut zu wissen!«, behauptet Joe, immer noch beeindruckt. Selbst sein Vater hätte das mit dem Aufräumen nicht schneller und gründlicher hinbekommen.

»Außerdem willst du deinen Eltern sicher einen vernünftigen Untermieter präsentieren, oder?«, hakte Dany nach.

Joe zuckte kurz zusammen, begriff dann aber, dass sein Gegenüber nur eine harmlose Bemerkung gemacht hatte. Dany sah nämlich gar nicht zu ihm, sondern betrachtete die Leiter, als sei sie sein persönlicher Feind.

»Meiner Mutter, ja!«, meinte Joe deswegen. Und sah ebenfalls nach oben. Wie zum Henker hatte Dany das Bett da herunter bekommen?

»Und deinem Vater?«, erkundigte sich Dany in nettester Small-Talk-Manier.

»Den gibt es in der Familie schon seit Jahren nicht mehr«, erklärte Joe.

»Sorry.«

»Kein Problem. Wir sind drüber weg.«

»Da ist man nie drüber weg.« Dany verzog das Gesicht, als wüsste er genau, worüber er sprach.

»Doch!«, widersprach Joe. »Ehrlich gesagt schon. Ich habe den letzten Streit mitbekommen und war sehr froh, dass ich ihn nicht erschießen musste.«

»Doppelt Sorry.« Dany schenkte Joe ein Lächeln, das fast wie eine Streicheleinheit war. »Das klingt aber auch nach ganz schön viel Verantwortung.«

»Ist schon okay«, wiegelte Joe ab.

»Wo ist eure Mutter?«, wechselte Dany abrupt das Thema.

»Hat Michael nichts gesagt?«, fragte Joe. Er hatte zwar seinen Bruder gefragt, um ihre Geschichten noch einmal aufeinander abzustimmen, aber sicherheitshalber wollte er Danys Version hören, falls sich Michael unwissentlich verplappert hatte.

»Nein«, meinte Dany.

»Sie ist in der Kur«, log Joe ungerührt und blieb damit bei der offiziellen Geschichte.

Dany nickte und schluckte Joes Ausrede, ohne nachzuhaken.

»Und deine Familie?«, erkundigte sich Joe, damit Dany bloß nicht auf die Idee kam, weitere Fragen zu stellen.

»Wir kommen von hier, aber ich war dann ein Jahr in Miami auf der Akademie. Danach war ich ein Jahr hier, dann hatte ich ein kurzes Intermezzo in San Diego, war in Vegas und in New York und bin seit einer Woche wieder in der Stadt«, erklärte Dany.

»Und wohnst nicht bei deiner Familie?«

»Du kennst meine Familie nicht!«

»So schlimm?«

»Schlimmer!« Dany verdrehte die Augen und widmete sich wieder dem Bett. Vergeblich.

»Ich habe eine Idee!« Joe drehte sich um, blieb kurz stehen und meinte: »Bin gleich wieder da.«

Dann ging er los, um etwas zu holen, was schon seit Jahren ein unbeachtetes Dasein im Keller fristete. Als er wiederkam, hatte Dany schon einige kleinere Möbel zurückgetragen und eingeräumt.

»Eine Seilwinde«, erklärte Joe triumphierend. »Wir hängen sie an den obersten Balken, dann könnte es klappen.«

»Sehr gute Idee!«, lobte Dany und Joe konnte fühlen, wie seine Wangen heiß wurden. Er schrieb es der Tatsache zu, dass er schon lange nicht mehr gelobt worden war. Für seine Geschwister schien immer alles selbstverständlich zu sein, was er tat – oder was er aufgab.

Schließlich hatte Dany auch eindeutig das falsche Geschlecht und nicht geflirtet, sondern nur eine harmlose Bemerkung gemacht.

Trotzdem konnte Joe ein seltsames Hochgefühl nicht ganz leugnen und händigte Dany nur zu gerne die Winde aus.

Nach fünfzehn Minuten war es endlich so weit: Das Bett war dort, wo es hingehörte.

»Ich glaube, ich brauche eine Pause«, verkündete Dany.

»Ich bin mir sogar sicher, ich brauche eine!«, lachte Joe. »Brauchst du mich noch?«

Einen Moment lang sah Dany so aus, als wollte er gerne eine andere Antwort geben, dann besann er sich wohl eines Besseren und verneinte. »Erst einmal nicht, danke!«

»Kein Thema!«, meinte Joe mit einer Mischung aus Irritation und Verwunderung, die sein Herz zum Schnellerschlagen brachte. Was war bloß los mit ihm? »Du weißt ja, wo du mich findest!«

***

Weit hinter seinem Zeitplan hinterher, gönnte sich Joe trotzdem eine ausgiebige Dusche, bevor er sich mit den Unterlagen an den Schreibtisch setzte. Immer noch war er sich nicht zu hundert Prozent sicher, ob er den Fall wirklich für seine Doktorarbeit nutzen sollte. Schon bei dem Gedanken daran, sich in diesen Täter hineinversetzen zu müssen, lief ihm ein eiskalter Schauder über den Rücken.

»So ein Mist!«, fluchte er. Sonst war er doch auch nicht so zart besaitet. Aber sonst war er auch nicht allein im Haus und trug die gesamte Verantwortung für die Geschwistermeute, sondern hatte jemanden gehabt, der ihm den Rücken freihielt. Wenigstens in seiner Vorstellung. Er seufzte leise und griff nach dem Telefon. Wenigstens bei der Kontaktperson, die Rose ihm aufgeschrieben hatte, konnte er anrufen, um mit ihm über die Unterlagen zu sprechen – danach konnte er sich immer noch entscheiden.

Mit unsicheren Fingern wählte er die Nummer, die in Rose ordentlicher Schrift auf dem Deckblatt stand und zählte die Klingelzeichen. Gerade, als er auflegen wollte, meldete sich eine mürrische Männerstimme.

»Ja?! Hunter?!«

»Guten Tag, mein Name ist Joe Schreiber, meine Dozentin Rose Hohenstein hat mir Ihre Nummer gegeben und Sie angeblich vorgewarnt.«

»Sie klingen aber noch extrem jung«, meinte der Beamte und ließ seine Aussage wie eine Beleidigung klingen.

»Bin ich«, bestätigte Joe.

»Aber wenn Rose Sie empfohlen hat, müssen Sie in Ordnung sein«, brummte der Mann, als ringe er sich nur unter größter Mühe dieses Kompliment ab.

»Empfohlen?«, hakte Joe nach. Ihm war weder nach Schmeicheleien, noch nach Smalltalk, doch er konnte das Nicken seines Gesprächspartners förmlich durchs Telefon spüren.

»Rose hat mich gebeten, Sie offiziell einzutragen und Ihnen Zugang zu allen Unterlagen zu gewähren, die wir in der Sonderkommission gesammelt haben.«

»Aber der Fall ist doch noch offen und der Täter nicht gefasst«, staunte Joe, der das übliche Vorgehen in so einem Fall kannte und wusste, dass die Polizei normalerweise alles unter Verschluss hielt, was nicht absolut offensichtlich war.

»Das meinte ich mit Empfehlung.«

»Oh.« Joe schwieg und wusste nicht, was er von diesem Vertrauen halten sollte. Sonst hatte er nur bereits geschlossene Fälle bearbeitet, oder solche, in denen der Hauptverdächtige hinter Schloss und Riegel saß – und eigentlich auch immer nur als fünfzehnte Person im Hintergrund, versteckt hinter den Ermittelnden, den Spurenexperten und den Gutachtern.

»Wann können Sie vorbeikommen?«, erkundigte sich der Mann, als erwarte er die Resultate am besten sofort.

»Vorbeikommen?«, wiederholte Joe irritiert.

»Sie erstellen doch unter Roses Aufsicht ein Täterprofil?!«, hakte Hunter nach und der misstrauische Unterton in seiner Stimme verunsicherte Joe so sehr, dass er nur ein zweifelndes »Ja« zustande brachte.

»Klingt aber nicht so«, stellte sein Gesprächspartner von der Polizei fest.

»Ich bin nur ein wenig überwältigt von dem Vertrauen – und muss gestehen, dass ich Schiss habe, weil der Täter noch auf freiem Fuß ist«, gab Joe zu.

»Und zufällig in Ihrem Wohnort begonnen hat?« Hunter gab sich keine Mühe, um sein Amüsement zu verbergen.

»Ja …«, gab Joe zu und fügte zögernd hinzu: »Außerdem passe ich vom Alter her in sein Profil.«

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung war fast greifbar. »Ich weiß nicht, ob Rose spinnt oder ob sie genial ist, weil sie Sie an den Fall lässt.«

»Ich auch nicht.« Joe lachte leise.

»Welche Unterlagen brauchen Sie noch?«, erkundigte sich der Polizist.

»Wenn es geht, würde ich gerne mit den Männern sprechen.« Joe sah sich im Arbeitszimmer um. »Soweit den Unterlagen zu entnehmen, habe ich ansonsten alles. Protokolle, Fotos, Filme.«

»Dann fehlt ja nur noch ein Profil von Ihnen.«

»Ich bring die erste Version bei unserem Treffen mit«, versprach Joe. »Schicken Sie mir doch schon einige Terminvorschläge per Email.«

»Mach ich – und ich freue mich auf die Version«, meinte Hunter und klang immer noch amüsiert. Beinahe hätte Joe gefragt, worüber, legte dann aber mit einem beiläufigen »Auf Wiederhören« auf.

Fast zeitgleich klingelte das Telefon.

»Ja?!« Joe hatte abgenommen, bevor sein Verstand das Gespräch rekapituliert hatte und sich wieder auf eine neue Aufgabe konzentrieren konnte.

»Wow, das war früher aber auch schon mal höflicher!«, tadelte die Frau am anderen Ende der Leitung.

»Rose!« Joe fiel ein Stein vom Herzen.

»Und? Gehst du den Fall an?«

»Ist das nicht zu hoch für mich?« Joe zog seine Beine an, so dass seine Füße auf dem Bürostuhl ruhten. »Es ist ja etwas anderes, ob man über einen abgeschlossenen Fall doziert oder ob man an etwas offenem herumwerkelt.«

»Ja, aber wenn du es lernen willst, musst du dich auch irgendwann an die offenen Fälle trauen.«

»Können wir damit noch warten?«

»Worauf?«

Joe biss sich auf die Unterlippe. Wie sollte er ausgerechnet der Person, die ihm am meisten zutraute sagen, dass er sich allein fühlte – und eine Verantwortung trug, unter deren Last er zu ersticken drohte.

»Wie lange willst du warten, Joe? Ein Jahr, zwei, zehn?«

»Bis ich einundzwanzig bin«, platzte es aus ihm heraus.

»Du wirst auch noch mit einundzwanzig in das Profil des Täters passen«, meinte Rose, die in eine völlig falsche Richtung dachte. »Er wird ja auch älter.«

»Du hast es auch gesehen?«

»Natürlich!« Er konnte hören, wie seine Mentorin ungeduldig mit den Fingern auf dem Tisch trommelte.

»Wieso dieser Fall und wieso ich?«

»Weil dieser Fall aktuell und nicht gelöst ist und weil du mein Schäfchen bist und ich dich fördern will.«

»Was verschweigst du mir?«

»Dass ich es hasse, mit Profilern oder angehenden Profilern zu arbeiten, die sich alle für Freud halten.«

»Du hast mich genommen, weil ich in das Profil passe.« Joe schwieg einen Moment und ließ die Erkenntnis sacken, während das Adrenalin durch sein System flutete. »Du glaubst, dass er einen Informanten bei der Polizei hat oder selbst dort arbeitet.« Joe eilte an die Stelle, wo er die Polizeiunterlagen hingelegt hatte, wühlte in den Papieren und fand die Akte, in der ein Nebensatz gestanden hatte. »Hunter hatte etwas vermerkt, zu dem Vorgehen. Es wäre so präzise, dass es zusammen mit dem Fakt, dass keinerlei Spuren gefunden wurden, den Verdacht nahe legt, dass der Täter einen kriminalwissenschaftlichen Hintergrund hat.«

»Das können Psychologen sein, Justizbeamte oder Forensiker«, maßregelte Rose den aufgeregten Joe. »Glaubst du wirklich, ich würde dich als Lockvogel nehmen wollen?«

»Ja, würdest du!«

»Das trifft mich zutiefst.« Nur zu lebhaft konnte sich Joe vorstellen, wie sich Rose an die Brust fasste, um einen theatralischen Infarkt vorzutäuschen. »Außerdem stimmt es nicht. Nur Hunter und ich wissen, dass du mitarbeitest – und das soll auch so bleiben.«

»Also ist Dany Perlham kein Cop, der mich rund um die Uhr bewachen soll?«

»Wer ist Dany Perlham?«, fragte Rose und ihre Frage hatte zu ehrlich geklungen, als das Joe seine Mentorin in Zweifel stellte.

»Nur so eine Idee«, meinte Joe und sah aus dem Fenster und in den Garten. Dort sortierte Dany immer noch die Sachen, die er aus der Gartenhütte geräumt hatte.

Nachdenklich sah Joe zu, wie Perlham einen Stuhl auf den Trümmerberg packte, nur um Sekunden später Michael zuzuwinken, der durch das Gartentor gekommen war. Joes kleiner Bruder erwiderte den Gruß und schlenderte vom Weg ab und in Danys Richtung. Joes Magen zog sich zusammen, während böse Vorahnungen durch seinen Verstand geisterten, um sich seiner Phantasie zu bemächtigen.

»Ich fertige ein Profil an«, beschloss er. Auf keinen Fall würde er sich von einem Gefühl sein Leben versauen lassen – oder davon, dass Michael viel zu vertraut mit Dany zu reden schien!

Triskele

Joe hatte nach dem Aufstehen nicht lange überlegen müssen: Trotz des anstehenden Wettkampfes brauchte er auch heute sein Lauftraining. Sonst würde er verrückt werden. Ganz, ganz sicher. Auf jeden Fall. Vielleicht.

Fakt war, irgendetwas an diesem Dany Perlham ließ seine Gedanken und Gefühle verrückt stören. Als sei der dunkelhaarige Untermieter ein Störfaktor in einem halbwegs logischen, kalkulierbaren Weltbild.

Mit zusammengepressten Lippen versuchte Joe seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen – und weg von Dany. Dazu lenkte er seine Schritte, anders als sonst, in Richtung Wald. Ein schöner Morgen wie dieser schrie förmlich nach Einsamkeit und nicht danach mit hundert anderen Läufern im Park zu joggen. Von den Kindern und den Fahrradfahrern einmal ganz abgesehen. In Anbetracht seiner besser werdenden Laune nahm Joe den Trampelpfad mit den vielen umgestürzten Bäumen, die den Pferdebesitzern aus der nahen Reitschule als Hindernisse dienten. Er würde nicht auf Zeit und Strecke laufen, sondern auf Abwechslung und bis er zu müde war, um überhaupt an Dany zu denken. Warum beschäftigte der ihn überhaupt so?

Aufmerksam auf jeden seiner Schritte bedacht, wich Joe matschigen Stellen aus, umrundete Pfützen und sprang über die Baumstämme. Schon nach dem ersten Kilometer verspürte er das erste Ziehen in seinen Beinen. Ein sehr angenehmes Gefühl, das ihn von seinem eigentlichen Problem ablenkte. Nach dem zweiten Kilometer dachte er daran, dass seine Entscheidung vielleicht doch dumm gewesen war, aber ab dem dritten lief er auf Automatik, zu beschäftigt, um überhaupt etwas zu denken. Und dann fiel es ihm auf: Er war nicht alleine!

Joe verlangsamte seine Schritte und sah sich um. Nichts. Nur das Gefühl, beobachtet zu werden. Gingen jetzt schon die Nerven mit ihm durch? Er biss sich auf die Unterlippe. Dann erinnerte er sich: Er hatte schon einmal von diesem Effekt gelesen! Er hatte etwas zu verbergen und ein schlechtes Gewissen – eine denkbar schlechte Kombination für jemanden, der dann auch noch berufsbedingt einen leichten Hang zur Paranoia hatte.

Joe schüttelte den Kopf, weil er sich von seiner unbewussten Angst aufzufliegen hatte leiten lassen, und lief weiter.

Als er zu Hause ankam, fühlte er sich gleichzeitig ausgelaugt und müde, aber auch aufgekratzt und bereit, sich der Arbeit zu widmen.

Er legte ein Handtuch auf den Bürostuhl und setzte sich an die Unterlagen. Während des Laufens waren ihm zwei Dinge aufgefallen, die es dringend zu prüfen galt: Einmal die Symbole, die der Täter bei der Entführung hinterlassen hatte. Da war die gefärbte Rose, aber auch eine runde, flache Scheibe mit drei zusammenhängenden Spiralen, die die Polizei als Unterart des Hakenkreuzes gedeutet hatte.

Aber was noch wichtiger war: Der Täter hatte zweimal eine lange Pause von einem Jahr gemacht. Warum? Weil er in den Erinnerungen an seine Opfer geschwelgt, oder weil er woanders gelebt und da weitergemacht hatte? Das musste Joe prüfen, bevor er davon ausgehen konnte, dass der Täter in diesen Zeiträumen eingesessen hatte.

Eine Bewegung im Garten lenkte ihn ab und seinen Blick nach draußen. Dany schloss das Tor hinter sich und nutzte die kleine Steinbank am Hintereingang, um sich zu dehnen. Joe stand auf, um einen besseren Blick auf seinen Mieter zu haben, auch wenn er sich dabei wie ein Stalker fühlte. Aber Dany war verschwitzt und trug Laufsachen und sofort erinnerte Joe sich an das Gefühl, verfolgt zu werden. Aber so offensichtlich würde ihm doch niemand absichtlich folgen, oder?

Dany richtete sich auf und sah hoch, als spüre er Joes Aufmerksamkeit. Joe trat zurück und sein Herzschlag beschleunigte sich. Hatte Dany ihn gesehen? Wie unangenehm! Er musste ihn ja für einen durchgeknallten Irren halten. Oder noch schlimmer: Für jemanden, der beinahe zu sabbern anfing, weil Dany in seinem engen Sportdress wirklich lecker aussah.

Moment! Wo kam denn dieser Gedanke her?

Joe runzelte die Stirn. Seit wann fand er denn Männerhintern spannend? Er wusste ja, dass er Männer erotisch fand – erotischer als Frauen – aber doch nicht auf diese Weise, oder? Er schüttelte den Kopf bei diesen Gedanken und beschloss, Dany Perlham bei nächster Gelegenheit zu überprüfen. Vielleicht konnte er George oder Hank anrufen und um einen Gefallen bitten? Oder Hunter?

Mit dieser guten Idee im Hinterkopf ging Joe ins Bad und schlüpfte aus den Trainingssachen. Während das Wasser auf Temperatur kam, stopfte er die Klamotten in die Waschmaschine und füllte schon Pulver und Weichspüler ein. Dann betrat er die Duschkabine und stellte den Duschkopf so ein, dass das Wasser wie bei einem kräftigen Regenschauer auf seinen Körper prasselte. Eine Minute länger als notwendig genoss Joe den Luxus einer warmen Dusche, dann erinnerte er sich an den Kontostand und daran, dass Luxus Verschwendung war, und begann sich mit kurzen, schnellen Bewegungen einzuseifen, die Haare zu shampoonieren, und wusch sich ab.

Kurz darauf betrat er sauber und trockengerubbelt sein Arbeitszimmer, bereit sich den zwei Punkten zu widmen, die ihn auch unter der Dusche beschäftigt hatten. Er kam zwei Schritte weit, dann stutzte er. Seine Unterlagen lagen falsch!