Trisomie 21 – Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können - André Frank Zimpel - E-Book

Trisomie 21 – Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können E-Book

André Frank Zimpel

4,7

Beschreibung

Menschen mit Trisomie 21 erschließen sich Dinge anders als Menschen ohne diese genetische Abweichung. Sie neigen verstärkt dazu, von Einzelheiten abzusehen. Sie sind deshalb auf geeignete Abstraktionen (Buchstaben, Gebärden, mathematische Symbole usw.) mehr angewiesen als andere Personen. Der anschauungsgebundene, kleinschrittige und Abstraktionen vermeidende Unterricht an Förderschulen trägt diesen neuropsychologischen Besonderheiten nur wenig Rechnung und wirkt eher kontraproduktiv. Gleiches gilt für die vorhandenen Lehr- und Lernmethoden, die solche Aufmerksamkeitsbesonderheiten bislang nur unzureichend berücksichtigen. Sie müssen überdacht werden, um weiter auszubauen, was bisher nur in Aufsehen erregenden Einzelfällen gelingt: normale Ausbildungsgänge für Menschen mit Trisomie 21 bis hin zum Universitätsabschluss. André Frank Zimpel fasst auf Basis einer groß angelegten Studie mit 1294 Teilnehmern zusammen, was heute als gesicherter Befund gelten kann und welche Konsequenzen unser Bildungssystem daraus zu ziehen hat.

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André Frank Zimpel

Trisomie 21

Was wir von Menschen mit Down-Syndrom lernen können

2000 Personen und ihre neuropsychologischen Befunde

Mit Beiträgen vonKim Lena Hurtig-BohnAngela KalmutzkeTorben RieckmannAlfred Christoph Röhm

Vandenhoeck & Ruprercht

Mit 87 Abbildungen und 7 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sindim Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99648-6

Umschlagabbildung: © philidor – fotolia

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.www.v-r.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlichgeschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällenbedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

Inhalt

Vorwort

I. Gene und Gesellschaft

Eine kognitive Revolution im Stillen

Gut gemeint

Geistig behindert schon vor der Geburt?

Dreimal Nummer 21

Hat sich unsere Gesellschaft entschieden?

Downs Erbe

47 statt 46 Chromosomen

Mutationen

Eugenik, Zwangssterilisation und Euthanasie

Angst vor geringem IQ

Genetik und Epigenetik

Ein Bild sagt mehr als tausend Worte

Zusammenfassung

II. Gehirn und Intelligenz

Kopfgröße und Intelligenztest

Der IQ als Schwellenhüter

Warum es normal ist, verschieden zu sein

Bin ich dumm?

Hirnwachstumsgene oder Stress in früher Kindheit?

Hirnwachstum und Evolution

Intelligenzbestien mit Spatzenhirn

Das Menschenhirn ist ein Sozialorgan

Das Gehirn als Lernorgan

Denkbeschleunigung durch Abstraktion

Mäusegedächtnis

Ort des Lernens

Das Gedächtnis verteilt sich über das gesamte Gehirn

Zusammenfassung

III. Botenstoffe und Neuro-Enhancement

Enzyme, Katalysatoren im Gehirn

Acetylcholin, Angst vor Alzheimer

Donepezil, Doping für das Gehirn

Wie das Gehirn Medikamente neutralisiert

Dopamin, Anregung mit Suchtfaktor

Glutamat, mehr als nur Geschmacksache

Memantin, Hoffnung auf eine Lernpille

GABA, die Hemmung hemmen

Basmisanil, eine Bremse im Hirn lösen

Hirndoping, klüger auf Rezept?

Neuro-Enhancement oder lebenswichtige Medizin?

Zusammenfassung

IV. Neurodiversität und Aufmerksamkeit

Serotonin, ein körpereigenes Antidepressivum

Oxytocin, Depressionen wegkuscheln

Noradrenalin, Rock’n’Roll im Hirn

Menschen sind anders und Mäuse auch

Neurodiversität statt Neurodegeneration

Dem Altern seinen Schrecken nehmen

Mit Trisomie 21 an der Universität studieren?

Von Rabbis und Nonnen lernen

Aussonderung beginnt schon beim Sprechen

Empathie für Neurodiversität

Bewegungslernen und das 21. Chromosom

Acetylcholin im Streifenkörper

Emotionen und das 21. Chromosom

Kurzzeitgedächtnis und das 21. Chromosom

Lernen im Schlaf

Im Brennpunkt des Gedankenstroms

Feigenbaum-Diagramm: Kalkulation und Hypothese

Zusammenfassung

V. Aufmerksamkeit und Gedächtnis

Navon-Figuren

Gesamtgestalt und Details

Würfelpunkt- und Interferenzbilder

Abstraktion heißt »Absehen von …«

Der Umfang der Aufmerksamkeit

Die magische Vier

Den Umfang der Aufmerksamkeit messen

Memory und Paare finden

Ziffern der Reihe nach aufdecken

Objektpermanenz

Kausalzusammenhänge durchschauen und erinnern

Abstrakte Gedanken schon im Kinderwagen

Mäuse- und Ententheater

Superzeichen und Abstraktion

Zusammenfassung

VI. Imitation und Bewegungslernen

Alfred Christoph Röhm

Jonglieren im kleinen Aufmerksamkeitsfenster

Umfang der Aufmerksamkeit beim Hören und Tasten

Tiefensensibilität – die Eigenwahrnehmung des Körpers

Umfang der Aufmerksamkeit für Tiefensensibilität

Body Percussion

Gelingende Imitation hängt von der Zahl der Elementarbewegungen ab

Dialogisches Lernen erfordert Kreativität

Zusammenfassung

VII. Sprechen und Denken

Kim Lena Hurtig-Bohn

Das Fenster zum Kopf eines Kindes

Stirnhirn und Privatsprache

Die Entwicklung der Privatsprache in der Kindheit

Die Privatsprache in der Pädagogik

Die Zone der nächsten Entwicklung

Privatsprache und Trisomie 21

Privatsprache bei Autismusspektrumstörungen

Zusammenfassung

VIII. Kognitive Entwicklung und Mathematik

Torben Rieckmann

Trisomie 21 und Mathematik?

Trisomie 21 und Dyskalkulie

Bündelung und Superzeichen

Die Kraft der Fünf

Unterrichtsmaterial bewusst einsetzen

Geeignetes Anschauungsmaterial

Zusammenfassung

IX. Kommunikation und Emotion

Angela Kalmutzke

Toll, dass ihr ein Kind mit Down-Syndrom habt!

Respekt für das Sosein und Zutrauen in die Lernfähigkeit

Auf Leben und Tod

Spätabtreibung

Entscheidung für das Leben

Soziale Matrix

Verhaltensprobleme von heute, Persönlichkeitsstörungen von morgen?

Selbstwert fördern

Zusammenfassung

Nachwort

Literatur

Vorwort

Dieses Buch ist den vielen Personen mit Trisomie 21 und ihren Angehörigen gewidmet, ohne deren Initiative, Mitwirkung und Ermutigung dieses Buch nicht zustande gekommen wäre. Die Unterstützung der HERMANN REEMTSMA STIFTUNG hat uns eine Studie mit repräsentativem Umfang ermöglicht. Inzwischen haben Ergebnisse der Studie bereits zu praktischen Konsequenzen geführt.

Die Geschichte der Menschheit ist voll von Beispielen, in denen man Menschengruppen die Intelligenz absprach. Oft waren äußerliche Merkmale der Grund, wie etwa Armut, Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht, Körperproportionen, Sprache, Reaktionsfähigkeit, Geschicklichkeit, Wahrnehmungsfähigkeit usw.

Lange Zeit wurde angenommen, dass eine genetische Disposition wie die Trisomie 21 Vorhersagen über die Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit erlaubt. Doch wer hätte jemals gedacht, dass Menschen mit Trisomie 21 (Down-Syndrom) einmal Universitätsabschlüsse erreichen?

Einerseits haben Intelligenztests geholfen, so manches Vorurteil als wissenschaftlich unhaltbar zu entkräften. Andererseits haben sie die spekulative Theorie der angeborenen Intelligenz befördert. Der wichtigste Anker für diese Theorie ist nach wie vor die Trisomie 21. Belege für angeborene Hochbegabungen sind dagegen eher vage und zu Recht sehr umstritten. Der Grund: Wie bei jeder anderen besonderen Fähigkeit, die Menschen entwickeln können, gibt es für Intelligenz mindestens drei Faktoren: körperliches Potenzial, inneren Antrieb und soziale Entfaltungsmöglichkeiten.

Wenn man präzise Messergebnisse für jede Variable hätte, wäre die Momentan-Intelligenz (gedacht als Betrag eines dreidimensionalen Vektors) berechenbar. Allzu leicht verführt so ein Rechenergebnis zu Vorhersagen. Diese sind jedoch eine hoffnungslose Überforderung. Da sich die Variablen gegenseitig beeinflussen, wäre der Effekt der gleiche wie bei Computermodellen für Wettervorhersagen:

Bei der Berechnung von Temperatur, Windstärke und Luftdruck kann ein winziger Rechenfehler um ein tausendstel Prozent (ein schwacher Windhauch z. B.) die Vorhersage vollkommen durcheinanderbringen.1

Außerdem ist es unmöglich, die genauen Anfangsbedingungen der Entwicklung eines Menschen zu bestimmen. Wie beim Wetter sind kleinste Messfehler unvermeidbar. Deswegen beschränken sich seriöse Wetterprognosen auf drei Tage.

Es gibt jedoch einen Unterschied: Wetter ist ein komplexes System erster Ordnung. Das Wetter schert sich nicht um Vorhersagen. Es regnet z. B. nicht, weil das Wetter einen Meteorologen ärgern will.

Der Mensch ist dagegen ein komplexes System zweiter Ordnung. Solche Systeme reagieren sensibel auf Vorhersagen. Ein Beispiel ist die Wirtschaft: Die Prognose »Den Banken geht das Geld aus!« verwirklicht sich selbst, wenn aufgrund der Prognose alle Bankkunden auf einmal ihr Geld abheben wollen.

Die Prognose eines geringen IQs bremst die Intelligenzentwicklung aus, weil sie soziale Möglichkeiten versperrt. Viele Eltern von Kindern mit einer Trisomie 21 haben das längst erkannt und fördern ihre Kinder mit all ihren Kräften. Doch für die Erziehung eines Kindes brauchen selbst die besten Eltern der Welt mindestens ein ganzes Dorf. Für diese öffentliche Unterstützung möchte dieses Buch werben und dafür pädagogische Ideen entwickeln.

Hamburg, im Dezember 2015André Frank Zimpel

1 Briggs, J. & Peat, D. (1993): Die Entdeckung des Chaos. München, 96; Coveney, P. & Highfield, R. (1994): Anti-Chaos. Der Pfeil der Zeit in der Selbstorganisation des Lebens. Reinbek, 273; Peitgen, H. O., Jürgens, H. & Saupe, D. (1998): Bausteine des Chaos. Fraktale. Reinbek, 54.

I. Gene und Gesellschaft

Eine kognitive Revolution im Stillen

In den letzten Jahrzehnten fand eine kognitive Revolution statt, die von den meisten Menschen verschlafen wurde: Die ersten Persönlichkeiten mit einer Trisomie 21 fassten auf dem Arbeitsmarkt Fuß, und einige von ihnen haben sogar Universitätsabschlüsse.

Was bedeuten Buchstaben und Algebra für die geistige Entwicklung von Menschen mit Trisomie 21? Als ich diese Forschungsfrage erstmalig präsentierte, war die Resonanz nicht nur positiv:

»Die Downies sind doch unser geringstes Problem bei der Inklusion. Die sind pflegeleicht und laufen einfach so mit, wenn man ihnen eine Beschäftigung gibt. Wir brauchen Forschung, die uns bei verhaltensoriginellen oder schwerstbehinderten Kindern hilft. Die sind das eigentliche Problem!«

Auch innerhalb der Universität und bei Anträgen auf Drittmittel für die Forschung wurde immer wieder gefragt: »Lohnt sich Forschung für eine so kleine Minderheit überhaupt? Die Forschung, die wir fördern, soll vielen zugutekommen und nachhaltig sein.«

Was ist unter Nachhaltigkeit zu verstehen? Dem Duden zufolge bezeichnet der aus der Forstwissenschaft stammende Begriff »Nachhaltigkeit« eine Wirkung, die längere Zeit anhält.

Aber gibt es nicht viele lang anhaltende Wirkungen, die man kaum als nachhaltig bezeichnen würde? Beispiele: die Auswirkungen eines schwerwiegenden Unfalls oder einer langwierigen Erkrankung infolge einer Infektion.

Betrachten wir also eine andere Definition. Sie klingt im ersten Moment wie ein Kontrapunkt zum Duden: »[…] Nachhaltigkeit bedeutet nichts anderes, als keine Handlungen zu vollziehen, deren Folgen nicht mehr zurückgenommen werden können.«1 Diese Definition findet man auf der Internetseite des Kompetenzzentrums für Nachhaltigkeit der Uni Hamburg.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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