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Dicker Bauch, braunes Flickenkleid, Wuschelperücke - mit der "tapferenHanna", einer Frauenfigur fern aller Schönheitsideale, eroberte Clownin GardiHutter in den letzten vierzig Jahren die Bühnen der Welt. Nun blickt die mittlerweile 68-Jährige auf ihr ereignisreiches Leben zurück. Drei Brüder und ein streng katholisches Elternhaus prägen die ersten Lebensjahre im St. Galler Rheintal, gefolgt vom rebellischen Aufbruch im Zuge der 1968er-Bewegung. Gardi Hutter wird zur Suchenden, überschreitet Grenzen, lebt in Paris, Rom und Mailand, trifft ihre grosse Liebe, sucht über Jahre nach ihrer eigenen Clownfigur. 1981 gelingt der Durchbruch. Neben den beruflichen Höhepunkten und dem privaten Glück als Mutter wird auch offen über die Kluft zwischen Erfolg und persönlich schwierigen Jahren in der Lebensmitte erzählt. Es ist die Biografie einer der international erfolgreichsten Schweizer Künstlerinnen. Mit integriertem Werkbuch, in dem Gardi Hutter selbst beschreibt, wie sie das Programm "Die Schneiderin" entwickelte.
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Seitenzahl: 549
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Impressum
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
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Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Lektorat: Rachel Camina, Hier und Jetzt Gestaltung und Satz: Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung: Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Herausgegeben in der Reihe «subTexte» als Band 22, Zürcher Hochschule der Künste, Institute for the Performing Arts and Film, Prof. Anton Rey (Hg.)
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-521-3ISBN E-Book 978-3-03919-967-9
E-Book-Herstellung und Auslieferung:Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de
© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweizwww.hierundjetzt.ch
Vorwort
2010Eine Schneiderin muss sterben
1953–1966Drei Brüder und eine katholische Erziehung
1966–1972Vom Internat in die linke Szene von St. Gallen
1972–1978Auf der Suche nach dem eigenen Weg
1978–1985Mailänder Jahre und die Entwicklung zur Clownin
1985–1993Erfolg, zwei Kinder und eine Scheidung
1993–2003Mitten im Leben
2003–2021Rund um die Welt und «Gaia Gaudi»
Nachworte
Anhang
Werkbuch «Die Schneiderin»Von Gardi Hutter
«Sie haben Talent, aber Sie sind klein, Sie werden nie eine Hauptrolle spielen.» Dieser Satz stand am Anfang von Gardi Hutters Bühnenkarriere. Trotz Zweifel an ihrer Eignung wurde die 21-Jährige an der Schauspiel-Akademie Zürich aufgenommen. In der Ausbildung, wie im Theater, herrschte damals das Credo: «Frauen sind tragisch, Männer sind komisch.» Das war Mitte der 1970er-Jahre.
Gardi Hutter hat alle eines Besseren belehrt. 45 Jahre später ist sie eine der erfolgreichsten Künstlerinnen der Schweiz. Ein Ausnahmetalent, das als komische Frau, als Clownerin – wie sie sich selbst bezeichnet – die Bühnen der Welt erobert hat. Als sie erzählt, dass man ihr damals die Schauspielkarriere nicht zugetraut habe, steht sie auf der Bühne der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) am Mikrofon und lacht. Sie trägt ihrer ehemaligen Schule den Fauxpas nicht nach. Viel habe sie hier gelernt, und sie sei dankbar, fügt sie an. Es ist der 7. November 2019, und eben hat Gardi Hutter die Auszeichnung «Honorary Companion» der ZHdK vor einem vollen Saal unter langem und warmem Applaus entgegengenommen.
Man kennt sie als Hanna, die das Publikum als Wäscherin, Schneiderin oder Souffleuse zum Lachen bringt. Eine Clownin mit verfilztem Haar, roter Nase, dickem Bauch, in braunem Kleid und beiger Schürze. Darunter eine geflickte Hose, Stiefelchen. Schnell sind ihre Bewegungen, sie kratzt sich zwischendurch am Po, springt in die Luft, brabbelt in einer universell verständlichen Lautsprache, ist immer für die nächste Überraschung gut. So hat sie Karriere gemacht.
1981 stand Gardi Hutter das erste Mal als Hanna auf der Bühne, in 34 Ländern ist sie seither mit ihrer weiblichen Clownfigur gewesen und fast 4000 Mal aufgetreten. «Meine Damen, mir scheint, Sie haben noch nie einen Besen in der Hand gehabt!» Ikonisch ihr Auftritt im Schweizer Nationalratssaal 1991, als sie die Politikerinnen in ihren Kostümen und adretten Kurzhaarfrisuren tüchtig fegen liess. Sie weiss, wie man Macht demontiert, auch weibliche, die es mittlerweile gibt. Und sie weiss, wie man Stereotype ins Lächerliche zieht und wie nah das Komische und das Tragische beieinanderliegen können. Im Nationalratssaal befreite sie sich aus einem Wäschebottich, hängte Socken an die Leine, und als sie am Ende eine Schweizer Fahne entrollte, auf der das Kreuz zum feministischen Zeichen umgedeutet war, da kannte der Jubel keine Grenzen. Gardi Hutter ist nicht nur die lustigste Schweizerin, sie ist auch die witzigste Feministin.
Klein und quirlig ist sie wie eh und je. Man sieht ihr die 68 Jahre nicht an. Sie trägt das dunkelblonde Haar lang und offen, die einzelnen grauen Haare verlieren sich darin. Ihre Stimme klingt tief und unverwechselbar. Ich höre ihr gerne zu, und sie hat Lust, ihr Leben zu erzählen, aber sie fürchtet sich auch ein wenig davor. Auch vor den absehbaren Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen. «‹Noch eine Schauspielerbiografie›, werden sie stöhnen», meint sie, als wir das erste Interview in meinem Büro in Zürich führen. Das lasse ich nicht gelten. Sie ist nicht irgendeine Schauspielerin, sie ist ein weiblicher Clown, eine Pionierin, ein Vorbild. Ich habe keinen Zweifel, dass sie Interessantes zu berichten hat.
Wir werden Gespräche führen, ich darf in ihrem Archiv stöbern, mit Weggefährten sprechen. Sie kann den Text korrigieren, muss aber damit leben, wie ich als Autorin auf ihr Leben schauen, wie es gewichten und erzählen werde. Sie lässt sich darauf ein. Im Januar 2020 beginnen wir, miteinander zu sprechen, zu mailen und zu telefonieren. Das Manuskript soll bis Anfang November stehen, damit es im Frühjahr 2021, zum Vierzig-Jahr-Bühnenjubiläum ihrer Figur Hanna, bereit ist. Die Corona-Pandemie wird zur ungeplanten Unterstützung für das Buchprojekt. Alle Vorstellungen fallen ab März 2020 aus. Im Juli tritt sie drei Mal im Tessin auf, wo sie wohnt, und im September gibt es ein paar «Gaia Gaudi»-Aufführungen in der Nordschweiz. Die für Oktober geplante Neuseelandtournee – das 35. Land – fällt aus. Gardi Hutter hat Zeit, sich um ihr Werkbuch «Die Schneiderin» – im zweiten Teil dieses Bands –, die dazugehörige Website und ihr Archiv zu kümmern. Sie hat Zeit für unsere Gespräche und das Gegenlesen der Texte.
Zu Beginn weiss ich wenig über sie, nicht viel mehr als: katholische Kindheit im Rheintal, Rebellion, Schauspielausbildung, erste Schritte im Beruf in Italien, Entwicklung der weiblichen Clownfigur, ein Mann, zwei Kinder, eine Scheidung, Wohnsitz im Tessin, grosser Erfolg im In- und Ausland. Ein Leben in Stichworten, aber ich bin neugierig darauf, die Persönlichkeit dahinter kennenzulernen. Mit dem Prozess der Arbeit entdecke ich die Ursprünge und Konturen ihres Lebenslaufs. Ihre Rebellion, ihren Feminismus, ihre soziale Einstellung, ihr Umweltbewusstsein – all das geht auf den Geist der Achtundsechziger zurück. Sie war während ihrer Schulzeit in St. Gallen selbst aktiv in einer politischen Gruppierung. Sie testete alle Grenzen aus, vom LSD-Trip bis zur freien Liebe. Gardi Hutter hat viele Rollen gespielt, nicht nur auf der Bühne, sondern auch im Leben. Sie war katholische Internatsschülerin, politische Linksaktivistin, Hippiemädchen, eine Zweifelnde, Suchende und irgendwann eine erfolgreiche Künstlerin, Unternehmerin, Mutter und unabhängige Frau. Sie wollte kein Durchschnittsleben führen, und sie wollte Erfolg haben – beides ist ihr gelungen. Dass das nicht nur einfach war, dass dazu Jahre der Selbstzweifel, Verluste und Niederlagen gehörten, davon wird hier auch erzählt. «Ich will keine beschönigende Biografie», sagte sie im ersten Gespräch. Daran hat sie sich, mutig und offen, wie sie ist, beim Erzählen ihres Lebens gehalten.
Da sitzt ein weibliches, unförmiges Wesen mit verfilztem Haar, roter Nase und Flickenkleid schelmisch lachend in einem überdimensionierten Nähkasten: Gardi Hutter als ihre Bühnenfigur Hanna. Diesmal ist sie eine Schneiderin. Es ist der 28. Oktober 2010. Gardi Hutters neues Stück hat Premiere im Theaterhaus Stuttgart. Ein voller Saal mit mehreren Hundert Menschen. Sie schauen zu, wie sie sich mit dem Faden abmüht, der nicht gleich durchs Nadelöhr will. Wie sie näht und brabbelt, elastisch vom Tisch springt, mit übergrossen Fadenspulen hantiert, eine lange Nadel verschluckt und sie mithilfe eines Magneten wieder aus dem Körper lockt. Fünf frei schwingende Schneiderpuppen hängen an einem Kleiderkarussell über ihr. Abgründe tun sich auf; sie soll sterben, will nicht, kämpft mit ihrer Seele im Spiegel, versucht, sie von der Himmelfahrt abzuhalten. Am Ende stirbt sie doch. Das Publikum geht siebzig Minuten lang mit, lacht und jubelt. «Die Schneiderin» wird zu dem Erfolg, den Gardi Hutter sich erhofft hat. Ein Kulminationspunkt in ihrem Leben. Sie ist 57 Jahre alt, seit drei Jahrzehnten als alterslose Clownin unterwegs. Zwei Jahre Vorbereitungsarbeit liegen hinter ihr. Dieses Stück bündelt ihre dreissigjährige Bühnenerfahrung als weiblicher Clown, als Hanna, als kreative Künstlerin. Mehr noch, es steckt die ganze Gardi Hutter darin, auch die ehemalige Achtundsechzigerin, die Feministin und das kleine Mädchen, das im St. Galler Rheintal in einem Haus aufwuchs, in dem die Eltern unten Kleider verkauften und das Kinderzimmer oben neben dem Schneideratelier lag.
Der Tod spielt im Jahr 2010 nicht nur im Stück «Die Schneiderin» eine Rolle, sondern auch in Gardi Hutters Privatleben. Ihr Vater, Erwin Hutter, ist ein halbes Jahr vor der Premiere, mit 91 Jahren, gestorben, ihre Mutter bereits 2005. Beide waren gelernte Schneider. Gardi Hutter konnte dem Vater noch von der neuen Idee für das Stück erzählen, als sie zu reifen begann. Er war begeistert, suchte sein altes Arbeitsmaterial zusammen und übergab es der Tochter. Wie gerne hätte er das Stück gesehen. «Meine Eltern hätten sich beide extrem darüber gefreut», sagt sie und fügt an: «Ist das nicht verrückt? Da habe ich so viel getan, um meine Herkunft hinter mir zu lassen, ein anderes Leben zu führen, und dann stehe ich mit Ende fünfzig als Schneiderin auf der Bühne.»
Doch Gardi Hutter ist eine ganz andere Schneiderin, als ihre Eltern es je waren. Lautet ihr eigener Beruf «Clown» oder «Clownfrau»? «Clownin» oder «Clownesse», wie es im Duden steht? Beim richtigen Begriff beginnt schon die erste Frage. «Clown» ist Englisch und daher neutral, aber eben eher männlich neutral. Denn männliche Clowns gibt es seit Jahrhunderten, weibliche dagegen sind ein Novum, ein Phänomen der weiblichen Emanzipation im 20. Jahrhundert. Oder gab es auch schon früher vereinzelt Frauen, die sich die Narrenfreiheit nahmen, und die Geschichtsschreiber haben sie nur ignoriert und am Ende vergessen?
Gardi ist nie warm geworden mit einer der bestehenden Spezialbezeichnungen. Sie will Clown sein, kein weiblicher Sonderfall. Schon früh in ihrer Karriere findet sie zu dem, was sie als ihren «Brand», ihre Marke bezeichnet: «Bei einem Auftritt in Duisburg 1983 versprach sich der Veranstalter. Er verdrehte Clown und Wäscherin und kündigte mich als ‹Clownerin› an. Ich war sofort begeistert: wenn schon stolpern, dann richtig. So hatte ich nicht nur eine eigene Figur, sondern auch gleich eine eigene Sparte.» Fortan bezeichnet sich Gardi Hutter als «Clownerin».
Es ist ein sehr besonderer Beruf, alleine auf der Bühne zu stehen, mehr als eine Stunde zu spielen, das Publikum zum Lachen zu bringen, zu verführen, zu bezaubern. Gardi Hutters Programme haben Tiefgang und Poesie. Das Schreckliche und das Lustige, das Traurige und das Schöne liegen immer nah beieinander. Es steckten viel Arbeit und Risiko in jeder neuen Produktion. Seit sie ihre Figur Hanna 1981 fand, lässt sie sich alle paar Jahre auf eine neue Erzählung dazu ein. Hanna war schon Wäscherin, Hexe, Maus, Souffleuse, Schaustellerin und Sekretärin.
In der Schneiderin steckt Gardi Hutters jahrzehntelange Bühnenerfahrung, und mit dem Thema Tod nimmt sie etwas auf und stellt sich in eine Tradition, die weit in die Vergangenheit zurückreicht. Harlekine, Buffoni, Clowns – sie alle haben schon seit Urzeiten mit der Idee des Schreckens gespielt und damit, dass sie uns durch die Überzeichnung, durch das Groteske zum Lachen bringen und für einen kurzen Moment so etwas wie Erlösung schenken. Gardi Hutter hat sich über längere Zeit mit diesem historischen Aspekt auseinandergesetzt.
Zum Beispiel damit, dass Clowns mit der ursprünglichen Form des Berufsschauspielers mehr zu tun haben als die heutigen Schauspieler, die man theaterhistorisch eher als «Darsteller» oder «Interpreten» bezeichnen müsste. Ursprünge und Parallelen findet man weit zurück überall dort, wo Menschen archaische Feste feierten, ihre Ängste in Rituale bannten, Masken trugen, tanzten und versuchten, dem Tod seinen Schrecken zu nehmen. Vorläufer der Clownfigur sind die Zanni der Commedia dell’Arte. Sie sind Dienerfiguren, die meist der bäuerlichen Schicht entstammen, darunter Arlecchino, Brighella, Pulcinella, Truffaldino und die weibliche Figur der Colombina, die keine Maske trägt und kokett gekleidet ist. Die Commedia dell’Arte entsteht im Italien des 16. Jahrhunderts. In etwa zur gleichen Zeit entwickelt sich im deutschsprachigen Raum das Stegreifspiel mit Hanswurst und im englischen Theater die Figur des Clowns. Letztere treten ab Anfang des 16. Jahrhunderts in den Pausen von Bühnenstücken auf. Shakespeare baute Clowns in «Othello» (1603) und «Ein Wintermärchen» (1606) ein, beide Male als etwas unterbelichtete Bauerntölpel. Das Spektrum der Darstellung und die Entwicklung des Clowns sind äusserst facettenreich. Im 19. Jahrhundert entwickeln sich die Zirkusclowns und bleiben bis in die Gegenwart fester Bestandteil jedes Programms. Gardi Hutter reiht sich ein in die bunte Schar von Spassmachern wie Clown, Buffone, Harlekin, Hanswurst, Narr, August, Pajass, Pulcinella und Pierrot und stellt ihnen eine Schwester vor die Nase.
Ihr Wissen um die Hintergründe und die Entwicklung der Clownfiguren nimmt Gardi mit in die Gespräche mit Dominik Flaschka im April 2009. Der Tod soll im neuen Programm das Leitthema sein. Sie hat dazu ein Konzept verfasst. Und der physische Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist ein Segel. 2011 war Gardi Hutter mit Freunden auf einem Segeltrip im Bermudadreieck. Dabei ging ein Segel kaputt, sie bekam es geschenkt und dachte: Damit möchte ich mal etwas machen. Und dann kommt bald einmal die Idee der letzten Reise dazu und weitere Ideen. Sie könnte sich in das Segel einwickeln und damit zum Wickelkind, zur Braut oder zur Mumie werden. Sie diskutiert tagelang mit Regisseur und Autor Flaschka, ob die Figur im neuen Stück womöglich eine Seefahrerin sein könnte oder vielleicht eine Schneiderin, die das Segel näht? Gibt das genügend her? Sie hat noch nie eine Schneiderin auf der Bühne gesehen, aber es gibt so viele weibliche Rollen, so viel weibliches Leben, das noch nie auf einer Bühne zu sehen war. Die Schneiderin setzt sich durch.
Im September 2009, ein gutes Jahr vor der Premiere, beginnt die erste Probenrunde mit Regisseur Michael Vogel in Berlin. Der Regisseur ist wichtig für die Künstlerin. Er ist ihr Gegenüber, ihr Denk- und Austauschpartner. Er entwickelt mit ihr das Stück. Es entsteht nicht theoretisch auf dem Papier. Geschrieben wird zwar auch viel, da ist das von Gardi Hutter entwickelte Grundkonzept, aber nicht nur das. Täglich kommen neue Ideen, Gedanken, Abläufe hinzu, alles wird festgehalten. Sie ist sehr gut organisiert, es gibt ausführliche Probenprotokolle. Aber noch wichtiger ist die praktische Entwicklungsarbeit.
Michael Vogel und sie arbeiten das erste Mal zusammen. Er ist etwas jünger, sympathisch, ruhig, reflektiert. Er ergänzt die quirlige Gardi Hutter gut. Ausserdem bringt er viel Erfahrung mit als Regisseur, Autor, Schauspieler und künstlerischer Leiter der internationalen Theatertruppe Familie Flöz, die komödiantische, poetische und meist nonverbale Stücke auf die Bühne bringt. Er weiss, worum es geht, er hat ein gutes Auge für die Entwicklung von Szenen, und Gardi sagt: «Wir haben einen ähnlichen Humor. Wir lieben es, zusammen hin und her zu fantasieren, Absurdes und Schräges zu finden. Ich mag, dass er so uneitel ist. Wir amüsieren uns arbeitend, in lockerer Stimmung.» Sie schätzt das besonders, weil die Zusammenarbeit im Theater schnell emotional wird. Es gibt viele Reibungsflächen, viele irrationale Zerwürfnisse. «Man gibt sich im Theater immer als ganzer Mensch und muss sich oft auf ein inneres Chaos einlassen, und da prallen dann die Emotionen eben oft auch aufeinander.»
Sie hat in jenem September eine Wohnung in Berlin gemietet, die der Trapezkünstlerfamilie Die Maiers gehört. Sie verdienen mit «Luft- und Bodenunfug» ihr Geld und haben für ein paar Wochen ein Engagement in Amerika. Die Wohnung ist ideal zum Proben, denn sie verfügt über eine riesige, 48 Quadratmeter grosse, neun Meter hohe Küche. Eher ein Proberaum mit angegliederter Küche. Jedenfalls gibt es genügend Platz, um sich Dinge auszudenken und auszuprobieren. Michael Vogel und Gardi Hutter hängen das Segel auf und beginnen, sich zu überlegen, wie man die Grundidee umsetzen könnte: Der Tod stellt Hanna nach, sie bettelt und fleht: «Nur noch eine letzte Zigarette, eine letzte Mahlzeit, eine letzte, eine letzte, eine letzte …»
«Am ersten Probentag möchte ich immer den Beruf wechseln. Das Gefühl von Verlorenheit und Talentlosigkeit ist unerträglich», schreibt Gardi Hutter in ihren Aufzeichnungen zum Werkbuch «Die Schneiderin». Doch dann entwickeln sich Ideen Schritt für Schritt, mit Ausprobieren, Diskutieren, Verwerfen. «Es ist ein Im-Dunkeln-Tappen, und ich leuchte mit der Taschenlampe umher, und ab und zu erkenne ich im Lichtkegel etwas Brauchbares», schildert Gardi Hutter den kreativen Prozess. Vier Wochen lang beschäftigen sie und Michael Vogel sich mit dem szenischen Erfinden des Stücks. Danach steht das Grundgerüst. Anfang Oktober werden Freunde und Bekannte zu einer Probevorstellung in die Wohnung eingeladen. An welchen Stellen lachen sie, was funktioniert, was nicht? Im Anschluss wird diskutiert, und es zeigt sich, dass die Probezuschauer nicht verstehen, wie die Schneiderin stirbt, dass sie nämlich in ein Paket fällt und per Post wiederkehrt. Die Schlussszene ist aber essenziell für das Stück, deshalb braucht es eine neue Idee. Nur welche? Regisseur und Künstlerin beschliessen, dafür in einigen Monaten eine eigene Probenwoche anzusetzen, und gehen auseinander. Sie verbringen den Winter mit anderen Aktivitäten. Gardi Hutter ist unterwegs, tritt als Hanna auf, sorgt für ihr Einkommen.
Die Sommermonate verbringt sie im Tessin, wo sie in Arzo wohnt, ganz im Süden des Kantons, unweit von Mendrisio, nahe der italienischen Grenze. Im Juni und Juli 2010 entsteht bei Urs Moesch in Verscio das Bühnenbild. Moesch ist gleich alt wie Gardi. Er begleitete Clown Dimitri viele Jahre als Techniker auf dessen Tourneen und macht Bühnenbilder. Gardi Hutter legt mit Hand an. Sie hämmert und zimmert gerne, malt den grossen Schneidertisch auf alt um. Sie ist praktisch begabt, hat eine Werkstatt in ihrem Haus in Arzo, und als Ausgleich zur Arbeit schnitzt sie am liebsten an alten Wurzeln herum. Ideen entwickeln, dramaturgische Bögen erfinden, spielen sind das Zentrale ihres Berufs, aber sie liebt auch alles Handwerkliche, das er mit sich bringt. Das Ein- und Ausräumen, das Auf- und Abbauen, das Werken, Tüfteln und Problemelösen. Zur selben Zeit wie die Bühnenausstattung werden in Verscio die Kostüme gefertigt; Anna Manz, die ihr Atelier gleich neben Urs hat, näht sie. Gardi hat klare Vorstellungen, es soll nicht einfach ein farbiges Gewand her. Das Kostüm soll etwas über die Figur erzählen. Die Schneiderin trägt am Ende ein Kleid aus lauter Stoffresten.
Ebenfalls im Sommer werden die Gags entwickelt. Dafür kommt Gardi Hutters Ex-Mann Ferruccio Cainero für eine Woche ins Tessiner Dorf Camedo. Dort hat die Clownin einen Proberaum in einer umgebauten alten Textilfabrik gemietet. Ferruccio Cainero ist nicht nur Gagspezialist, er kennt auch die Figur der Hanna am besten. Sie haben sie damals gemeinsam entwickelt, als sie zusammen in Mailand lebten.
Und dann die letzten grossen Proben von Ende August bis Ende Oktober in Berlin. Sie sind im TISCH, im Theater im Schokohof, eingemietet, einem kleinen Studiotheater in Berlin-Mitte, das sich heute nur noch «Schokoladen» nennt.
Ende Oktober ist das Stück so weit, man kann es einem kleinen Publikum zeigen. Erst kommen Freunde und Bekannte, dann auch unbekannte Theaterinteressierte. Pro Abend schauen sich zwanzig bis dreissig Leute die Probevorstellungen an. Gardi Hutter und Michael Vogel registrieren während der Aufführungen genau, an welchen Stellen gelacht wird und wo nicht und bitten das Publikum, seine Meinung ohne Rücksicht zu äussern. Auf diese Art finden die Endproben statt.
Nach einer dieser Vorstellungen läuft ein Zuschauer Gardi Hutter bis zur U-Bahn-Station nach, weil es ihm wichtig ist, ihr persönlich zu erklären, weshalb sie auf der Bühne auf keinen Fall verständlich sprechen dürfe, dass mache doch ihre Figur kaputt. Das Grammelot, das lautmalerische Sprechen, gehört essenziell zum Spiel der Hanna. Aber diesmal sind Gardi Hutter und Michael Vogel der Meinung, dass die Schneiderin ein paar witzige Sätze sagen soll. Beide brechen gerne Regeln. Schliesslich beherzigen sie die Kritik des Zuschauers aber doch: Hanna spricht nicht auf der Bühne, aber wenn sie ins Publikum springt, darf sie auch mal reden. So erbettelt sie beispielsweise von den Zuschauern ihre «letzte Zigarette», und als sie auf dem Paket «Rauchen ist tödlich» liest, schreit sie den Zigarettenspender an: «Wollen Sie mich umbringen?!»
Gardi Hutter fährt ihren grauen Tourbus – auf dem die vier Figuren Affe, kauernder und aufrechter Mann sowie Clown abgebildet sind – mit der ganzen Ausrüstung Anfang November von Berlin nach Stuttgart. Bühnenbildner Urs Moesch hat von Anfang an alles so geplant, dass sich das ganze Bühneninventar zusammenklappen und im 3,5-Tonnen-Lieferwagen verstauen lässt, denn so geht Gardi Hutter anschliessend auf ihre Tourneen.
In Stuttgart angekommen, bleiben ein paar Tage Zeit, um vor Ort alles einzurichten und zu proben. Unendlich viele Details sind immer noch zu klären. Es wird geklebt, genagelt, die Technik eingerichtet, mit doppeltem Beamer, doppeltem Computer für die Videoprojektionen im Spiegel. Alles ist abgesichert. Gardi Hutter muss sich vor dem Publikum zu hundert Prozent auf das Team hinter der Bühne verlassen können, damit sie die Freiheit hat, zu spielen. Sie steht zwar alleine im Scheinwerferlicht, aber im Hintergrund arbeiten immer ihre beiden Techniker mit, die sie zu jeder Aufführung begleiten, sowie zwei, drei Leute vom jeweiligen Theater.
Die Spannung steigt. «Ich schlafe vor jeder Premiere extrem schlecht, und eigentlich würde ich dann am liebsten mit niemandem mehr sprechen», sagt sie. Aber natürlich interessieren sich die Medien, was gut für die Publizität ist, und so gibt Gardi Hutter eben Interviews.
Eine Stunde vor Premierenbeginn sind ihre Nerven zum Zerreissen gespannt. Sie macht Körperübungen auf der Bühne, versucht, sich zu konzentrieren, die Energie zu bündeln. Doch da ist die Kamera der Schweizer Nachrichtensendung «10 vor 10», und ein Journalist hält ihr das Mikrofon vors Gesicht. Man spürt ihre Nervosität, aber sie bleibt Profi, antwortet, obwohl sie in diesem Moment eigentlich nur eines möchte: ihre Ruhe. «Die Anspannung ist jenseitig», sagt sie ins Mikrofon, und man glaubt es ihr. «Ein Jahr Arbeit muss nun durch diesen ganz engen Kanal, durch diese Premiere, und es steht so viel auf dem Spiel.»
Das Ende des Satzes ist nicht nur so dahergesagt. Gardi Hutter ist die Darstellerin, aber auch die Produzentin. Das bedeutet, dass sie viel Geld in die Hand nimmt, um das Stück zu realisieren, um alle Beteiligten zu bezahlen, von der Technik über die Regie bis zum ganzen Material, den Raummieten, der Werbung, der Agentin und vielem mehr. Dafür gehören ihr die Einnahmen aus der Tournee, und wenn das Ganze ein Erfolg wird, rechnet sich die Sache. Aber das Risiko ist erheblich.
«Das ist das Schönste und das Schlimmste an meinem Beruf», sagt Gardi Hutter, «die grosse Freiheit, dass ich spielen und erfinden kann, was ich will, und jedes Mal die Chance habe, über mich selbst hinauszuwachsen. Andererseits lässt sich ein Erfolg nie sicher planen. Man hat keine Gewähr, dass es gelingen wird.» Man muss sich ein Publikum suchen, muss es begeistern und verführen. Es ist ein freier Markt mit schmalen Subventionen. Gardi hat schon vor der Premiere von «Die Schneiderin» hundert Vorstellungen in ganz Europa verkauft. Bis 2020 wird sie diese Figur mehr als 500 Mal spielen. Sie ist nicht nur Clownin, nicht nur Autorin und Künstlerin, sie ist auch Geschäftsfrau.
Donnerstag, 28. Oktober, 20 Uhr im Theaterhaus Stuttgart, eine grosse private Spielstätte im Norden der Stadt. Alt und neu verbinden sich in der ehemaligen Glasfabrik. Das Licht im grossen Saal erlischt. Und dann geht es los. Tausend Kleinigkeiten greifen während der Vorstellung ineinander: Licht, Musik, Übergänge, Gags, Videoeinspielungen. Zum Auftakt sitzt Hanna im Schneidersitz auf dem Tisch, näht an einem weissen Kleid, nickt kurz ein, der Kopf kippt nach vorne. Die lange Nadel pikst ihre dicke, rote Nase. Hanna schreckt auf, quiekt, der erste Lacher nach 15 Sekunden. «Ich merke in der ersten Minute, ob ein Abend gut wird oder nicht», sagt Gardi Hutter. Dahinter steckt nicht nur die jahrelange Erfahrung, sondern auch ihr ausgeprägtes kommunikatives Sensorium. Sie kann sich enorm gut auf verschiedenste Situationen und Menschen einlassen, vor allem auch auf einen gefüllten Saal vor ihr. Im stummen Dialog mit dem Publikum, mit Mimik und Gestik, schafft sie den Energieaustausch mit den Menschen und läuft dabei zur Hochform auf – die perfekte Eigenschaft einer Clownin.
Irgendwann kommt die Anmachszene, in der sie ins Publikum geht, einen gut aussehenden jungen Mann auf die Bühne holt, sich mit ihm auf den Tisch setzt und ihm mit ihrer unnachahmlichen Hanna-Art schöne Augen macht. Man kann nicht anders, als über dieses verzweifelt noch ein letztes Mal Liebe suchende Wesen mit dem verfilzten Haarschopf, den rollenden Augen und der dicken Clownnase zu lachen. Grossartig, wie sich die unförmige Hanna im Gegenlicht zu Joe Cockers «You Can Leave Your Hat On» lasziv im Halbdunkel auszieht. Danach steht sie in weisser Unterwäsche, in Form von Hemd und Hose, da und sieht plötzlich aus wie ihr sphärisches Gegenüber, ihre Seele im Spiegel. Das Publikum johlt und lacht. Und es war nie billig oder schlechter Geschmack, sondern nur lustig, bewegend und anrührend, weil zutiefst menschlich.
Nach siebzig Minuten stirbt Hanna freiwillig. Sie sieht die Seele ihres Vogels im Spiegel flattern und will ihm folgen. Sie spannt hinter sich ein weisses Segel auf, im Tisch öffnet sich ein Grab, sie steigt hinein, lässt vor sich ein wallendes, hellblaues Stück Stoff herabfliessen, fixiert es so an der Grabklappe, dass das Bild eines Boots im Wasser entsteht, winkt – ganz Kapitänin auf ihrem Schiff – und versinkt leise.
Das Licht geht aus, Klatschen, Jubel. Aus dem Dunkel taucht die erleichterte Gardi Hutter auf, verbeugt sich, nimmt dankbar den Applaus entgegen und bittet das ganze Team auf die Bühne. «Beim Schlussapplaus an der Premiere weine ich vor Erleichterung.» Hinter der Bühne umarmen sich alle Beteiligten lange und intensiv. Es hat geklappt, es war toll. Freude pur. Und Gardi Hutter strahlt diesmal in die Kamera von «10 vor 10», erhitzt, erschöpft, erlöst und rundum glücklich. Es gibt noch eine Premierenfeier im Haus für geladene Gäste, und nach Mitternacht sinkt sie ins Bett. «Ich kann, ich will dann an nichts mehr denken, nur noch schlafen!»
Frühling 1956, ein Sonntagnachmittag im St. Galler Rheintal, drei Kinder in einer Blumenwiese. Gardi Hutter in der Mitte, mit üppigem Blumenstrauss, glattem, blondem Bubikopf, im Trägerröckchen. Fest steht sie da, der Blick etwas kritisch, fragend. Die Kleine zwischen den grösseren Brüdern. Links Erwin, der Älteste, trotziger Mund, dunkleres Haar als die Geschwister, in der Hand eine Blume. Rechts Fredi, der Zweitgeborene. Beide Buben in denselben Shorts mit Kurzarmhemd und Pullunder. Die Kleider der Kinder hat die Mutter selbst genäht. Der vierte im Bunde fehlt auf dem Bild: Gilbert, der Jüngste. Er sitzt im Kinderwagen, kann noch nicht so schnell mitlaufen, wenn die drei Hutter-Kinder durch die Frühlingswiese toben. «Still halten und lächeln», hat Vater Erwin wohl befohlen. Nur Fredi folgt der Anweisung, Gardi und Erwin bleiben ernst. Morgens war die Familie in der Kirche, dann hat die Mutter gekocht. Am Nachmittag geht es noch etwas an die frische Luft. Am Montag wird wieder gearbeitet. Den Eltern gehört das Modehaus E. Hutter in Altstätten. Dort verkaufen sie Mäntel, Hosen, Jacken, Anzüge, Hemden, Blusen, Röcke und lassen im Schneideratelier im Haus Säume kürzen, Nähte anpassen und Kleider nach Mass anfertigen.
Es ist das dritte Kind, das im März 1953 in der Wiege liegt. Irmgard haben sie es getauft. Kaum jemand wird sie je so nennen. Vielleicht mal ein Beamter beim Blick in den Pass oder eine Lehrerin bei der Verlesung einer Klassenliste. Sie heisst Gardi, von Anfang an, Gardi Hutter. In den ersten 28 Jahren ist es ein Name wie viele andere auch. Mit dem 5.3.53 hat sich die kleine Gardi ein besonderes Datum für die Geburt ausgesucht. Dass sie mal berühmt wird, hat man ihr nicht in die Wiege gelegt.
Sie ist die erste Tochter und hat zwei grosse Brüder: Erwin, der wie der Vater heisst und fünf Jahre älter als Gardi ist. Und der 1950 geborene Wilfried, den auch nie jemand so nennt, weil er der Fredi ist. Zwei Jahre nach Gardi kommt 1955 ein weiterer Sohn zur Welt, Gilbert. Nun ist die Familie komplett. Vier Kinder sind in diesem Milieu wenig, verglichen mit den grossen katholischen Bauernfamilien wie jenen der Eltern Erwin und Irma Hutter nur eine Generation zuvor. Das junge Paar ist zwar noch ebenso religiös wie die Vorfahren, aber einen Hof bewirtschaftet es nicht. Sie haben beide Schneider gelernt und führen seit wenigen Jahren ein kleines Modehaus. Es ist eine aufstrebende katholische Kleinbürgerfamilie, in die Gardi Hutter als einziges Mädchen hineingeboren wird. Eine Herkunft, die ihre Kinder- und Jugendjahre stark prägen und noch lange Zeit nachwirken wird.
Erwin Hutter und Irma Dietsche wachsen in den 1920er- und 1930er-Jahren in Kriessern auf. Die Hutters wohnen im Unterdorf mit zwölf Kindern, sieben Söhne und fünf Töchter. Sie sind ärmer als die Dietsches im Oberdorf, die acht Kinder haben, fünf Söhne und drei Töchter. Erwin und Irma kennen sich schon seit Kindertagen, im Dorf kennt jeder jeden. Er ist 1919 geboren, sie 1923.
Weil in beiden Familien jeweils nur ein Sohn den Hof übernehmen kann, müssen sich die Geschwister anderweitig umschauen. Erwin Hutter kommt 1935 aus der Schule. Da wird gerade eine Schneiderlehrstelle in der Umgebung frei. Man fragt nicht lange nach Talenten oder Interessen. Erwin hat grosse, kräftige Hände. Für die Arbeit auf dem Bauernhof ist er bestens geeignet. In der Schneiderlehre leidet er zu Beginn, weil die kräftigen Bauernhände Nadel und Faden beinahe nicht zu fassen kriegen. Vom vielen Sitzen bekommt er Rückenschmerzen, aber er beisst sich durch. Eine Lehre ist eine Chance auf einen Beruf, der einst eine Familie ernähren kann. Danach folgt die Rekrutenschule, in der er als Bursche das Pferd eines Vorgesetzten pflegt. Gerne würde er nach der Rekrutenschule, wie damals üblich, auf die «Stör», das heisst im Ausland auf Wanderschaft gehen. Aber es ist 1939, der Krieg bricht aus, Erwin Hutter wird eingezogen und leistet zwei Jahre Aktivdienst an der Grenze. Zwischendurch wird er immer mal wieder vom Dienst freigestellt und kann in der Herrenkleiderfabrik Lenox in Altstätten arbeiten. Dort werden Uniformen genäht, und er verdient etwas mehr als nur den kargen Sold. Der Bauernsohn ist voller Tatendrang und möchte etwas erreichen im Leben. Er macht seinen Meistertitel und eignet sich in Abendkursen kaufmännisches Wissen an. Nach Kriegsende eröffnet er mit seiner Schwester Angela eine kleine Massschneiderei an der Obergasse in Altstätten. Vom Ersparten haben sie sich eine Nähmaschine im Wert von 600 Franken gekauft, einen Bügel- und einen Arbeitstisch zu 270 Franken und Stoffe für 97 Franken. Berücksichtigt man die Teuerung, lassen sich die Zahlen zum heutigen Wert ungefähr mit fünf multiplizieren. Ein bescheidener Anfang, aber der 26-jährige Mann ist geschäftstüchtig, ein guter Schneider, und er möchte heiraten. Erwin Hutter beginnt sich für Irma Dietsche, Bauerntochter aus dem gleichen Dorf, zu interessieren. Doch die will zunächst nichts von ihm wissen.
Auch sie ist nicht ganz freiwillig Schneiderin geworden. In der Schule hatte sie ausschliesslich Bestnoten. Zu gerne hätte sie eine Sekundarschule besucht und anschliessend das Lehrerseminar. Traumberuf Lehrerin. Für ihre bäuerlichen Eltern sind das Flausen. Zu viel Bildung macht bei Frauen keinen Sinn und vereitelt womöglich die Heiratschancen. Die Realschule genügt. Später erzählt Irma Hutter ihren Kindern, dass sie über das Verbot, Lehrerin zu werden, drei Tage lang geweint habe.
Eine von Irmas älteren Schwestern ist bereits Schneiderin. Ein guter Beruf, findet der Vater, und so lernt die Jüngere ebenfalls das Schneiderhandwerk. Die Autorität der Eltern ist damals Gottes Gesetz, und Irma begehrt nicht auf. Erst als sie achtzig Jahre alt ist, wird sie Gefühle des Zorns hochkommen lassen und grollen: «Wir Mädchen waren allesamt nur Mägde.»
Dass Irma ihren Verehrer Erwin zunächst zurückweist, kann ihr Vater nicht nachvollziehen. Er ist begeistert von dem jungen Hutter. So ein Schneider passt perfekt zu seiner Tochter, sie könnten zusammen die Schneiderei in Altstätten führen und womöglich ausbauen. Aber Irma erklärt, sie sei zu wenig verliebt. Für den Vater kein stichhaltiges Argument, doch Erwin hat Geduld, schreibt sogar einen Brief an Matthias Dietsche und argumentiert darin, dass der Vater Verständnis haben müsse, man könne Irma ja nicht zwingen.
Beide Familien gehören dem ländlichen katholischen Milieu an, das sich nach aussen abschottet und für das strenge moralische Werte und ein ganzer Reigen religiöser Riten prägend sind. Dazu gehören beinahe tägliche Messebesuche, das Beichten, Beten, Andachten, die Sakramente zu Geburt, Heirat und Tod sowie spezielle Feiern an religiösen Feiertagen. Man ist Mitglied in katholischen Vereinen, und braucht man Rat, wendet man sich an den Pfarrer; ist es etwas geheimer, an einen Pater. So macht es auch Irma Dietsche. Sie ist unsicher, wie sie mit ihrem Verehrer Erwin Hutter umgehen soll. Ist es richtig, einen Mann zu heiraten, den man nicht liebt, nur weil praktische Gründe dafürsprechen? Sie erzählt später, dass der Pater ihr ganz pragmatisch geraten habe, sie solle sich einmal auf die Knie des jungen Mannes setzen, der Rest werde sich schon finden. Ob es dieser Rat ist, der die beiden am Ende zusammenbringt, oder einfach eine längere Phase des Kennenlernens, in der doch Zuneigung keimt? Hilft Erwins Geduld oder die Aussicht darauf, gemeinsam arbeiten und sich etwas aufbauen zu können?
Was immer die Gründe sind, dass die beiden am Ende doch zusammenkommen – Irma nimmt den Heiratsantrag schliesslich an. Am 7. Oktober 1946 findet die Hochzeit statt, und die Kombination der beiden Schneider wird sich als glücklich erweisen, geschäftlich und privat. Sie hätten es als Paar gut miteinander gehabt, sagt Gardi Hutter.
Zwei arbeitsame Menschen mit dem gleichen Beruf und von ähnlicher Herkunft, aber unterschiedlichem Naturell finden so nach Ende des Zweiten Weltkriegs zusammen. Er, der Ruhigere, handwerklich rundum Begabte, der die Berge, das Wandern, Reisen und das Skifahren liebt. Er sei ein Optimist gewesen, sagt Gardi Hutter, und auch einer, der Risiken eingegangen sei, was sich am Ende meist ausbezahlt habe. Sie, die Geschäftsfrau durch und durch, perfektionistisch, intelligent, mit viel Bauernwitz; man kann gut mit ihr lachen und singen. Aber sie ist eine Pessimistin, macht sich ständig Sorgen und ist viel vorsichtiger als ihr Mann. Sie ist streng mit sich selbst und mit anderen; an erster Stelle stehen in ihrem Leben der gute Ruf und ihr Glaube.
Erwin und Irma Hutters Sprung von Kriessern nach Altstätten ist nicht riesig. Fünf Kilometer liegen zwischen den beiden Orten, aber das eine ist ein Bauerndorf, das andere ein kleines Städtchen mit damals 8300 Einwohnern und einem mittelalterlichen Ortskern. Die sankt-gallische Gemeinde Altstätten grenzt mit Kriessern an Oberriet. Liechtenstein und die österreichische Grenze sind nicht weit entfernt. Richtung Westen grenzt der Ort an den Kanton Appenzell Ausserrhoden und die Ausläufer des Alpsteins. Und Richtung Norden mündet keine zwanzig Kilometer entfernt der Rhein in den Bodensee. Der Ort hat seit dem 9. Jahrhundert die Stadtrechte, Stadtmauern und eine Verbindung zum Kloster St. Gallen. Man ist hier stolz auf die Rolle als Marktflecken der Region seit dem Mittelalter und die seit vielen Hundert Jahren gepflegte Fasnachtstradition. In vorindustrieller Zeit verhilft der Handel mit Leinwand, später mit Seide und Baumwolle einigen Familien zu grösserem Wohlstand. Im 18. Jahrhundert leistet man sich ein repräsentatives Rathaus, und an der Marktgasse entstehen stattliche Bürgerhäuser mit Bogengängen. Mit dem Bahnbau 1858 entwickelt sich eine heimische Industrie mit Webereien und Stickereiunternehmen, sie dominieren bis zum Ersten Weltkrieg. Die Zeit danach wird wirtschaftlich schwierig. Erst in den 1960er-Jahren zieht die Konjunktur wieder markant an, siedeln sich neue Betriebe in und um Altstätten an, ziehen neue Leute zu. Menschen, die auch Kleider brauchen. Es ist eine überschaubare Kleinstadt, die Wege sind kurz, man kennt sich. Die zwei dominantesten Gebäude im Ort sind die katholische und die reformierte Kirche, gefolgt vom Kloster Maria Hilf.
1948 steht nicht weit von der Obergasse, in einer Kurve am Rande der Altstadt, ein frei stehendes, dreistöckiges Haus zum Verkauf: Trogenerstrasse 24. Im Erdgeschoss lässt sich ein Kleidergeschäft einrichten, darüber kann man wohnen. Das junge Schneiderpaar hat zwar nicht genug Geld für den Kauf, aber Irmas Vater, Matthias Dietsche, bürgt für den Kredit von 53540 Franken, den die Rheintaler Creditanstalt Au gewährt. 56000 Franken kostet das Haus, 12000 Franken werden in den Umbau investiert. Im Wohn- und Geschäftshaus wird 1948 das «Modehaus E. Hutter» eröffnet. Auch für Nachwuchs ist Platz: Irma ist schwanger.
Es müssen intensive Jahre sein, die folgen. Die vier Kinder werden zwischen 1948 und 1955 geboren, und Vater und Mutter packen tüchtig im Geschäft an. Die Familie wohnt im ersten und zweiten Obergeschoss. Gardis Zimmer liegt neben dem Änderungsatelier, und sie erinnert sich, wie sie als Kind oft dort war: «An den Wänden waren die Fadenspulen an Nägeln aufgesteckt. Und die Knöpfe wurden in vielen kleinen Schubladen aufbewahrt. Ich liebte es als Kind, dort zu spielen; ich kann die verschiedenen Knopfarten heute noch beschreiben. Vermutlich haben die zwei, drei Schneiderinnen, manchmal auch ein Schneider, im Atelier auch auf mich aufgepasst.» Die Faszination aus Kindertagen wird nach Jahrzehnten dann zur Inspiration für die Künstlerin.
Die Massschneiderei wird ab Mitte der 1950er-Jahre durch immer mehr Damen- und Herrenkonfektion ersetzt, und den Erstkommunions- und Firmungsanzug kauft man jetzt bei Hutters. Mit dem Laden gelingt den Eltern zwar der soziale Ausstieg aus dem einfachen bäuerlichen Leben ihrer Vorfahren, aber in gewisser Weise setzen sie es unter anderen Vorzeichen fort. Der Gewerbebetrieb und das Wohnen finden wie auf dem Bauernhof unter einem Dach statt. Vater und Mutter arbeiten beide, und die Kinder wachsen nebenher und mittendrin auf. «Meine Eltern arbeiteten jahrelang elf bis zwölf Stunden pro Tag. Es machte ihnen nichts aus. Sie waren es gewohnt vom Hof. Viel Arbeit war Teil des Lebens, galt als Tugend, und wer tüchtig war, konnte es zu etwas bringen», erzählt Gardi Hutter.
In der Schweiz kommen damals mittags alle Kinder von der Schule nach Hause. Der Laden wird für eine gute Stunde geschlossen. Kochen und Essen müssen in der kurzen Zeit effizient über die Bühne gehen. Es klappt, weil Irma Hutter sehr geübt ist: «Meine Mutter war stolz darauf, dass sie ein Mahl für sechs Personen in zwanzig Minuten auf den Tisch stellen konnte.» Und natürlich kocht sie oft vor, sie bereitet die Kartoffeln oder einen Eintopf schon am Vorabend zu, und dann brät sie noch Würste, oder es gibt Käsenudeln. Hauptsache, es geht schnell.
Die frühesten Eindrücke aus ihrer Kindheit verbindet Gardi Hutter mit den Erlebnissen auf den beiden Höfen der Grosseltern in Kriessern: «Mein Grossvater Matthias war ein strenger Patriarch. Wir fürchteten uns alle vor ihm.» Seine Frau Katharina ist das Gegenteil. Als still und liebenswert hat Gardi Hutter die Grossmutter in Erinnerung. Sie betreibt den Dorfladen von Kriessern. Als kleines Kind ist Gardi gerne und oft bei den Grosseltern in den Ferien. Dort gibt es gleichaltrige Cousinen zum Spielen, weil der Onkel, der den Hof übernommen hat, auch wieder zehn Kinder hat, und Gardi darf im Laden der Grossmutter mithelfen. Es sind die 1950er-Jahre. Im Dorfladen stehen grosse Säcke mit getrockneten Bohnen, Linsen und Nudeln. Man schöpft die Ware mit Schaufeln in Papiertüten, wiegt sie ab, kassiert. Gardi liebt diese Arbeit zusammen mit der Grossmama. Abends sitzt die Grossfamilie beisammen. Die Schwiegertochter hat gekocht, ein grosser Topf steht auf dem Tisch. Zehn und mehr Menschen tauchen ihre Löffel ein und essen alle gemeinsam aus der grossen Schüssel. Es gibt Hörnli und Apfelmus oder Kartoffeln in jeder erdenklichen Form, als Rösti, Bratkartoffeln, Kartoffelstock, «Gschwellti» mit Käse, und Ribel, ein Rheintaler Maisgericht. In der Erinnerung haften geblieben ist Gardi Hutter das wundervolle silbergraue, lange Haar der Grossmutter, das sie abends aus dem straffen Dutt befreite und mit einem Kamm langsam durchkämmte, aber auch die Rute an der Wand gleich hinter dem Platz des Grossvaters: «Wenn ein Kind etwas ausgefressen hatte, wurde es abends über dem Tisch mit der Rute gezüchtigt. Das war der Erziehungsstil damals. Und als der Sohn den Hof übernahm, sass er dann dort und hat es genauso gemacht.»
Die Dietsches sind eine lebhafte Familie. Sie reden laut und sind manchmal etwas rau, sie lachen und singen auch viel. Ihr Wohlstand kommt nicht nur vom Laden und vom Bauernbetrieb; der Grossvater ist auch Viehhändler. Im Haus herrscht ein ganz anderer Geist als bei Gottlieb und Emma Hutter im Unterdorf, den Grosseltern väterlicherseits. Hier ist alles viel kleiner und enger, ruhiger, aber auch herzlicher. Grossmutter Emma hat 14 Kinder geboren, zwei sind gestorben. Gardi Hutter sagt: «Sie war ein Wesen von fast Zen-artiger Friedlichkeit. Obwohl sie immer arbeitete, schien sie in sich zu ruhen und strahlte eine Heiterkeit aus. Mit 96 Jahren sagte sie eines Nachmittags, sie fühle sich müde. Dann legte sie sich hin und starb.»
Die Hutters sind generell stille Leute, selbst beim Jassen wird kaum gesprochen. Nur Fritz, einer der drei Brüder des Grossvaters Gottlieb – der in die USA ausgewandert war und zurückkehrte –, schlägt aus der Familie und unterhält in der Dorfwirtschaft jeweils den ganzen Saal. Prompt wird später behauptet, Gardi habe ihr Talent vom Grossonkel geerbt.
Die zwei jüngsten Schwestern von Erwin Hutter werden Klosterfrauen in Baldegg und gehen in die Mission – damals eine der wenigen Möglichkeiten für Frauen aus einfachen Verhältnissen, in die Welt hinaus zu kommen. Verona Hutter schafft es in den 1970er-Jahren bis nach Papua-Neuguinea und Tansania.
Gardi hilft wie alle Kinder auf beiden Höfen mit, hütet Kühe und Schafe und liebt das Landleben. Die Bauern im Rheintal betreiben Milchwirtschaft, und viele bauen neben Kartoffeln auch Erbsen für die Konservenfabrik Hero an; so auch Gardis Grosseltern.
Seit 1886 stellt Hero Büchsenerbsen her. In den 1900er- Jahren steht die Fabrik noch in Frauenfeld, wo die umliegenden Erbsenfelder liegen, und auch im Rheintal stellen die Bauern auf das Gemüse um. Gardi Hutter lacht, als sie erzählt, dass sie in ihrer ganzen Kindheit immer nur «Puverli und Rüebli» – Schweizerdeutsch für «pois vert», grüne Erbsen, und Karotten – aus der Dose zu essen bekam und nie frische Erbsen, obwohl sie sogar beim «Puverle» mithalf, dem Pulen der Erbsen aus den Schoten. Aber das Gemüse ging in die Fabrik und landete erst aus der Büchse wieder auf dem Teller. «Aus heutiger Sicht war es ziemlich absurd. Man befand sich in einer Gegend voller frischer Erbsen und ass sie bei den Grosseltern und bei uns zu Hause aus der Büchse, aber wir Kinder liebten die Puverli und Rüebli. Und es gab sie nur am Sonntag.» Erst im Alter von etwa dreissig Jahren kommt sie nach einem Auftritt bei einem Abendessen in einem Kloster im Walsertal das erste Mal in Berührung mit frischen Erbsen – eine Offenbarung: «Ich fiel fast vom Stuhl, dass Erbsen einen solch intensiven Geschmack haben konnten, unglaublich. Aber Konserven galten in meiner Kindheit als modern – und meine Mutter hatte wenig Zeit zum Kochen.»
Die Grosseltern Dietsche mit ihren Kindern; Gardis Mutter vorne links.
Die Familie um die Grosseltern Hutter; Gardis Vater oben links.
Gardis Eltern, Irma und Erwin Dietsche, heiraten am 7. Oktober 1946 in Altstätten. Beide haben Schneider gelernt; sie bauen erfolgreich ein Modehaus auf.
1948 erwerben Hutters ein Haus an der Trogenerstrasse 24 in Altstätten. Im Erdgeschoss führen sie das Geschäft, darüber wohnt die Familie.
Ein Schaufenster Anfang der 1950er-Jahre. Das Modehaus E. Hutter führt Herren-, Damen- und Kinderkleider.
Ende der 1950er-Jahre können sich Hutters ein kleines Ferienhaus auf dem Ruppen und einen Zweitakter DKW leisten.
Sommerferien in Italien. Skeptisch betrachtet die kleine Gardi einen steinernen Löwen in Venedig – ob er nicht doch lebendig wird?
Gardi Hutter 1958 als Fünfjährige im Kindergarten; stolz bewältigt sie den Weg dorthin alleine.
Weihnachten bei Familie Hutter, es wird musiziert und viel gesungen. Auch sonst ist das Singen wichtig im Familienleben.
Gardi Hutters Kindheit kennt viele Widersprüche, Widerstände, Unterschiede, aber vielleicht ist ihr Blick auch besonders geschärft für diese Aspekte. Der Kanton St. Gallen ist konfessionell gemischt, im Rheintal leben zwar mehrheitlich Katholiken, aber in Altstätten gibt es auch eine protestantische Kirche, und die beiden konfessionellen Lager stehen sich misstrauisch, wenn nicht gar feindlich gegenüber. Man grenzt sich strikt voneinander ab. Der tiefe Graben zwischen Protestanten und Katholiken ist auch noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein deutlich spürbar. Er geht zurück auf den sogenannten Kulturkampf im 19. Jahrhundert. Liberale, aufklärerische Ideen setzen sich damals weitherum gegen den als rückständig geltenden Katholizismus durch. In der Folge grenzen sich die Katholiken immer mehr ab und igeln sich in ihrem katholischen Milieu ein. Gardi Hutter wächst in diesem nach innen zwar intakten, nach aussen aber isolierten Umfeld auf.
Man bleibt unter sich, besucht mehrmals pro Woche den Gottesdienst, schickt die Kinder auf katholische Schulen, liest katholische Zeitschriften und Bücher, wählt die Kandidaten der katholischen Partei, geht in den katholischen Turnverein, singt im katholischen Kirchenchor und bleibt in den zahlreichen katholischen Vereinen unter sich. Es wird untereinander geheiratet, und nur katholisch geschlossene Ehen werden als gültig anerkannt. Homosexualität, Scheidungen, Abtreibungen, Sexualität vor der Ehe und ausserhalb der Fortpflanzung, uneheliche Kinder – alles Verstösse gegen die göttliche Ordnung und unaussprechliche Tabus.
In diesem Klima wächst Gardi Hutter heran. Früh wird ihr eingebläut, was der Unterschied zwischen Katholiken und Reformierten sei. Letztere kommen nicht in den Himmel, und sie besuchen in Altstätten eine separate Schule. An katholischen und protestantischen Feiertagen ignorieren sich die beiden religiösen Gemeinschaften gegenseitig oder stören einander sogar. Das lässt sich einfach bewerkstelligen, indem man beispielsweise während reformierter Festtage die Wäsche raushängt oder während katholischer Prozessionen draussen auf den Feldern Mist ausfährt.
Früh lernt Gardi auch, dass es einen grossen Unterschied zwischen Buben und Mädchen gibt. Er zeigt sich darin, was die einen dürfen und die anderen nicht. Gardi Hutters Kinderwelt ist wohlsortiert in Katholiken und Protestanten, in Mädchen und Buben, in Gut und Böse. Sie besucht die katholische Primarschule für Mädchen. Wenn sie ihre Cousinen besuchen will, führt der Weg über den protestantischen Schulhof. «Da bin ich immer schnell wie der Blitz durchgerannt, aus Angst vor den Reformierten.» Sie hat nur katholische Spielgefährten; mit den anderen kommt sie kaum in Kontakt. Als Teenager werden ihr die zwei schlimmsten Vergehen für ein katholisches Mädchen eingeschärft: «Das Schlimmste war, unverheiratet schwanger zu werden, und das Zweitschlimmste, einen Reformierten heimzubringen. Meine drei Brüder haben dann zwar alle Protestantinnen geheiratet, aber da waren die Sitten schon etwas gelockert.»
Die Sache mit den Konfessionen ist für Hutters ein Balanceakt. Wann immer möglich kaufen sie in den Geschäften anderer Katholiken ein; sie wollen aber natürlich auch protestantische Kunden. Wenn die Kinder etwas für die Familie besorgen, müssen sie immer laut und deutlich sagen, wer sie sind. «Wir mussten sagen: ‹Ein Kilo Brot für Hutter.› Das war meinen Eltern sehr wichtig.» So weiss der katholische Bäcker, dass Hutters ihm treu sind – und der protestantische Ladenbesitzer schätzt es, dass Hutters auch bei ihm kaufen. Neutralität, zumindest nach aussen, ist für die Kaufleute wichtig. Aber familienintern werden Gardi und ihre Brüder streng katholisch erzogen.
Drei Kirchgänge pro Woche sind die Regel: Dienstag und Freitag müssen die Kinder vor der Schule die Frühmesse besuchen und dazu noch den Sonntagsgottesdienst: «Wir waren im Hochamt, die ganze Gemeinde zusammen. Ich sass bei den Mädchen links, meine Brüder bei den Buben rechts, und von der Empore her überwachten die Eltern, ob wir nicht verbotenerweise tuschelten – natürlich taten wir das. Das Verbotene war schon damals reizvoll. Wir wisperten nach vorne oder gaben kleine Briefchen hin und her, die wir im Gebetbuch versteckten. Wenn wir versuchten, das Kichern zu unterdrücken, ergab das so ein Schnarren durch die Nase, das wie Ersticken tönte. Meistens passierte das während der Wandlung, dem stillsten Moment der Messe. Alle Gläubigen bekamen es mit, und die Strafe zu Hause war uns so sicher wie das Schlussgebet. Trotzdem war ich sehr gläubig als Kind, es gab auch lange keine anderen Einflüsse.»
Im Elternhaus gibt es kaum Bücher: die Bibel, einige Märtyrerbücher und Johanna Spyris «Heidi», das Gardi wiederholt liest und liebt. Als die Brüder älter werden, kommen die Bücher von Karl May ins Haus, die sie ebenfalls verschlingt. Sie ist eine Leseratte, was zu Hause nicht auf viel Anklang stösst: «Hast du nichts Gescheiteres zu tun, hiess es, wenn ich mich hinter ein Buch verkroch. Lesen war Faulheit, nur Schwitzen galt als Arbeit.»
Weil die paar wenigen Bücher im Haus aus katholischen Verlagen stammen, besteht Gardi Hutters Lektüre zunächst vor allem aus Märtyrerbüchern, in denen Christen wegen ihres Glaubens verfolgt, gequält und getötet werden. Sie erdulden die Qualen im Namen Jesu und werden später heiliggesprochen. Es sind frühchristliche Helden- und Heldinnengeschichten, Vorbilder für den rechten Weg ins Paradies. Gardi Hutter kann aus heutiger Sicht wenig Gutes daran finden: «Es waren letztlich Sadomaso-Bücher, in denen sehr ausführlich beschrieben wurde, wie die Heiligen gefoltert, gesteinigt, gerädert oder verbrannt, den Frauen die Brüste abgeschnitten wurden und andere Scheusslichkeiten.» Aber als Kind lebt sie die hochdramatischen Geschichten von Märtyrerinnen wie den Heiligen Lucia, Barbara oder Angela mit. Schöne, tiefgläubige Frauen, die sich eins mit Jesus Christus fühlen und dann für ihren Glauben von dunklen Bösewichten zu Tode gequält werden. Nur über das Leiden wird man erlöst, so lautet die immer gleiche Botschaft. Das kleine Mädchen lässt sich von der grossen Dramatik wie von den Ritualen der Kirche, von Musik, Weihrauch und Glockenklang, beeindrucken.
Heute schüttelt sie über vieles in ihrer religiösen Erziehung den Kopf: «Vergleiche ich diesen gefolterten Jesus mit einem mild lächelnden, tiefenentspannten Buddha, kann ich mich nur wundern über das Symbol unseres Glaubens, unseres ganzen Denkens und Fühlens. Er war allgegenwärtig. In jeder Stube, jedem Schulzimmer hing ein gefolterter Mensch am Kreuz, am Rand von Wiesen- und Waldwegen; auf Berggipfeln begegnete er einem. Eigentlich grauenhaft, ein Fall für Amnesty International. Es wurde von Liebe und Güte gesprochen, aber der Grundtenor hiess «Schuldgefühle». Man kommt schon schuldig zur Welt. Die Grundlage meiner ganzen katholischen Erziehung, die Instrumente von Angst und Einschüchterung, das würde ich heute als menschenverachtend bezeichnen.» Doch was ihr im Rückblick unverständlich erscheint, ist damals einfach normal. Die Eltern und Grosseltern haben es so gelernt und geben es weiter an die nächste Generation. Das enge Korsett moralischer und erzieherischer Werte hält noch. Kinder schulden ihren Eltern Gehorsam, so wie es im Kolosserbrief des Alten Testaments steht: «Ihr Kinder, gehorcht euren Eltern in allem; das gefällt dem Herrn.» Wer nicht gehorcht, muss Gehorsam lernen. Es wird nicht diskutiert, sondern gezüchtigt. Das gehört ebenso zum Erziehungsprogramm bei Familie Hutter wie fehlende körperliche Nähe. Die Kinder werden nicht umarmt oder liebkost. Man darf sie auf keinen Fall loben oder verwöhnen, das könnte üble Folgen zeitigen. Nur Gilbert, der Jüngste, darf als Sonnenschein der Mutter etwas Nähe von ihr geniessen, man sieht es auf den Familienfotos.
Gardi Hutters Eltern sind keine böswilligen Menschen, im Gegenteil. Sie geben ihr Bestes und versuchen, gute Eltern zu sein. Doch die Erziehung ist strikte geregelt, und es herrscht eine klare Rollenteilung zwischen den Eltern. Die Mutter erzieht und ist die Hauptansprechperson für die Kinder. Wenn Gardi oder ihre Brüder etwas ausgefressen haben, gibt es von der Mutter eine Ohrfeige und die Drohung, sie sollten nur auf den Vater warten. Der muss das Kind abends zusätzlich mit dem Stock oder einem Kleiderbügel auf den Hintern züchtigen. Schläge gibt es fürs Lügen, wenn etwas kaputtgeht oder man heimlich im Laden oder im Kleiderlager Verstecken gespielt hat. Dabei ist gerade das ein besonderes Vergnügen, sich zwischen den Mänteln und Röcken zu verbergen und mit den Brüdern zwischen den vielen Kleidern Fangen und Verstecken zu spielen. Nur erwischen lassen darf man sich nicht. «Wenn uns die Mutter in der Hitze des Gefechts nur eine Ohrfeige verpasst hätte, wäre es noch gegangen», sagt Gardi Hutter, «aber schlimm war, dass der Vater uns abends nochmals für das gleiche Vergehen bestrafte. Bis dann war die Aufregung aber meist schon vorbei, es ergab gar keinen Sinn mehr.»
Der Vater ist überhaupt ruhiger und gelassener als die Mutter. Gardi meint, er sei ein friedliebender Mensch gewesen und die Rolle als strafender Vater habe nicht zu ihm gepasst. Aber er muss sie ausfüllen. Es gehört sich so. Die Mutter ist wachsam und hat alles unter Kontrolle. Gardi als einzige Tochter steht unter besonderer Beobachtung, sie soll ein Vorzeigemädchen sein. Doch sie ist schlau und lernt im Laufe ihrer Kindheit und Jugend, mit dem Kontrollregime umzugehen. Wenn sie etwas will, ist es am besten, sie fragt die Mutter, wenn diese im Geschäft ist, dann muss sie freundlich bleiben und sagt schneller Ja, weil Kunden im Laden sind und sie sich nicht auf lange Diskussionen einlassen kann. Wenn Gardi also fragt, ob sie draussen spielen darf, wird das zwar bewilligt, aber nie ohne Auflagen. Alle Kinder müssen von klein auf viel im Haus mithelfen. Mittags und abends werden sie eingespannt beim Abwaschen und Abtrocknen und beim Aufnehmen des Küchenbodens. Als sie grösser werden, heisst es Auto waschen, im Garten helfen, Keller aufräumen. Auch im Modehaus müssen sie mithelfen, beim Auspacken neuer Lieferungen und beim jährlichen Inventarisieren. Der Vater liest von jedem Kleidungsstück die Nummer auf dem Etikett ab, und die Kinder tragen sie in eine Liste ein. «Wenn neue Kleider in Schachteln angeliefert wurden, mussten wir alle Schnüre aufwickeln und stundenlang das Seidenpapier, das die Kleider knitterfrei halten sollte, ausstreichen und zusammenlegen. Nichts wurde weggeworfen, alles wurde wiederverwendet. Das geht mir bis heute nach. Wenn ich etwas mit Seidenpapier geliefert bekomme, streiche ich es aus und bewahre es auf.»
Dass die Kinder so viel helfen müssen, hat einerseits mit der hohen Arbeitsbelastung der Eltern zu tun; es ist gleichzeitig aber auch Teil des erzieherischen «Antiverwöhnprogramms». Gespielt wird erst, nachdem etwas geleistet wurde. Wie auf dem Bauernhof müssen alle mit anpacken. Und auch einen religiösen Zug hat die Methode: Irma Hutter lebt nach dem Motto «Müssiggang ist aller Laster Anfang». Doch es ist nicht etwa so, dass die Kinder dauernd kontrolliert würden, das geht gar nicht. Die Eltern sind viel zu beschäftigt im Laden, und so gibt es trotz strenger Erziehung doch einigen Freiraum, den die Kinder draussen nutzen.
«Wenn wir aus dem Haus waren, dann waren wir frei. Wir spielten stundenlang Verstecken und Völkerball auf der Strasse, und mit den Nachbarskindern haben wir wilde Banden gebildet. Es kam kaum ein Auto, und wenn, dann ist man kurz zur Seite getreten.» Die Altstadt ist belebt von kleinen Gewerbebetrieben. Gleich in der Nachbarschaft des Modehauses befinden sich nicht nur ein Bäcker und ein Metzger, sondern auch ein Gerber, ein Schmied und ein Küfer, der Fässer herstellt. «Ich weiss heute noch, wie es beim Gerber und in der Schmiede roch und wie wir Kinder zusahen, als im Notschlachthaus eine Kuh ausgenommen wurde, die ausgestreckt am Boden lag. Das machte uns grossen Eindruck. Als ich klein war, spielte ich auch oft draussen mit Puppen. Ich habe mit Nachbarsmädchen mit abgebrochenen Bleistiftminen ein Haus, ein Spital, die Schule, den Laden et cetera auf die Strasse gemalt, und dann sind wir mit den Puppen hin- und hergegangen und haben uns Geschichten ausgedacht.»
Das ist die Mädchenseite ihrer Spiele, aber es gibt auch die Bubenseite, an der sie sich gerne beteiligt. «Meine zwei grossen Brüder haben viel Unfug und Gefährliches gemacht, sind von hohen Mauern gesprungen, haben ein Luftdruckgewehr ausprobiert, und ich bin natürlich immer mit und hinterher. Sie waren meine grossen Vorbilder.» Ein zugelaufener Hund wird in die Familie aufgenommen und Rexli genannt.
Die Position von Gardi als drittem Kind und einzigem Mädchen in der Familie ist nicht immer einfach. Den beiden grossen Brüdern eifert sie nach. Dass diese oft auf ihre kleine Schwester aufpassen müssen, ist ihnen aber eher lästig. Denn wenn die Kleine ihnen nachrennt, umfällt und schreit, werden sie mit einer Ohrfeige bestraft. Gardi hingegen muss sich als Jüngere wehren und verteidigen. «Es ging rau zu und her. Wir waren vier Kinder und wetteiferten um alles, vom Dessert bei Tisch bis zur Aufmerksamkeit der Eltern.» Wenn Gardi zu Weihnachten oder zum Geburtstag Schokolade bekommt, muss sie diese gut vor Erwin und Fredi verstecken. Und dann finden sie sie trotzdem, essen sie der Schwester genüsslich weg und platzen vor Schadenfreude. Denn sie war ja nicht schlau genug, ein gutes Versteck zu finden. Einmal entdecken die Brüder ein Tagebuch, das Gardi führt, lesen es und ziehen sie damit auf. Gardi ist wütend und gekränkt, auch dass die Mutter sie in solchen Momenten nicht in Schutz nimmt. Sie fühlt sich oft alleine. Ihr Zimmer ist viel grösser als der enge Raum, den die drei Buben teilen, weil er auch noch als Gästezimmer dient. Die Brüder beneiden sie um das grosse Einzelzimmer. Sie wiederum wäre nur zu gern Teil der Zimmergemeinschaft nebenan. Wegen einer fehlenden Heizungsröhre klafft ein Loch in der Wand zwischen den Räumen. Gardi beobachtet wehmütig, wie die Jungs miteinander toben. Sie gehört dazu und gehört doch nicht dazu; ein unbestimmtes Gefühl von Fremdheit, von Danebenstehen, Nicht-ganz-beteiligt-Sein, wird zu ihrem ständigen Begleiter.
Hängt die Fremdheit auch damit zusammen, dass der Geschlechterunterschied von den Eltern so stark betont wird? Gardi möchte sein wie die Brüder, muss aber anders sein, weil sie ein Mädchen ist. Mädchen sind brav, tragen Röckchen, weisse Kniesocken, klettern nicht auf Bäume, pfeifen nicht und sind nicht laut. Mädchen nehmen sich zurück, passen sich an, sind lieb.
Es sind nicht nur die Eltern, die so denken – die gesellschaftlichen Strukturen sind darauf ausgelegt, den Geschlechterunterschied zu betonen. Vom getrennten Schulunterricht über die Trennung in den Kirchenbänken bis zu den zwei unterschiedlichen Kinder- und Jugendverbänden: Pfadfinder für die Buben und Blauring für die Mädchen. Während die Brüder mit der Pfadi durch den Wald pirschen und im Pfingstlager zelten dürfen, sitzt Gardi im Blauring, wo gehäkelt und gebastelt wird. «Mit 13 konnte ich dann endlich auch in die Pfadi, als Leiterin für die Jüngsten, die Wölfli. Kaum war das möglich, wechselte ich sofort. Aber natürlich konnte ich da nicht rumtoben. Ich war ja verantwortlich für die Kleinen – war quasi die vorbildliche Ferienmutter. Aber mit einem Pfadiführer scheu geschmust habe ich dann trotzdem.»
Die Botschaft in ihrer Jugend ist immer dieselbe: Mädchen sind «das Andere». Gardi ist von ihrem Naturell her aber gar nicht so anders. Sie steckt voller Energie. Sie rennt gerne mit den Buben mit, eifert den zwei Grossen nach, hat ihren Spass an wilden Spielen und Mutproben. Erwünscht ist das nicht. Und so steht sie zwischen den Welten. Sie soll anders sein und anders werden. Sie hadert mit dem Mädchenbild, so wie sie später mit dem Frauenbild hadern wird. «Ich denke, dass ich eine andere Person geworden wäre, vielleicht sogar einen anderen Lebensweg eingeschlagen hätte, wenn wir zwei Mädchen und zwei Buben in der Familie gewesen wären», sagt sie im Rückblick, «es wäre mir einiges an Selbstzweifeln erspart geblieben.»
Der jüngste Bruder Gilbert habe es am einfachsten gehabt, sagt sie. Er ist Mutters Liebling, verhält sich umgänglich und brav, ist nicht so trotzig wie die ältere Schwester. Erwin, Fredi und Gilbert Hutter erleben ihre Kindheit weniger streng als die Schwester. Eine schöne Kindheit hätten sie gehabt, erzählen sie heute und bestätigen gleichzeitig, dass es für Gardi als einziges Mädchen schwieriger gewesen sei. Die Mutter erlaubt den Buben mehr und kontrolliert sie weniger. Aber auch für Gardi ist nicht alles geprägt von Zwang und negativen Erfahrungen.
Die Tüchtigkeit von Vater und Mutter zahlt sich aus. Obwohl es am Rathausplatz einen alteingesessenen Konkurrenten gibt, der für alle im Ort hörbar den «Bauernsohn als Kaufmann» verspottet, beginnt das Modehaus Hutter schon bald zu florieren. Ende der 1950er-Jahre leisten sich die Eltern ein Feriendomizil: die Hälfte eines kleinen Bauernhauses auf dem Ruppen. Hutters gehören auch zu den wenigen, die schon ein Auto besitzen, einen Zweitakter DKW, der in Gardi Hutters Erinnerung furchtbar stinkt. Davor fahren die Eltern auf einer Lambretta, einem Roller, auf dem auch Erwin und Fredi als Kleinkinder auf Ausflüge mitgenommen werden.
Im DKW wird den Kindern immer schlecht, wenn sie zu viert in den Wagen gequetscht werden. Auf langen Fahrten bekommen alle eine leere Heliomalt-Büchse auf den Schoss, für den Fall, dass sich jemand übergeben muss, und dann wird gesungen, und zwar so lautstark und viel, dass die Kinder die Übelkeit vergessen.
Am Samstag ist um 16 Uhr Ladenschluss, keine Viertelstunde später sitzt Familie Hutter im Auto und fährt die gut zehn Minuten hoch auf den Berg zum Ferienhaus. Alle haben noch schnell die Kleider gewechselt. Vom ordentlichen Gewand in ausgebeulte Lumpen. Der Ruppenpass führt hinter Altstätten in Richtung Appenzellerland. Die Aussicht vom Haus aus ist fantastisch und geht weit über das Rheintal. Alle sechs Hutters fühlen sich hier wohl.
Das Gebäude ist sehr bescheiden, verfügt zunächst weder über fliessendes Wasser noch über Heizung oder Strom. Hier kann sich Bauernsohn Erwin Hutter verwirklichen. Er streicht, hämmert, zieht Leitungen ins Haus – alles wird selbst installiert und gebaut. «Meine Eltern mussten nie Hunger leiden, aber in ihrem Gedächtnis war sicher noch gespeichert, wie karg die Bauern ein, zwei Generationen vor ihnen gelebt hatten. Deshalb wurde alles aufgespart und wiederverwendet. Sie hatten es so gelernt und gaben es an die nächste Generation weiter. Sie waren nicht eigentlich geizig, aber sehr sparsam, wenn es um Kleinigkeiten im Alltag ging. Als dann später alle von Recycling redeten, mussten sie nichts dazulernen.»