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Viktor E. Frankl

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Beschreibung

»Leben heißt letztlich eben nichts anderes als: Verantwortung tragen [...] für die Erfüllung der Aufgaben, die jedem einzelnen das Leben stellt.« (Viktor E. Frankl)

Mit 35 Jahren kam der österreichische Psychiater Viktor E. Frankl in ein Konzentrationslager. In den Jahren der Gefangenschaft lernte er, wie Menschen mit unvorstellbarem Leid umgehen und wie es selbst an Orten größter Unmenschlichkeit möglich ist, einen Sinn im Leben zu sehen.

Nach der Befreiung verfasste er in nur neun Tagen diesen bewegenden Erfahrungsbericht über seine Erlebnisse in den Konzentrationslagern Theresienstadt, Auschwitz und Türkheim.

In den folgenden Jahrzehnten wurde das Buch zum Klassiker der Überlebensliteratur, Generationen von Leserinnen und Lesern finden darin Trost und Orientierung. In über fünfzig Sprachen übersetzt, bietet es eine faszinierende und auch heute noch tief bewegende Erkundung der menschlichen Willenskraft.

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Neuausgabe 2009 Der Text folgt unverändert © 1977 by Viktor E. Frankl Inhaber der deutschsprachigen Buchrechte: Kösel-Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Satz: Kösel-Verlag, München Covergestaltung: bürosüd Covermotiv: Getty Images/artpartner-images
ISBN 978-3-641-05903-3 V003
www.koesel.de
www.penguinrandomhouse.de
Inhaltsverzeichnis
 
Vorwort
 
EIN PSYCHOLOGE ERLEBT DAS KONZENTRATIONSLAGER
Ein Psychologe erlebt das KZ
Der unbekannte KZler
Aktive und passive Auslese
Der Bericht des Häftlings Nr. 119 104: Ein psychologischer Versuch
Die erste Phase: Die Aufnahme ins Lager
Bahnhof Auschwitz
Die erste Selektion
Desinfektion
Was einem bleibt: die nackte Existenz
Die ersten Reaktionen
»In den Draht gehn«?
Die zweite Phase: Das Lagerleben
Apathie
Was weh tut
Der Hohn macht die Musik
Die Träume der Häftlinge
Hunger
Sexualität
Unsentimentalität
Politik und Religion
Eine spiritistische Séance
Die Flucht nach innen
Wenn einem nichts mehr bleibt
Meditationen im Graben
Monolog im Morgengrauen
Kunst im KZ
Lagerhumor
Zuchthäusler werden beneidet
Glück ist, was einem erspart bleibt
Ins Fleckfieberlager?
Sehnsucht nach Einsamkeit
Das Schicksal spielt Ball
Letzter Wille, auswendig gelernt
Fluchtplan
Gereiztheit
Die innere Freiheit
Das Schicksal – ein Geschenk
Analyse der provisorischen Existenz
Spinoza als Erzieher
Nach dem Sinn des Lebens fragen
Leiden als Leistung
Etwas wartet
Ein Wort zur rechten Zeit
Ärztliche Seelsorge
Psychologie der Lagerwache
Die dritte Phase: Nach der Befreiung aus dem Lager
Die Entlastung
 
SYNCHRONISATION IN BIRKENWALD
Synchronisation in Birkenwald
Eine metaphysische Conférence
 
Weitere Werke von Viktor E. Frankl
Über den Autor
Copyright
Vorwort
Bekenntnis zu Viktor Frankl
Die Wiener Hofburg hat in unserem heutigen Bewußtsein ebensowenig mit dem Hof zu tun wie das Wiener Burgtheater mit einer Burg.
Von einem neuen Jahrhundert längst säkularisiert, republikanisiert, beherbergt die Wiener Hofburg staatliche Sammlungen, Abteilungen der Universität, Vereinskanzleien, sogar Privatwohnungen; sie ist Schauplatz von Kongressen, hat Säle für Ausstellungen, Konzerte und Vorträge.
Bei der alljährlich hier abgehaltenen österreichischen Buchwoche erhielt im Herbst 1976, ein Jahr nach Konrad Lorenz, Viktor Frankl in einem festlich gestimmten, strahlend erleuchteten Saal der Hofburg den Donauland-Preis für sein Lebenswerk.
Zwei Aspekte gaben diesem Abend von der Vergangenheit her besondere Bedeutsamkeit.
Im Konzentrationslager, in extremer trostloser und hoffnungsloser Situation fand Viktor Frankl Trost und Hoffnung im Vorgriff auf die Zukunft. »Da stellte ich mir vor, ich stünde an einem Rednerpult in einem großen, schönen, warmen und hellen Vortragssaal und sei im Begriff, vor einer interessierten Zuhörerschaft einen Vortrag zu halten unter dem Titel Psychotherapeutische Erfahrungen im Konzentrationslager und ich spräche gerade von alledem, was ich – soeben erlebte.«
Und nun stand er in diesem großen, schönen, warmen und hellen Saal und sprach. Nicht nur seine therapeutisch prophetische Phantasie, auch seine Lehre war triumphal bestätigt: Er konnte diesen Abend erleben, weil er ihn im Geist vorwegnehmend damals erlebt hatte.
Der Augenblick hatte aber gerade in dieser Hofburg auch Sinn weit über das Persönliche hinaus.
Solange hier die Kaiser Hof gehalten hatten, hatten sie für alles, was rund um sie an Geist und Kunst geblüht hatte, nicht Augen und Ohren gehabt. Das offizielle kaiserlich-königliche Wien hatte insbesondere an dem großen Aufbruch in das zwanzigste Jahrhundert achtlos, indifferent, stumpf vorbeigelebt. Kaiser Franz Josef I. hatte das Neue nur zur Kenntnis genommen, indem er an dem von Adolf Loos erbauten, herrlichen neuen Haus am Michaelerplatz, das er von den Fenstern seiner Burg aus sehen konnte, Anstoß genommen hatte.
Die Welt hat inzwischen sehen gelernt, was der Kaiser nicht sehen wollte, sie sieht insbesondere in der Stadt Wien, seit sie nicht mehr Kaiserstadt ist, eine Hauptstadt der Tiefenpsychologie und Psychotherapie. Und so machte die Wiener Hofburg an Viktor Frankl gut, was sie Sigmund Freud, und nicht nur ihm, als Kaiserburg vorenthalten hatte.
Für Viktor Frankl kam die zweifache Wiener-Gutmachung spät; ihm gegenüber waren manche Unterlassungen zu sühnen. Denn nicht nur Kaiser haben bei uns große Geister unterschätzt und ignoriert.
Es hatte, dreißig Jahre vorher, verheißungsvoll begonnen. In einem unterirdischen kleinen Theater wurde 1946 eine Diskussion veranstaltet. Ein Mann, den keiner kannte, erschien auf der Bühne. Ich sehe ihn vor mir. Er war klein, unterernährt wie wir alle damals. Er sprach, und die Anwesenden spürten die Bedeutsamkeit des Augenblicks. Er zitierte aus einem Buch, das demnächst erscheinen würde: aus der »Ärztlichen Seelsorge«.
An diesem Abend, in diesem Augenblick, schien sich Viktor Frankls Wiederkehr in das Wiener Geistesleben zu vollziehen.
Seit jenem Abend bin ich mit ihm befreundet. Ich erlebte aus der Nähe seine vielversprechenden neuen Anfänge in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die ja auf vielen Gebieten vieles versprach, was die Folgezeit so oft nicht gehalten hat.
Viktor Frankl wurde Dozent, später Professor, er wurde Leiter einer Klinik für Neurologie und Psychiatrie, er setzte jene Karriere fort, die der März 1938 so grausam und tragisch unterbrochen hatte. Er war angesehen, er war bekannt..., aber Wien hat es auch ihm, wie so vielen, schwer gemacht. Dies erweist unter anderem die Geschichte der beiden Arbeiten, die in diesem Buch vereinigt sind, die nach drei Jahrzehnten dorthin zurückkehren, wo sie geschrieben wurden. Und die letzte Station der Reise ist charakteristischerweise ein Münchener, kein Wiener Verlag.
Die erste Auflage des Konzentrationslager-Berichts (dreitausend Exemplare), in einem Wiener Verlag erschienen, war verkauft. Die zweite Auflage blieb liegen. Ein Dutzend Jahre später erschien in Amerika die englische Ausgabe, erlebte mehr als fünfzig Auflagen, wurde mehrfach »Buch des Jahres« und hat die Zweimillionengrenze überschritten. In fast alle denkbaren Sprachen wurde das Buch übersetzt... In Wien war Frankl bekannt, er war angesehen. Er durfte sich nicht verkannt fühlen, aber ihm war, als hätte er vielen um vieles mehr zu sagen, als sie ihn in Wien sagen ließen.
Ich war ihm in den ersten Jahren nach dem Krieg sehr nahe und wage es deshalb, an dieser Stelle ein Bekenntnis zu ihm abzulegen – nicht zu dem Arzt, dem Psychologen, dem Philosophen, dem Akademiker, sondern zu der weithin sichtbaren Institution, zum Präzeptor, der er in Wien hätte werden müssen, der er für mich damals geworden und seither geblieben ist. Ich will ihm für vieles danken, das ich ihm verdanke. Manche seiner Gedanken sind in mein Denken eingegangen, manche seiner Termini in mein Vokabular. Ich wäre oft in Verlegenheit ohne seinen Begriff der »Einstellung«, den ich von ihm gelernt habe.
Diesen Dank allein könnte ich allerdings auch in einem Brief abstatten. Da nun aber hier, endlich, zwei seiner persönlichsten Texte vereinigt und dem Leser deutscher Sprache vorgelegt sind, ist ein Dank besonderer Art fällig, wenn nicht überfällig.
Viktor Frankl hat gelebt, was er lehrt. Er kam aus der Hölle zurück in seine Vaterstadt, er hatte seine Eltern, seinen Bruder, seine Frau, er hatte alles verloren – doch er war frei von allen Impulsen der Rache, der Vergeltung. Nur ganz wenige, die aus den Lagern, aus dem Exil zurückkamen, waren wie er. Er war alsbald wieder, was er gewesen war: ein Wiener Arzt. Er leugnete, von Anfang an, die Kollektivschuld, er betonte immer wieder die positiven Ausnahmen von der unmenschlichen Regel. Er sah das Gute, das ihm und manchem seinesgleichen geschehen war, und überwand dadurch das vielfache Böse. Er »machte gut, was andere verdarben«. Seine Landsleute hatten ihn erniedrigt, gequält..., er vertauschte das Lager-Gewand mit dem weißen Mantel des Arztes und half ihnen als ärztlicher Seelsorger.
Es läßt sich kaum eine christlichere Haltung als jene dieses »Nichtariers« – und Nichtchristen – denken. Er predigte und verwirklichte den Sinn des Lebens, an den er noch in der äußersten Todesnähe unbeirrbar geglaubt hatte.
Sein Buch ist in der ganzen Welt verbreitet, aber angesichts der damaligen Absperrungen kaum zu einem einzigen Leser deutscher Sprache außerhalb Österreichs gelangt. Es hat den Originaltitel der Erstausgabe in veränderter Zeit zum Untertitel werden lassen. Denn die Konzentrationslager Hitlers und Himmlers sind heute historisch, sie sind nur ein Beispiel für vielfache andere, neuere Höllen; und wie Viktor Frankl seine Lager-Zeit überwand, das ist inzwischen anwendbar geworden auf viele nicht nur deutsche Situationen, die Zweifel am Sinn des Lebens nahelegen.
Der neue Titel kommt von einer Vortragsreihe, die Viktor Frankl in einer Wiener Volkshochschule hielt und als Broschüre veröffentlichte. Er bedarf der Erklärung.
Dr. Friedrich Löhner-Beda war ein Wiener Literat, hatte mit zeitkritischen Versen begonnen, die populär geworden waren, hatte im Ersten Weltkrieg patriotische Gedichte publiziert, wurde Operettenlibrettist und hat vor allem für Franz Lehár gearbeitet (»Friederike«, »Das Land des Lächelns«). Aus dem Monarchisten war ein leidenschaftlicher Zionist geworden. 1938 kam er in ein Konzentrationslager, und dort ist er zugrunde gegangen. In Buchenwald schrieb er den Text eines Buchenwald-Liedes, das ein anderer Wiener Häftling vertonte, ein erschütterndes Dokument, dessen populär eingängige Verse im Marschrhythmus zur Haltung aufrufen und den Glauben an die Befreiung predigen. In diesem Text findet sich die Zeile »Wir wollen trotzdem Ja zum Leben sagen«.
Und dieses Trotzdem-Ja ist auch die Botschaft der »metaphysischen Conférence«, die hier zum erstenmal in Buchform und mit dem Namen des Autors vorliegt.
Sie ist im Lager erlebt und vage konzipiert worden. Ein Jahr nach der Befreiung stieg die Idee aus den Tiefen des Bewußtseins auf – Viktor Frankl schrieb den Text in ein paar Stunden nieder, in einem Atem gleichsam, als würde er ihm diktiert.
Einige Tage später las er seine dramatische Phantasie einigen Freunden vor. Ich war dabei. Ich will nicht vergleichende Literaturwissenschaft betreiben und Querverbindungen zu früheren und späteren verwandten Formen des Theaters bloßlegen. Ich fand und finde in diesem auch literarisch bemerkenswerten Text ein document humain erster Ordnung – und ich kann nicht umhin, die Identität des Engels mit dem SS-Mann in die Nähe von Dostojewskijs Großinquisitor zu rücken.
Frankl hat den Text damals auch einem Innsbrucker Freundeskreis vorgelesen. Ludwig von Ficker, Herausgeber des »Brenner«, der große, verehrungswürdige Trakl- und Kraus-Freund, lernte ihn kennen und erbat sich das Manuskript, das er 1948 in seiner Zeitschrift abdruckte. Nur wer weiß, wer Ludwig von Ficker gewesen ist, kann die ganze Bedeutsamkeit dieser Ehrung eines Zeitgenossen und seiner Botschaft ermessen. Frankl wählte für den »Brenner« das Pseudonym Gabriel Lion – eine Verbindung des Vornamens seines Vaters mit dem Mädchennamen seiner Mutter.
Eine Aufführung, zumindest eine Sendung als Hörspiel, um die ich mich bemühte, war damals leider nicht durchzusetzen. Sie wäre aufgrund dieser Wiederkehr dringend erwünscht! 1
Die letzten Jahre haben Frankl für vieles entschädigt, was er durch seine Heimat erleiden und was er in seiner Heimat versäumen mußte. Er ist Vortragsgast in allen fünf Kontinenten, mehrfacher Ehrendoktor, er hatte in Wien eine Gemeinde, er hat nun in aller Welt Schüler, Hörer, Jünger, Bewunderer. Sein Leben ist erfüllt, sein Wirken erfolgreich und weltweit anerkannt.
EIN PSYCHOLOGE ERLEBT DAS KONZENTRATIONSLAGER
DER TOTEN MUTTER
Ein Psychologe erlebt das KZ

Der unbekannte KZler

»Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager.« Es handelt sich sonach um eine Erlebnisschilderung, also weniger um einen Tatsachenbericht; die Erlebnisseite dessen, was so tausendfältig von Millionen erfahren wurde, soll hier dargestellt werden: das Konzentrationslager »von innen gesehen« – vom Standort des unmittelbar Erlebenden. Nicht den großen Greueln gilt daher diese Darstellung – jenen Greueln, die ohnehin schon vielfach geschildert wurden (ohne deshalb allenthalben auch geglaubt worden zu sein) -, sondern den vielen kleinen Qualen oder, mit andern Worten, der Frage: Wie hat sich im Konzentrationslager der Alltag in der Seele des durchschnittlichen Häftlings gespiegelt?
Vorweg sei gesagt, daß die Erlebnisse, auf die sich die folgenden Zeilen beziehen, sich weniger mit Vorgängen in den berühmten, großen Lagern befassen, als mit solchen in den berüchtigten Filiallagern, den Dépendancen der größeren. Es ist aber bekannt, daß gerade diese kleineren Lager ausgesprochene Vernichtungslager waren. Es ist also hier nicht die Rede vom Leiden und Sterben der großen Helden und Märtyrer, vielmehr von den »kleinen« Opfern und vom »kleinen« Tod der großen Masse. Nicht damit werden wir uns zu beschäftigen haben, was der jahrelange Capo oder der eine oder andere »prominente« Häftling zu erdulden hatte bzw. zu erzählen weiß, sondern mit der Passion des »unbekannten« Lagerinsassen. Auf ihn, auf den gewöhnlichen Häftling, der keine Armbinde trug, haben zum Beispiel die Capos herabgesehen. Während er hungerte, bis er verhungerte, ist es den Capos zumindest ernährungsmäßig nicht schlecht gegangen, ja so manchem Capo sogar viel besser als je zuvor in seinem ganzen Leben. Psychologisch, charakterologisch sind diese Capo-Typen daher auch eher so zu beurteilen wie die SS bzw. die Lagerwache; ihr hatten sich die in Frage stehenden Menschentypen psychologisch und soziologisch assimiliert, mit ihr hatten sie kollaboriert. Oft genug waren die Capos »schärfer« als die Lagerwache und stellten die ärgeren Peiniger der gewöhnlichen Häftlinge, schlugen z.B. manchmal viel mehr auf sie ein als selbst die SS. Wurden doch von vornherein im allgemeinen nur solche Häftlinge zu Capos gemacht, die zu derartigem Vorgehen eben taugten, bzw. sofort abgesetzt, sobald sie in diesem Sinne nicht »mittaten«.

Aktive und passive Auslese

Der Außenstehende, der niemals selber in einem Konzentrationslager war, der Uneingeweihte, macht sich überhaupt gewöhnlich ein falsches Bild von den Zuständen im Lager, wenn er sich das Lagerleben gleichsam sentimental vorstellt und irgendwie verniedlicht, verharmlost sieht, insofern er vom harten gegenseitigen Kampf ums Dasein nichts ahnt, der gerade in den kleineren Lagern auch zwischen den Häftlingen tobte. In diesem Kampf um das tägliche Brot oder um die Lebenserhaltung und -rettung geht es nur allzu oft hart zu; schonungslos wird da für die eigenen Interessen gekämpft, seien es nun die persönlichen oder die eines engsten Freundeskreises. Nehmen wir etwa an, es steht ein Transport bevor, der eine bestimmte Zahl von Lagerinsassen in ein anderes Lager bringen soll – angeblich; denn man vermutet, und nicht mit Unrecht, daß »es in Gas geht«, daß der betreffende Transport, sagen wir: von kranken oder schwachen Leuten, eine sogenannte Selektion vorstellt, d.h. daß eine Auswahl von arbeitsunfähigen Häftlingen getroffen wird, die zur Vernichtung in einem mit Gaskammern und Krematorium ausgestatteten, großen, zentralen Lager bestimmt sind. In diesem Augenblick entbrennt nun der Kampf aller gegen alle, bzw. gewisser Gruppen oder Cliquen untereinander. Jeder sucht sich oder die ihm irgendwie Nahestehenden zu schützen, vor dem Transport zu sichern, bzw. aus der Transportliste im letzten Augenblick noch »herauszureklamieren«. Daß für jeden einzelnen, der hierbei davor gerettet wird, vertilgt zu werden, ein anderer einspringen muß, ist allen klar. Geht es doch im allgemeinen um eine Zahl, um die Zahl von Häftlingen, die den Transport ausfüllen müssen. Jeder stellt dann buchstäblich nur eine Nummer dar; auf der Liste scheinen ja eigentlich nur die Häftlingsnummern auf. Bedenken wir doch, daß beispielsweise in Auschwitz, wenn gleich bei der Aufnahme alle Habe dem Häftling abgenommen wird und er so auch ohne jedes Dokument dasteht, jeder die Möglichkeit hat, sich einen beliebigen Namen, Beruf usw. beizulegen, eine Möglichkeit, von der aus verschiedenen Gründen auch reichlich Gebrauch gemacht wird. Was allein feststeht (in den meisten Fällen in Form einer Tätowierung) und die Lagerbehörden daher einzig interessiert, ist die Häftlingsnummer. Keinem Wachtposten oder Aufseher würde es einfallen, wenn er einen Häftling »zur Meldung bringen« will – was meist wegen »Faulheit« erfolgt -, seinen Namen abzuverlangen; er schaut vielmehr bloß auf die Nummer, die jeder Häftling an bestimmten Stellen von Hose, Rock und Mantel vorschriftsmäßig angenäht tragen muß, und notiert sie (ein wegen seiner Folgen nicht wenig gefürchtetes Geschehnis).
Kehren wir nun zu dem Falle eines bevorstehenden Transports zurück! Zu abstrakt-moralischen Überlegungen hat der Häftling in dieser Situation weder Zeit noch Lust. Jeder denkt nur daran, für die Seinen, die daheim auf ihn warten, sich am Leben zu erhalten und diejenigen aus dem Lager, mit denen er sich irgendwie verbunden fühlen mag, zu sichern. Er wird daher bedenkenlos einen andern, eine andere »Nummer«, in den Transport einreihen lassen.
Aus dem oben Angedeuteten geht bereits hervor, daß die Capos eine Art negativer Auslese darstellten: nur die brutalsten Individuen taugten zu diesem Posten – wobei wir von Ausnahmen, die es glücklicherweise natürlich auch hier gab, bewußt absehen. Aber neben dieser von der SS getroffenen, sozusagen aktiven Auslese gab es auch noch eine passive: Unter den Lagerinsassen, die sich viele, viele Jahre in Lagern aufhielten, von einem Lager in das andere und schließlich insgesamt in Dutzende von Lagern gebracht wurden, konnten sich im Durchschnitt nur jene am Leben erhalten, die in diesem Kampf um die Lebenserhaltung skrupellos waren und auch vor Gewalttätigkeit, ja sogar nicht einmal vor Kameradschaftsdiebstahl zurückschreckten. Wir alle, die wir durch tausend und abertausend glückliche Zufälle oder Gotteswunder – wie immer man es nennen will – mit dem Leben davongekommen sind, wir wissen es und können es ruhig sagen: die Besten sind nicht zurückgekommen.

Der Bericht des Häftlings Nr. 119 104: Ein psychologischer Versuch

Wenn hier von der »Nummer« 119 104 der Versuch unternommen wird, eine Schilderung dessen zu geben, was dieser Häftling »als Psychologe« im Konzentrationslager erlebte, dann muß von vornherein bemerkt werden, daß er im Konzentrationslager natürlich nicht »als Psychologe« tätig war, ja nicht einmal als Arzt (außer in den letzten Wochen). Dies ist um so wichtiger, als es ja nicht um eine Darstellung seiner persönlichen Lebensweise geht, sondern der Weise, in der eben der gewöhnliche Häftling das Lagerleben erlebte. Und ich sage nicht ohne Stolz, daß ich nicht mehr als solch ein »gewöhnlicher« Häftling – eben nichts als die bloße Nr. 119 104 war. Die meiste Zeit war ich als Erdarbeiter und beim Bahnbau als Streckenarbeiter beschäftigt. Während einige wenige Kollegen das Glück hatten, in halbwegs geheizten, improvisierten Ambulanzen mit Papierabfällen Verbände zu machen, habe ich beispielsweise einmal ganz allein unter einer Straße einen Tunnel (für Wasserleitungsrohre) gestochen. Auch das war für mich nicht unwichtig – in Anerkennung dieser meiner »Leistung« habe ich nämlich kurz vor Weihnachten 1944 zwei sogenannte Prämienscheine bekommen. Das sind Scheine, die von der Baufirma ausgegeben wurden, an die wir als Arbeitssklaven vom Lager aus buchstäblich verkauft wurden (die Firma mußte pro Tag und Häftling der Lagerverwaltung eine bestimmte Summe zahlen); ein Prämienschein kostete die Firma fünfzig Pfennige und wurde, freilich zumeist erst nach Wochen, im Lager gegen sechs Zigaretten eingelöst. Und nun war ich im Besitz des Gegenwertes von zwölf Zigaretten! Zwölf Zigaretten bedeuteten aber zwölf Suppen und zwölf Suppen nur allzu häufig eine wirkliche Lebensrettung vor dem Hungertode, für beiläufig zwei Wochen. Die Zigaretten aufzurauchen, konnte sich nur ein Capo, der seine garantierten paar Prämienscheine pro Woche hatte, oder ein Häftling leisten, der einer Werkstatt oder einem Magazin im Lager vorstand und für gewisse Gegenleistungen mit Zigaretten belohnt wurde. Alle übrigen, die gewöhnlichen Häftlinge, pflegten Zigaretten, in deren Besitz sie auf dem Wege über Prämienscheine und somit über lebensgefährliche zusätzliche Arbeitsleistungen kamen, in Nahrungsmittel umzusetzen, außer sie hatten es aufgegeben, weiterzuleben, hatten ihre Situation für aussichtslos angesehen und beschlossen, die letzten Lebenstage, die ihnen noch zur Verfügung standen, zu »genießen«: wenn ein Kamerad einmal begann, seine paar Zigaretten selber zu rauchen, dann wußten wir, daß er nicht mehr daran glaubte, weitermachen zu können – und es dann auch tatsächlich nicht konnte.
Soviel zur Rechtfertigung und Erklärung dessen, was der Buchtitel besagt. Fragen wir uns aber nunmehr nach dem eigentlichen Sinn eines solchen Unternehmens, wie dieser Bericht es darstellt. Tatsachenberichte über die Konzentrationslager sind ja schon in genügender Anzahl erschienen. Hier sollen jedoch Tatsachen nur insofern vorgebracht werden, als das Erlebnis eines Menschen jeweils das Erlebnis tatsächlichen Geschehens ist; dem Erlebnis als solchem jedoch gelten die folgenden psychologischen Bemühungen. Ihr Sinn ist ein doppelter, je nachdem, ob der Leser das Konzentrationslager und das Leben daselbst aus eigenem Erleben kennt oder nicht. Für die erstere Gruppe von Lesern soll hier das, was sie selber tatsächlich erlebt haben, mit den zur Zeit zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Methoden zu erklären versucht werden; für die zweite Gruppe aber soll das, was der ersteren erklärbar ist, verstehbar werden. Es wird also darum gehen, auch dem Außenstehenden das Erlebnis der andern verständlich zu machen, die Erlebnisweise des Häftlings verstehen zu lassen und so schließlich um Verständnis zu werben für den nur allzu geringen Prozentsatz der überlebenden ehemaligen Häftlinge, für deren eigenartige und, psychologisch gesehen, etwas durchaus Neuartiges darstellende Einstellung zum Leben. Denn diese ist nicht so ohne weiteres verständlich; hören wir doch die betreffenden Menschen immer wieder sagen: »Wir sprechen nicht gerne über unser Erlebnis: wer selber in einem Lager war, dem brauchen wir nichts zu erklären; und wer es nicht war, dem werden wir nie begreiflich machen, wie es in uns ausgesehen hat – und wie es auch jetzt noch in uns aussieht.«
In methodischer Beziehung stellen sich einem derartigen psychologischen Versuch allerdings gewisse Schwierigkeiten. Psychologie erfordert wissenschaftliche Distanz. Hat aber nun derjenige, der das Lagerleben selber erlebt hat, überhaupt oder gar während des Erlebens, zur Zeit also, da er seine einschlägigen Beobachtungen machen mußte, die nötige Distanz? Der Außenstehende hatte die Distanz, aber er hat auch schon zu viel Distanz, steht zu sehr außerhalb des Erlebnisstromes, um irgendwelche gültigen Aussagen machen zu können. Wer aber »mittendrin« stand, hat zwar vielleicht zu wenig Distanz, um ein ganz objektives Urteil abgeben zu können -, er allein aber weiß um das in Frage stehende Erlebnis. Natürlich ist es nicht nur möglich, sondern nachgerade wahrscheinlich, daß der Maßstab, den er an die Dinge anlegt, gleichsam selber verzerrt ist. Dies läßt sich nicht ausschalten. Nur wird es darauf ankommen, zu versuchen, das sozusagen Private aus der Darstellung womöglich auszuschließen, wo aber nötig – auch den Mut zu einer persönlichen Darstellung des Erlebens aufzubringen. Denn die eigentliche Gefahr einer solchen psychologischen Untersuchung liegt ja nicht darin, daß sie eine persönliche Tönung erfährt, sondern nur darin: daß sie eine tendenziöse Färbung erhält. Ich kann es daher ruhig andern überlassen, das hier Vorgebrachte nochmals und gleichsam bis zur Unpersönlichkeit zu destillieren und so aus dem hier dargebotenen Extrakt subjektiver Erlebnisse objektive Theorien herauskristallisieren zu lassen.
Die psychologischen Theorien, um die es sich hierbei handeln mag, würden als Beiträge zu einer Psychologie bzw. Psychopathologie der Haft gehören, wie sie ja seit Jahrzehnten bereits vorliegt. Beiträge zu ihr hat bekanntlich schon der Erste Weltkrieg geliefert. Hat er uns doch mit dem Krankheitsbild der »Stacheldrahtkrankheit« (barbed wire disease) erstmalig bekanntgemacht, jener krankhaften seelischen Reaktion, die in Kriegsgefangenenlagern zu beobachten war. Dem Zweiten Weltkrieg war es vorbehalten, die »Psychopathologie der Massen« – wenn man so in Variierung des bekannten Ausdrucks und Buchtitels von Le Bon sagen darf – weiter zu bereichern: erstens insofern, als er uns den sogenannten »Nervenkrieg« bescherte, und zweitens, indem er uns eben das Erlebnismaterial der Konzentrationslager beschied.
Die erste Phase: Die Aufnahme ins Lager
Versuchen wir, die Fülle des Materials von Selbst- und Fremdbeobachtungen, die Summe der Erfahrungen und Erlebnisse, die in den Konzentrationslagern gemacht wurden, in eine erste Ordnung zu bringen und eine grobe Einteilung zu treffen, dann könnten wir an den seelischen Reaktionen des Häftlings auf das Lagerleben drei Phasen unterscheiden: die Phase der Aufnahme ins Lager, die Phase des eigentlichen Lagerlebens und die Phase nach der Entlassung bzw. Befreiung aus dem Lager.

Bahnhof Auschwitz

Die erste Phase ist gekennzeichnet durch das, was man als Aufnahmeschock bezeichnen könnte; wobei wir uns allerdings vergegenwärtigen müssen, daß die psychologische Schockwirkung unter Umständen der formalen Aufnahme vorausgehen kann. Wie war es beispielsweise bei uns, bei jenem Transport, mit dem etwa ich selber nach Auschwitz kam? Man stelle sich vor: Einige Tage und mehrere Nächte ist der Transport von 1500 Personen nun schon unterwegs – in einem Zug, in dessen Waggons je 80 Menschen auf ihrem Gepäck (dem letzten Rest ihrer Habe) herumliegen, und zwar so, daß gerade noch der oberste Teil der Coupéfenster von den aufgestapelten Rucksäcken, Taschen usw. frei ist und eine Sicht in die frühe Morgendämmerung erlaubt. Alles war der Meinung, der Transport ginge in irgendeinen Rüstungsbetrieb, dem wir als Zwangsarbeiter zur Verfügung gestellt werden sollten. Der Zug hält nun anscheinend auf offener Strecke; man weiß noch nicht recht, ob man sich noch in Schlesien oder bereits in Polen befindet. Unheimlich klingt das schrille Pfeifen der Lokomotive, gellend wie ein ahnender Hilfeschrei der durch die Maschine personifizierten, von ihr in ein großes Unheil geführten Menschenmasse, während der Zug, nunmehr sichtlich vor einer größeren Station, zu rangieren beginnt. Plötzlich ein Aufschrei aus der ängstlich wartenden Menge der Leute im Waggon: »Hier eine Tafel – Auschwitz!« Wohl jeder muß in diesem Augenblick fühlen, wie das Herz stockt. Auschwitz war ein Begriff, war der Inbegriff von undeutlichen, aber dadurch nur um so schreckhafteren Vorstellungen von Gaskammern, Krematoriumsöfen und Massentötung! Der Zug rollt langsam weiter, wie zögernd, so, als ob er die unselige Menschenfracht, die er führt, nur allmählich und gleichsam schonend vor die Tatsache stellen wollte: »Auschwitz!« Jetzt sieht man schon mehr: In der fortgeschrittenen Morgendämmerung nimmt man rechts und links von der Strecke kilometerweit bereits die Umrisse eines Lagers von ungeheuren Dimensionen wahr. Endlose mehrfache Stacheldrahtumzäunungen, Wachttürme, Scheinwerfer und lange Kolonnen zerlumpter, mit Fetzen umgebener Menschengestalten, grau im Grau der Dämmerung und langsam, müde sich dahinwälzend durch öde, schnurgerade Lagerstraßen – niemand weiß wohin. Vereinzelte Kommandopfiffe hört man da und dort – niemand weiß wozu. Schon hat der eine oder andere von uns Schreckgesichte. Ich z.B. glaubte, ein paar Galgen und an ihnen Aufgehängte zu sehen. Mir graute, und das war gut so: wir alle mußten Sekunde für Sekunde, Schritt für Schritt in das große Grauen eingeführt werden. – Endlich sind wir in die Station eingefahren. Noch rührt sich nichts. Da – Kommandorufe in jener eigentümlichen Art von kreischendem, rauhem Schreien, das wir von nun an immer wieder und in allen Lagern zu hören bekommen sollten und das so klingt wie der letzte Schrei eines Gemordeten und doch anders: belegt, heiser, wie aus der Kehle eines Mannes, der immer wieder so schreien muß, der immer wieder gemordet wird...
Da werden die Waggontüren aufgerissen und eine kleine Meute von Häftlingen in der üblichen gestreiften Häftlingstracht stürmt herein, kahlgeschoren, aber ausgesprochen gut genährt aussehend; in allen möglichen europäischen Sprachen sprechen sie, alle jedoch durchwegs in einer Jovialität, die in diesem Moment und in dieser Situation irgendwie grotesk anmutet. Wie der Ertrinkende nach dem Strohhalm, so faßt mein grundsätzlicher Optimismus, der mich seit damals immer wieder gerade in den schwersten Lagen überkommt, nach diesem Faktum: sie schauen nicht schlecht aus, diese Leute, sie sind sichtlich gut aufgelegt und sie lachen sogar; wer sagt mir, daß ich nicht auch in die verhältnismäßig günstige und glückliche Lage solcher Häftlinge kommen werde? Die Psychiatrie kennt das Krankheitsbild des sogenannten Begnadigungswahns: der zum Tode Verurteilte beginnt just im letzten Augenblick, unmittelbar vor seiner Hinrichtung zu wähnen, er würde eben erst im letzten Augenblick begnadigt werden. So klammerten auch wir uns an Hoffnungen und glaubten auch wir bis zum letzten Moment, es werde, es könne einfach nicht so arg sein. Siehe die pausbäckigen und rotwangigen Gesichter dieser Häftlinge! Noch wußten wir nichts davon, daß es sich bei ihnen um eine »Elite« handelte, um jene Häftlingsgruppe, die dazu ausersehen war, die Transporte von Tausenden, die täglich – durch Jahre – in den Bahnhof Auschwitz einrollten, in Empfang zu nehmen, d.h. ihr Gepäck zu übernehmen, mitsamt den darin enthaltenen bzw. verborgenen Werten: den rar gewordenen Gebrauchsgegenständen und geschmuggeltem Schmuck. Auschwitz war zu dieser Zeit fraglos ein einzigartiges Zentrum im Spätkriegseuropa: was sich dort, und zwar nicht nur in den riesigen Magazinen, sondern in den Händen der SS, aber auch der uns empfangenden Häftlingsgruppe an Gold und Silber, Platin und Brillanten befand, war wohl einzig dastehend. Während, unmittelbar vor dem Weitertransport in kleinere Lager, 1100 Häftlinge in einer einzigen Baracke (ich glaube, sie war für allerhöchstens 200 bestimmt) auf dem bloßen Erdboden kauernd, frierend und hungernd herumsaßen und -standen – nicht alle hatten zum Sitzen, geschweige denn zum Hinlegen Platz -, während wir innerhalb von vier Tagen nur ein einziges Mal ein Stückchen Brot (etwa 150 Gramm) faßten, hörte ich beispielsweise einmal mit an, wie der Blockälteste dieser Baracke über eine Krawattennadel aus Platin und mit Brillanten mit einem Häftling aus jener elitehaften Gruppe handelseinig wurde. Das meiste wurde freilich schließlich in Schnaps umgesetzt. Ich weiß allerdings nicht mehr, wieviel tausend Mark das für einen lustigen Abend ausreichende Quantum Schnaps damals dort kostete. Ich weiß nur eines: diese langjährigen Häftlinge brauchten den Schnaps. Denn wer wollte es einem Menschen verargen, wenn er in solcher innerer und äußerer Situation sich betäuben will? Abgesehen von jener Gruppe von Häftlingen, die in den Gaskammern und im Krematorium beschäftigt wurden und ganz genau wußten, daß sie, von einer andern Gruppe turnusweise abgelöst, eines Tages selber den Weg jener Opfer gehen müssen, denen gegenüber sie Henkersknechte zu sein gezwungen waren; dieser Gruppe wurde Alkohol in praktisch beliebigen Mengen sogar von der SS zur Verfügung gestellt.

Die erste Selektion

Mehr oder weniger wir alle aus unserem Transport befanden uns also in solch einem Begnadigungswahn, der da meint, noch immer könne alles gut ausgehen. Denn was sich jetzt abspielte, dessen Sinn konnten wir noch nicht erfassen; der Sinn sollte uns erst am Abend klar werden. Wir wurden angewiesen, alles Gepäck im Waggon zu lassen, auszusteigen und je eine Männer- und Frauenkolonne zu formieren, um schließlich vor einem höheren SS-Offizier zu defilieren. Ich hatte merkwürdigerweise die Courage, meinen Brotsack, unter dem Mantel recht und schlecht versteckt, doch mitzunehmen. Da sehe ich, daß meine Kolonne Mann für Mann auf den SS-Offizier zugeht. Ich kalkuliere: wenn er den schweren Brotsack, der mich nach der Seite zieht, bemerkt, dann gibt es zumindest eine Ohrfeige, die mich in den Dreck sausen läßt; das kannte ich schon von anderswo her... Mehr instinktiv richte ich, je näher ich diesem Mann zu stehen komme, meinen Körper immer mehr auf, damit er ja nicht merke, daß ich eine Last verberge. Nun steht er vor mir: groß, schlank, fesch, in tadelloser und blitzblanker Uniform – ein eleganter, gepflegter Mensch, voll Distanz zu uns Jammergestalten, die wir wohl übernächtig und recht verwahrlost aussehen. In nonchalanter Haltung steht er da, den rechten Ellbogen mit der linken Hand stützend, die rechte Hand erhoben und mit dem Zeigefinger dieser Hand ganz sparsam eine kleine winkende Bewegung vollführend – bald nach links, bald nach rechts, weit öfter nach links... Keiner von uns konnte das Geringste ahnen von der Bedeutung, die diese winzige Bewegung eines menschlichen Zeigefingers hatte – bald nach links, bald nach rechts, weit öfter nach links. Nun komme ich dran. Kurz vorher hat mir jemand zugeflüstert, nach rechts (»vom Zuschauer gesehen«) gehe es zur Arbeit, nach links in ein Lager für Arbeitsunfähige oder Kranke. Ich lasse die Dinge an mich herankommen – das erste Mal für viele kommende Male. Mein Brotsack zieht mich nach links, ich recke mich und strecke mich aufrecht. Der SS-Mann schaut mich prüfend an, scheint zu stutzen oder zu zweifeln, legt mir beide Hände auf die Schultern, ich bemühe mich, »zackig« zu wirken, stehe stramm und aufgerichtet, da dreht er langsam meine Schultern, so daß ich nach rechts hingewendet werde – und ich haue nach rechts ab.