Psychotherapie für den Alltag - Viktor E. Frankl - E-Book

Psychotherapie für den Alltag E-Book

Viktor E. Frankl

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Beschreibung

Wer sich öffnet für den Sinn seiner Lebenssituation mit ihren kleinen und großen Herausforderungen und Problemen, wird gesund und frei.Diese elementare Erkenntnis hat Viktor E. Frankl, ein Überlebender von Auschwitz, zur Grundlage eines neune therapeutischen Prinzipt gemacht:Heilung durch Sinnfindung. Nicht der Blick in die vielleicht schlimme, gar traumatisierende Vergangenheit macht gesund; es ist die Frage nach dem Wozu, die weiter hilft und heilt.

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Seitenzahl: 262

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Viktor E. Frankl

Psychotherapiefür den Alltag

Rundfunkvorträgeüber Seelenheilkunde

Impressum

Neuausgabe. Titel der Originalausgabe:

Psychotherapie für den Alltag. Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde ISBN: 978-3-451-05905-6, © Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2008

Erstausgabe als Herder-Taschenbuch unter dem Titel: Psychotherapie für den Laien. Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde, 1971

© KREUZ VERLAG

in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2015

im Einvernehmen mit den Erben Viktor Frankls

Alle Rechte vorbehalten

www.kreuz-verlag.de

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © shutterstock

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing service GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80645-2

ISBN (Buch): 978-3-451-61373-9

Inhalt

Vorwort

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Einleitung: Der Mensch auf der Suche nach Sinn

Die Problematik psychiatrischer Aufklärung

Psychoanalyse und Individualpsychologie

Die fatalistische Einstellung

Das provisorische Dasein

Masse und Führer

Psychische Hygiene des Alterns

Psychische Hygiene des Reifens

Hypnose

Über Angst und Angstneurosen

Über die Schlaflosigkeit

Hypochondrie und Hysterie

Um die Liebe

Über Angst- und Zwangsneurosen

Narkoanalyse und Psychochirurgie

Melancholie

Schizophrenie

Die Angst des Menschen vor sich selbst

Die Managerkrankheit

Gnadentod oder Massenmord?

Von der Trotzmacht des Geistes

Das Leib-Seele-Problem, klinisch gesehen

Spiritismus

Was sagt der Psychiater zur modernen Kunst?

Der Arzt und das Leiden

Ist der Mensch ein Produkt von Erbe und Umwelt?

Kann man die Seele messen und wägen?

Anhang: Das Buch als Therapeutikum

Gertrud Paukner gewidmet

Vorwort

In den Jahren 1951 bis 1955 wurde ich jeden Monat von der Wissenschaftlichen Abteilung des Wiener Senders Rot-Weiß-Rot eingeladen, einen Vortrag über ein psychotherapeutisches Thema zu halten. Nachdem die ersten sieben dieser Rundfunkvorträge bereits in Buchform erschienen waren, entschloss ich mich, auch eine Auswahl aus den weiteren Vorträgen zu veröffentlichen, nicht ohne dass die zuerst erschienenen in diese Sammlung aufgenommen worden wären, und zwar in wesentlich erweiterter, durch Anmerkungen ergänzter Form. Maßgeblich für diesen meinen Entschluss war der Widerhall, den die Vorträge gefunden hatten und der aus vielen Zuschriften aus dem Hörerkreis hervorgegangen war. Ich glaubte, meinen Hörern es schuldig zu sein, wenn ich es ihnen ermöglichte, was ich vorgetragen hatte, nachzulesen. Auch hoffte ich, auf diesem Wege die Wirkung der Vorträge zu vervielfältigen; die Wirkung aber, die beabsichtigt war, sollte eine psychohygienische sein. Denn was mir vorschwebte, war weniger: Psychotherapie zu besprechen – als vielmehr: Psychotherapie zu betreiben – Psychotherapie vor dem Mikrophon, und dazu sollte der Rundfunk dienen: zu einer kollektiven Psychotherapie – so recht danach angetan, der kollektiven Neurose entgegenzuwirken.

Jeder einzelne Vortrag ist in sich geschlossen; dadurch ergeben sich unvermeidliche Überschneidungen und so denn auch Wiederholungen, welch letztere insofern nicht einmal so unerwünscht sind, als sie ja didaktisch nützlich sein mögen. Was den Stil der Vorträge anbelangt, wurde die Diktion beibehalten, in der sie gehalten worden waren, auf die Gefahr hin, dass diese Diktion den einen oder anderen allzu salopp anmutet. Bekanntlich ist eine Rede keine Schreibe; am allerwenigsten darf ein gemeinverständlicher Rundfunkvortrag einer wissenschaftlichen Abhandlung gleichgesetzt werden.

Viktor E. Frankl

Vorwort zur Taschenbuchausgabe

„Psychotherapie für jedermann“ ist eine Zusammenstellung und Erweiterung von Rundfunkvorträgen aus den vergangenen zwanzig Jahren, deren Widerhall bei den Hörern so groß war, dass ein Großteil von ihnen mit demselben Echo vor kurzem wiederholt werden musste. Das hier vorgelegte Taschenbuch bietet in der Diktion unmittelbar ansprechender Rede zweierlei: eine sich aller Problematik eines solchen Unterfangens selbstkritisch bewusste, allgemeinverständliche Darstellung psychiatrischer und psychotherapeutischer Grundprobleme einerseits, die keiner Schulrichtung verschworen sind, und andererseits – etwas Einmaliges in der psychiatrischen Literatur unserer Zeit – eine „Psychotherapie vor dem Mikrophon“. Was hier noch einmal nachgelesen werden kann, ist ein Stück praktischer psychischer Hygiene. Wir danken es Viktor Frankl, dass er sich bereit erklärt hat, der Herausgabe dieses Taschenbuchs zuzustimmen und es auf sich zu nehmen, möglicherweise wegen mancher der lebendigen Rede eigener, gleichsam unbekümmerter und das Anekdotische nicht verschmähender Formulierungen beim einen oder anderen Kritiker Anstoß zu erregen. Ich meine jedoch, dass Frankl gezeigt hat, dass man schwierige Sachverhalte verständlich machen kann, ohne deshalb oberflächlich zu werden oder Missverständnissen durch eine verfehlte Popularisierung Vorschub zu leisten.

Im Zentrum des Interesses stehen zweifellos diejenigen Vorträge, die nichts Geringeres intendieren und leisten, als ein Stück Psychotherapie, insbesondere kollektiver Neurosen, zu verwirklichen – durch das geschriebene Wort nunmehr wie ursprünglich über den Sender. Niemand freilich kennt die schmerzlichen Grenzen solchen Wirkens und Helfenwollens auch durch die hier in Dienst genommenen Medien einer außerpersonalen Wegweisung zur Befreiung aus neurotischer Fesselung besser als der Autor selbst. Was ihn schließlich dazu ermutigt hat, sind zahlreiche Bekundungen von Patienten, die auf der Suche nach dem verlorenen oder noch nie erfahrenen Sinn ihres Lebens, aus der lähmenden noogenen Neurose heraus also, an irgendeinem bestimmten Satz des Gehörten Halt und Hilfe fanden, ja in einigen Fällen sogar von dem Suizid abgehalten wurden.

Mancher Mensch auf der Suche nach dem Sinn – dies ist der Titel des ersten Vortrags – kann, meine ich, solchermaßen erfahren, dass er nicht unverstanden allein zu stehen braucht und dass Psychohygiene mehr sein kann als ein theoretisierendes Erwägen dessen, was man vielleicht tun könnte, um an Menschen in Not heranzukommen.

Hans Jörg Weitbrecht (Bonn)

Einleitung

■ Der Mensch auf der Suche nach dem Sinn

Öffentlicher Vortrag im Rahmen des XIV. Internationalen Kongresses für Philosophie (Wien 1968)

Der Titel umreißt mehr als ein Thema: Er umfasst eine Definition, zumindest eine Interpretation des Menschen. Eben als eines Wesens, das letztlich und eigentlich auf der Suche nach Sinn ist. Der Mensch ist immer schon ausgerichtet und hingeordnet auf etwas, das nicht wieder er selbst ist, sei es eben ein Sinn, den er erfüllt, oder anderes menschliches Sein, dem er begegnet. So oder so: Menschsein weist immer schon über sich selbst hinaus, und die Transzendenz ihrer selbst ist die Essenz menschlicher Existenz.

Ist es also nicht so, dass der Mensch eigentlich und ursprünglich danach strebt, glücklich zu sein? Hat denn nicht selbst Kant zugegeben, dass dies der Fall sei, und nur hinzugesetzt, der Mensch solle auch danach streben, des Glücklichseins würdig zu sein? Ich würde sagen, was der Mensch wirklich will, ist letzten Endes nicht das Glücklichsein an sich, sondern ein Grund zum Glücklichsein. Sobald nämlich ein Grund zum Glücklichsein gegeben ist, stellt sich das Glück, stellt sich die Lust von selber ein. So schreibt Kant in seiner „Metaphysik der Sitten“ beziehungsweise deren „Zweytem Theil“, den „Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre“ (Königsberg, bey Friedrich Nicolovius, 1797, Seite VIIIf.), „dass Glückseligkeit die Folge der Pflichtbeobachtung“ sei und „das Gesetz vor der Lust hergehen muss, damit sie empfunden werde“. Was aber da in Bezug auf die Pflichtbeobachtung beziehungsweise das Gesetz gesagt wird, gilt meines Erachtens viel allgemeiner und lässt sich sogar vom Bereich der Sittlichkeit auf den der Sinnlichkeit übertragen. Und davon wissen wir Neurologen ein Lied zu singen. Denn im klinischen Alltag zeigt sich immer wieder, dass es gerade die Abwendung vom „Grund zum Glücklichsein“ ist, die den sexualneurotischen Menschen – den potenzgestörten Mann beziehungsweise die frigide Frau – nicht glücklich werden lässt. Wodurch aber kommt diese pathogene Abwendung vom „Grund zum Glücklichsein“ zustande? Durch eine forcierte Zuwendung zum Glück selbst, zur Lust selbst. Wie Recht hatte doch Kierkegaard, als er einmal meinte, die Tür zum Glück gehe nach außen auf – wer sie „einzurennen“ versucht, dem verschließt sie sich nur.

Wie können wir uns das erklären? Nun, wovon der Mensch zutiefst und zuletzt durchdrungen ist, ist weder der Wille zur Macht noch ein Wille zur Lust, sondern ein Wille zum Sinn. Und auf Grund eben dieses seines Willens zum Sinn ist der Mensch darauf aus, Sinn zu finden und zu erfüllen, aber auch anderem menschlichen Sein in Form eines Du zu begegnen, es zu lieben. Beides, Erfüllung und Begegnung, gibt dem Menschen einen Grund zum Glück und zur Lust. Beim Neurotiker aber wird dieses primäre Streben gleichsam abgebogen in ein direktes Streben nach Glück, in dem Willen zur Lust. Anstatt dass die Lust das bleibt, was sie sein muss, wenn sie überhaupt zustande kommen soll, nämlich eine Wirkung (die Nebenwirkung erfüllten Sinns und begegnenden Seins), wird sie nunmehr zum Ziel einer forcierten Intention, einer Hyperintention. Mit der Hyperintention einher geht aber auch eine Hyperreflexion. Die Lust wird zum alleinigen Inhalt und Gegenstand der Aufmerksamkeit. In dem Maße aber, in dem sich der neurotische Mensch um die Lust kümmert, verliert er den Grund zur Lust aus den Augen – und die Wirkung „Lust“ kann nicht mehr zustande kommen. Je mehr es einem um die Lust geht, umso mehr vergeht sie einem auch schon.

Es lässt sich leicht ermessen, wie sehr die Hyperintention und die Hyperreflexion beziehungsweise ihr deletärer Einfluss auf Potenz und Orgasmus noch verstärkt werden, wenn der in seinem Willen zur Lust zum Scheitern verurteilte Mensch versucht zu retten, was zu retten ist, indem er bei einer technischen Vervollkommnung des Sexualakts seine Zuflucht sucht. „Die vollkommene Ehe“ raubt ihm nur den letzten Rest jener Unmittelbarkeit, auf deren Boden allein das Liebesglück erblühen kann. Angesichts des sexuellen Konsumationszwangs von heute wird insbesondere der junge Mensch dermaßen in die Hyperreflexion getrieben, dass es uns nicht zu wundern braucht, wenn sich der Prozentsatz der Sexualneurosen im Krankengut unserer Kliniken vergrößert.

Der Mensch von heute neigt ohnehin zur Hyperreflexion. Professor Edith Joelson von der University of Georgia konnte nachweisen, dass für den amerikanischen Studenten das Selbstverständnis (self-interpretation) und die Selbstverwirklichung (self-actualization) in einem statistisch signifikanten Maße innerhalb einer Hierarchie der Werte am höchsten stehen. Es ist klar, dass es sich durchaus um ein Selbstverständnis handelt, das von einem analytischen und dynamischen Psychologismus her indoktriniert ist, der den gebildeten Amerikaner veranlasst, unablässig hinter dem bewussten Verhalten stehende unbewusste Beweggründe zu vermuten. Was aber die Selbstverwirklichung anlangt, wage ich zu behaupten, dass sich der Mensch nur in dem Maße zu verwirklichen imstande ist, in dem er Sinn erfüllt. Der Imperativ von Pindar, dem zufolge der Mensch werden soll, was er immer schon ist, bedarf einer Ergänzung, die ich in den Worten von Jaspers sehe: „Was der Mensch ist, das ist er durch die Sache, die er zur seinen macht.“

Wie der Bumerang, der zum Jäger, der ihn geschleudert hat, nur dann zurückkehrt, wenn er das Ziel, die Beute, verfehlt hat, so ist auch nur der Mensch so sehr auf Selbstverwirklichung aus, der zunächst einmal in der Erfüllung von Sinn gescheitert ist, ja vielleicht nicht einmal imstande ist, einen Sinn auch nur zu finden, um dessen Erfüllung es ginge.

Analoges gilt ja auch vom Willen zur Lust und vom Willen zur Macht. Während aber die Lust eine Nebenwirkung der Sinnerfüllung ist, ist die Macht insofern ein Mittel zum Zweck, als die Sinnerfüllung an gewisse gesellschaftliche und wirtschaftliche Bedingungen und Voraussetzungen gebunden ist. Wann aber ist der Mensch auf die bloße Nebenwirkung „Lust“ bedacht, und wann beschränkt er sich auf das bloße Mittel zum Zweck, Macht genannt? Nun, zur Ausbildung des Willens zur Lust beziehungsweise des Willens zur Macht kommt es jeweils erst dann, wenn der Wille zum Sinn frustriert wird, mit anderen Worten, das Lustprinzip ist nicht weniger als das Geltungsstreben eine neurotische Motivation. Und so lässt es sich denn auch verstehen, dass Freud und Adler, die ihre Befunde doch an Neurotikern erhoben hatten, die primäre Sinnorientierung des Menschen verkennen mussten.

Heute aber leben wir nicht mehr wie zur Zeit von Freud in einem Zeitalter der sexuellen Frustration. Unser Zeitalter ist das einer existentiellen Frustration. Und zwar ist es im Besonderen der junge Mensch, dessen Wille zum Sinn frustriert wird. „Was sagt der jungen Generation von heute“, fragt Becky Leer, die Chefredakteurin einer von den Studenten der University of Georgia herausgegebenen Zeitung, „Freud oder Adler? Wir besitzen die Pille, die von den Folgen sexueller Erfüllung befreit – heute gibt es keinen medizinischen Grund mehr, sexuell gehemmt zu sein. Und wir besitzen Macht – wir brauchen nur einen Blick zu werfen auf die amerikanischen Politiker, die vor der jungen Generation zittern, und auf Chinas Rote Garden. Aber Frankl sagt, dass die Leute heute in einem existentiellen Vakuum leben und dass sich das existentielle Vakuum vor allem durch Langeweile manifestiert. Langeweile – klingt doch ganz anders, nicht wahr? Viel vertrauter, nicht wahr? Oder kennen Sie zuwenig Leute rings um Sie herum, die über Langeweile klagen – ungeachtet der Tatsache, dass sie nur die Hand ausstrecken müssen, um alles zu besitzen – einschließlich Freuds Sex und Adlers Macht?“

Tatsächlich wenden sich heute mehr und mehr Patienten an uns mit dem Gefühl einer inneren Leere, wie ich sie als „existentielles Vakuum“ beschrieben und bezeichnet habe, mit dem Gefühl einer abgründigen Sinnlosigkeit ihres Daseins. Und es wäre verfehlt, anzunehmen, dass es sich um ein Phänomen handelt, das sich auf die westliche Welt beschränkt. Vielmehr haben zwei tschechoslowakische Psychiater, Stanislav Kratochvil und Osvald Vymetal, in einer Reihe von Publikationen ausdrücklich darauf aufmerksam gemacht, dass „diese Krankheit von heute, der Verlust des Lebenssinns, besonders bei der Jugend, ,ohne Bewilligung‘ die Grenzen der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaftsordnung überschreitet“. Osvald Vymetal war es auch, der gelegentlich eines tschechoslowakischen Neurologenkongresses ex praesidio sich begeistert zu Pawlow bekannte und trotzdem erklärte, angesichts des existentiellen Vakuums finde der Seelenarzt mit einer nach Pawlow ausgerichteten Psychotherapie nicht mehr sein Auslangen. Und den Hinweis darauf, dass es bereits in den Entwicklungsländern zu beobachten ist, verdanken wir L. L. Klitzke („Students in Emerging Africa – Logotherapy in Tanzania“, American Journal of Humanistic Psychology 9, 105, 1969) und Joseph L. Philbrick („A Cross-Cultural Study of Frankl’s Theory of Meaning-in-Life“).

Es ist eben so, wie Paul Polak es bereits 1947 vorausgesehen hatte, wenn er in einem Vortrag im Verein für Individualpsychologie meinte, „die Lösung der sozialen Frage würde die geistige Problematik erst eigentlich frei machen, sie erst eigentlich mobilisieren; der Mensch würde erst frei werden, sich selbst so richtig in Angriff zu nehmen, und würde das Problematische an sich selber, seine eigene Daseinsproblematik, so richtig erst erkennen.“ Ernst Bloch schlug in dieselbe Kerbe, wenn er sagte: „Die Menschen bekommen jene Sorgen geschenkt, die sie sonst nur in der Todesstunde haben.“

Soll ich kurz auf die Ursachen eingehen, die dem existentiellen Vakuum zugrunde liegen mögen, dann dürfte es auf zweierlei zurückzuführen sein: auf den Instinktverlust und auf den Traditionsverlust. Im Gegensatz zum Tier sagen dem Menschen keine Instinkte, was er muss; und dem Menschen von heute sagen keine Traditionen mehr, was er soll; und oft scheint er nicht mehr zu wissen, was er eigentlich will. Nur umso mehr ist er darauf aus, entweder nur das zu wollen, was die andern tun, oder nur das zu tun, was die andern wollen. Im ersteren Falle haben wir es mit Konformismus zu tun, im letzteren mit Totalitarismus – der eine verbreitet in der westlichen Hemisphäre, der andere in der östlichen.

Wenn ich nun bezüglich der Verbreitung (nicht der noogenen Neurosen, sondern) des existentiellen Vakuums einen Hinweis geben darf, so betrifft es eine statistische Stichprobe, die ich vor Jahr und Tag unter den Hörern meiner Vorlesung an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien gemacht habe; sie ergab, dass nicht weniger als 40 Prozent zugaben, das Sinnlosigkeitsgefühl aus eigenem Erleben zu kennen – 40 Prozent; unter meinen amerikanischen Hörern waren es nicht 40, sondern 81 Prozent.

Worauf mag dieses Gefälle zurückzuführen sein? Auf den Reduktionismus, der in den angelsächsischen Ländern das Geistesleben mehr als anderswo beherrscht. Der Reduktionismus verrät sich durch die Redewendung „nichts als“. Selbstverständlich kennen wir ihn auch hierzulande – und nicht erst heute. Ist es doch nicht weniger als 50 Jahre her, dass mein Naturgeschichtsprofessor in seiner Mittelschulklasse auf und ab ging und dozierte: „Das Leben ist letzten Endes nichts anderes als ein Verbrennungsprozess – ein Oxydationsvorgang.“ Woraufhin ich, ohne mich zu Wort zu melden, aufsprang und ihm leidenschaftlich die Frage ins Gesicht schleuderte: „Ja, was für einen Sinn hat denn dann das ganze Leben?“ Zugegeben: im konkreten Falle verbirgt sich der Reduktionismus hinter einem – Oxydationismus ...

Wir sollten aber bedenken, was es für einen jungen Menschen bedeutet, wenn zynisch erklärt wird, Werte seien „nothing but defense mechanisms and reaction formations“ (nichts als Abwehrmechanismen und Reaktionsbildungen), wie es im American Journal of Psychotherapy heißt. Meine eigene Reaktion auf diese Reaktionsbildungstheorie war einmal die folgende: Was mich persönlich anlangt – nie und nimmer wäre ich bereit, um meiner Reaktionsbildungen willen zu leben oder gar meiner Abwehrmechanismen wegen zu sterben.

Ich möchte nicht missverstanden werden. In „The Modes and Morals of Psychotherapy“ wird uns folgende Definition angeboten: „Man is nothing but a biochemical mechanism, powered by a combustion system, which energizes computers.“ Nun, als Neurologe stehe ich dafür ein, dass es durchaus legitim ist, den Computer als ein Modell zu betrachten, sagen wir, für das Zentralnervensystem. Der Fehler liegt ja erst im nothing but, in der Behauptung, der Mensch sei nichts als ein Computer. Der Mensch ist ein Computer. Dass sich selbst Werke eines Kant und eines Goethe letzten Endes aus denselben 26 Buchstaben des Alphabets zusammensetzen wie die Bücher der Courths-Mahler und der Marlitt, ist ja ebenfalls richtig. Aber darum ist es noch lange nicht wichtig. Vor allem lässt sich nicht sagen, die „Kritik der reinen Vernunft“ sei ebenso wie „Das Geheimnis der alten Mamsell“ nichts als eine Anhäufung ein und derselben 26 Lettern. Es wäre denn, wir besitzen eine Druckerei und nicht einen Verlag ...

Im Rahmen seiner Dimension hat der Reduktionismus Recht. Aber auch nur dort. Und das unidimensionale Denken ist eben sein Verhängnis. Vor allem bringt es ihn um die Chance, einen Sinn zu finden. Dass nämlich der Sinn einer Struktur über die Elemente hinausgeht, aus denen sie sich zusammensetzt, bedeutet letzten Endes, dass der Sinn in einer höheren Dimension lokalisiert ist, als es die Elemente sind. Auf diese Art und Weise kann es geschehen, dass sich der Sinn einer Reihe von Ereignissen nicht in der Dimension abbildet, in der die Ereignisse stattfinden. Die Ereignisse lassen dann einen Zusammenhang vermissen. Nehmen wir an, es handelt sich um Mutationen, so bilden sie sich als bloße Zufälle ab, und die ganze Evolution ist ebenfalls nichts als ein Zufall. Es kommt eben auf die Schnittebene an. Auch eine Sinuskurve, die von einer zu der Ebene, in der sie liegt, senkrecht stehenden Ebene geschnitten wird, hinterlässt in der Schnittebene nichts als 5 isolierte Punkte, die einen Zusammenhang vermissen lassen. Mit anderen Worten, was da verloren geht, ist die Synopse, der Hinblick auf den je nachdem höheren oder tieferen Sinn der Ereignisse – die je nachdem über die Schnittebene hinausgehenden oder die untertauchenden Teile der Sinuskurve.

Um aber auf das Sinnlosigkeitsgefühl zurückzukommen: Sinn kann nicht gegeben werden. Sinn geben würde auf Moralisieren hinauslaufen. Und die Moral im alten Sinn wird bald ausgespielt haben. Über kurz oder lang werden wir nämlich nicht mehr moralisieren, sondern die Moral ontologisieren – gut und böse werden nicht definiert werden im Sinne von etwas, das wir tun sollen beziehungsweise nicht tun dürfen, sondern gut wird uns dünken, was die Erfüllung des einem Seienden aufgetragenen und abverlangten Sinnes fördert, und für böse werden wir halten, was solche Sinnerfüllung hemmt.

Sinn kann nicht gegeben, sondern muss gefunden werden. Einer Rorschach-Tafel wird ein Sinn gegeben – eine Sinngebung, auf Grund deren Subjektivität sich das Subjekt des (projektiven) Rorschach-Tests „entlarvt“; aber im Leben geht es nicht um Sinngebung, sondern um Sinnfindung. Das Leben ist kein Rorschach-Test, sondern ein Vexierbild. Und was ich den Willen zum Sinn nenne, läuft anscheinend auf ein Gestalterfassen hinaus (James C. Crumbaugh und Leonhard T. Maholick, The Case of Frankl’s Will to Meaning, Journal of Existential Psychiatry 4, 42, 1963). Niemand Geringerer als Wertheimer schlägt in dieselbe Kerbe, wenn er von einem der jeweiligen Situation innewohnenden Forderungscharakter, ja von dem objektiven Charakter dieser Forderung spricht.

Sinn muss gefunden, kann aber nicht erzeugt werden. Was sich erzeugen lässt, ist entweder subjektiver Sinn, ein bloßes Sinngefühl, oder – Unsinn. Und so ist es denn auch verständlich, dass der Mensch, der nicht mehr imstande ist, in seinem Leben Sinn zu finden, ebenso wenig aber auch ihn zu erfinden, auf der Flucht vor dem Sinnlosigkeitsgefühl entweder Unsinn oder subjektiven Sinn erzeugt: Während sich ersteres auf der Bühne – Absurdes Theater! – ereignet, geschieht letzteres im Rausch, im Besonderen in dem durch LSD induzierten. In diesem Rausch geschieht es aber auch auf die Gefahr hin, dass am wahren Sinn, an den echten Aufgaben draußen in der Welt (im Gegensatz zu den bloß subjektiven Sinnerlebnissen in einem selbst) vorbeigelebt wird. Mich erinnert das immer an die Versuchstiere, denen kalifornische Forscher Elektroden in den Hypothalamus verpflanzt haben. Wann immer der Strom geschlossen wurde, erlebten die Tiere Befriedigung, sei es des Geschlechtstriebs, sei es des Nahrungstriebs; schließlich lernten sie es, den Strom selber zu schließen, und ignorierten dann die realen Geschlechtspartner und das reale Futter, das ihnen angeboten wurde.

Sinn muss aber nicht nur, sondern kann auch gefunden werden, und auf der Suche nach ihm leitet den Menschen das Gewissen. Mit einem Wort, das Gewissen ist ein Sinn-Organ. Es ließe sich definieren als die Fähigkeit, den einmaligen und einzigartigen Sinn, der in jeder Situation verborgen ist, aufzuspüren.

Aber das Gewissen kann den Menschen auch irreführen. Mehr noch: Bis zum letzten Augenblick, bis zum letzten Atemzug weiß der Mensch nicht, ob er wirklich den Sinn seines Lebens erfüllt oder nicht vielmehr sich nur getäuscht hat: ignoramus et ignorabimus. Dass wir nicht einmal auf unserem Sterbebett wissen werden, ob das Sinn-Organ, unser Gewissen, nicht am Ende einer Sinn-Täuschung unterlegen ist, bedeutet aber auch schon, dass das Gewissen des andern Recht gehabt haben mag. Aber Toleranz bedeutet nicht Indifferenz; denn den Glauben des Andersgläubigen respektieren heißt noch lange nicht sich mit dem andern Glauben identifizieren.

Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unserem Zeitalter muss es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen zu verfeinern, so dass der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder einzelnen Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die Zehn Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, muss der Mensch instand gesetzt werden, die 10000 Gebote zu vernehmen, die in den 10000 Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert. Dann wird ihm nicht nur eben dieses sein Leben wieder sinnvoll erscheinen, sondern er selbst wird dann auch immunisiert sein gegenüber Konformismus und Totalitarismus – diesen beiden Folgeerscheinungen des existentiellen Vakuums; denn ein waches Gewissen allein macht ihn „widerstands“-fähig, so dass er sich eben nicht dem Konformismus fügt und dem Totalitarismus beugt.

So oder so: Mehr denn je ist Erziehung – Erziehung zur Verantwortung. Und verantwortlich sein heißt selektiv sein, wählerisch sein. Wir leben in einer affluent society, werden „reizüberflutet“ von den mass media, und wir leben im Zeitalter der Pille. Wollen wir nicht in der Flut all dieser Reize, in einer totalen Promiskuität untergehen, dann müssen wir unterscheiden lernen, was wesentlich ist und was nicht, was Sinn hat und was nicht, was sich verantworten lässt und was nicht.

Meine Damen und Herren: ich spreche zu Ihnen nicht oder zumindest nicht nur als ein Philosoph, sondern als ein Psychiater. Kein Psychiater, kein Psychotherapeut – auch kein Logotherapeut – kann einem Kranken sagen, was der Sinn ist, sehr wohl aber, dass das Leben einen Sinn hat, ja – mehr als dies: dass es diesen Sinn auch behält, unter allen Bedingungen und Umständen, und zwar dank der Möglichkeit, noch im Leiden einen Sinn zu finden, das Leiden auf der menschlichen Ebene in eine Leistung zu transfigurieren – mit einem Wort, Zeugnis abzulegen von etwas, dessen der Mensch fähig ist, eben noch im Scheitern ... Oder mit anderen Worten – mit den Worten von Lou Salomé, die sie Sigmund Freud schrieb, als er „mit der Existenz auf Kündigung nicht zurechtkam“: Es kommt darauf an, dass jemandes „Art, für uns alle mitzuleiden, uns zum Zeichen wird dessen, was man vermag“.

Tatsächlich geht der Logotherapeut nicht moralistisch, sondern phänomenologisch vor. Und tatsächlich fällen wir keine Werturteile über irgendwelche Tatsachen, sondern machen Tatsachenfeststellungen über das Werterleben des schlichten und einfachen Menschen – er ist es, der immer schon darum weiß, was für eine Bewandtnis es hat mit dem Sinn des Lebens, der Arbeit, der Liebe, und last but not least, des tapfer durchgestandenen Leidens. Und wenn dem wirklich so ist, wie Paul Polak behauptet: dass die Logotherapie in ihrer Theorie das Selbstverständnis des schlichten und einfachen Menschen in die wissenschaftliche Sprache übersetzt – dann ließe sich sagen, dass sie in ihrer Praxis ihr Wissen um die genannten Möglichkeiten, im Leben einen Sinn zu finden, eben wieder in die Sprache des Menschen im Alltag zurückübersetzen muss. Um es zu wiederholen: Die Phänomenologie übersetzt dieses Grundwissen in die wissenschaftliche Sprache, und die Logotherapie übersetzt nun das solcherart Erlernte wieder zurück in die Sprache des Mannes von der Straße, und dies ist sehr wohl möglich.

Professor Farnsworth von der Harvard University hielt einmal vor der American Medical Association einen Vortrag, in dem er ausführte: „Medicine is now confronted with the task of enlarging its function. In a period of crisis such as we are now experiencing, physicians must of necessity indulge in philosophy. The great sickness of our age is aimlessness, boredom, lack of meaning and purpose.“ Solcherart werden an den Arzt heute Fragen herangetragen, die eigentlich nicht medizinischer, sondern philosophischer Natur sind und auf die er kaum vorbereitet ist. Es wenden sich Patienten an den Psychiater, weil sie am Sinn ihres Lebens zweifeln oder gar dran verzweifeln, einen Lebenssinn überhaupt zu finden. Es hieße nur einen Rat von Kant befolgen, gedächten wir, die Philosophie als eine Medizin anzuwenden. Wenn sie perhorresziert wird, dann liegt der Verdacht nahe, dass es aus der Angst heraus geschieht, mit dem eigenen existentiellen Vakuum konfrontiert zu werden.

Selbstverständlich: Irgendwie kann man auch Arzt sein, ohne sich um dergleichen zu scheren; aber dann gilt, was in analogen Zusammenhängen Paul Dubois gemeint hat: dass man sich dann nämlich vom Tierarzt nur mehr noch durch eines unterschiedet – durch die Klientel.

■ Die Problematik psychiatrischer Aufklärung

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In einem Bericht über seine Studienreise nach den Vereinigten Staaten von Amerika schreibt der Marburger Psychiater Professor Villinger, die dort herrschende Neigung zur Popularisierung und zur Propagierung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse werde der eine mehr für einen Vorzug, ein anderer aber eher für einen Schönheitsfehler ansehen. Nun, ich möchte diesbezüglich einen vermittelnden Vorschlag machen, so zwar, dass ich sage: Die Propaganda mag sehr wohl ein Vorzug sein; die Popularisierungstendenz jedoch halte ich für einen Schönheitsfehler. Während nämlich die Propaganda beispielsweise psychohygienisches oder psychotherapeutisches Wissen effektiv ins Volk hineinträgt und solcherart in die Breite wirksam macht, lässt es sich nicht leugnen, dass die Popularisierung der Psychotherapie selber nicht immer Psychotherapie ist, also nicht immer psychotherapeutisch wirken muss. Bevor ich dazu übergehe, dies im Einzelnen aufzuzeigen und nachzuweisen, möchte ich bezüglich wissenschaftlicher Aufklärung im Allgemeinen jemanden zitieren, dessen Wissenschaftlichkeit ebenso über jeden Zweifel erhaben ist wie sein Rekord hinsichtlich der Anzahl von Versuchen, seine Lehre zu popularisieren: Ich denke an Albert Einstein, und zwar im Besonderen an ein Wort von ihm, demzufolge dem Wissenschaftler nur die Wahl bleibe, entweder verständlich oder oberflächlich zu schreiben oder aber gründlich und unverständlich1.

Kehren wir aber zum besonderen Thema psychotherapeutischer Aufklärung zurück, so ergibt sich, dass die Gefahr des Unverständlichen nicht einmal die größte Gefahr ist, die da allen Popularisierungsbestrebungen droht; größer als die Gefahr des Unverständnisses ist vielmehr die von Missverständnissen. So hat etwa Dr. Binger, der Verantwortliche für die psychische Hygiene in New York, darüber geklagt, dass man vor dem Missverstandenwerden auch dann nicht sicher ist, wenn man wirklich gute Vorträge hält; er selbst zum Beispiel habe im Radio einen Vortrag über die so genannte psychosomatische Medizin gehalten und am darauffolgenden Tag einen Brief erhalten, in welchem ihn jemand fragte, wo man ein Fläschchen psychosomatische Medizin zu kaufen bekomme.

Nun, ich muss gestehen, dass ich keineswegs davon überzeugt bin, dass das Wissen um irgendwelche Krankheiten unter allen Umständen auch etwas Heilsames darstellt. Im Gegenteil, ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass es sich sogar schädlich auswirkt. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur daran erinnern, wie die Verhältnisse beispielsweise bei einer Blutdruckmessung liegen: Nehmen wir an, ich messe einem Patienten den Blutdruck und stelle dabei fest, dass der Druck leicht erhöht ist; wenn ich nun auf die bange Frage des Kranken: Herr Doktor, wie sieht es mit meinem Blutdruck aus? erkläre, dass er sich nicht zu ängstigen braucht, dass hierzu kein Grund vorliegt – lüge ich meinen Patienten dann an? Ich behaupte nun, dass dies nicht der Fall ist. Denn mein Kranker wird auf meine beruhigende Mitteilung hin erleichtert aufatmen und etwa seinerseits erklären: Gott sei Dank – wissen Sie, Herr Doktor, ich habe nämlich schon gefürchtet, mich könnte der Schlag treffen. Und sobald sich diese ängstliche Erwartung gegeben hat, wird der Blutdruck des Patienten auch wirklich normal sein. Was wäre aber im umgekehrten Fall geschehen – wenn ich dem Kranken die Wahrheit gesagt hätte? Es wäre bei dieser Wahrheit gar nicht geblieben, es wäre nämlich gar nicht bei der leichten Druckerhöhung geblieben, sondern der nunmehr erst recht besorgte und ängstlich gemachte Patient hätte, auf meine Eröffnung hin, sofort mit einer wesentlichen Erhöhung seines Blutdruckes reagiert.

Oder denken wir an die Popularisierung statistischer Forschungsergebnisse: Ich bin überzeugt davon, wenn man auf Grund einer Statistik feststellen würde, dass so und so viele Männer ihre Frauen betrügen – und dergleichen ist ja im Rahmen einer großzügigen statistischen Erhebung tatsächlich geschehen –, wenn man solches feststellen und diese Feststellung allgemein bekannt machen würde – ich bin überzeugt davon, dass es auch in diesem Fall gar nicht dabei bliebe, nicht beim festgesetzten Prozentsatz untreuer Männer; sondern der durchschnittliche Mann wird sich gewiss nicht denken: Es ist ein Skandal, dass die Majorität der Männer so ist (so wie er selbst) und von heute an bin ich meiner Frau treu – schon um die Minorität der Anständigen zu stärken und zu stützen. Sondern der durchschnittliche Mann wird sich einfach denken: Nun, ich bin eben auch kein Heiliger und brauche nicht besser zu sein als der Durchschnitt – und diese Erwägung wird vielleicht das nächste Mal, bei der erstbesten Gelegenheit einer Versuchung, die an ihn herantritt, in die Waagschale seiner Entscheidung fallen. Mag sein, dass all dies sich vergleichen ließe mit der bekannten These des Physikers Heisenberg, dass die Beobachtung eines Elektrons immer auch schon eine Beeinflussung mit sich bringt: Analoges gilt in unserem Zusammenhang, und ich möchte variierend zu behaupten wagen, dass zum Beispiel die Mitteilung einer statistischen Wahrheit immer auch schon eine Beeinflussung derjenigen bedeutet, die von der betreffenden Statistik erfasst wurden, also letzten Endes zu einer Verfälschung der Wahrheit führt.