True Colors – Das Geheimnis der Schwestern - Kristin Hannah - E-Book

True Colors – Das Geheimnis der Schwestern E-Book

Kristin Hannah

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Beschreibung

Sie dachte, nichts könne sie entzweien. Sie wusste nichts von der Liebe.

Nichts kann die drei Schwestern Grey trennen, selbst der Tod der Mutter schweißt sie noch enger zusammen. Ihr Vater jedoch wird durch den Verlust seiner Frau unerbittlich. Nur Vivi Ann, die ganz in der Arbeit mit den Pferden der Ranch aufgeht, findet seine Anerkennung und Liebe; die Ältere, Winona, ringt vergeblich darum. Trotz allen Zusammenhalts geraten die Schwestern in immer größere Konkurrenz zueinander – mit verheerenden Konsequenzen. Dann wendet sich Vivi Ann gegen die väterliche Ordnung, und die Familie droht zu zerbrechen ...

Ein großer Roman über drei Schwestern, die gegen die Grenzen ihrer Welt aufbegehren – von der Autorin des Weltbestsellers »Die Nachtigall«.

»Kristin Hannah ist eine meisterhafte Erzählerin.« Delia Owens.

»Das Geheimnis der Schwestern«: Diese Ausgabe des Romans wurde neu übersetzt und erscheint in neuer Ausstattung.

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Seitenzahl: 599

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Über das Buch

Nach dem frühen Tod ihrer Mutter sind die Schwestern Winona, Vivi Ann und Aurora unzertrennlich, jedoch auf sich allein gestellt. Ihr Vater kann den Verlust seiner Frau nicht verkraften und stürzt sich in die Arbeit auf Water’s Edge, der Familienranch. Einzig die Jüngste, die schöne Vivi Ann, die wie niemand sonst mit Pferden umzugehen weiß, findet die Anerkennung des Vaters, während Winona vergeblich darum ringt. Doch so groß der Zusammenhalt der Schwestern auch sein mag, als Vivi Ann eine Beziehung zu Luke eingeht, für den auch Winona seit Langem Gefühle hat, stellt sich die Eifersucht zwischen sie. Dann trifft Vivi Ann eine Entscheidung für die Liebe, riskiert, dass ihr Vater sie von sich stößt, und ein grausames Verbrechen droht die Familie für immer zu zerreißen. 

»Einmalig romantisch und absolut herzzerreißend – ein Buch, in das man abtauchen und in dem man so lange wie möglich bleiben möchte.« People

Über Kristin Hannah

Kristin Hannah, geboren 1960 in Südkalifornien, arbeitete als Anwältin, bevor sie zu schreiben begann. Heute ist sie eine der erfolgreichsten Autorinnen der USA und lebt mit ihrem Mann im Pazifischen Nordwesten der USA. Nach zahlreichen Bestsellern waren es ihre Romane »Die Nachtigall« und »Die vier Winde«, die Millionen von Leser:innen in über vierzig Ländern begeisterten und Welterfolge wurden.Im Aufbau Taschenbuch liegen ebenfalls ihre Romane »Die Nachtigall«, »Die andere Schwester«, »Das Mädchen mit dem Schmetterling«, »Die Dinge, die wir aus Liebe tun«, »Die Mädchen aus der Firefly Lane«, »Liebe und Verderben«, »Winterschwestern«, »Der Junge von Angel Falls« und »Die vier Winde« vor.

Gabriele Weber-Jarić lebt als Autorin und Übersetzerin in Berlin. Sie übertrug u. a. Mary Morris, Mary Basson und Allison Pataki ins Deutsche.

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Kristin Hannah

True Colors – Das Geheimnis der Schwestern

Roman

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Weber-Jarić

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Teil I

Prolog — 1979

Kapitel 1 — 1992

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil II

Kapitel 18 — 2007

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Dank

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für die Frauen, die in unsere Familie gekommen sind und uns mit ihrer Gegenwart beglückt haben: Debra Edwards John und Juliet Gorset John.

Für zwei Freundinnen: Julie Williams und Andrea Schmidt. Im größten Chaos bringt ihr mich zum Lachen, und dafür danke ich euch.

Und wie immer für Benjamin und Tucker, ohne die ich so viel weniger über das Leben, die Liebe und die Freude wüsste.

Teil I

Zuvor

Was ist Leidenschaft? Mit Sicherheit beinhaltet sie das Werden eines Menschen … In der Leidenschaft suchen Körper und Geist nach Ausdruck … Je extremer und ausdrücklicher diese Leidenschaft ist, desto unerträglicher scheint ein Leben ohne sie. Stirbt die Leidenschaft oder wird sie geleugnet, sind wir schon halb tot und werden es bald ganz sein, komme, was wolle.

John Boorman, Regisseur

Prolog

1979

Die fünfzehnjährige Winona Grey schaute hinaus auf die Ranch am Ufer des Hood Canal, die seit vier Generationen im Besitz ihrer Familie war. Sie suchte nach etwas, das sich verändert hatte. Ein Verlust wie der, den sie erlitten hatten, musste Spuren hinterlassen haben – grünes Gras, das mit einem Mal braun war, dunkle Wolken, entschlossen, für alle Zeit am Himmel zu stehen, ein vom Blitz gepaltener Baum. Irgendetwas.

Von ihrem Zimmerfenster aus konnte sie beinahe die ganze Ranch überblicken. Am anderen Ende des Grundstücks standen dicht zusammengedrängt riesengroße Zedern mit tief hängenden, fedrigen Ästen. An den Zäunen des sanft geschwungenen Weidelands liefen Pferde entlang, stampften mit ihren Hufen durch das hohe Gras und hinterließen schlammige Erde. Im Wald auf dem Hügel lag die kleine Hütte, die Winonas Urgroßvater gebaut hatte, als er das Land besiedelte.

Ein friedliches Bild, doch Winona wusste es besser. Vor einigen Jahren war nicht weit entfernt ein Kind im kalten Meer vor der Küste Washingtons ertrunken. Monatelang war diese Tragödie das einzige Gesprächsthema gewesen. Mom hatte Winona vor den unsichtbaren Gefahren des Meeres gewarnt, den Unterströmungen, die einen selbst im seichten Wasser mitreißen konnten. Inzwischen wusste Winona, dass unter der Oberfläche eines ganz normalen Lebens andere Fallstricke lauerten.

Sie wandte sich vom Fenster ab und ging nach unten. Seit gestern fühlte sich das Haus zu groß an, zu still. Auf dem blau-gelb karierten Sofa im Wohnzimmer saß Winonas Schwester und las. Aurora war ein mageres, knochiges Mädchen und mit ihren vierzehn Jahren war sie weder Kind noch Frau. Sie hatte ein kleines, spitzes Kinn, ihr dunkles, in der Mitte gescheiteltes Haar fiel ihr lang und glatt über die Schultern.

»Du bist früh auf den Beinen, Sprosse«, sagte Winona.

Aurora blickte auf. »Konnte nicht schlafen.«

»Ging mir genauso.«

»Vivi Ann ist in der Küche. Eben habe ich sie weinen hören, aber …« Aurora zuckte mit den schmalen Schultern. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

Winona wusste, wie sehr Aurora Stabilität im Leben brauchte. Sie war die Friedensstifterin der Familie, strebte nach Harmonie, wollte stets alles in Ordnung bringen. Nun wirkte sie zerbrechlich, doch wie sollte es auch anders sein? Es gab keine tröstenden Worte, an denen sie sich hätten festhalten können. »Ich gehe zu ihr«, sagte Winona.

Sie fand ihre zwölfjährige Schwester über den gelben Resopaltisch gebeugt, wo sie ein Bild malte.

»Hey, Böhnchen.« Winona zerzauste Vivi Anns Haar.

»Hey, Erbse.«

»Was wird das?«

»Ein Bild von uns dreien.« Vivi Ann hörte auf zu malen und sah zu Winona auf. Ihr langes weizenblondes Haar war eine wirre Mähne, ihre grünen Augen vom Weinen gerötet, und doch war sie schön. Ihr kleines Gesicht ähnelte dem eines Dresdner Porzellan-Figürchens. »Mom kann es vom Himmel aus sehen, nicht wahr?«

Was sollte Winona darauf antworten? Früher war es ihr leichtgefallen, zu glauben; es war natürlich und mühelos gewesen wie das Atmen. Dann war der Krebs gekommen und hatte ihre Familie in so viele Einzelteile zerlegt, dass es unmöglich schien, sie jemals wieder zusammenzufügen. »Mit Sicherheit«, sagte sie matt. »Wir hängen es an den Kühlschrank.«

Winona machte Anstalten, die Küche zu verlassen, doch dann hielt sie plötzlich inne. Alles in dieser Küche erinnerte an ihre Mutter – die kanariengelb und blau gemusterten Baumwollvorhänge, die Mom genäht hatte, der Mountain- Mama-Magnet am Kühlschrank, die Schale mit Muscheln auf der Fensterbank. Komm Winnie, lass uns am Strand auf Schatzsuche gehen …

Wie oft hatte sie ihre Mutter in diesem Sommer zurückgewiesen, war zu beschäftigt gewesen, zu erwachsen, um mit ihr an den Strand zu gehen und in den zerbrochenen Austernschalen und dem trocknenden Seetang nach glattgeschliffenen Glasscherben zu suchen.

Der Gedanke trieb Winona zum Kühlschrank. Sie öffnete die Tür des Gefrierfachs, und ihr Blick fiel auf einen großen Becher Fürst-Pückler-Eis. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, trotzdem griff sie danach.

Sie holte einen Löffel, lehnte sich gegen die Kücheninsel und fing an, zu essen. Vor dem Fenster sah man den Feldweg, der zum Haus führte, und weiter hinten den heruntergekommenen, rostrot gestrichenen Schuppen. Ihr Blick fiel auf den alten blauen Truck ihres Vaters; er fuhr rückwärts an den großen, angerosteten Pferdeanhänger heran. Dad stieg aus und ging zur Anhängerkupplung.

»Sag bloß, er will zum Rodeo«, murmelte Winona und trat näher ans Fenster.

»Will er.« Vivi Ann malte wieder an ihrem Bild. »Er ist schon im Morgengrauen aufgestanden und hat alles vorbereitet.«

»Er fährt zum Rodeo? Macht ihr Witze?« Aurora war in die Küche gekommen und stellte sich neben Winona ans Fenster. »Wie … wie kann er nur?«

Winona war bewusst, dass sie in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und eine Erklärung finden sollte, warum es in Ordnung war, dass Dad einen Tag nach der Beerdigung seiner Frau mit seinem Leben weitermachte. Doch das wäre eine Lüge, die sie nicht über die Lippen bringen würde, nicht einmal, um ihren Schwestern den Kummer zu ersparen. Oder wäre es gar keine Lüge? Womöglich war es das, was Erwachsene taten, sie machten einfach immer weiter. Ein verstörender Gedanke, den sie ebenso wenig auszusprechen vermochte. Das Schweigen hielt an, und Winona fühlte sich zunehmend unwohl. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, um die Situation erträglicher zu machen, und verstand gleichzeitig, dass genau das nun zu ihren Aufgaben gehörte. Sie war die Älteste, sie musste sich um ihre Schwestern kümmern.

»Warum holt er Clementine von der Koppel?« Aurora nahm Winona den Löffel ab und grub ihn in den Eisbecher.

Vivi Ann stieß einen Laut aus – halb Schluchzer, halb Schrei. Sie stürzte zur Tür, riss sie so heftig auf, dass sie gegen die Wand knallte.

»Er will Moms Pferd verkaufen«, sagte Winona erschrocken. Wie hatte ihr das entgehen können?

»Das wagt er nicht.« Aurora sah Winona an. »Oder?«

Wieder fehlten Winona die Worte. Mit dem Eisbecher in der Hand stürzte sie Vivi Ann hinterher. Als sie auf dem Parkplatz vor dem Stall ankam, war sie außer Atem.

Ihr Vater hielt Clem am Führstrick. Sonnenlicht fiel auf seinen speckigen Cowboyhut und die große, silberne Schnalle an seinem Gürtel. Sein schroffes Gesicht erinnerte an die Berge im Hinterland – Platten aus Granit und dunkle Mulden, nirgendwo etwas Weiches.

»Du darfst Moms Pferd nicht verkaufen«, sagte Winona schweratmend.

»Seit wann sagst du mir, was ich darf und was nicht?«, fragte ihr Vater. Sein Blick streifte den Eisbecher.

Winona spürte, wie sie errötete. Es kostete sie all ihren Mut, zu antworten. Aber sie musste etwas sagen, wo es doch niemand anders tun würde. »Mom liebt – hat dieses Pferd geliebt.«

»Für ein Pferd, das nicht geritten wird, haben wir kein Geld.«

»Ich reite sie«, entgegnete Winona.

»Du?«

»Ich werde mich noch mehr anstrengen – keine Angst mehr haben.«

»Haben wir überhaupt einen Sattel für dich?«

Es entstand eine quälende Stille. Winona sprang vor und packte den Führstrick. Doch ihre Bewegung war zu abrupt, ihre Stimme zu laut. Clem scheute und brach seitlich aus. Winona geriet ins Taumeln, der Führstrick glitt ihr durch die Hand und schürfte ihre Handfläche auf.

Dann war Vivi Ann bei ihr und besänftigte Clem, brauchte dazu nicht mehr als ein Wort und eine Berührung. Als das Pferd wieder ruhig war, wandte sie sich an Winona und flüsterte: »Alles in Ordnung?«

Winona war zu beschämt, um zu antworten. Sie merkte, wie Vater sich auf sie zubewegte, hörte, wie sich seine Cowboystiefel in den morastigen Boden gruben. Sie und Vivi Ann drehten sich langsam zu ihm um.

»Du hast kein Gespür für Pferde, Winona.« Diese Worte aus seinem Mund kannte Winona, seit sie denken konnte. Es war das Schlimmste, was ein Cowboy sagen konnte.

»Ich weiß, aber – «

Ihr Vater sah sie nicht an. Er hatte sich bereits zu Vivi Ann umgedreht. Zwischen den beiden spielte sich etwas ab, ein wortloser Austausch, dessen Inhalt Winona verborgen blieb. »Clem ist eine temperamentvolle Stute«, sagte Dad, »und noch sehr jung. Mit ihr wird nicht jeder fertig.«

»Ich schon«, entgegnete Vivi Ann.

Es stimmte, das wusste Winona. Mit ihren zwölf Jahren war Vivi Ann mutiger und furchtloser als Winona es jemals sein würde.

Winona verspürte einen scharfen Stich des Neids. Und obwohl sie wusste, dass es falsch war – geradezu niederträchtig –, wünschte sie, Dad würde Vivi Ann zurückweisen, würde auch die Hübscheste seiner Töchter die Härte seiner Missbilligung spüren lassen.

»Deine Mutter wäre stolz auf dich«, sagte er stattdessen und übergab Vivi Ann den blau melierten Führstrick.

Wie aus der Ferne sah Winona ihren Vater und ihre Schwester davongehen. Sie redete sich ein, dass es ihr nichts ausmachte. Sie hatte den Verkauf des Pferds verhindert, nur das zählte. Doch diese Lüge war ein schwacher Trost.

Aurora erschien an ihrer Seite, war den Hügel heraufgekommen, jetzt, nachdem die Auseinandersetzung vorbei war. »Alles klar?«, fragte sie.

»Ja, alles klar.«

»Hauptsache, er verkauft Clem nicht.«

»Genau«, erwiderte Winona und wünschte, sie würde es auch so meinen. »Was kümmert es mich, wer das Pferd reitet.«

»Eben.«

Doch als Winona Jahre später auf die Zeit nach dem Tod ihrer Mutter zurückblickte, erkannte sie, dass dieser eine Handgriff – das Überreichen eines Führstricks – alles verändert hatte. Die Eifersucht war in ihr Leben getreten. War zu einer gefährlichen Unterströmung geworden. Und niemand hatte sie bemerkt. Zumindest damals nicht.

Kapitel 1

1992

Auf diesen Tag im Januar hatte Vivi Ann seit Langem gewartet. Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Morgenhimmel erhellten, warf sie die Bettdecke zurück und stand auf. In der kalten Dunkelheit ihres Zimmers zog sie ihren dicken Overall an und setzte eine Wollmütze auf. Sie griff nach ihren abgewetzten, ledernen Arbeitshandschuhen, schlüpfte in die Gummistiefel und verließ das Haus in Richtung Stall.

Sie musste die Pferde nicht füttern, das gehörte zu den Aufgaben des neuen Rancharbeiters. Aber zum Schlafen war sie zu aufgeregt, warum also sollte sie sich nicht nützlich machen?

Der Mond wurde von Wolken verdeckt, und außer ihrem gespenstisch weißen Atem war nicht viel zu sehen. Doch wenn Vivi Ann eines kannte, dann war es das Land ihres Vaters.

Water’s Edge.

Vor über hundert Jahren hatte ihr Urgroßvater sich hier niedergelassen und den nahe gelegenen Ort Oyster Shores gegründet. Andere Männer hatten sich für dichter bevölkerte und zugänglichere Landstriche entschieden, Abelard Grey nicht. Er hatte weite Ebenen durchquert, einen Sohn bei einem Überfall verloren, ein anderer war an der Grippe gestorben. Grey war weiter nach Westen gezogen, hatte von einer wilden, abgeschiedenen Gegend im Evergreen State, dem immergrünen Bundesstaat Washington, geträumt. Als er sie zwischen dem klaren Wasser des Hood Canal und einem bewaldeten Hügel fand, steckte er fünfzig Hektar ab. Es war ein ausnehmend schönes Stück Land.

Vivi Ann stieg die kleine Anhöhe zur Reithalle hinauf, die sie vor zehn Jahren errichtet hatten. Unter dem hohen Holzdach befanden sich eine Reitbahn und der Stall mit je sechs Pferdeboxen auf beiden Seiten. Als sie die große Schiebetür öffnete, schalteten sich die Deckenleuchten ein, mit einem Geräusch, das wie ein Fingerschnipsen klang. Sofort wurden die Pferde unruhig und wieherten; sie hatten Hunger. Eine Stunde lang gabelte Vivi Ann Heu aus den Ballen, die sich im Schuppen stapelten und fuhr die Ladungen mit der rostigen Schubkarre über den unebenen Betonboden der Boxengänge. An der letzten Box hing ein handgefertigtes Holzschild, auf dem der selten benutzte, offizielle Name ihrer Stute stand: Clementine’s Blue Ribbon.

»Hey, mein Mädchen.« Vivi Ann entriegelte die Boxentür und schob sie zur Seite auf.

Mit einem leisen Schnauben kam das Pferd auf sie zu und schnappte sich etwas Heu aus der Schubkarre.

Vivi Ann füllte die Futterraufe und schloss die Tür hinter sich. Während Clem fraß, strich sie ihr über das seidenweiche Nackenfell.

»Bist du bereit fürs Rodeo?«

Als Antwort drückte die Stute sich so fest an Vivi Ann, dass sie Mühe hatte, ihr Gleichgewicht zu halten.

In den Jahren nach Moms Tod waren Vivi Ann und Clem unzertrennlich geworden. Dad hatte damals kaum noch mit seinen Töchtern gesprochen, dafür jedoch zu trinken begonnen, und ihre Schwestern hatten sich in erster Linie für die Highschool interessiert. Weshalb Vivi Ann einen Großteil ihrer Zeit mit diesem Pferd verbracht hatte. Manchmal, wenn Kummer und Einsamkeit nachts übermächtig wurden, schlüpfte sie aus ihrem Zimmer, lief zum Pferdestall und schlief zu Clems Hufen auf dem mit Sägespänen bedeckten Boden.

Auch in späteren Jahren, als Vivi Ann selbst auf der Highschool war und einen großen Freundeskreis besaß, blieb Clem ihre beste Freundin. Nur hier, in der süß duftenden Enge der Box gab Vivi Ann ihre tiefsten Geheimnisse preis.

Noch einmal tätschelte sie Clems Nacken, dann verließ sie den Stall. Als sie das Haus erreichte, war die Sonne bereits ein karamellfarbener Klecks am trüben Winterhimmel. Vivi Anns Blick wanderte über das stahlgraue Wasser des Fjords und die gezackten, schneebedeckten Gipfel der fernen Berge.

Sie betrat das dämmrige Wohnhaus. Über ihr knarrten die Holzdielen verräterisch – ihr Vater war aufgestanden. Sie ging ins Esszimmer, deckte den Tisch für drei Personen und bereitete in der Küche das Frühstück. Gerade, als sie einen Teller Pancakes zum Warmhalten in den Ofen stellte, hörte sie ihren Vater im Esszimmer. Sie schenkte eine Tasse Kaffee ein, gab Zucker hinzu und brachte sie ihm.

Ihr Vater nahm den Kaffee entgegen, ohne von seiner Zeitschrift, dem Western Horseman, aufzublicken.

Für einen Moment stand Vivi Ann da, überlegte, was sie sagen konnte, um ein Gespräch zu beginnen.

Dad trug seine Arbeitskluft – kariertes Flanellhemd, abgetragene Jeans mit großer, silberner Gürtelschnalle, die ledernen Arbeitshandschuhe steckten im Hosenbund. Er sah aus wie jeden Morgen, und doch war etwas anders. Vivi Ann entdeckte eine Reihe feiner Fältchen in seinem Gesicht, die ihr neu waren und ihn älter wirken ließen.

Die Jahre seit Moms Tod hatten ihn gezeichnet. Seine Gesichtszüge waren schärfer geworden, und es lagen Schatten, wo keine sein sollten – auf den schweren Tränensäcken unter seinen Augen und in seinem Blick. Sein Rücken war krumm geworden. Das gehöre zu einem Hufschmied, behauptete er, es zeuge von den vielen Jahren, in denen er gebückt Nägel in Pferdehufe geschlagen habe. Aber Vivi Ann war sich sicher, Moms Tod und das Gewicht der Einsamkeit hatten dazu beigetragen. Nur in der Öffentlichkeit stand ihr Vater gerade, zeigte sich vom Leben ungebeugt, auch wenn es ihn noch so sehr anstrengen mochte.

Während Vivi Ann das Frühstück auftrug, las ihr Vater weiter seine Zeitschrift.

»In den letzten Wochen war Clem noch schneller als sonst«, sagte Vivi Ann und ließ sich ihm gegenüber nieder. »Ich denke, wir können das Rodeo in Oregon gewinnen.«

»Wo ist der Toast?«

»Ich habe Pancakes gemacht.«

»Zu Spiegeleiern gehört Toast. Das weißt du.«

»Wir haben kein Brot mehr, nimm dir Hash Browns.«

Dad seufzte schwer und blickte auf den leeren Platz am Tisch. »Hast du Travis heute schon gesehen?«

Vivi Ann sah aus dem Fenster zur Reithalle hinüber. Der Rancharbeiter war nirgends zu entdecken. Keine Schubkarre vor dem Stall, kein Traktor mit laufendem Motor. »Ich habe die Pferde gefüttert. Wahrscheinlich repariert Travis den Zaun.«

»Mit dem hast du mal wieder das große Los gezogen«, sagte Dad. »Wenn du nicht jedes kranke Pferd im Umkreis retten würdest, kämen wir ohne Hilfe aus. Die wir uns ohnehin nicht leisten können.«

»Apropos Geld. Fürs Rodeo brauche ich dreihundert Dollar, und die Kaffeedose ist leer.«

Keine Antwort.

»Dad?«

»Das Geld ist für die Heurechnung draufgegangen.«

»Alles?«

»Die Steuern waren ebenfalls fällig.«

Vivi Ann runzelte die Stirn. »Dann stecken wir in Schwierigkeiten.« Knapp bei Kasse zu sein, war nichts Neues, doch diesmal traf es sie. Plötzlich verstand sie, warum Winona ihr ständig damit in den Ohren gelegen hatte, Geld für die Steuern zurückzulegen. Vivi Ann schaute zu ihrem Vater, der gekrümmt dasaß, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. Für ihre Schwestern wäre diese Haltung ein Zeichen schlechter Manieren gewesen, Vivi Ann wusste es besser. »Hast du Rückenschmerzen?«

Ihr Vater tat, als habe er sie nicht gehört.

Vivi Ann holte die Packung Schmerztabletten aus der Küche und legte sie vor ihn.

Seine schwielige Hand schloss sich darum.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Vivi Ann. »Ich finde einen Weg, um an das Geld zu kommen. Und dieses Mal gewinne ich. Vielleicht sogar die zweitausend Dollar.«

Danach schwiegen sie wieder. Dad las seine Zeitschrift. Als er fertig gefrühstückt hatte, schob er den Stuhl zurück und stand auf. An der Tür nahm er seinen Cowboyhut vom Haken, wandte sich noch einmal um und sagte: »Mach mich stolz.«

»Ja, Dad. Bis später.«

Dann war er fort, und Vivi Ann saß unschlüssig da.

Sie war vierundzwanzig Jahre alt, und sie hatte sich stets treiben lassen. Wie ein Blatt im Wind war sie gewesen, wurde mal hierhin, mal dorthin geweht. Hin und wieder hatte sie versucht, die Richtung zu wechseln – das College war einer dieser Versuche gewesen –, doch daraus war nie etwas geworden. Zuletzt war sie zur Ranch zurückgekehrt.

Sie liebte es hier, so einfach war das. Sie liebte die Pferde, trainierte sie leidenschaftlich gern. Es machte ihr Spaß, ihr Wissen an junge Pferdenärrinnen weiterzugeben, die mit leuchtenden Augen zu ihr aufsahen und ihre Reitkünste bewunderten. Es gefiel ihr, dass sie im ganzen Ort bekannt war und ihre Familie geachtet wurde. Sogar das Wetter mochte sie, diese endlosen grauen Regentage von November bis April, über die andere sich beklagten. Ohne Regen kein Regenbogen. Das war ihre Devise, seit sie zwölf Jahre alt war. Seit sie an dem frischen Grab ihrer Mutter gestanden und sich vergeblich nach dem Sinn dieses unbegreiflichen Verlusts gefragt hatte. Damals hatte sie beschlossen, dass das Leben kurz war und man es genießen musste.

Doch es war an der Zeit, erwachsen zu werden. Water’s Edge brauchte sie, nicht umgekehrt. Aber wie sollte sie die finanziellen Probleme der Ranch bewältigen? Geschäftliches lag ihr nicht, obwohl sie klüger war, als manch einer glauben mochte. Sie musste sich nur etwas überlegen.

Zuerst jedoch würde sie eine ihrer Schwestern bitten, ihr dreihundert Dollar zu leihen.

Sie würde ihnen erklären, es sei eine gute Investition.

*

Winona gab gern den Ton an. Überall und in jeder Lebenslage. Bereits nach dem ersten College-Seminar in Zivilrecht war ihr klar gewesen, wo sie hinwollte. Inzwischen war sie siebenundzwanzig Jahre alt und hatte ihr Leben im Griff – zumindest überwiegend. Sie war nicht verheiratet, hatte weder Kinder noch eine Beziehung und außerdem Gewichtsprobleme. Doch in Oyster Shores war sie die bei Weitem erfolgreichste Anwältin. Sie war bekannt dafür, dass sie klug, fair und zielstrebig war; alle sagten, bei einer Anwältin wie ihr sei man in guten Händen. Dieser Ruf bedeutete Winona viel. Ihr Vater und Vivi Ann mochten für die Ranch leben, für Winona zählte die Gemeinde von Oyster Shores. Vielleicht war Vivi Ann das hübsche Gesicht, das Herz dieser Gemeinde, doch Winona war das Gewissen.

Sie drückte den Knopf an der Gegensprechanlage auf ihrem Tisch. »Der Gemeinderat kommt in zehn Minuten, Lisa. Sorgst du dafür, dass wir genug Kaffee haben?«

»Schon geschehen.«

»Danke.« Winona konzentrierte sich auf ihre Unterlagen – ein paar Umweltgutachten, den Grundrissplan der Gemeinde und den Grundstückskaufvertrag, den sie aufgesetzt hatte.

Hierin könnte die Rettung für Water’s Edge liegen.

Wobei »Rettung« ein wenig übertrieben war, die Ranch stand keineswegs am Rand des Bankrotts. Eher schleppte sie sich dahin, war wie die halbverhungerten Klepper, die Vivi Ann rettete. Monat für Monat kamen ihre Schwester und Dad mit knapper Not über die Runden, doch die Steuern wurden immer höher. Bisher war diese abgelegene Ecke Washingtons, in der sie lebten, noch nicht von Städtern entdeckt, die rauen, urwüchsigen Ufergrundstücke noch nicht zu Geld gemacht worden, doch das war nur eine Frage der Zeit. Irgendwann würde ein Immobilienentwickler feststellen, dass ihr verschlafener Ort an einem atemberaubend schönen Küstenstrich lag, mit Blick auf die Olympic Mountains. Dann säße Dad plötzlich auf fünfzig Hektar begehrten Lands, mit einer so hohen Grundstückssteuer, dass er gezwungen wäre, das Land zu verkaufen oder es verlieren würde. Das war die Zukunft, so geschah es bereits in ganz Washington, nur schien es außer Winona niemand zu erkennen.

Sie machte sich Notizen auf ihrem gelben Notizblock – Stichpunkte, die ihr helfen würden, wenn sie das Gespräch mit Dad suchte. Er musste begreifen, wie wichtig dieses Vorhaben war, und dass sie eine Möglichkeit gefunden hatte, ihn zu retten. Ebenso wichtig war es, dass sie diejenige sein würde, die seine finanziellen Probleme löste. Vielleicht wäre ihr Vater dann endlich stolz auf sie.

Die Gegensprechanlage summte. »Sie sind da, Winona.«

»Führ sie in den Besprechungsraum.« Winona steckte die Unterlagen in eine Sammelmappe und streifte ihren blauen Blazer über. Als sie ihn zuknöpfen wollte, stellte sie fest, dass er über der Brust spannte. Mit einem Seufzer machte sie sich auf den Weg.

Winonas Kanzlei befand sich in einem großen Haus im viktorianischen Stil auf einem Eckgrundstück in der Ortsmitte. Sie hatte es vor einigen Jahren gekauft und nach und nach renoviert. Das Erdgeschoss war fertig, dort empfing sie ihre Mandanten. Im nächsten Jahr würde sie sich die Wohnräume oben vornehmen. Das Geld dazu hatte sie so gut wie zusammen.

Vor dem Spiegel im Flur blieb sie kurz stehen und betrachtete sich: ihr rundes, hübsches Gesicht, die dunkelbraunen Augen unter geschwungenen schwarzen Brauen, die zu breiten Schultern und zu schweren Brüste. Das lange schwarze Haar – mit dem war sie zufrieden – hatte sie im Nacken mit einem blau-weißen Scrunchie zusammengebunden.

Sie setzte ein Lächeln auf und betrat das, was früher einmal ein Wintergarten gewesen war. Deckenhohe Fenster und eine antike französische Tür nahmen die Seite zum Garten hin ein, der nun winterbraun war. Dahinter lag die Front Street mit ihren Häusern aus Backstein und Schindelholz. In der Mitte des Raums stand ein langer Eichentisch, an dem die Mitglieder des Gemeindesrats saßen, einschließlich Winonas Vater, der zwar nicht dazugehörte, aber eingeladen war.

Winona setzte sich auf ihren üblichen Platz am Kopfende und fragte: »Was kann ich für Sie tun?«

Ken Otter, der Zahnarzt des Orts, lächelte so breit, dass man seine makellosen Zähne sah. Das war sein Markenzeichen und, wie er sagte, kostenlose Werbung. »Wir möchten über das Reservat sprechen.«

Schon wieder das Reservat. »Wie ich Ihnen schon erklärt habe, haben wir keine Möglichkeit, das Projekt zu verhindern. Ich sehe da – «

»Die wollen ein Casino errichten«, warf Myrtle Michaelian ein und errötete allein bei dem Gedanken. »Und als Nächstes gibt es dann Prostituierte. Die Indianer sind – «

»Halt!« Winona ließ ihren Blick in die Runde wandern, sah jeden Einzelnen einen Moment lang an. »Zunächst einmal sind es Native Americans, und wir haben keine rechtliche Grundlage dafür, sie am Bau dieses Casinos zu hindern. Wenn Sie dagegen gerichtlich vorgehen, verlieren Sie nur Zeit und Geld.«

Es ging noch eine Weile hin und her, doch die Vorstellung, bei einem Gerichtsverfahren das Nachsehen zu haben, hatte den Gemeinderatsmitgliedern den Wind aus den Segeln genommen. Die Diskussion verlief sich, und schließlich standen sie auf, bedankten sich bei Winona und verabschiedeten sich.

»Dad?«, sagte Winona, »Hast du noch eine Minute?«

»In einer Dreiviertelstunde muss ich in Shelton sein.«

»Es dauert nicht lange.«

Er nickte kurz, ruckte eigentlich nur mit dem Kinn, und verschränkte die Arme vor der Brust, während die Ratsmitglieder den Raum verließen. Winona setzte sich und öffnete die Sammelmappe. Als sie die Seiten überflog, konnte sie nicht umhin, einen Anflug von Stolz zu empfinden. Ihr Plan war hieb- und stichfest.

»Es geht um Water’s Edge«, begann sie und hob den Blick. Sie bat ihren Vater nicht, sich wieder zu setzen, es wäre sinnlos. Henry Grey setzte sich wann und wohin er wollte. Punkt. Jeder, der sich einmischte, würde den Kürzeren ziehen.

Dad knurrte etwas. Vielleicht war es ein Wort, vielleicht nur ein Laut.

»Ich weiß, dass ihr knapp bei Kasse seid«, fuhr Winona fort. »Trotzdem müssen auf der Ranch eine ganze Reihe an Ausbesserungsarbeiten ausgeführt werden. Zuallererst die Zäune, ebenso der Schuppen. Der Parkbereich muss planiert und bekiest werden, wenn man dort nicht im Schlamm versinken will. Von der Steuerbelastung will ich gar nicht erst anfangen.« Sie schob ihrem Vater den Grundrissplan zu. »Deshalb folgender Vorschlag: Zur Straße hin könnten wir vier Hektar verkaufen – Bill Deacon würde dir dafür fünfundfünfzigtausend geben. Oder wir machen daraus vier Grundstücke von je einem Hektar und verdoppeln den Preis. So oder so hättest du genügend Geld, um in den nächsten Jahren über die Runden zu kommen. Ich meine, du musst es schließlich leid sein, jeden Tag von morgens bis abends Pferde zu beschlagen.« Sie lächelte ihren Vater an. »Perfekt, oder? Das Land, das du verkaufst, wird dir kaum auffallen, geschweige denn fehlen und – «

Ihr Vater verließ den Besprechungsraum und knallte die Tür hinter sich zu.

Winona zuckte zusammen. Warum bloß hatte sie sich der Hoffnung hingegeben, zu ihm durchzudringen? Wieder einmal. Sie starrte auf die geschlossene Tür, schüttelte den Kopf und fragte sich, warum eine intelligente Frau wie sie, immer wieder in denselben Haufen Dung trat und jedes Mal erwartete, dass er bereits getrocknet war. Es war unsinnig, noch immer nach der Anerkennung ihres Vaters zu streben.

»Du bist so dumm«, murmelte sie. »Ein ganz erbärmlicher Fall.«

Das laute Summen der Gegensprechanlage riss sie aus ihren Gedanken.

»Luke Connelly ist auf Leitung eins, Winona.«

Sie drückte die Antworttaste. »Luke Connelly hast du gesagt?«

»Ja, auf Leitung eins.«

Winonas atmete tief durch. Dann meldete sie sich.

»Hi, Win, Luke Connelly hier. Erinnerst du dich an mich?«

»Natürlich erinnere ich mich an dich«, sagte Winona. »Wie ist Montana?«

»Kalt und verschneit, aber da bin ich nicht. Ich bin in Oyster Shores, in unserem alten Haus, und würde dich gern sehen.«

Winona schluckte. »Wirklich?«

»Man sagt, dass du die beste Anwältin im Ort bist, was mich nicht wundert. Ich überlege, fünfzig Prozent von Dr. Moormans Tierarztpraxis zu übernehmen und würde mit dir gern über das Juristische sprechen. Wäre das machbar?«

»Ach so, du brauchst einen Anwalt.« Winona befahl sich, nicht enttäuscht zu sein. »Klar.«

»Kannst du morgen rüberkommen? Ich stecke knietief in Arbeit, die letzten Mieter haben hier einen Saustall hinterlassen. Was meinst du? Wir können ein Bier trinken. Wie in alten Zeiten.«

»Okay. Passt dir vier Uhr?«

»Perfekt. Und, Win? Ich kann’s kaum erwarten, dich wiederzusehen.«

Winona legte den Hörer auf – langsam, als wäre die Luft zähflüssig geworden und würde ihre Bewegungen erschweren. Ich kann’s kaum erwarten, dich wiederzusehen. Sie verließ den Besprechungsraum. Im Empfangsbereich saß Lisa an einem antiken Schreibtisch und tippte auf ihrer großen grünen elektrischen Schreibmaschine.

»Ich bin mal kurz weg«, sagte Winona. »Ein Notfall. In einer Stunde bin ich wieder da.«

»Dann verschiebe ich den Termin mit Ursula.«

»Danke.«

Winona verließ ihre ruhige Kanzlei und lief den Bürgersteig hinunter, zwei Häuserblocks weiter bis zu dem hübschen, tadellos gepflegten Backsteinhaus ihrer Schwester. Sie öffnete das kleine Holztor zu Auroras Garten und klopfte an die Hintertür.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis Aurora öffnete, einen gehetzten Ausdruck im Gesicht. Auf jeder Hüfte saß einer der vierjährigen Zwillinge – ein Junge und ein Mädchen. »Du hast Vivi Ann knapp verpasst«, sagte sie. »Sie hat sich von mir dreihundert Dollar Startgeld fürs Rodeo geliehen und behauptet, es handele sich um eine Investition.«

»Hat sie dir dabei ins Gesicht gesehen?«

Aurora lächelte. »Du weißt, wie Vivi ist. Glaubt immer an das Gute.«

Winona verdrehte die Augen, doch sie beide wussten, dass Aurora recht hatte. Ihre Schwester stand im Gegensatz zu ihren Mitmenschen stets auf der Sonnenseite des Lebens. »Fährt sie nach Oregon?«

»Sie ist eben los, ja. Ich hoffe, ihre Klapperkiste schafft es.«

»Und falls die Karre unterwegs den Geist aufgibt, steht Tom Cruise am Straßenrand, um ihr zu helfen.« Winona schob sich an ihrer Schwester vorbei in die kleine, vollgestopfte Waschküche, in der sich auf jeder Fläche zusammengelegte Wäsche türmte. »Können wir zur Abwechslung mal über mich sprechen?«

»Kommt, Kinder«, sagte Aurora hinter ihr. »Tante Winona ist nicht gut drauf. Am besten, ihr bringt euch in Sicherheit, bevor sie explodiert.«

»Sehr witzig.«

Aurora trug Ricky und Janie nach oben, legte sie hin oder lud sie vor dem Fernseher ab, oder was auch immer Mütter am späten Nachmittag mit vierjährigen Zwillingen machten. Wenig später war sie wieder unten. »Also, worum geht’s?«, fragte sie. Sie trug enge schwarze Jeans, Penny Loafers und eine weit geschnittene Strickjacke. Das lange dunkle Haar hatte sie zu einem französischen Zopf geflochten. Der Pony hing ihr wie ein kleiner Vorhang in die Stirn.

Jetzt, da Aurora sie so direkt fragte, widerstrebte es Winona mit einem Mal, ihr den Grund ihres spontanen Besuchs zu gestehen. Um Zeit zu gewinnen, sagte sie: »Ich habe Dad vorgeschlagen, die vier Hektar an der Straße zu verkaufen, entweder als Ganzes oder in vier kleinere Grundstücke unterteilt.«

»Deine Lernkurve geht gegen Null.«

»Water’s Edge ist auf dem absteigenden Ast. Warum sonst sollte Vivi Ann sich Startgeld für ein Rodeo leihen müssen? Hast du nicht gesehen, wie heruntergewirtschaftet alles aussieht?«

Aurora setzte sich auf das neue graulilafarbene Sofa. »Du kannst von Dad nicht erwarten, dass er Land verkauft. Eher verkauft er sein Sperma.«

»Es handelt sich um vier Hektar, die kaum auffallen würden. Und Dad hätte eine Zeit lang finanzielle Sicherheit.«

Aurora lehnte sich zurück und trommelte mit ihren langen rot lackierten Fingernägeln auf den glänzenden Mahagoni-Beistelltisch. »Bevor du Dad solche Vorschläge machst, solltest du lieber mit Vivi oder mir sprechen.«

»Ich – «

»Ich weiß, du hältst dich für klüger und glaubst, dich um alles kümmern zu müssen, weil du die älteste Schwester bist. Das Problem ist nur, dass du, wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, den Wald vor lauter Bäumen nicht siehst.«

»Ich wollte bloß helfen.« Winona setzte sich auf den Rand des lachsfarbenen Kaminofens, nur, um sich kurz darauf zu erheben und ans Fenster zu treten. Ihr Blick glitt über den kinderfreundlichen Garten ihrer Schwester und zu den dahinterliegenden Häusern.

»Warum bist du so unruhig?«, fragte Aurora. »So warst du nicht mehr, seit Tony Gibson ein Wochenende mit dir verbringen wollte.«

»Wir hatten einander geschworen, das nicht mehr zu erwähnen.«

»Du hast dir das geschworen. Ich sehe ihn noch im Damenschlüpfer vor mir.«

Winona hielt es nicht mehr aus. »Luke Connelly hat mich vorhin angerufen«, platzte es aus ihr heraus.

»Wow! Eine Stimme aus der Vergangenheit. Wollte er nicht Tiermedizin studieren?«

Winona zuckte mit den Schultern. »Jetzt ist er wieder da und spielt mit dem Gedanken, sich in Dr. Moormans Praxis einzukaufen. Ich soll mir den Vertragsentwurf anschauen.«

»Dann sucht er nur deinen professionellen Rat?«

»Das hat er gesagt, ja.« Winona holte tief Luft und wandte sich um. »Und dass er sich darauf freut, mich wiederzusehen.«

»Weiß er, dass du mal in ihn verschossen warst?«

Verschossen. Ein schwaches Wort für das, was Winona damals empfunden hatte. Doch das behielt sie für sich. »Morgen um vier treffe ich mich mit ihm. Meinst du, du könntest mir helfen, gut auszusehen? Eine Mammutaufgabe, das ist mir klar, aber – «

»Selbstverständlich«, sagte Aurora ernst.

»Was ist los?«, fragte Winona. »Warum siehst du mich so komisch an?«

»Ich sage dazu nichts. Oder doch, lass mich dich etwas fragen. Es geht um Luke, oder? Nur um ihn.«

»Was soll das heißen?«

»Dad war von jeher auf das Land der Connellys aus. Und sag jetzt nicht, das wäre dir neu. Außerdem mag er Luke.«

»Glaubst du, ich treffe mich mit jemandem, um Dads Anerkennung zu gewinnen?

»Manchmal denke ich, dafür würdest du alles tun.«

Winona zwang sich zu einem Lachen, doch es klang nicht sehr überzeugend. Der Gedanke kam ihr bekannt vor. Wie weit würde sie gehen, um von ihrem Vater anerkannt zu werden? »Es ist witzlos, weiter darüber zu reden. Luke interessiert sich nicht für dicke Frauen. Hat er früher schon nicht getan.«

Aurora sah sie bekümmert an. »Weißt du, was mich an dir am meisten erstaunt, Win?«

»Meine Intelligenz?«

»Dass du nicht weißt, wie attraktiv du bist.«

»Sagt die Frau, die Kleidergröße sechsunddreißig trägt.« Winona stieß sich von der Fensterbank ab. »Kannst du morgen um drei bei mir sein?«

»Kein Problem.«

»Noch etwas. Bitte erzähl niemandem von dem Treffen. Insbesondere Vivi Ann nicht. Meine dumme Schwärmerei für Luke ist Geschichte. Ich möchte nicht, dass jemand auf falsche Gedanken kommt. Wahrscheinlich ist er inzwischen verheiratet und hat drei Kinder.«

»Deine Geheimnisse waren bei mir schon immer gut aufgehoben, Win.«

*

Winona beäugte sich in dem großen Spiegel im Schlafzimmer. Die derzeitige Mode war nichts für sie. Sie hatte nicht die Figur für Schulterpolster, schmalgeschnittene Jeans mit hohem Bund und Cowboystiefel.

Aurora hatte ihr Bestes gegeben, und dafür war Winona ihrer Schwester dankbar. Doch manche Kraftanstrengungen waren von vornherein zum Scheitern verurteilt, und sie schlank aussehen zu lassen, gehörte dazu. Sie schleuderte die Stiefel von den Füßen, fühlte eine gewisse Genugtuung, als sie gegen die Wand knallten, und schlüpfte in bequeme, flache Schuhe.

Wahrscheinlich denkt er, seit er weggezogen ist, habe ich ununterbrochen gegessen.

Auf dem Weg zu ihrem Auto und auf der gesamten Fahrt durch den Ort rief sich Winona in Erinnerung, dass sie zu einem Geschäftstreffen unterwegs war, mit einem Mann, den sie früher gekannt hatte, jetzt aber nicht mehr. Keinesfalls durfte sie Vergangenes auf die Gegenwart übertragen. Zumal aus ihrer Schwärmerei nie etwas Ernstes geworden war, und ihre Beziehung keinen Bestand gehabt hatte.

Sie fuhr am Ufer entlang, vorbei an den Touristenläden, die den Hood Canal säumten und bog am Ortsende nach links ab. Hier verlief die Grundstücksgrenze von Water’s Edge. Sie kam nicht umhin, zu bemerken, dass der Zaun unmöglich aussah, und musste wieder an das Treffen mit ihrem Vater denken. Dann war sie auf dem Highway, fuhr einen halben Kilometer südlich und erreichte kurz darauf das Land der Connellys, das an das ihres Vaters grenzte. Allerdings hatte Lukes Familie das Land seit Jahren brachliegen lassen. Das struppige Gras stand hoch, junge Erlen hatten sich wie Unkraut ausgebreitet. Alles wirkte vernachlässigt. Das L-förmige Ranchhaus, das Anfang der 1970er Jahre errichtet worden war, brauchte einen neuen Anstrich, die Sträucher an den Seiten waren wild gewuchert, Wacholderzweige stachen in den Rhododendron, der zwischen den Azaleen gewachsen war.

Winona parkte ihren Wagen neben Lukes schwerem, doppelt bereiften Pickup-Truck und stellte den Motor ab. Er will nur über den Vertrag reden. Vielleicht findet er auch, dass es schön sei, dass man sich noch mal sieht. Und dann stellt er dir Frau und Kinder vor. Sie nahm einen tiefen Atemzug und stieg aus dem Wagen.

Das Gras auf dem Weg zum Haus war braun und verschlammt. Winona hinterließ Fußspuren, die sich sogleich wieder mit schmutzigem Wasser füllten.

Bevor sie an der Haustür klopfte, fuhr sie sich mit den Fingern durch die Haare, die Aurora sorgfältig gelockt und mit Haarspray fixiert hatte.

Dann stand Luke vor ihr – und augenblicklich wusste Winona, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

Bereits in der Highschool war er hochgewachsen gewesen, damals jedoch noch schlaksig und etwas unbeholfen. Davon war nichts mehr zu erkennen. Inzwischen hatte er breite Schultern und schmale Hüften – er ging offenbar ins Fitnessstudio. Sein brünettes Haar war voll und bildete einen reizvollen Kontrast zu den grünen Augen. »Win«, sagte er.

Und dann schenkte er ihr dieses Lächeln, bei dem ihr Herz schon damals aus dem Takt gekommen war.

»L-Luke«, stotterte sie. »Ich wollte den Vertrag abholen.«

Er zog sie in die Arme, drückte sie an sich. Wie lange es her war, dass Winona auf diese Weise umarmt worden war.

»Meinst du, ich lasse meine ehemals beste Schulfreundin einen Vertrag abholen und einfach wieder gehen?«

Er nahm Winonas Hand und führte sie ins Wohnzimmer, wo sie sich wie in einer Zeitmaschine vorkam. Der Raum hatte sich kaum verändert: Da war der Strukturteppich in dunklem Orange unter ihren Füßen, an der Wand das Sofa mit dem Karo in Braun, Gold und Orange, und auf den Beistelltischchen standen noch immer dieselben bernsteinfarbenen Glasschirmlampen, die man mit Perlenschnüren ein- und ausschaltete.

»Fehlt nur noch die Schwarzlichtlampe«, sagte Luke. Er ging in die offene Küche und nahm zwei Dosen Bier aus dem avocadogrünen Kühlschrank. »Überall im Haus riecht es. Die Mieter müssen geraucht haben. Sollen wir uns raussetzen?«

»Wäre nicht das erste Mal.« Sie folgte Luke auf die Beton-Veranda, die sich an der Rückseite des Hauses entlangzog. Dort rostete ein Grill vor sich hin, und die Geranien in den Blumenkästen am Geländer waren vertrocknet. Doch nichts davon vermochte die Aussicht zu beeinträchtigen. Ebenso wie in Water’s Edge blickte man auf das ruhige, nun silbrig schimmernde Wasser des Fjords und auf die Olympic Mountains, die sich am anderen Ufer in majestätischer Schönheit erhoben. Dicht zusammenstehende Zedern markierten die Grenze zu Water’s Edge. Ein Sichtschutz, der absolute Privatsphäre garantieren sollte.

Sie ließen sich auf der Hollywoodschaukel nieder, einem Platz, den Winona einst geliebt hatte wie keinen anderen.

»Am besten wir fangen ganz vorne an«, sagte Luke, öffnete sein Bier, lehnte sich zurück und nahm einen Schluck. »Wir sind nach Montana gezogen, und ich habe auf der Washington State Tiermedizin studiert. Mich auf große Tiere spezialisiert. Wo bist du zur Uni gegangen?«

»University of Washington.«

»Ich dachte, du wolltest die Welt sehen. Dass du hierher zurückgekommen bist, hat mich gewundert.«

»Ich wurde zu Hause gebraucht. Was ist mit dir? Warst du in Australien?«

»Nein. Ich musste meinen Studienkredit abbezahlen.«

»Der Klassiker.« Winona lachte. Als ihr Lachen verklungen war, herrschte Stille. Schließlich fragte sie: »Hast du je geheiratet?«

»Nein. Du?«

»Nein.«

»Hast du denn je jemanden geliebt?«

Winona konnte nicht anders, sie musste sich zu Luke umwenden. »Nein. Du?«

Er schüttelte den Kopf. »Hab nie die Richtige gefunden.«

Winona lehnte sich zurück und blickte auf die Landschaft. »Hat deine Mutter sich nicht gewünscht, dass du in Montana bleibst?«

»Nicht unbedingt. Meine Schwester Caroline hat vier Kinder und keinen Ehemann. Damit hat Mom genug zu tun. Und ich war rastlos geworden, das hat sie gemerkt.«

»Rastlos?«

»Irgendwann muss man sich auf die Suche nach dem eigenen Leben machen.« Luke nahm noch einen Schluck Bier. »Wie geht es deinen Schwestern?«

»Gut. Aurora hat vor ein paar Jahren einen Mann namens Richard kennengelernt. Er ist Arzt. Die beiden haben vier Jahre alte Zwillinge. Ricky und Janie. Ich denke, sie ist zufrieden, obwohl man das bei Aurora nie so genau sagen kann. Sie will in ihrer heilen Welt leben. Vielleicht hat sie Sorgen, aber wenn, spricht sie nicht darüber. Vivi Ann ist noch die Alte. Spontan. Eigensinnig. Erst handeln, dann denken, lautet ihre Devise.

»Im Vergleich zu dir denkt wohl niemand genug.«

Wieder musste Winona lachen. »Was soll ich sagen, ich bin eben die Klügste.«

Danach schwiegen sie, blickten auf die Berge, tranken Bier.

Nach einer Weile sagte Luke leise: »Ich glaube, gestern habe ich Vivi Ann an der Tankstelle gesehen.«

Da war etwas in seiner Stimme, ein kleines Stocken, das Winona aufhorchen ließ. »Sie war auf dem Weg nach Oregon. Vivi Ann nimmt an den Wochenenden an Rodeos teil, verdient dabei ganz ordentlich und amüsiert sich nebenbei mit gut aussehenden Cowboys.«

»Kein Wunder«, sagte Luke. »Aus deiner Schwester ist eine Schönheit geworden.«

Ihr Leben lang hatte Winona diesen Satz von Männern gehört; und meist folgte dann die Frage: Glaubst du, sie würde mit mir ausgehen? Sie spürte, wie sie sich versteifte und die Fühler einzog, die sie törichterweise ausgestreckt hatte. »Stell dich hinten an«, murmelte sie kaum hörbar.

Was hatte sie sich bloß gedacht? Luke war ein äußerst attraktiver Mann, er kam für sie nicht infrage. Auch nur daran zu denken war gefährlich, erst recht, nachdem er gestern ihre Schwester gesehen hatte.

»Schön, wieder hier zu sein.« Luke stieß Winona mit der Schulter an, so, wie er es früher getan hatte, als sie Kinder gewesen waren – beste Freunde gewesen waren. Und plötzlich war ihre Vorsicht vergessen, sie verblasste und verging.

»Ja«, erwiderte sie und wagte es nicht, ihn anzusehen. »Schön, dass du wieder zu Hause bist.«

Kapitel 2

Den ganzen nächsten Tag redete Winona sich ein, dass Luke nicht anrufen würde, während sie sehnsüchtig das Telefon anschaute, und jedes Mal zusammenfuhr, wenn es klingelte.

Ein Tag.

Mehr Zeit war nicht vergangen, seit sie mit ihrem ehemals besten Freund auf der Hollywoodschaukel gesessen und zugesehen hatte, wie es Abend wurde.

Nur ein Tag.

Natürlich würde er jetzt noch nicht anrufen. Oder vielleicht überhaupt nicht mehr. Immerhin war sie wirklich dick. Warum sollte ein so gut aussehender Mann wie Luke Connelly mit ihr ausgehen wollen?

Konzentrier dich, Winona!

Sie überflog den Vertragsentwurf, den Luke ihr überlassen hatte und die umfangreichen Notizen, die sie sich dazu gemacht hatte. Es gab Dinge, über die sie mit Luke sprechen, Vorsichtsmaßnahmen, auf die sie ihn hinweisen musste. Sie hatte außerdem nicht nur die Vertragsbedingungen fachlich bewertet, sondern sich ebenfalls Gedanken über Lukes Partnerschaft mit Woody Moorman gemacht. Der Mann war ein stadtbekannter Trinker und hatte in der Vergangenheit viele Kunden verloren.

Winona schob den Vertrag und ihre Notizen in die Mappe und widmete sich den Beweisfragen eines anderen Falls. Um fünf Uhr verließ sie die Kanzlei und ging nach oben.

Normalerweise verfolgte sie die Abend-Nachrichten, doch an diesem Abend war sie rastlos. Das Warten auf Lukes Anruf machte sie kribbelig. Als sie es nicht mehr aushielt, zog sie sich für einen Spaziergang an – Jeans, weißer Rollkragenpullover, lange schwarze Daunenweste.

Es war ein selten schöner Januarabend, mit einem wolkenlosen, pflaumenblauen Himmel. Winona beschloss, bis Water’s Edge zu laufen. Es war nur eine knappe Meile, aber vielleicht würde sie in der kalten Luft einen klaren Kopf bekommen. Und die Bewegung würde ihr guttun. Zumindest war es besser, als allein zu Hause zu hocken und fernzusehen.

Wie viele Küstenorte in Washington war auch Oyster Shores T-förmig angelegt. Das Ende der Main Street mündete in eine Querstraße, die am Hood Canal entlanglief, und auf der die Touristenläden lagen – der Kajakverleih, die Eisdiele, der Fischimbiss, die Souvenirläden. Hier, zwischen dem Hood Canal und dem Highway, hatte Winona einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht. In der Bücherei hatte sie sich Mädchenbücher ausgeliehen, Nancy Drew und Laura Ingalls Wilder, im Grey Park Fuß- und Softball spielen gelernt. Und an warmen Sommerabenden hatten sie und ihre Schwestern sich im King’s Market Knallbrause und Cola light gekauft.

Zahllose Male hatte Winona am Shore Drive gestanden und die Aussicht bewundert, ohne sie jemals leid zu werden. Und so blieb sie auch dieses Mal stehen und ließ den Anblick des Hood Canal auf sich wirken. In der Regel handelte es sich bei einem Kanal um eine schmale, ruhige Wasserstraße, auf der man mit Flachbooten fahren konnte. Der Hood Canal hingegen war ein natürlicher Fjord, ein Seitenarm des Puget Sound, der wilden, weitverzweigten, fünfzig Meilen lange Meeresbucht der Salischen See.

Winona wandte sich nach links und ging in Richtung Ortsausgang. Vor dem Waves, einem Restaurant im viktorianischen Stil, gingen die Straßenlaternen an, und auf dem dunklen Gehweg entstanden goldgelbe Lichtpfützen. Jetzt, in der Winterzeit, gab es auf dem Canal kaum Schiffsverkehr und im Ort nur wenige Touristen. Die Straße machte einen ruhigen, fast verlassenen Eindruck. An einem Bed & Breakfast hing der Windsack in Form einer Nixe schlaff herab. Im Sommer wimmelte es hier von Besuchern, die an den Anlegestellen zu den Ausflugsschiffen lange Warteschlangen bildeten und mit ihren Autos die Parkplätze in Beschlag nahmen. Nun aber gehörte Oyster Shores den knapp eintausenddreihundert Einheimischen.

An der Einfahrt zur Ranch hing ein Holzschild, das Winonas Urgroßvater 1881 geschnitzt und mit dem Namen der Ranch versehen hatte. Winona folgte dem langen Feldweg zum Haus, vorbei an den mit schmutzigem Wasser gefüllten Gräben auf beiden Seiten. Dahinter erstreckte sich das Weideland. Leblose, schwarze Ahornblätter bedeckten den mit Schlaglöchern durchsetzten Weg.

Warum wollte ihr Vater nicht einsehen, dass sie ihm helfen konnte? Noch einmal ließ sie das letzte Treffen mit ihm Revue passieren – und dann entdeckte sie Lukes Truck.

Winona verharrte, blickte sich suchend um.

Dann sah sie ihn – zusammen mit ihrem Vater. Die beiden saßen auf der Veranda, unterhielten sich, als wären sie alte Freunde. Winona ging weiter, hörte, dass Luke über etwas, das ihr Vater gesagt hatte, lachte.

Sie sah ihren Vater lächeln – ein Anblick, der sie innehalten ließ – als hätte sich das Meer rot verfärbt oder der Mond grün.

»Hallo, ihr beiden.« Winona stieg die Stufen zur Veranda hinauf. Das alte Holz knarrte, und erinnerte sie daran, dass sie dick und die Treppe altersschwach war.

Luke legte einen Arm um ihre Hüfte und zog sie an sich. Als Winona sich von ihm löste, geriet sie aus dem Gleichgewicht, fing sich aber wieder.

»Ohne Winona wäre ich niemals Tierarzt geworden«, wandte Luke sich an Dad. »In der Highschool hat sie die Hälfte meiner Englischhausaufgaben gemacht.«

»O ja, Winona ist gescheit. Letztens hatte sie die glänzende Idee, das Land unserer Familie zu verkaufen.«

Winona konnte nicht fassen, dass er das Thema vor Luke aufgriff. »Ich habe versucht, für deine Zukunft zu sorgen.«

Dad ignorierte sie und sprach weiter mit Luke. »Als Abelard Grey Wales verließ, hatte er vierzehn Dollar in der Tasche.«

»Dad, bitte, kein Mensch will diese alte Geschichte hören …«

»Elijah Grey hat im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren. Als er zurückkam, war seine Frau tot, sein Sohn schwer krank, und das Land zu feucht, um etwas anzubauen. Trotzdem hat er seinen Besitz durch die Große Depression gebracht und seinem Sohn jeden verdammten Hektar vermacht.«

»Das waren anderen Zeiten, Dad. Das wissen wir alle. Uns musst du nicht das ganze Land vererben. Das interessiert uns nicht.«

»Ich frage mich, woher ich wusste, dass du das sagen würdest.«

»Entschuldige, so habe ich es nicht gemeint. Uns interessiert dein Wohlergehen. Darauf kommt es an.«

»Vivi und ich lieben das Land. Das verstehst du nicht. Du hast es einfach nicht in dir.«

Er grenzte sie aus, ohne mit der Wimper zu zucken.

Das Schweigen, das daraufhin entstand, war unangenehm.

»Ich finde, alles sieht großartig aus, Henry«, sagte Luke schließlich. »So, wie ich es in Erinnerung hatte. Vielen Dank auch, dass du unseren Zaun instand gehalten hast. Dafür würde ich dir gern etwas zahlen. Eine Schuld, die bei Mom und mir leider in Vergessenheit geraten ist.«

Dad schüttelte den Kopf. »Nicht einen Cent würde ich von dir nehmen, mein Sohn. Das ist gute Nachbarschaft.«

Mein Sohn.

Zu hören, wie ihr Vater Luke so mir nichts, dir nichts in die Familie aufnahm, versetzte Winona einen leichten Stich, als hätte sie im warmen Abwaschwasser unbemerkt in eine Messerschneide gefasst.

»Außerdem ist es Vivi Anns Verdienst«, fuhr ihr Vater fort. »Zusammen mit den Arbeitern, die sie auftreibt, hält sie hier alles in Schuss. Dieses Land ist ihr Ein und Alles.« Bei den letzten Worten sah er Winona an.

»Ich habe gehört, dass Vivi Ann sich im Fassrennen hervortut«, sagte Luke.

»Sie ist die Beste im ganzen Bundesstaat«, entgegnete Dad.

»Kein Wunder. Wenn ich sie früher gesehen habe, dann nur auf einem Pony oder dem Pferd ihrer Mutter. Sie ritt wie der Wind.«

»Ja«, sagte Dad. »Sie und Clem sind unzertrennlich.«

Winona schwieg, während ihr Vater sich weiter über Vivi Ann ausließ. Was für eine großartige Reiterin sie war, wie jedermann kam und ihren fachlichen Rat suchte, dass die Männer bei ihr Schlange standen, aber keiner bisher der Richtige gewesen war.

Irgendwann wurde es Winona zu viel. Sie unterbrach ihren Vater und sagte: »Ich mache mich wieder auf den Weg. Wollte ohnehin nur kurz vorbeischauen.«

»Nicht doch.« Luke griff nach ihrem Arm. »Wie wär’s, wenn ich dich und deinen Vater zum Essen einlade?«

»Geht leider nicht«, entgegnete Dad. »Bin schon mit ein paar Kumpels im Eagles verabredet. Trotzdem danke.«

Luke sah Winona an. »Wie sieht’s bei dir aus?«

Keine falschen Hoffnungen. Er hat auch Dad eingeladen. Diese beiden Sätze im Kopf, sah sie Luke an, und sofort wurde das, was sie soeben gedacht hatte, von einem unglückseligen Gefühl der Hoffnung verdrängt.

»Ja, gern.«

»Wohin möchtest du?«, fragte er.

»Warum nicht ins Waves?«

»Dann nichts wie los.« Luke stand auf und schüttelte Dads Hand. »Noch mal danke für alles, Henry. Und vergiss mein Angebot nicht: Falls du mein Weideland brauchst, musst du es nur sagen.«

Winonas Vater nickte. Dann ging er ins Haus und warf die Tür ins Schloss.

»Arschloch«, murmelte Winona.

Luke grinste. »Früher hast du ihn Blödmann genannt.«

»Ich habe meinen Wortschatz erweitert. Wenn du willst, kann ich noch ein paar Ausdrücke zum Besten geben.«

Sie durchquerten den Vorgarten und stiegen in Lukes Truck. Als er den Motor anließ, sprang die Stereoanlage an und »Stairway to Heaven« erschallte.

Winona wandte sich zu Luke um und war sicher, auch er erinnerte sich an den Sadie Hawkins Ball, auf dem sie sich unter einer glitzernden Discokugel im Paartanz versucht hatten.

»Wir haben es den anderen gezeigt«, sagte Luke. »Haben die ganze angesagte Clique in den Schatten gestellt.«

Auf Winonas Lippen breitete sich ein Lächeln aus. In der Aufregung über seine Rückkehr hatte sie vergessen, wie sie im ersten Jahr nach dem Tod ihrer Mutter zusammengefunden hatten – sie, die stille, dickliche und verkopfte Fünfzehnjährige und er, der tollpatschige, bleichgesichtige Junge, dessen Vater zehn Jahre zuvor bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen war. Mit der Zeit wird es leichter. Das war der erste Satz von ihm gewesen, den sie bewusst wahrgenommen hatte. Bis dahin war er nur der Sohn der besten Freundin ihrer Mutter gewesen.

Zwei Jahre lang hatte er immer die richtigen Worte gefunden. Danach zog die Familie fort, ohne dass er sie auch nur ein einziges Mal geküsst hatte. Er rief nie an. Eine Zeit lang schrieben sie einander, dann schlief ihre Brieffreundschaft ein.

Luke parkte den Wagen am Straßenrand vor dem Waves. Eine Außenleuchte am Eingang erhellte den Vorgarten voller Gartenzwerge. Im Sommer wirkten sie putzig, nun jedoch eher gruselig. Sie betraten das Restaurant und Winona blickte sich um. Offenbar waren sie die einzigen Gäste unter Sechzig. Sie wurden zu einem Ecktisch geführt, mit Blick auf den Canal. Unter ihnen hielt ein verwittertes hölzernes Wehr das Wasser des Fjords zurück, der graue Sandstrand war übersät mit hellen Austernschalen und Tangbüscheln. Auf dem Steg des Restaurants lagen Robben neben- und übereinander.

Als ihre Getränke gebracht wurden – für Luke ein Bier, für Winona eine Margarita –, prosteten sie einander zu.

»Auf alte Freunde«, sagte Luke.

»Auf alte Freunde.«

Dann fragte er: »Hattest du schon Gelegenheit, dir den Vertrag anzusehen?«

Winona nickte. »Hatte ich. Und als deine Anwältin kann ich dir sagen, dass alles gut aussieht. An einigen Stellen würde ich etwas ändern, das sind aber nur Kleinigkeiten.« Sie senkte ihre Stimme. »Aber als Freundin möchte ich dich darauf hinweisen, dass Moorman nicht den besten Ruf hat. Seit Jahren hat er mit einem ernsthaften Alkoholproblem zu kämpfen – nein, ›kämpfen‹ ist das falsche Wort, er hat ganz aufgegeben. Für eine Weile hatte er einen jungen Tierarzt als Partner, den er, Gerüchten zufolge, gnadenlos ausgebeutet hat.«

»Ach, wirklich?«

»Wenn du mich fragst, wäre es für dich besser, deine eigene Praxis zu eröffnen. Um Kundschaft müsstest du dich nicht sorgen. Du könntest in deinem Haus Büroräume einrichten und den Stall mit den vier Boxen auf Vordermann bringen. In ein paar Jahren wärst du vielleicht schon in der Lage, etwas Neues zu bauen.«

Luke lehnte sich zurück. »Wie ernüchternd.«

»Tut mir leid, du wolltest meine Meinung hören.«

»Nichts da, das muss dir nicht leidtun. Ich liebe deinen klugen Kopf, habe ich schon immer getan. Auf dich kann man sich verlassen. Danke.«

Ab dem Wort »liebe« hörte Winona nichts mehr.

*

Vivi Ann saß auf Clem, vor ihr das Gatter. Gleich würde es sich öffnen, und sie wäre an der Reihe.

Sie gehörte zu den fünfzehn Frauen, die es in diese Runde geschafft hatten. Auch ihre Konkurrentinnen warteten, alle zu Pferd. Durch die Lautsprecher wurden die Zeiten der Qualifikationsrennen verkündet, von den schlechtesten zu den besten. Seit fast einer Woche war Vivi Ann nun in Oregon, auf dem bisher erfolgreichsten Rodeo ihres Lebens.

Sie beugte sich vor und streichelte den verschwitzten Nacken ihrer Stute. »Hey, mein Mädchen«, murmelte sie. »Bereit für den Sieg?«

Das Herz der Stute schlug wie wild. Clem war bereit.

Ihr Name wurde aufgerufen, das Gatter geöffnet. Adrenalin rauschte Vivi Ann durch die Adern – und dann existierte nichts mehr außer diesem Moment.

Sie zog ihren Cowboyhut tief in die Stirn. Clem machte einen Satz vorwärts, strebte auf das Gatter zu. Vivi Ann nahm die Zügel kürzer und hielt die Stute zurück, bis sie in der richtigen Position für das erste Fass waren.

Dann beugte sie sich vor, gab die Zügel frei, und Clem preschte los. Mit gesenkten Köpfen donnerten sie in die Arena, die Farben und Geräusche rings um Vivi Ann zerflossen. Sie konzentrierte sich auf die drei leuchtend gelben Fässer, die in dem kleeblattförmigen Parcours in Form eines Dreiecks angeordnet waren, und trieb Clem kräftig voran. Wie in Zeitlupe sah sie Clem das erste Fass umrunden, dann das zweite. Auch auf das dritte und letzte Fass flog die Stute zu, umkreiste es, fegte zum Ausgang. Vivi Ann warf einen Blick auf die Zeittafel und parierte Clem zu einem leichten Trab durch.

Ihre Zeit wurde angezeigt und gleichzeitig durch die Lautsprecher ausgerufen.

14,09 Sekunden.

Ein Ergebnis, das kaum zu unterbieten sein dürfte. Vivi Ann versuchte, auszurechnen, ob sie nun die Beste in der Durchschnittswertung war. Eine der ersten beiden Runden hatte sie gewonnen, und es gab nur wenige Frauen, die sie noch schlagen konnten, obwohl auch das nicht sehr wahrscheinlich war. Sie war gerade kurz davor gewesen, einen neuen Arenarekord aufzustellen.

»Super gemacht, Clem.« Vivi Ann tätschelte den Nacken des Pferds und saß ab. An ihrem Anhänger gab sie der Stute einen Eimer Wasser und in Melasse getränkten Hafer. Anschließend sattelte sie Clem ab und band sie fest.

Sie lief zu den Rängen. Dort saßen die Reiterinnen, die es nicht unter die ersten fünfzehn geschafft hatten. Pam. Red. Amy.

Holly Bruhn, die Inhaberin der Arena, rutschte zur Seite, um Vivi Ann Platz zu machen. »Guter Ritt«, sagte sie.

Vivi Ann strahlte. »Für eine alte Dame ist Clem ziemlich flott, nicht wahr?«

»Das kannst du laut sagen.« Holly langte in die Kühlbox neben sich und holte eine kalte Dose Bier heraus. »Hier. Du darfst aber nur trinken, wenn deine Zeit nicht unterboten wird.«

»Ha!« Vivi Ann setzte die Dose an.

Holly reichte ihr einen Flyer. Es war ein Faltblatt, wie Vivi Ann es schon hundertmal gesehen hatte. Darauf waren sämtliche Fassrennen verzeichnet, die in dieser Arena bis Jahresende durchgeführt werden würden. Neu war, dass alle am Wochenende stattfanden und es ein hohes Preisgeld für den Gewinner gab.

»Das ist unser Versuch, eine Winterserie zu starten«, sagte Holly. »Die neue Arena muss endlich Geld abwerfen. Wäre schön, wenn du mitmachen würdest. Vielleicht sagst du auch deinem Jugendclub Bescheid.«

Und da war sie, die Lösung ihrer Probleme, eine Idee, so bestechend und gleichzeitig so naheliegend, dass Vivi Ann nicht verstand, warum sie nicht früher darauf gekommen war. »Wie viele haben sich bisher angemeldet?«

»Etwa neunzig. Schau dir die Tabelle mit den Gebühren an. Es gibt auch Wettkämpfe für Jugendliche. Um dich für den großen Preis zu qualifizieren, musst du in vier der acht Rodeos in deiner Disziplin siegen. Du bist spät dazugekommen, also müsstest du an jeder der anstehenden Veranstaltungen teilnehmen.«

»Gibt es Preisgelder?«

Holly nickte. »Für jede Veranstaltung.«

»Was ist mit Rindertreiben und Lassowerfen?«

»Finden freitags statt. Wir fangen langsam an, die Arena ist noch unbekannt. Aber die Besucherzahlen steigen.«

Nach dem Gespräch hatte Vivi Ann kaum noch etwas anderes im Kopf als ihre Idee. Auch als sie am Nachmittag den Sattel und das Preisgeld entgegennahm, die sie gewonnen hatte, war sie mit den Gedanken bereits bei künftigen Rodeos und bedankte sich zerstreut. Und statt anschließend mit den anderen zum Line Dance zu gehen, verlud sie Clem in den Anhänger und machte sich auf den Weg nach Hause. Im Auto hörte sie Country-Musik, doch obwohl sie ihre Idee von allen Seiten beleuchtete und nach Schwachstellen suchte – sie fand keine. Endlich hatte sie eine Lösung für die Probleme der Ranch gefunden.

Sie hatte die Lösung gefunden. Bei dem Gedanken daran lächelte sie.

Oh, sie wusste, was die Leute von ihr hielten. Selbst für ihre Schwestern, die sie liebten, war sie bloß hübsch und konnte reiten.

Nun würde sie ihnen zeigen, dass mehr in ihr steckte.

Diese Vorstellung, diese Hoffnung, begleitete sie auf dem ganzen Rückweg von Oregon nach Washington. Als sie Samstagnacht in die Einfahrt zum Ranchhaus bog, hatte sie sich bereits die Worte zurechtgelegt, mit denen sie ihrem Vater und ihren Schwestern die Idee präsentieren würde.

Sie parkte den Truck, stieg aus und öffnete die Tür des Anhängers.

»Hey, Clemmie.« Sie klopfte der Stute auf das schwere Hinterteil. »Bist du auch so müde wie ich?«

Das Pferd stupste sie mit dem Kopf in die Seite und wieherte leise.

Vivi Ann befestigte den Führstrick an Clems Nylonhalfter und bugsierte das Pferd rückwärts aus dem Anhänger. »Heute geht es nicht mehr in den Stall.« Sie brachte Clem auf die Koppel, löste den Strick und gab ihr einen Klaps aufs Hinterteil. Die Stute galoppierte davon. Kurz darauf wälzte sie sich im Gras.

Vivi Ann beschloss, den Anhänger erst am nächsten Tag zu säubern. Auf dem Weg zum Haus stellte sie fest, dass die Tür des Pferdestalls offenstand.