True Tales 1: Tochter des Schnees - Veronika Rothe - E-Book

True Tales 1: Tochter des Schnees E-Book

Veronika Rothe

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Beschreibung

Eine außergewöhnliche Märchenadaption! **Über die Magie von Schnee und Eis** Seit Jahrhunderten umschließt ein magischer Bann das Winterreich und hält die junge Holle darin gefangen. Erst als Marie, ein Menschenmädchen, durch einen Zauber zu ihr gelangt, scheinen die Gesetze ihrer Welt nicht mehr zu gelten. Doch Marie ist alles andere als begeistert, von ihrem Verlobten getrennt worden zu sein. Um ihr Heimweh zu lindern, gewährt Holle ihr einen Blick auf ihre Liebsten. Womit Holle nicht rechnet, ist die Sehnsucht, die Maries unglaublich attraktiver Bruder bei ihr selbst auslöst. Sie weiß nicht, dass er bereits nach einem Weg in ihr Reich sucht – und dass er Holle für das Verschwinden seiner Schwester verantwortlich macht... Das Märchen von »Frau Holle« auf nie dagewesene Weise neu interpretiert!   //Dies ist ein Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.//   //Alle Bände der märchenhaften Reihe: -- True Tales 1: Tochter des Schnees -- True Tales 2: Zauber der Spiegel//

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Dark Diamonds

Jeder Roman ein Juwel.

Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.

Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.

Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.

Veronika Rothe

True Tales 1: Tochter des Schnees

**Über die Magie von Schnee und Eis** Seit Jahrhunderten umschließt ein magischer Bann das Winterreich und hält die junge Holle darin gefangen. Erst als Marie, ein Menschenmädchen, durch einen Zauber zu ihr gelangt, scheinen die Gesetze ihrer Welt nicht mehr zu gelten. Doch Marie ist alles andere als begeistert, von ihrem Verlobten getrennt worden zu sein. Um ihr Heimweh zu lindern, gewährt Holle ihr einen Blick auf ihre Liebsten. Womit Holle nicht rechnet, ist die Sehnsucht, die Maries unglaublich attraktiver Bruder bei ihr selbst auslöst. Sie weiß nicht, dass er bereits nach einem Weg in ihr Reich sucht – und dass er Holle für das Verschwinden seiner Schwester verantwortlich macht …

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Vita

Danksagung

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© privat

Veronika Rothe wurde 1990 im schönen Allgäu geboren. Nach einem Geschichtsstudium in Freiburg i.Br., Bamberg und Leipzig verschlug sie es zurück in den Süden, wo sie mit ihrer Familie lebt. Als Bloggerin ist sie in den Gefilden der romantischen und fantastischen Literatur schon lange zu Hause und ihre erste eigene Fantasygeschichte hat sie bereits im zarten Alter von neun Jahren verfasst. Seitdem ist auch die Liebe zum Schreiben ein fester Bestandteil ihres Lebens.

Für mein Sommerkind.

Weil du bei jedem einzelnen Wort unter meinem Herzen oder auf meinem Arm warst. Weil du so wundervoll bist und ich dich mehr liebe, als Worte jemals sagen könnten.

Prolog

Marie

Ich war nicht sonderlich erpicht darauf gewesen, dass mein Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde, aber nun war es eben passiert und ich konnte es nicht mehr rückgängig machen.

Dabei hätte ich nur besser aufpassen müssen! Ich hätte einfach meine Klappe nicht so weit aufreißen dürfen, dann säße ich jetzt bei meinem Bruder und meinem Verlobten – und nicht hier im Brunnen.

Aber nein, ich hatte ja behaupten müssen, dass ich beweisen würde, dass die Geschichten um die Frau im Brunnen nichts weiter als ein Mythos seien.

Nur wegen meiner Sturheit und meiner Neugier hatte ich mich an der Seilwinde in den tiefen Brunnenschacht hinuntergleiten lassen – und damit war mein Schicksal besiegelt gewesen. Denn leider war mein Plan nicht aufgegangen und hatte eine gewaltige Schwachstelle: Die Frau im Brunnen gab es wirklich. Holle lebte tatsächlich in einem Brunnen, dennoch war alles ganz anders, als ich gedacht hatte. Denn ihr Haus war nicht dunkel und düster, wie man uns als Kinder erzählt hatte. Sie war auch keine alte Hexe, die Spaß daran hatte, die Menschen zu quälen oder gar zu fressen, die in ihr Reich fielen.

All die Legenden erschienen plötzlich in einem völlig anderen Licht. Denn wenn die Geschichte von Frau Holle so komplett danebenlag, wie viel Wahrheit steckte dann noch in all den anderen? Holle war nämlich die liebenswürdigste, freundlichste und gütigste Person, die ich je kennenlernen durfte. Sie war in den letzten drei Monaten meine beste Freundin geworden und ich fühlte mich hier bei ihr unglaublich wohl. Es machte mir wahnsinnige Freude, jeden Tag die Betten auszuschütteln und ihr zu helfen, wo ich musste. Es war eine schöne Arbeit und so erfüllend, denn ich konnte tatsächlich den Schnee in die Welt bringen.

Durch ihren Zaubersee zuzusehen, wie sich die Kinder an der weißen Pracht erfreuten und mit strahlenden Gesichtern zu mir nach oben blickten – obwohl sie mich natürlich nicht sehen konnten –, machte mich einfach glücklich. Ja, ich vermisste meinen Bruder und vor allem meinen Verlobten Hannes. Sehr sogar. Ich machte mir jeden Tag Sorgen, weil die beiden womöglich dachten, ich wäre tot. Und trotzdem konnte ich nicht anders, als meine Zeit bei Holle wenigstens ein klein wenig zu genießen.

Ihre Welt hier war so friedlich. Alles war mit einer weißen Puderzuckerschicht überzogen, der Schnee glitzerte im Sonnenlicht – ohne dass eine Sonne am Himmel stehen würde, was ziemlich unheimlich war – und die große Lichtung, auf der Holles Haus stand, wurde von schneebedeckten Sträuchern eingerahmt. Ich fühlte mich dadurch wie in einer wunderschönen Schneekugel.

Doch ganz so friedlich, wie es auf den ersten Blick schien, war diese Welt wohl doch nicht, denn Holle hatte mich eindringlich gewarnt niemals zu den Bäumen jenseits ihrer Schneewelt zu gehen. Hinter den sicheren Grenzen ihres Reichs lauerten anscheinend größere Gefahren, als ich mir auch nur vorstellen konnte oder wollte. Deshalb hielt sich meine Motivation, Holles einzige Regel zu brechen, auch sehr in Grenzen. Davon abgesehen hätte es sowieso nichts genutzt, denn ich konnte die unsichtbare Grenze nicht überschreiten, selbst wenn ich es darauf angelegt hätte. Holle hatte mir einmal demonstriert, wie sinnlos das wäre. Sie hatte mir einen Stein in die Hand gedrückt und mich angewiesen ihn in den dunklen Wald zu werfen, der ihr Schneekugel-Idyll umgab. Doch der Stein war gegen einen nicht sichtbaren Widerstand geprallt, war kurz in ein grünes Licht getaucht worden und anschließend auf den Boden gefallen.

Niemand kam hier heraus, selbst Holle nicht – was ich mir unfassbar schrecklich vorstellte. Ich war immerhin nur auf Zeit hier drin gefangen, während sie vermutlich den Rest ihres Lebens hier fristen musste … Ich schauderte bei dem Gedanken.

Wenigstens war ihr Zuhause atemberaubend schön und Holle nicht völlig allein. In der einzigartigen Schneekugel-Atmosphäre sprangen Tiere rund um das Haus herum, die fast genauso aussahen wie die in meiner Welt. Nur dass hier allesamt ein weißes Fell besaßen, passend zur eisigen Pracht. Und sie waren unglaublich klug. Ich war mir absolut sicher, dass diese Tiere jedes einzelne Wort verstanden und dieselben Gefühle und Gedanken hatten wie wir Menschen.

Irgendwie schade, dass ich nur ein Jahr hierbleiben durfte – denn das war die Obergrenze, hatte Holle erklärt. Ein Jahr musste ich für sie arbeiten, dann konnte ich zurück in meine Welt. Ein Zauber lag auf allem hier, sodass ich nicht vorher gehen konnte, selbst wenn Holle gewollt hätte.

Anfangs hatte mich das zutiefst schockiert, ich hatte mich eingesperrt gefühlt und tagelang geweint.

Doch irgendwie war es Holle gelungen, mich durch ihre unglaublich freundliche Art zu überzeugen, dass mein Schicksal nicht so schlimm war, wie ich anfangs gedacht hatte.

Das, was ich sehen und erleben durfte, war etwas ganz Besonderes. Ein Privileg. Etwas, das im Grunde kein Mensch jemals zu Gesicht bekam.

Ich wünschte mir nur sehnlichst, dass ich meinem Verlobten Hannes und meinem Bruder Karl eine Nachricht zukommen lassen könnte, dass es mir gut ging. Oder noch besser: sie hierherbringen. Ich wollte ihnen den wundervollen Zauber von Holles Welt zeigen und sie daran teilhaben lassen.

Jeden Abend lag ich weinend in meinem Bett, denn obwohl es wunderschön und friedlich in Holles Welt war, vermisste ich Hannes und Karl mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Tagsüber überwog die Ehrfurcht vor dem, was ich hier erleben durfte, doch abends, wenn ich allein war, übermannten mich die Traurigkeit und das Heimweh mit einer Heftigkeit, die ich nicht für möglich gehalten hätte. Ich weinte so viele Tränen, dass sie als Flutwelle in die Welt geflossen wären, hätte ich sie über dem magischen See unter dem Wetterzimmer in Holles Turm vergossen. Mein Herz zerriss jeden Tag ein Stückchen mehr und allmählich konnte auch die Schönheit dieser Welt mich nicht mehr davon ablenken. Ich spürte, dass die Trauer immer mächtiger wurde und langsam, aber sicher Besitz von mir ergriff. Die Wunder aus Holles Welt konnten mich jeden Tag weniger begeistern und es gelang mir fast nicht mehr, an etwas anderes als an Karl und Hannes zu denken.

Ich wünschte mir von ganzem Herzen und ganzer Seele, dass Hannes und Karl hier bei mir wären. So sehr.

Doch das war nicht möglich.

Immer nur ein Mensch, immer nur ein Jahr.

Das war die Regel des Zaubers dieser Welt, die niemand brechen konnte.

Oder?

Kapitel 1

Holle

Mit einem Lächeln im Gesicht wachte ich auf. Ich war seit dem Tag gut gelaunt, an dem Marie in meinen Brunnen gefallen war, denn ich liebte es, Gesellschaft zu haben. Die Jahre in Einsamkeit behagten mir wirklich nicht, auch wenn ich natürlich meine Tiere hatte, die zu Freunden geworden waren. Trotzdem war es etwas anderes, einen echten Menschen hier zu haben. Jemanden, mit dem ich mich unterhalten konnte.

Ja, anfangs hatte Marie schreckliches Heimweh gehabt und auch jetzt litt sie noch darunter. Natürlich hätte ich sie sofort zurück nach Hause geschickt, wenn ich es denn gekonnt hätte. Ihr Schmerz hatte mir selbst wehgetan, aber mir waren die Hände gebunden.

Immer nur ein Mensch, immer nur ein Jahr.

So lautete die Regel, die ich nicht außer Kraft setzen konnte, egal wie sehr ich es mir manchmal wünschte. Dieselben magischen Regeln, die mich hier festhielten und verhinderten, dass ich mein Zuhause verließ. Weiter als bis zu den Stämmen der gewaltigen Bäume, die meinen großen Garten umgaben, konnte ich nicht gehen. Warum das allerdings so war, wusste ich nicht. Ich hatte keine Erklärung dafür, aus welchen Gründen ich hier in diesem Haus saß und mich um den Schnee in der Welt kümmerte.

Es war einfach so.

Es war meine Pflicht und ich hatte vor langer, langer Zeit aufgehört mich zu fragen, woran das liegen mochte.

Vermutlich ruhte ein weiterer Zauber auf meinem kleinen Reich, der mir meine Aufgabe leichter machen sollte. Denn solange ich mich an nichts erinnerte und nichts kannte außer dem, was ich nun einmal hatte, konnte ich auch nichts vermissen. Der Schleier des Vergessens war für mich im Grunde ein Segen, da mich die Sehnsucht ansonsten womöglich aufgefressen hätte. Deshalb hatte ich schnell gelernt dankbar dafür zu sein und mein Schicksal zu akzeptieren.

In den Jahren, in denen sich niemand hierher zu mir verirrte, war das allerdings oft sehr schwer. Die Einsamkeit war wesentlich schwerer zu ertragen als das Vergessen.

Doch früher oder später kam immer ein neuer Mensch zu mir und ich schätzte, dass das auch immer so bleiben würde. Mittlerweile wussten die Menschen zwar um den Zauber in den magischen Brunnen überall auf der Welt – auch wenn alle, die jemals hier gewesen waren, ihre komplette Erinnerung an die Zeit bei mir vergaßen, sobald sie mein Reich verließen –, weshalb auch nicht mehr so oft jemand zu mir kam wie noch vor ein paar Hundert Jahren. Doch wie Maries Geschichte deutlich zeigte, würde das trotzdem nicht reichen, um es ganz zu verhindern.

***

Summend stand ich aus meinem breiten Himmelbett mit den dicken weißen Vorhängen auf und zog mich mich an. Die Auswahl fiel mir nicht schwer, denn ich besaß ausschließlich Kleider in Weiß und Hellblau. Der Schnitt war bei jedem anders und sie unterschieden sich auch in den Verzierungen, aber im Großen und Ganzen waren sie sich sehr ähnlich.

Wie durch Zauberhand hing jedes Kleid, das ich am Tag zuvor getragen hatte, am darauffolgenden gesäubert und glatt gebügelt wieder in meinem Kleiderschrank. Eine weitere der vielen magischen Besonderheiten meines wundervollen Hauses.

Heute entschied ich mich für ein schlichtes Kleid in Hellblau mit einem hohen Kragen, dessen seidiger Stoff sanft bis auf den Boden hinabfloss.

Ich ging aus meinem Zimmer und lief immer noch vor mich hin summend hinab in das Esszimmer. Auf dem Weg dorthin begegnete ich einigen Katzen, ein paar Mäusen und auch ein Reh lag schlafend neben einem Fuchs am Fuße der Treppe.

Alles in meinem Haus war weiß wie der Schnee, den ich hinab zur Erde rieseln ließ und der auch mein Zuhause umgab. Hier und da gab es ein paar hellblaue Akzente, doch alles in allem dominierte die kalte Farbe des Eises.

Meine Farbe.

Im Esszimmer mit dem kleinen Tisch samt zwei Stühlen angekommen überlegte ich, was ich für Marie heute zum Frühstück zaubern könnte.

Dabei meinte ich das im wörtlichen Sinne, denn so funktionierte die Nahrungsbeschaffung in meinem Haus. Man wünschte sich etwas zu essen – und schon erschien es.

Ich entschied mich für Pfannkuchen, etwas, das ich bis vor Kurzem noch nicht gekannt und Marie mir gezeigt hatte. Sie liebte diese köstlichen Teigscheiben und auch ich schätzte sie inzwischen sehr.

Zu den Pfannkuchen ließ ich Sirup, Schokoladencreme, Apfelmus, etwas Obst und eine Kanne mit heißem Kakao erscheinen. Alles, was Marie liebte.

Es bereitete mir einfach unglaublich viel Vergnügen und innere Zufriedenheit, mich um Marie zu kümmern. Ich liebte es, ihr Freude zu machen und ihr all die schönen Dinge an meinem Dasein zu zeigen. Vielleicht kam es daher, dass ich für meinen Geschmack viel zu selten Besuch bekam. Wenn Marie jedenfalls lächelte oder ihre Augen fröhlich blitzten, wurde mir ganz warm ums Herz und ich fühlte mich einfach glücklich.

Während ich noch eine Weile mit Flake, einer weißen Katze, sprach und immer wieder kleine Stücke Käse für die drei weißen Mäuse neben mir auf dem Tisch erscheinen ließ, kam irgendwann Marie ins Zimmer.

Sie lächelte mich an, doch natürlich bemerkte ich, dass ihre Augen wie jeden Morgen ganz verquollen und gerötet waren. Sie weinte sich jeden Abend in den Schlaf und es zerriss mir das Herz, dabei zusehen zu müssen und doch nichts unternehmen zu können. Ein Grund mehr, Maries Tage so schön wie möglich zu gestalten, um sie von ihrem Heimweh und ihrer Trauer abzulenken.

»Guten Morgen«, rief ich und ging auf sie zu. Ich nahm ihre Hände in meine und signalisierte ihr dadurch, dass ich für sie da war. Über die Tatsache, dass sie jeden Abend weinte, verlor ich kein Wort, da ich wusste, dass Marie das nicht mochte. Sie wollte ihren Schmerz mit sich selbst ausmachen und ich respektierte das. Auch wenn es mir schwerfiel.

»Guten Morgen, Holle. Ach, wie wundervoll! Du hast ja schon wieder ein richtiges Festmahl für mich gezaubert.«

Ich grinste und zog sie aufgeregt mit zum Esstisch. »Ich habe alle erscheinen lassen, was du gern zu deinen Pfannkuchen isst. Wenn dir etwas fehlt, wünsch es dir einfach – aber das weißt du ja inzwischen.«

Wir setzten uns und aßen. Die ganze Zeit über versuchte ich Marie zum Lachen zu bringen und aufzumuntern, aber irgendwie funktionierte es heute nicht so gut wie sonst. Sie lächelte zwar, doch ihr Lächeln erreichte nicht ihre Augen. In ihnen standen weiterhin die Trauer und der Kummer, die mir selbst das Herz brachen. Als hätte sich der Schmerz über Nacht noch tiefer in ihre Seele gegraben – und das machte mir gewaltige Sorgen.

»Wollen wir an die Arbeit gehen?«, fragte Marie schließlich, als wir beide satt waren.

Ich nickte und ließ mit einer kleinen Handbewegung das restliche Essen und das schmutzige Geschirr verschwinden. Etwas wie eine Küche oder einen Herd, was jeder der Menschen, die zu mir kamen, vermisste, besaß ich nicht. Wozu auch?

Nach dem Frühstück kam der für mich schönste Teil des Tages. Der Teil, in dem ich das tat, wozu ich offenbar geboren worden war. Zumindest fühlte es sich tief in mir so an.

Auch Marie liebte es inzwischen, das hatte ich mehrmals gemerkt. Also nahm ich ihre Hand und gemeinsam machten wir uns auf den Weg ins Wetterzimmer.

Wir stiegen die breite Wendeltreppe hinauf bis zum höchsten Punkt des kleinen Turmes an meinem Haus. Hier oben gab es nur einen einzigen riesigen Raum, in dem rund zweihundert verschiedene Betten mit Decken und Kissen in unterschiedlichen Größen darauf standen. Die Zahl der Betten veränderte sich immer mal wieder und war im Laufe der Jahre nie konstant geblieben.

Auf jedem Bett war am Kopfende der Name des jeweiligen Landes, zu dem das Bett gehörte, eingearbeitet. Auch diese Bezeichnungen änderten sich immer mal wieder.

Dabei galt es zu beachten, dass die Decken der Länder, in denen es viel Schnee gab, dick, schwer und flauschig waren – während in den Betten der Regionen, in denen ich eigentlich niemals für Schnee sorgen musste, nur dünne, kaum befüllte Decken lagen.

Lächelnd schritt ich durch diesen großen Raum, der auf magische Weise viel mehr Platz bot, als es von außen den Anschein hatte. Blickte man von draußen auf meinen Turm, war er klein und schmal. Doch sobald man sich im Inneren befand, waren die Ausmaße so unglaublich viel größer. Man hätte hier problemlos einen ganzen Ball mit Hunderten von Gästen veranstalten können, so riesig war mein Wetterzimmer.

Ich liebte es hier.

Liebte die verschiedenen Betten, die Länder und die Geschichten hinter jedem einzelnen. Auch wenn ich diese Orte niemals wirklich betreten würde, so konnte ich sie dennoch durch meinen Zaubersee beobachten, wann immer ich es schneien ließ, und war unglaublich fasziniert von allem, was ich dort sah.

Als ich auf der gegenüberliegenden Seite des Wetterzimmers bei dem breiten Fenster angelangt war, das mit Läden verschlossen war, stieß ich diese schwungvoll auf und atmete die herrlich kühle Winterluft ein. Der Himmel, an dem zwar keine Sonne schien oder jemals Sterne aufgingen, hatte trotzdem einen Tag-und-Nacht-Rhythmus.

Direkt unter dem großen Fenster befand sich das Herzstück meines Reichs – der silbern glänzende, magische See, der mir immer das Land zeigte, in dem es gerade schneien sollte.

Ich blickte hinab und rief lächelnd:

»Zaubersee mit deiner Macht,

ich bin hier, ich gebe acht,

zeige mir den Ort der Welt,

an dem soll fallen Schnee vom Himmelszelt.«

Diese Worte erweckten den See zum Leben und innerhalb von ein paar Augenblicken tauchte das erste Land auf.

Jetzt konnte ich die Menschen erkennen, die geschäftig durch die Straßen liefen, lachend zusammensaßen, oder Kinder, die draußen spielten.

Der Süden Deutschlands war heute an der Reihe.

»Komm, wir brauchen heute die Decke aus Deutschland«, erklärte ich Marie, die ein paar Schritte hinter mir gestanden hatte. Gemeinsam gingen wir zum richtigen Bett – was mir keine Mühe bereitete, da ich jedes in- und auswendig kannte und genau wusste, wo welches stand – und trugen gemeinsam die prall gefüllte Decke zum Fenster.

So viel Schneemagie hatte sich bereits in der Decke gesammelt, dass sie richtig schwer geworden war und wir sogar zu zweit Mühe hatten, sie hochzuhieven.

Deshalb schneite es in manchen Jahren übrigens auch kaum auf der Erde – nämlich immer dann, wenn ich gerade allein war und niemanden hatte, der mir helfen konnte. Allein war es viel mühsamer, die schweren Decken zu holen und vor allem sie auszuschütteln. Hatte ich einige Zeit niemanden hier, der mich unterstützte, so konnte ich auch weniger Ländern der Welt den ersehnten – oder auch manchmal verhassten – Schnee bringen.

Da Marie jetzt aber bei mir war, würde es ein schneereicher Winter werden und ich konnte es kaum erwarten, die lachenden Kindergesichter zu sehen, wenn gleich die ersten Flocken hinab zur Erde fallen würden.

Schon fingen wir an die große Decke aus dem Fenster hinaus zu schütteln. Daunen rieselten hinab zum Zaubersee und fast hätte man denken können, es schneite bereits. Doch erst als sie die Wasseroberfläche berührten, verwandelten sich die magischen Federn in dicke Flocken, die dann auf die Welt hinabfielen.

Der See zeigte uns bereits die ersten Reaktionen der Menschen auf das Weiß, das von oben zu ihnen hinabkam. Die meisten lächelten, blickten hinauf zum Himmel und manchmal gab es sogar Erwachsene, die ein paar Flocken mit den Händen auffangen wollten.

Dieser Anblick rührte mich jedes Mal zutiefst, denn er zeigte mir, dass meine Arbeit wichtig war. Dass die Menschen mich und das, was ich tat, schätzten und ich das große Glück hatte, andere mit meinem Tun fröhlich zu machen.

»Fallt zur Erde, deckt sie zu,

bringt die Stille, die weiße Ruh’.

Flocken tanzt nun voller Fleiß

und taucht die Welt in strahlend’ Weiß.«

Es dauerte lange, bis wir die Decke vollständig entleert hatten und sich die ganze eisige Pracht im Süden Deutschlands verteilt hatte. Doch jetzt lag dort eine weiße, glitzernde Schneedecke und eine Weile würden die Flocken auch noch weiter hinab zur Erde fallen. Die ersten Kinder liefen bereits strahlend und mit Schlitten bewaffnet aus ihren Häusern, machten Schneeballschlachten und bauten Schneemänner.

Es war so wunderschön und ich hätte stundenlang zusehen können.

Glücklich seufzend wandte ich mich dennoch kurz vom Fenster ab und sah das erste Mal wieder zu Marie. Ich hatte erwartet, dass auch sie von der Freude der Menschen angesteckt würde, doch da hatte ich mich gewaltig getäuscht.

Statt Freude war in ihrem schönen Gesicht nur Schmerz zu sehen und Tränen tropften von ihren Wangen auf das jetzt leichter gewordene Federbett. Gequält blickte sie hinab auf den Zaubersee.

Mein Herz wurde schwer, als ich ihren Kummer sah. Ich wünschte mir so sehr, dass sie glücklich wäre und ich irgendetwas tun könnte, das sie aufmunterte.

Denn sie zurückzuschicken oder ihren Verlobten und ihren Bruder hierherzuholen lag leider nicht in meiner Macht – auch wenn es das Einzige wäre, das Marie dauerhaft fröhlich gemacht hätte.

Da durchzuckte es mich wie ein Blitzschlag. Ich konnte mir in diesem Moment nicht erklären, weshalb ich nicht schon früher auf diese Idee gekommen war, denn es gab tatsächlich eine Sache, die ich tun konnte.

Entschlossen brachte ich die nun ausgedünnte Decke aus Deutschland zurück an ihren angestammten Platz und richtete sie ordentlich hin, damit die Wintermagie wirken und die magischen Daunen wieder hineinfüllen konnte.

Dann ging ich zurück zum Fenster, an dem Marie immer noch hinaus in die eisig kalte Welt starrte.

»Ich habe eine Idee«, begann ich und hatte sofort Maries Aufmerksamkeit. »Ich kann dir nicht versprechen, dass es funktioniert, aber ich werde mein Möglichstes tun, damit ich dich wenigstens ein bisschen aufmuntern kann.«

Ich stützte mich an der Fensterbank ab und schloss kurz die Augen. Ich versuchte die Magie zu fühlen, die aus dem See herausströmte und überall um mich herum pulsierte. Ich konzentrierte mich nur noch darauf, bis ich das Gefühl hatte, eins mit ihr zu sein.

Dann formulierte ich meinen Wunsch an den See.

»Ich möchte jetzt zwei Menschen sehen,

damit der Kummer kann schnell vergehen.

Zeige mir Hannes und Karl geschwind,

zeige mir die Liebsten von diesem Kind.«

Noch nie hatte ich das versucht. Die anderen, die hierhergekommen waren, hatten nicht so sehr gelitten, wie Marie es tat, weshalb solche drastischen Mittel auch niemals nötig gewesen waren. Ich hatte nicht einmal darüber nachgedacht, das hier zu tun. Denn es widerstrebte mir zutiefst, den eigentlichen Zweck meines Sees zu missbrauchen. Aber ich spürte Maries tiefen Schmerz, der mir selbst fast den Atem raubte, und ich wusste, dass ich etwas für sie tun musste.

Fassungslos wegen meiner Worte sog Marie scharf den Atem ein, sah zunächst mich mit großen Augen an und klammerte sich anschließend so fest an die Fensterbank, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Voller Hoffnung und Angst zugleich blickte sie hinab auf den silbern glänzenden See und ich tat es ihr nach.

Ich konnte nur beten, dass es funktionieren würde. Dass ich meine Freundin nicht noch tiefer in ihren Kummer stürzte.

Und tatsächlich.

Das Bild auf der silbrigen Oberfläche veränderte sich und zeigte plötzlich einen Mann, der Marie unfassbar ähnlich sah. Sie beide hatten die gleichen Gesichtszüge, auch wenn sie bei dem Mann deutlich kantiger waren, die Augen von beiden waren grün wie die Wiesen in der Welt der Menschen im Sommer und sie wiesen das gleiche braune, dichte Haar auf.

Das musste Karl sein, Maries Bruder.

Irritiert musterte ich ihn, weil ich meine Gedanken nicht richtig einordnen konnte.

Er sah unglaublich schön aus. So schön, dass in meiner Brust ein seltsames Gefühl entstand, das ich vielleicht als Sehnsucht beschrieben hätte. Sehnsucht danach, dieses schöne Gesicht auch einmal direkt vor mir zu sehen und nicht nur durch den See.

Vermutlich lag es daran, weil ich, soweit ich mich erinnerte, noch nie einen Mann von Nahem gesehen hatte. Die Menschen, die sich im Lauf der Jahre hierher verirrt hatten, waren allesamt Frauen gewesen.

Ich warf einen prüfenden Blick zu Marie, die lächelte und immer wieder »Karl« hauchte. Tränen tropften in den See hinab und kurz darauf sahen wir, wie es bei ihrem Bruder anfing zu regnen. Aber ich hielt Marie nicht auf. Sie durfte ihren Tränen freien Lauf lassen, auch wenn Regen für diese Region gar nicht vorgesehen war und ich nicht dafür zuständig. Ehrlich gesagt hatte ich mich schon oft gefragt, wer für den Regen sorgte. Gab es noch jemanden wie mich? Jemanden, der statt Schneeflocken Wassertropfen zur Erde schickte?

Karl stand am Fenster, blickte hinaus und bewegte seine Lippen, doch wir hörten nicht, was er sagte. Der Zaubersee zeigte nur Bilder, er konnte keine Töne transportieren.

Karls Blick wirkte grimmig und entschlossen – man hätte beinahe ein wenig Angst vor ihm bekommen können.

Dann drehte er sich um und mit einem Mal sah man einen zweiten Mann, der hinter ihm im Raum stand. Nach wie vor konnten wir das Geschehen aber nur von draußen beobachten, denn die Magie des Sees war, soweit ich wusste, nicht in der Lage, hinter Mauern zu blicken.

Marie schluchzte auf und presste sich die Hand auf den Mund.

»Ist das Hannes?«, wollte ich behutsam wissen.

Sie nickte, unfähig den Blick von ihrem Verlobten zu nehmen.

Hannes sah ebenfalls gut aus. Er war groß, hatte breite Schultern und rotes Haar. Seine braunen Augen waren gerötet und ich las in ihnen Sorge und Traurigkeit. Wahrscheinlich vermisste er Marie ebenso sehr wie sie ihn.

Mein Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen, als ich diesen Kummer in den Seelen der beiden Liebenden sah.

Es war meine Schuld, dass sie getrennt waren. Meine Schuld, dass sie so litten und sich nicht nahe sein konnten, obwohl ihre Herzen sich ganz offensichtlich danach verzehrten, zum anderen zurückzukehren.

Wie sehr wünschte ich mir in diesem Moment, ich hätte die Macht, den Zauber über meinem Reich zu durchbrechen! Ich wollte so sehr, dass Marie jetzt schon nach Hause konnte – zurück zu ihrem Hannes.

Auch ich weinte inzwischen, weil ich mich so furchtbar fühlte. Weil ich so sehr wollte, dass Marie glücklich sein durfte.

»Was …?!«

Maries erschrockener Ausruf sorgte dafür, dass ich mich doch wieder zum See umdrehte und nicht mehr das unglückliche Mädchen anschaute.

Das Bild im Zaubersee hatte sich nur minimal verändert – und doch war plötzlich alles anders.

Denn neben Karl und Hannes war jetzt auch noch eine wunderschöne blonde Frau in den Raum gekommen, den das magische Wasser uns durch ein Fenster zeigte. Sie hatten sich offenbar kurz unterhalten, doch nun sprach niemand mehr.

Denn diese Frau hatte ihre Hände an Hannes’ Wange gelegt und ihre Lippen auf seine gepresst.

Entsetzt keuchte ich und schlug meine Hände über meinem Mund zusammen.

Hannes, der Mann, nach dem sich Marie so sehr verzehrte, den sie mehr liebte als alles andere, küsste eine andere Frau! Kaum dass Marie weg war, wandte er sich einer anderen zu.

»Dafür gibt es bestimmt eine Erklärung«, beeilte ich mich zu sagen, nachdem Marie nur mit offenem Mund dastand, als wäre sie zu einer Salzsäule erstarrt.

»Mach das Bild weg«, begann sie leise. Doch als ich nicht reagierte, drehte sie ihr Gesicht in meine Richtung und brüllte jetzt richtig. »Mach das verdammte Bild endlich weg!«

Erschrocken reagierte ich und ließ mit einem kurzen Reim die Szene verschwinden, die der See uns eben noch gezeigt hatte.

Ich fühlte mich so furchtbar. Natürlich war es kein Vergleich zu dem, was Marie gerade durchmachen musste, aber ich war schuld daran, dass es ihr jetzt noch schlechter ging. Ich hatte ihr helfen wollen und hatte sie dabei nur zerstört.

»Ich … ich bin mir sicher, dass es nicht so war, wie es aussah«, flüsterte ich.

Marie schnaubte ungläubig. »Dann ist dieses Flittchen wohl einfach gestolpert und auf seinen Mund gefallen?! Hannes hat mir etwas vorgemacht, so sieht es aus, Holle. Er hat mir erzählt, dass er mich liebt und alles für mich tun würde – doch dann sucht er sich eine neue Frau, kaum dass ich verschwunden bin. Das ist keine Liebe und ganz offensichtlich war es das auch nie.«

Bei allen Wolken, was hatte ich nur angerichtet? Wie hatte diese Situation nur so außer Kontrolle geraten können?! Dabei hatte ich doch nur Maries Bestes gewollt!

»Vielleicht sollten wir noch einmal sehen, was dort gerade passiert. Vielleicht klärt sich dann alles auf und –«

Marie unterbrach meinen Redefluss mit einer Geste. »Hör auf, Holle. Ich weiß, du hast es nur gut gemeint, und ich bin dir dankbar, dass du mir das gezeigt hast. Denn jetzt muss ich mich nicht mehr jeden Tag quälen vor Sehnsucht nach einem elenden Lügner.«

Mein Herz brach in tausend Teile, als ich sie so von ihrer großen Liebe sprechen hörte. Doch sie ließ mir gar keine Gelegenheit, um etwas zu erwidern.

»Ich wäre jetzt gern ein wenig allein, wenn das in Ordnung ist.«

Verständnisvoll nickte ich. »Aber natürlich! Nimm dir alle Zeit, die du brauchst. Und wenn du darüber sprechen möchtest, dann bin ich immer für dich da. Hörst du, Marie? Immer!«

Sie brachte ein sehr halbherziges Lächeln zustande, drehte sich um und lief eilig aus dem Wetterzimmer.

Ich hingegen blieb am Fenster zurück und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich hatte alles kaputtgemacht, hatte Marie nicht aufgebaut, sondern ihr Herz zerschlagen und gebrochen.

Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, wie ich das wiedergutmachen konnte! Oder noch besser: ungeschehen.

Irgendwie passte das alles doch auch nicht zusammen, wenn ich so darüber nachdachte. Der gequälte Ausdruck in Hannes Augen, dieser greifbare Schmerz und die Sehnsucht – exakt das Gleiche, das ich täglich in Maries Augen sah. Diese blonde Frau passte nicht in das Gesamtbild und es musste einfach irgendeine andere Erklärung geben als die offensichtliche.

Entschlossen ging ich zurück zum Fenster und bat den See mir noch einmal Hannes und Karl zu zeigen. Vielleicht war wirklich alles nur ein Missverständnis, dann könnte ich Maries Herz wieder zusammensetzen.

Und auch wenn das nur eine schwache Hoffnung war, so war sie doch alles, was mir im Augenblick noch blieb.

Kapitel 2

Karl

Während ich hinauf zum Himmel blickte, fing es plötzlich an zu regnen. Seltsam, bis gerade eben war ich mir sicher gewesen nicht einmal Wolken gesehen zu haben … Vermutlich fing ich allmählich doch an durchzudrehen, wundern würde es mich jedenfalls nicht.

»Was willst du denn noch tun?«, fragte Hannes hinter mir mit seiner jammernden Stimme, die er nicht ablegen konnte, seit Marie verschwunden war. Auch wenn es mich langsam nervte, konnte ich es ihm nicht verdenken. Meine Schwester war seine große Liebe und seit sie weg war und wir nicht wussten, ob sie eines Tages wiederkehren würde oder nicht, war Hannes wie ausgewechselt. Statt des fröhlichen, lebenslustigen Mannes von früher saß vor mir nur noch eine traurige, leblose Hülle.

Jedes Mal, wenn ich meinen besten Freund ansah, wuchs die Wut in mir ins Unermessliche. Wie konnte irgendeine verrückte Hexe es wagen, mir meine Schwester und meinen besten Freund zu nehmen? Mit welchem Recht behielt sie unschuldige Mädchen in ihrem dunklen Reich im Brunnen? Es machte mich schier wahnsinnig, wenn ich daran dachte, was Marie gerade durchmachen musste. In meinen dunkelsten Stunden gab ich mich meiner Fantasie hin und sah meine Schwester vor mir, wie sie in diesem finsteren Loch gefoltert wurde und die Hexe wer weiß was mit ihr anstellte …

Das Schlimmste war, dass ich hilflos zusehen musste. Dass es absolut nichts mehr gab, das ich tun konnte. Alles hatten wir bereits versucht, um sie zu finden. Täglich kletterte ich hinab in den Brunnenschacht und suchte nach Hinweisen. Nach einer Tür, einem Durchgang, irgendeinem Hinweis auf einen Zauber – aber nichts. Als wäre Marie in den Brunnen gestiegen und hätte sich an dessen Grund in Luft aufgelöst.

Ich hatte angebliche Magier und Hexen von überallher geholt, hatte sie gezwungen in den Brunnen zu steigen und Zauber zu wirken – aber es hatte nichts geholfen. Absolut nichts hatte funktioniert.

Es war auch nicht sonderlich tröstlich, dass bisher alle verschwundenen Mädchen nach einem Jahr wieder aufgetaucht waren, wenn man den Geschichten glaubte. Denn ein Jahr in Gefangenschaft und Finsternis würde ich meiner Schwester sicher nicht zumuten. Dieses Leid würde ich von ihr abwenden, ich musste nur endlich einen verdammten Weg in das Reich der Hexe finden.

»Ich weiß noch nicht, was ich tun werde«, antwortete ich auf Hannes Frage. »Aber ich weiß, dass ich nicht aufgeben werde. Niemals. Ich werde Marie nicht den Klauen einer verrückten Hexe überlassen!«

Ich drehte mich zu meinem Freund um und sah das Grauen und den tiefen Schmerz in seinen Augen.

Seufzend fuhr ich mir durch das Haar. »Tut mir leid, aber die Situation nimmt mich doch genauso mit.«

Hannes nickte mit einem Lächeln, das seine Augen nicht mal ansatzweise erreichte. »Ich weiß. Du liebst sie ebenso wie ich.«

In dem Moment klopfte es an der Tür. Seit Marie verschwunden war, hielt ich es in unserem Haus nicht mehr aus. Unsere Eltern waren schon seit geraumer Zeit tot und allein war mir das Haus zu groß und vor allem zu einsam geworden. Es war gespenstisch ruhig, totenstill. Und das ertrug ich nicht. Aus diesem Grund hatte ich mir ein Zimmer in der Herberge im Dorf genommen, wo Hannes im Grunde auch wohnte. Er verbrachte den ganzen Tag bei mir, manchmal schlief er hier sogar auf dem Sessel ein. Er wollte ebenso wenig allein sein wie ich, denn Alleinsein bedeutete dunkle Gedanken, die uns allmählich um den Verstand brachten.

Alle im Dorf wussten, dass Hannes und ich ständig zusammen hier in diesem Zimmer saßen, wenn wir nicht gerade am Brunnen waren und versuchten Marie zurückzuholen. Deshalb war es auch nicht weiter verwunderlich, dass es klopfte.

»Ja«, rief ich.

Die Tür öffnete sich und herein kam eine blonde, junge Frau, die mir – leider – viel zu bekannt war. Das hatte mir gerade noch gefehlt!

»Susanna, was willst du hier?«, brummte ich in der Hoffnung, sie durch meine Unfreundlichkeit gleich wieder zu vergraulen.

Sie setzte ihr falsches Grinsen auf und ich fragte mich ernsthaft, wie ich jemals darauf hatte reinfallen können. Ja, sie war definitiv die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte, mit Rundungen an den genau richtigen Stellen und einem Körper, der zu sündigen Gedanken einlud. Aber mehr war sie nicht. Eine hübsche Hülle, die im Inneren ungefähr so reizvoll war wie ein Bad in einem eiskalten See.