Trümmerfrauen - Christine Koschmieder - E-Book

Trümmerfrauen E-Book

Christine Koschmieder

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Beschreibung

"Und während wir noch ironisch verharmlosen, tanzt das ›Neue Denken‹ wie Rumpelstilzchen ums Feuer. Heute hol ich mir den Heimatbegriff, morgen das Volk, und übermorgen setze ich in die Praxis um, was hinter der Rhetorik steckt." Am Vorabend des Erntedankfestes besteigen Lou und Ottilie einen seniorengerechten Vier-Sterne-Reisebus, um eine Reise nach Thüringen und in die deutsche Vergangenheit anzutreten – zum Kyffhäuser-Denkmal. Lous zwanzigjähriger Sohn Anatol sitzt derweil betrunken in einem Flugzeug von den USA nach Deutschland und rekapituliert vor zwei Spielzeugnilpferden seinen Versuch, mit Hilfe einer Fruchtbarkeits-App eine Bilderbuchfamilie zu gründen. Und während die deutschtümelnde Leipziger Kleingartenanlage für das Erntedankfest aufrüstet, bereitet sich auch Karola auf die Verteidigung der Heimat vor, denn sie hat es satt, sich vom Kapitalismus ihre Geschichte diktieren zu lassen. 48 Stunden später kommt es zum Showdown: Anatol fesselt Karola an einen Baum, Kohlköpfe werden gesprengt und alle von ihrer eigenen Geschichte eingeholt, bis hin zur furchtbaren "Aktion Erntefest" 1943 im Generalgouvernement Polen. Die Tür zwischen Fiktion und Realität ist in diesem rasanten Roman weit aufgerissen. Im Stil einer literarischen Kreissäge fräst sich "Trümmerfrauen" durch deutsche Geschichte und lässt Lebenswirklichkeiten aus Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit aufeinanderprallen. Eine kämpferische Erzählstimme, die trotz ihrer berechtigten Wut nie die Empathie für ihre Figuren verliert.

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Seitenzahl: 352

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Christine Koschmieder, geboren 1972 in Heidelberg, lebt und arbeitet seit 1993 in Leipzig. Studium der Theater-, Medien- und Kommunikationswissenschaft.

Zehn Jahre Off-Theater.

Fundraiserin, Übersetzerin und Gründerin der Literaturagentur Partner + Propaganda.

2014 erschien ihr Debütroman Schweinesystem (nominiert für den aspekte-Literaturpreis).

CHRISTINE KOSCHMIEDER

TRÜMMERFRAUEN

EIN HEIMATROMAN

Die Entstehung dieses Werkswurde gefördert durch einStipendium der Kulturstiftungdes Freistaates Sachsen.

Edition Nautilus GmbH

Schützenstraße 49 a

D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten

© Edition Nautilus 2019

Originalveröffentlichung

Erstausgabe März 2020

Umschlaggestaltung:

Maja Bechert, Hamburg

Porträtfoto Seite 2:

© Antje Kröger

Die Illustration Seite 79

ist entnommen dem Bild

»Become a Menstruator

Print Serie, Boar Goddess, 2015, 76 x 56 cm«

von Petra Mattheis,

Fotocopyright:

regentaucher.com

ePub ISBN 978-3-96054-221-6

FÜRKARENIN 1996DAVID 1980WOLFRAM 1943 BIS 2007

Inhalt

WENN JEDER VORBEREITET IST

KAFFEEFAHRT

Was in den Proviantbeutel gehört

Kohlkopfdämmerung

Es geht alles vorüber

Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer

Fünf fafickte Favierferfietten

DEMONS AT WORK

Die Paarungsbereitschaft von Sepia

Crowdbabe (1) Container Love

Crowdbabe (2) Fruchtbare Zeiten

Crowdbabe (3) Sorry guys, no fries

Daumenkino

Open your box

Dämonentanzabend

Crowdbabe (4) Lloraras [feat. El Trio Cubano]

Kein Fürchten soll mich lähmen

Coffee to go mit Barbarossa

Wir machen daraus Büchsenfleisch

Wie viele Feiglinge braucht es, um die Wahrheit auf den Tisch zu trinken?

SOUNDS OF HEIMAT

Cognacbohnen

Stvari koje nestaju. Dinge, die verschwinden.

Last Curtain Call

Freut Euch des Lebens

Mad World

Mein Dank gilt

WENN JEDER VORBEREITET IST,

sind wir in Deutschland grundsätzlich gut vorbereitet auf den Umgang mit Katastrophen. Es kommt dann auf jeden Einzelnen an. Sind Sie vorbereitet? Können Sie sich und anderen helfen? Wissen Sie, was zu tun ist?

Für den Notfall vorgesorgtBundesamt für Bevölkerungsschutzund Katastrophenhilfe

KAFFEEFAHRT

Was in den Proviantbeutel gehört

Es wird Zeit, die Dämonen aus ihrem Paradies zu vertreiben. Die Dämonen-Besetzungsliste vom Badspiegel abzuhängen.

Letztes Jahr war Lou das noch so eine hervorragende Idee erschienen. In Zeiten, in denen ein schwedischer Möbelkonzern seine Gießkannen Bittergurka nennt und Glücksgefühle zusammen mit veganen Gummibärchen aus der Tüte kommen, lag es irgendwie im Trend, die eigenen Ängste als Familienmitglieder anzuerkennen.

Anfangs hat sie ihren Dämonen morgens ja nur die Heizung an- und einen Kaffee hingestellt und ihnen ihre Träume erzählt. Tatsächlich haben sie sich damit aus ihrem spiegelnden Hinterhalt locken lassen. Im Edelstahlspind der Damenumkleide, in jeder verspiegelten Sonnenbrille, noch in der letzten dunklen Kaffeepfütze haben sie ihr früher aufgelauert, besonders gerne mit Schaum vorm Mund und tiefen Augenringen abends beim Zähneputzen. »Guck dich doch an, mit dir hält das ja kein Mensch aus. Sogar deinen Sohn hast du vertrieben«, haben sie gezischt und Zahnpastabläschen durch die gebleckten Lippen gespuckt. Und Lou hat ihnen geglaubt. Dass sie bei der Verteilung der Großpackung Liebe durch das Universum zu spät gekommen ist. Was man ihr übrig gelassen hat, sind Glücksgefühle aus der Gummibärchentüte und die kleine Gehässigkeit, ihren Pflanzen beim Vertrocknen zuzugucken.

Aber dann hat ein selbsternanntes Volk Plakatflächen gebucht und dazu aufgefordert, neue Deutsche wieder selber zu machen. Und Lou ist klargeworden, dass die Zeiten erfordern, ein paar Dinge beim Namen zu nennen. Mit ihren Dämonen hat sie angefangen. Und die Liste an ihren Badspiegel gehängt.

–Holly Golightly. Fluchtdämon. Zuständig für alles, vor dem man wegrennen kann: Nähe. Liebe. Zärtlichkeit. Zuwendung. Hochqualifiziert, diejenigen, die einen wirklich lieben, in die Flucht zu schlagen. Jagt selbst ihren Kater in den Regen.

–Evelyn Couch. Schamdämon. Zuständig für Unsichtbarkeit, Untauglichkeit und Lebensunfähigkeit. Zu jung, um alt zu sein, zu alt, um jung zu sein. Prädestiniert, sich für alles zu schämen. Schlechtes Wetter, schmutzige Fingernägel, zu viel Schokolade, zu wenig Sport, missratenes Leben – Evelyn’s the one to blame.

–Randall Boggs. Dämon ohne besonderen Geschäftsbereich. Ungeduldig, lilafarben, achtbeinig. Farbwechselndes Echsenmonster mit der Fähigkeit, komplett mit dem Hintergrund zu verschmelzen. Zuständig für alles andere, womit man sich sonst noch das Leben zur Hölle machen kann außer Angst vor Nähe und der Unfähigkeit, sein Leben in den Griff zu kriegen.

Dämonen sind eitel. Seit sie sich wie Filmstars fühlen, stehen sie manchmal sogar vor Lou auf und kochen ihr Kaffee. In solchen Momenten glaubt sie, es könnte immer so weitergehen mit Holly Golightly, Evelyn Couch, Randall Boggs und ihr. Bis ihr gestern Abend eine blinkende Lichterkette deutlich gemacht hat, dass sie Teil des Etikettenschwindels wird, wenn sie weiter veganen Gummibärchen die Verantwortung für ihre Gefühle und dem sich neu formierenden Volk die Plakatflächen überlässt.

Kohlkopfdämmerung

Rot, blau, grün, gelb, immer abwechselnd leuchten die Lämpchen zwischen den Jägerzaunstreben vor der Vereinsgaststätte auf. Wie eine blinkende Schlange. Oder eine Ampel auf Ecstasy. Beleuchtete Kunststoffmaiskolben werfen ihr fahles Licht auf die vertrockneten Dahlien und Herbstastern in den winterfesten Betonkübeln auf der kahlen Freifläche. Am angeketteten Aufsteller neben dem Eingang baumelt eine Gespensterlichterkette. Und wäre Halloween nicht so ein Besatzer-Ritual, Lou würde es nicht wundern, hinter der nächsten Hecke von einem singenden Kürbis angefallen zu werden. Aber seit gefühlt jede freiwerdende Parzelle an ein Mitglied aus Karolas Heimatschutzbande vergeben wird, hat alles Nichtheimische hier einen schweren Stand.

Unsre Wurzeln. Unsre Heimat. Unsre Ernte lautet das Motto der Erntedankfest-Feierlichkeiten, die morgen um elf mit Frühschoppen und Gesangseinlage des Liederkranz Eintracht e.V. beginnen. Lou schickt einen verzweifelten Blick auf die schwarz-rot-weiße Flagge über der Parzelle neben der Vereinsgaststätte der Kleingartenanlage Kolonie Eintracht e.V. Vielleicht ganz gut, dass Ottilie die Siedlung seit dem Leitersturz nicht mehr betreten hat. Der Preis für die beste Marmelade hätte sie nicht interessiert, das Karaoke-Programm am Abschlussabend hätte sie mit Humor genommen und zum Bogenschießen hätte sie sich wahrscheinlich sogar noch selbst angemeldet. Aber den Humor, den es braucht für das Angebot der Initiative Heimatschutz, die das Erntedankfest in diesem Jahr ausrichtet und deren widerliche Aufkleber an jedem zweiten Briefkasten davon künden, für welches Volk und welche Heimat das Eigentümerherz schlägt, den hätte nicht mal Ottilie aufgebracht. Den Humor für den Stand der Siedlungsgesellschaft »Eigene Scholle«. Den Vortrag über Ragnarök, den Weltenbrand. Den Survival-Workshop »Vorbereitet auf die Katastrophe – Wissen Sie, was zu tun ist?« mit Link auf die Survival-Tutorials des Anbieters.

Selbst vor der Speisekarte im verglasten Aushang hat der neue Ton nicht haltgemacht, »Wir kochen deutsch«, und wer die Botschaft in den drei Worten nicht auf Anhieb versteht, für den ist sie im Kleingedruckten unter der Eichenlaubgirlande noch einmal ausbuchstabiert: »Bei der Herstellung und Bezeichnung unserer Speisen verwenden wir ausschließlich Zutaten aus heimischen Betrieben und deutsche Begriffe.« Das panierte Schnitzel kommt neuerdings in Begleitung von Bratkartoffeln und »für unsere kleinen Gäste« gibt’s statt Pommes Kartoffelbrei zu den Würstchenigeln. Was eine deutsche Speisekarte aus Ketchup macht, wird Lou nicht erfahren, solange Ketchup kein eigenständiges Gericht ist. Würzfleisch muss nicht eingedeutscht werden, Würzfleisch war schon immer deutsch. Warum allerdings der Hawaii-Toast sich auf der Speisekarte gehalten hat, lässt verschiedene Deutungen zu: Entweder kennen die Betreiber nicht alle amerikanischen Bundesstaaten, oder die Ananasbüchsen müssen weg. Lou hat sie gesehen, die Batterien von Ananasbüchsen, als sie Karola an diesem schicksalhaften Tag im letzten Juni in die Vorratskammer hinterhergetrabt ist, den Grasschnitt vom Rasenmähen noch an den Schenkeln, eigentlich wollte sie nur schnell ein paar Fettbemmen für Ottilie abgreifen. Ottilie, die in ihrer Hollywoodschaukel unter dem Walnussbaum auf sie gewartet hat. Die Walnüsse waren noch grün und gerade weich genug, um die Schale mit Stricknadeln zu durchbohren, Ottilies jährliches Ritual. Danach müssen sie zwei Wochen lang täglich frisch gewässert werden, bis alle Bitterstoffe herausgeschwemmt und die Nüsse rabenschwarz sind. Danach kocht Ottilie sie zusammen mit Nelken, Piment und einer Zimtstange in einem Sud aus Zuckerwasser, füllt sie in große Einmachgläser und dann müssen sie noch sechs Monate ziehen. Dieses Jahr sind die Nüsse am Baum geblieben. Und jetzt ist es Oktober und die ersten liegen vermutlich unter dem Baum. Wie Ottilie am Tag nach Lous letztem Rasenmähen. Seitdem mäht Karola Ottilies Rasen und Lou besucht Ottilie im Pflegeheim. Es sieht nicht so aus, als würde sie wieder in ihre Hollywoodschaukel zurückkehren. Auf Leitern klettern schon gleich gar nicht.

Im Gastraum ist Licht, auf der zugezogenen Gardine zeichnet sich im Gegenlicht das Profil einer Gestalt ab. Mit seinem weit zurückgebeugten Oberkörper, der Stirntolle und dem Mikro an den Lippen könnte man den Mann für eine Elvis-Kopie halten, Technikprobe für morgen, vermutet Lou, auf dem Aufsteller stand irgendwas von einem bunten Karaoke-Abend mit deutschen Schlagern. Karaoke-Maschine. Als ob sie die brauchten. Das letzte Mal, als Lou sie singen gehört hat, waren sie ziemlich textsicher. Seufzend zieht sie die Schultern hoch, es ist kühl geworden, für die Jahreszeit normal, aber diese Kälte hat schon früher Einzug gehalten und ein ganzes Land erfasst. Lou kehrt dem Elvis-Imitator hinter dem gelben Vorhang, der deutschen Speisekarte und dem Erntedankfestaufsteller den Rücken zu. Immerhin, nicht ganz Gallien ist von den Römern besetzt. Zeit, sich zu der widerständigen Parzelle in Gang 8 zu begeben, die sich der Besatzung widersetzt. Lou hat zwar keine Ahnung, wozu Ottilie die alte Videokassette braucht, geschweige denn, worauf sie die abspielen will. Nur weil seine Insassen aus der vorletzten Technikgeneration stammen, heißt das ja noch lange nicht, dass es im Pflegeheim so etwas Altmodisches wie einen Videorecorder gibt. Aber gut, Videokassette, befiehlt Ottilie. Videokassette kriegt Ottilie. Wer so lange mit Ottilie befreundet ist wie Lou, fragt nicht mehr, und da ist die Videokassette ja noch gar nichts im Vergleich zu den dreißig Heliumballons, die sie am Tag ihrer Rückkehr steigen lassen will, pink müssen sie natürlich sein, und da ist es ihr auch egal, ob Lou dafür ein Amazon-Kundenkonto eröffnen muss, um so kurzfristig an Ballongasflaschen zu kommen. Eier muss sie auch noch kochen.

Jetzt erst wird Lou klar, wie bequem es war, sich bei der Ausflugsplanung immer auf Ottilie zu verlassen. Für die Eier war Ottilie zuständig. Die Remoulade – home made by Ottilie. Der kleine Salzstreuer, sorgfältig von Ottilie in Frischhaltefolie eingewickelt. Die Thermoskanne mit heißem Kaffee, die Linzer Torte, die blauen Gletscherbonbons in der durchsichtigen Folie, die Butterbrote, Ottilie, Ottilie, Ottilie. Nur ihre Wechselwäsche und den Kulturbeutel musste Lou selber packen, und selbst damit ist sie überfordert. Zu Hause auf ihrem Bett liegt ein wilder Haufen planlos zusammengeworfener Einzelteile, Socken, Unterwäsche, ein Ausdruck mit Yogaübungen, das Anglerhütchen, zwei Sonnenbrillen und viel zu viele Strickjacken für zwei Tage. Aber immerhin, die Remouladentube hat es schon auf den Beifahrersitz ihres Volvos geschafft und der kleine geblümte Dederonbeutel liegt einsatzbereit neben Thermoskanne und Wasserkocher.

Sie hätte es ignorieren sollen, das Plakat im Aushangkasten am Abzweig zu Gang 8. Sie braucht gar nicht näher zu treten, um den Baum auf dem Plakat als deutsche Eiche zu identifizieren. Eine deutsche Eiche ist kein Vereinsprotokoll. Eine deutsche Eiche illustriert keine Heckenschnitttermine. Keine vermisste Katze. Keine aus einem großen Wurf abzugebenden Kaninchen. Kein Dreirad und keine Kettensäge. Für sowas ist der Aushangkasten gedacht. Für Vereinsprotokolle, Heckenschnitttermine, vermisste Katzen, überzählige Kaninchen, Dreiräder und Kettensägen. Nicht für deutsche Eichen. Lou macht einen Schritt auf die mit Fliegenschiss verklebte Scheibe zu. Selbstversorgung & Heimatschutz. Was du tun kannst, um deine deutsche Heimat zu schützen und zu schätzen, informiert der Schriftzug über der Krone der deutschen Eiche. Im Geäst der deutschen Eiche sind Textfelder eingefügt, die konkretisieren, wie sich zum Schutz und zur Wertschätzung der deutschen Heimat beitragen lässt. Im Geäst der deutschen Eiche mahnt eine entstellte Ronald-McDonald-Fratze mit Dollarzeichen in den Augen: »Esst nicht beim Besatzer«, im Zusammenhang mit dem deutschen Schnitzel und dem Verschwinden der Pommes von der Speisekarte nur folgerichtig. Ein anderer Trieb der deutschen Eiche empfiehlt, Pfandglas zu sammeln, die deutschen Wälder sauber zu halten, Obst und Gemüse zu entsaften, Vorratshaltung zu betreiben und die deutschen Mütter zu achten und zu ehren. Der Hinweis auf die Vorratshaltung bestätigt Lous These, warum der Besatzer-Hawaii-Toast nicht von der Speisekarte verschwunden ist. Die Ananasvorräte müssen weg. Gut gefällt ihr auch »Sammelt Pfandglas«, hat sie selbst jahrelang praktiziert, den eingelösten Pfandbons verdankt sie Anatols Dankbarkeit für jede Tiefkühl-Pizza, wenn am Ende des Monats das Geld mal wieder knapp war. Kauft Toastbrot, wenn ihr euch kein frisches Brot beim Bäcker leisten könnt, fiele ihr ergänzend noch ein. Mit dem unauffälligen Überleben unter prekären Bedingungen hat sie Erfahrung, auch wenn sie selber aus Bequemlichkeit dann doch eher auf Supermarkt-Tetrapaks zurückgegriffen hat, statt selber zu entsaften. Und dass ihr die Achtung der deutschen Frauen bisher nicht als spezifisch deutsche Tugend aufgefallen ist, lässt sich vermutlich auf die Tatsache zurückführen, dass sie sich einfach mit den falschen Menschen abgibt.

Hinter den Ligusterhecken steigt Rauch in den graphitgrauen Himmel. Ein Himmel, bei dem jemand die Bleistiftmine verdammt fest aufgedrückt hat. Vor drei Monaten hatte hier alles seinen angestammten Platz. Kein Garten mit einem Kirschbaum, an dem keine Leiter gelehnt hätte, kaum ein Garten, von dem keine Grillwurstschwaden herübergezogen wären, und auf Ottilies verwildertem Grundstück haben die Brombeerranken Lous nackte Füße in den Flipflops zerkratzt. Gegen die Brombeerranken hätte sie sich schützen können, ganz einfach sogar, festeres Schuhwerk, aber der Magie, die in der Kleingartenanlage Einzug gehalten hat, seit die Kirschen von den Bäumen in Einmachgläsern gelandet sind, der ist auch mit festerem Schuhwerk nicht beizukommen.

Mit den Fingernägeln Nazi-Aufkleber von Stromkästen und Laternenmasten zu kratzen ist das Eine. Aber dass eine komplette Kleingartensiedlung Reise in die völkische Vergangenheit spielt und mit Flaschenpfand, handschriftlich etikettierter Marmelade und Wachschutz der Bedrohung des eigenen Fortbestands entgegenzuwirken trachtet, nimmt ein Ausmaß an Absurdität an, dass Lou sich fast nach den Kamerateams und Stützstreben auf der Rückseite der völkischen Fassaden sehnt. Nur, dass das hier leider kein Potemkinsches Dorf ist. Keine Episode aus irgendeiner zynischen Late Night Show. Das hier will ihre Heimat sein.

»Quitten abzugeben« informiert der Zettel in der Klarsichtfolie am Zaun neben Ottilies Grundstück. Lou ist versucht zu klingeln. Ein paar Quitten fürs Armaturenbrett. Sie mag den Geruch von Quitten. Andere hängen sich einen Duftbaum an den Rückspiegel. Und überhaupt, warum soll sie auf den Quittengeruch verzichten, nur weil die Welt plötzlich verrückt spielt. Ottilie war die Quittenbeauftragte der Anlage. In jedem anderen gottverdammten Herbst hätte Lous Volvo um diese Zeit mit geöffnetem Kofferraumdeckel auf Ottilies Grundstück darauf gewartet, mit Quitten befüllt zu werden. Zu einem festgelegten Termin haben alle ihre Quitten bei ihr abgeliefert, und dann hat Lou sie in ihrem Volvo zur Kelterei nach Holzhausen kutschiert. Lou streckt den Finger nach der Klingel aus. Vom Boden neben dem schmiedeeisernen Fußrost steigt der herbe Geruch verrottender Birnen auf. Lou muss grinsen. Mit Fallobst hat Ottilie immer kokettiert, genau ihre Liga, nicht mal mehr für Wespen attraktiv, aber für Schnaps noch gut genug. Ottilie würde bestimmt auch etwas zu dem Fußrost einfallen. Zu dem Fußrost vor dem Gartentor, an dem Lou gerade klingeln will. In den schmiedeeisernen Fußrost ist ein Reichsadler eingelassen. Zeit, sich in bessere Gesellschaft zu bringen. Oder wenigstens in Gesellschaft von Ottilies Quittenraki. Lou zieht sich die verfilzte Mütze fester über den Kopf. Wenigstens gegen das Wetter ist sie gewappnet.

Ottilies Briefkasten ist mit blau ummantelten Drahtresten am Maschendraht befestigt. An etlichen Stellen ist der schwarze Lack von der billigen Baumarktausführung abgeplatzt und das darunterliegende Blech beginnt zu rosten. Die Kratzspuren rund um das Schlüsselloch zeugen von den fehlgeschlagenen Versuchen, es zu treffen. Das verbogene Blech am Einwurfschlitz zeugt von den Versuchen, die Post ohne Öffnung des Schlosses herauszuziehen. Die improvisierte Befestigung und die Kratzer und das aufgebogene Blech zeugen von Ottilie. Als Lou den Schlüssel abzieht, fällt ihr die Post mit der Klappe entgegen, die erwartbaren Wurfsendungen, zwei aneinander- getackerte, laminierte DIN-A4-Blätter und ein großer, handschriftlich adressierter Umschlag vom Kleingartenverein. Mit der Hüfte drückt sie das Eingangstörchen auf und schiebt den Zeigefinger unter die Falz, während die Rückholfeder das Gartentor träge wieder ins Schloss zieht.

Lou hat Ottilie nicht davor bewahren können, von der Leiter zu fallen. Lou hat Ottilie nicht davon abhalten können, eine behindertengerechte Busreise zu buchen. Wenigstens auf ihrem Laub soll Ottilie nicht sitzen bleiben. Auf ihrem Heckenschnitt. Laubabfälle, Sperrmüll und Heckenschnitt, das wären die Begriffe gewesen, bei denen Lou sich das Datum notiert und den Brief beiseitegelegt hätte. Nur leider finden sich in der Betreffzeile weder Sperrmüll noch Heckenschnitt. Nicht mal ein angemahnter Mitgliedsbeitrag. Räumung und Herausgabe gem. BKleingG. BKleingG steht für Bundeskleingartengesetz und ist kein Begriff, bei dem Lou zu lesen aufhört. »Bleibt der Gartenfreund nach rechtswirksam zugestellter Kündigung mindestens ein Jahr lang untätig, entsteht der Eindruck, er habe den Besitz an der Parzelle aufgegeben. Da aus gesundheitlichen Gründen die Wiederaufnahme der Gartenbetreuung auszuschließen ist, hat der Verein – vertreten durch die unterschriftlich ausgewiesenen Zeugen – am 7. September 2016 eine Begehung vorgenommen, um den Zustand zu beurteilen und das zu beräumende Eigentum zu erfassen. Etwaige Schadensersatzforderungen aufgrund § 231 BGB sind dadurch ausgeschlossen.«

Selbst, wenn Lou sich mit Randall Boggs, Evelyn Couch und Holly Golightly noch drei teildomestizierte Hausdämonen hält, hat sie doch genug Lebenszeit darauf verwendet, sich mithilfe einer kassenfinanzierten Therapeutin ihre Verschwörungstheorien abzutrainieren. Anzuerkennen, dass weder Ampelschaltungen noch Wasserkocher noch Zahnpastatuben sich gegen sie verschworen haben. Aber das hier, das klingt deutlich nach Verschwörung. Zu deutlich drängt sich der Zusammenhang auf zwischen der Kündigung, die sie aus Ottilies ramponiertem Briefkasten gezogen hat, und der ramponierten Ottilie, mit der sie morgen einen Bus besteigen wird. Seufzend faltet Lou das Anschreiben klein, schiebt es in die Potasche und fragt sich, wie viele Fehler sich eigentlich noch in das Bild einschleichen wollen. Sie muss kein zweites Mal auf den mit Betonplatten gepflasterten Weg gucken. Nicht auf die wulstigen Teerfugen, die im Hochsommer in der Hitze weich werden. Nicht auf die welligen Teerpappen auf dem Flachdach, die zu ersetzen sie seit Jahren vorhaben. Nicht auf die grünen Fensterläden, von denen der Lack absplittert, eigentlich wollten sie die im Sommer angehen. Nicht auf die Hollywoodschaukel mit den wasserabweisenden türkisfarbenen Bezügen unter dem alles überragenden Walnussbaum. Nicht auf den von Brombeerranken überwucherten Komposthaufen. Lou hebt den Blick in den verhangenen Himmel. Graphitgrau ist zu wolkenverhangen schwarz geworden. Kein Mond, keine Sterne. Nur der helle Schein, der durch die Wolkendecke dringt, zeugt davon, dass sie zumindest noch da sind. Erneut senkt Lou den Blick auf die vor ihr liegende Kulisse. Pflasterweg, Teerfugen, Laube, Walnussbaum, Hollywoodschaukel. Noch da. Wie der Mond hinter der Wolkendecke. Vielleicht funktioniert der Trick ein zweites Mal. Lou hebt den Blick in den Himmel. Die Wolkendecke reißt auf. Gibt dem dahinter verborgenen Mond die Chance, die Wahrheit zu beleuchten. Die Wahrheit, die Lou im Halbdunkel schon erahnt hat. Ottilies Rosenstöcke, die den gepflasterten Weg gesäumt, die Hauswand eingefasst haben, willkürlich über die Wiese verteilt standen.

Verschwunden.

Oberst Blaskowitz.

Weg.

Major Lüters.

Weg.

Wehrmachtsoffizier Heinz Drossel.

Weg.

Feldwebel Anton Schmid.

Weg.

Oberleutnant Josef Sibille.

Weg.

Das Loch in der Wolkendecke gibt den Mond jetzt vollends frei. Dutzendfach spiegelt sich sein Schein auf der fahlgrünen Oberfläche unzähliger ballförmiger Objekte. Nur, dass es keine Bälle sind, auf denen er sich spiegelt. Sondern rechts und links des Weges gepflanzte Kohlköpfe. Fahlgrün und gespenstisch leuchten sie im Mondlicht. Wie die selbstklebenden Leuchtsterne, die Anatol als Kind über dem Bett hängen hatte.

Der DIN-A4-Ausdruck, versehen mit einem handschriftlichen Gruß und einer unleserlichen Unterschrift, weiß zu berichten, dass Weißkohl einen sonnigen Standort bevorzugt und als stark zehrend gilt, weswegen die Pflanzen dem Boden für ein gesundes Wachstum viele Nährstoffe entziehen. Dass, im Gegensatz zu den frühen Sorten, der Kohl für die Winterernte erst Ende Juni ins Beet gesetzt wird. Dass Kohl geerntet werden kann, sobald die Köpfe eine annehmliche Größe erreicht haben. »Annehmlich« definiert der Ausdruck nicht weiter, weist aber explizit auf die Gefahr des Aufplatzens hin, so man ihn zu lange im Beet stehen lässt, die annehmliche Größe scheint also naturgegebene Grenzen zu haben. Bei den im Mondschein glänzenden Exemplaren handelt es sich ganz klar um spät ausgebrachte Setzlinge für die Winterernte. Denn als man die frühen Sorten hätte ausbringen müssen, stand Ottilie noch auf der Leiter. Haben hier noch Rosenstöcke mit den Namen widerständiger Wehrmachtsangehöriger die Stellung gehalten. Und jetzt das. Alle gefallen, die Wehrmachtsangehörigen, die ungeernteten Walnüsse, Ottilie. Mit jedem Schritt über die Betonplatten, der Lou dem Eingang näher bringt, verlangsamt sich ihr Gang. Dieses »Neue Denken«, das ihr letzten Juni zum ersten Mal in der Vereinsgaststätte begegnet ist und seitdem auch Karola infiziert hat, scheint es nicht beim Denken zu belassen. Was sie hier sieht, ist eine klare Kampfansage. Man ist zum Handeln übergegangen. Und hat vor Ottilies kleinem gallischen Dorf nicht haltgemacht. Was Lou jetzt braucht, ist Schnaps.

Sie dreht den Schlüssel und stößt die Tür auf. Aus dem stockdusteren Innenraum strömt ihr der Geruch von auf Zeitungsbahnen lagernden Äpfeln entgegen. Lou tastet nach dem Bakelitschalter neben der Tür, wenigstens hier drin hat alles seine Ordnung, denkt sie. Bis die Deckenlampe gnadenlos den nächsten Fehler ausleuchtet. Der Anblick, der zu Ottilies die gesamte Rückwand einnehmenden Vorratsregalen gehört, sind handbeschriftete Einmachgläser, die Dichtungsgummis rissig, die Deckel mit einer dicken Staubschicht überzogen, das Einmach-datum zum Teil noch vor der Jahrtausendwende. Aber.

An Stelle von Pflaumenkompott, Stachelbeeren, Mirabellen, Brombeerkonfitüre, Quittengelee, Kürbis süßsauer, Löwenzahnkapern in Salz-Essig-Sud, sauer eingelegten Stockschwämmchen und klebrig-süßen schwarzen Nüssen bevölkern Dosenravioli, Corned-Beef-Büchsen, in Zwanzigerpacks eingeschweißte Tomatenmarkdöschen, Würfelzucker, Speisesalz, Sonnenblumenöl, Streichhölzer und Klopapierpackungen die Regale. Mit der Etikettiermaschine beschriftete Schildchen an der Frontseite der Bretter weisen das Mindesthaltbarkeitsdatum der darüber befindlichen Ware aus.

Unter der Fensterfront links vom Eingang Ottilies Küchenzeile mit der Resopalarbeitsplatte und dem Gasherd. An die Fensterfront anschließend die senfgelbe Ölsockelwand, spritzwasser- und fettabweisend, über dem niedrigen Kühlschrank die alte Tafel. Als Anatol noch klein war, hatte Ottilie eine Kiste mit bunten Kreiden für seine Dinosaurier, Drachen und Monster. In den letzten Jahren hat Ottilie die Tafel vornehmlich zur Quittenerfassung genutzt, hat in drei Spalten Namen, abgelieferte Menge und anteilsmäßig zustehenden Quittenschnaps notiert. Dass sie in diesem Jahr keine Quittentabelle erwarten würde, ist Lou klar, und Anatols Monster bevölkern die Tafel schon seit Jahren nicht mehr. Statt Monstern und Quitten starren ihr unzählige kleine rote Stecknadelköpfe entgegen, scheinbar willkürlich verteilt ragen sie aus einer mit Reißzwecken an die Tafel gepinnten Deutschlandkarte. An den Stecknadeln sind kleine beschriftete Fähnchen befestigt, darunter, auf der Kreideablage, ein durchsichtiger Kunststoffcontainer voller Stecknadeln und ein neonfarbener Post-it-Block. Lou stützt die Hände auf den Kühlschrank und beugt sich vor, um die winzige Beschriftung zu entziffern. Kreuzberg, 27. März. Berlin-Buch, 21. April (500). Zossen, Mai. Charlottenburg, 17. Mai (3). Weißensee, 1. Juli (3). Marzahn-Hellersdorf, 21. August. Neustadt an der Waldnaab, 21. August. Weissach, 24. August. Döbeln, 25. August. Nauen, 25. August. Selbst angesichts der Tatsache, dass Karola seit ein paar Monaten für einen privaten Postzusteller Briefe ausliefert und man ihr einen Smart mit Firmenlogo zur Verfügung gestellt hat, liegen die Orte zu weit über Deutschland verteilt, als dass es sich um ihre Einsatzorte handeln könnte.

Nicht nur das zusammengefaltete Schreiben in Lous Hosentasche trägt Karolas Handschrift. Lou hat ihr das Schlüsselversteck ja selber verraten, damit sie sich nach dem Rasenmähen die Hände waschen und einen Kaffee kochen kann. Offenbar hat Karola ihren Verantwortungsbereich seitdem etwas ausgedehnt. Und ist dabei mit außerordentlicher Gründlichkeit vorgegangen: Nicht nur belagern Teelichter und Frühstücksfleischbüchsen Ottilies Regalbretter und die Rosenstöcke mussten Kohlköpfen weichen, nein, selbst Anatols längst vergilbte und an den Rändern eingerissene Drachenzeichnungen hat sie von der Kühlschranktür entfernt und an eine formaljuristisch unanfechtbare Räumungsankündigung gedacht. Lou geht vor dem Kühlschrank in die Knie. Mit ein bisschen Glück hat das Räumkommando wenigstens vor der Flasche Brotschnaps, die Ottilie immer im Eisfach hatte, Respekt gehabt. Die Gummidichtung der Kühlschranktür gibt beim Öffnen das vertraute Ploppen von sich. Ab dann ist nichts mehr vertraut. Auf den Gitterböden unterhalb des Eisfachs stapelt sich eingeschweißter Wurstaufschnitt, nach Sorten getrennt, links ein Stapel Linessa-Schinkenwurst, in der Mitte Dulano-Pfefferschinken, rechts Dulano-Hähnchenbrust, das Gemüsefach vollgestopft mit vakuumverpackten Dulano Geflügelfleischwurstabschnitten.

Ottilie isst keinen eingeschweißten Aufschnitt. Ottilie war seit Mitte Juni nicht mehr hier. Aber wenigstens trinkt, wer auch immer hier Äpfel einlagert und Möhren in Sandkisten gesteckt und den Kühlschrank mit Dulano-Aufschnitt vollgestopft hat, keinen Brotschnaps. Die Flasche scheint zwischen den Eiskristallen festgewachsen zu sein, der ganze Kühlschrank gerät ins Wackeln, so fest muss Lou am Flaschenhals ruckeln, um die Flasche aus ihrer Eisumwucherung zu befreien. Was hat sie sich über Ottilies Vorratshaltung lustig gemacht. Im Falle einer Naturkatastrophe oder bei Ausfall der öffentlichen Versorgung, hat sie gelästert, könne Ottilie die gesamte Kleingartensiedlung mit klebrigen schwarzen Nüssen in Zimt-Nelken-Sirup und Erdnussbutter versorgen. Mit dem Unterschied, dass Ottilies Vorratshaltung die Vorratshaltung einer Frau mit Kriegs-, Flucht- und Entbehrungserfahrung ist, die sich mit Garzeiten, Konservierung und Sterilisierung von Obst und Gemüse auskennt, weil es statt Tiefkühltruhen, Supermarktketten und Freihandelszonen Anbau- und Erntezeiten, Lagerhaltung und Hunger gab. Eine Frau, die keine App braucht, um zu wissen, wie man Tomatenpflanzen ausgeizt, und die den Geschmack von Erdbeeren nicht nur aus der Yogurette kennt.

Lou reißt eine der Aufschnittpackungen an der vorgesehenen Lasche auf, schiebt dem ersten Schluck Brotschnaps eine zusammengerollte Scheibe fettreduzierter Linessa-Schinkenwurst hinterher und lässt sich mit der aufgerissenen Packung mit dem Rücken zum Kühlschrank auf dem Boden nieder. Auf dem Boden unter den Vorratsbrettern steht eine Reihe Versandkisten, die ihr erst jetzt ins Auge fallen, Sicher Satt Krisenvorsorge.com steht auf dem Paketklebeband. Lou streckt den Fuß aus und angelt sich eine der Kisten. 1 x Optimus Crux Kochsystem, 3 x Optimus Gaskartusche 230 g, 1 x Kurbelradio »TUF«, 1 x Kurbeltischlampe »Goal Zero Lighthouse 400«, 10 Schachteln Streichhölzer »strike anywhere«, fünf Kerzen, lang brennend, und ein extrem haltbarer Light my fire-Feuerstahl mit massivem Griff aus Kunststoff und bis zu 12.000 garantierten Zündungen, weist der obenauf liegende Lieferschein den Inhalt aus. Und den Preis. 299 Schweizer Franken.

Vielleicht liegt der Fehler ja bei ihr. Vielleicht lautet die Frage gar nicht, wie viele Fehler sich in das Bild eingeschlichen haben. Sondern ob sie im falschen Bild ist. Nicht im Bild ist. Der Fehler im Bild ist. Sie hat von Selbstversorgern gehört. Selbstversorger, die sich Prepper nennen, weil sie »prepared« sein wollen, vorbereitet. Vorbereitet auf den Tag X. Den Untergang. Den Bürgerkrieg. Menschen, die die Legitimität der Bundesrepublik leugnen, ihr eigenes Hoheitsgebiet erklären und sich unter Selbstverwaltung stellen. Die Bußgeldbescheide und Zahlungsaufforderungen nicht anerkennen und Gerichtsvollzieher an Beschlagnahmungen hindern, weil es sich dabei um eine auf besetztem Gebiet unzulässige Plünderung handle. Die sich auf die Haager Landkriegsordnung berufen, weil sie das Grundgesetz einer »Lizenzrepublik der Westalliierten« nicht als Gesetzesgrundlage anerkennen. Lou hat diese Gestalten für vereinzelte Spinner gehalten, die zur Steigerung der Einschaltquoten von ZDF neo, Spiegel TV oder Brisant in Trainingsjacken und Basecaps durch Maisfelder stiefelnd wirre Sätze von sich geben, oder mit Orden und Abzeichen behängt den preußischen Staat als einzige Instanz anzuerkennen vorgeben. Auch beliebt, ihnen ein Mikrofon vor die Nase zu halten, wenn sie sich auf deutsche Tugenden berufen. Sich zur Aussage hinreißen lassen, Hitler habe ja gar keine andere Wahl gehabt als Konzentrationslager einzurichten, nachdem ihn der Papst so schmählich im Stich gelassen habe, der Papst, der ihm nämlich die Unterstützung bei der Entledigung der aus den Ostgebieten nach Deutschland gekommenen »israelischen Menschen« zugesagt habe.

Lou weiß wenig von diesen Menschen, die ungefragt ganz viel wissen, aber auf entsprechende Nachfrage weit von sich weisen, Dinge beurteilen zu können, die sie nur vom Hörensagen kennen und bei denen sie ja nicht zugegen gewesen seien. Wie zum Beispiel beim angeblichen Völkermord an den Juden (da fällt ihnen plötzlich wieder ein, dass es für »israelische Menschen« noch einen anderen Begriff gibt). Quotenträchtige Spinner, hat Lou sich eingeredet, Zukurzgekommene, armselige Gestalten, die irgendwann mal aufs falsche Pferd gesetzt haben und sich das nicht eingestehen können, weswegen sie sich jetzt auf die Unrechtmäßigkeit des Staates berufen und zu Widerstandskämpfern stilisieren. Menschen, die seit Monaten keine Miete mehr gezahlt haben und sich dann über Räumungsklagen empören. Menschen, die jedenfalls mit Sicherheit keine 300 Schweizer Franken für ein Optimus Crux Kochsystem und eine Kurbeltischlampe »Goal Zero Lighthouse 400« übrig haben. Menschen, die anderswo leben. In abgehängten Regionen. In Arbeiterschließfächern. In Köln-Kalk, Duisburg-Marxloh, Offenbach oder Berlin-Marzahn. In der Schorfheide. In der sachsen-anhaltinischen Pampa. Im Brandenburger Hinterland. Aber doch nicht hier, in der Kleingartensiedlung Eintracht e.V., wo gerade der Soundcheck zum Erntedankfest stattfindet und man die schmerzlich vermisste Solidarität durch 500-Euro-Elektrogrills und Carports ersetzt hat. Und neuerdings durch Fußabstreifgitter mit eingearbeitetem Reichsadler und wiederentdeckte Heimatliebe.

Zur Feier des Tages und zu Ehren der Heimat verzichtet Lou auf ein Glas und trinkt direkt aus der Flasche. Die erste Packung fettreduzierter Schinkenwurst ist niedergemacht, jetzt ist die Geflügelfleischwurst fällig. Die abgebissenen Fetzen spuckt sie auf den Boden, die geriffelte Kunststoffnaht ist so fest verschweißt, dass sie die Zähne zur Hilfe nehmen muss. Zu viele Unwägbarkeiten heute. Zu viele Fehler im System. Vorgesehen war: eine zweitägige Busreise mit Ottilie, um dem Erntedankfest zu entfliehen. Vorgesehen war: Reiseproviant und Partyluftballons besorgen. Vorgesehen war: Ottilies gottverdammte Videokassette aus der Laube holen. Nicht vorgesehen war, zunehmend betrunken unter einer stecknadelgespickten Deutschlandkarte zu sitzen und zu versuchen, den Dingen Sinn abzuringen. Nicht vorgesehen war, wie paralysiert vor einer Kiste Sicher Satt Krisenvorsorge auf dem Boden zu kauern und Industriewurst zu fressen. Vorgesehen war, in knapp zehn Stunden mit einem Proviantbeutel mit hartgekochten Eiern und Ottilie in ihrem Rollstuhl in einer Meute erlebnishungriger Rentner an der Haltestelle vor dem Polster & Pohl Reisebüro zu stehen.

Na komm, einer geht noch. Lockt die Stimme. Humbug. Als ob das die Kohlköpfe und die Deutschlandkarte zum Verschwinden bringen würde. Zetert die Vernunft. Kannst ja schließlich nicht ewig vor dem Kühlschrank sitzen bleiben und eingeschweißten Aufschnitt vernichten. Auf geht’s, schieb die Flasche zurück ins Eis, reiß dich zusammen und vergiss die Videokassette nicht. Resigniert schraubt Lou die Flasche zu, reißt ein daumendickes Stück aus dem Fleischwurstabschnitt und zieht sich am Kühlschrank hoch. Ihre Knie knacken und die Fleischwurst schmeckt, wie sie sich das Elend der Welt vorstellt. Irgendetwas wollen die roten Stecknadelköpfe in der Deutschlandkarte ihr sagen. Sie kommt noch drauf.

»Wie du siehst, sind wir nicht untätig geblieben.« Mit Karolas Stimme, die plötzlich aus dem Off kommt, ließe sich die Fleischwurst in Scheiben schneiden. »Wird Zeit, dass die Zeiten sich ändern, erinnerst du dich? Auf blühende Landschaften hab ich lange genug gewartet. War nur eine Frage der Zeit, bis es einer als Erstes ausspricht: Dieses System hat abgewirtschaftet. Aber dieses Mal bin ich besser vorbereitet. Dieses Mal lass ich mir das Heft nicht aus der Hand nehmen. Nicht von denen, die den Boden nicht mal bewirtschaften, über den sie bestimmen wollen.« Lous Handflächen geben ein leises Schmatzen von sich, als sie sie von der Kühlschrankoberfläche löst und einen Blick über die Schulter riskiert. Wie sie da in gelben Gummistiefeln mit blitzenden Augen im Türrahmen steht und Lou feindselig mustert, hat Karola etwas von einer Rachegöttin. Fehlt nur noch die Mistgabel und sie könnte als germanisierte Ausgabe von Grant Woods American Gothic durchgehen. Allerdings steht ihr eng anliegendes schwarzes Stretchkleid mit den bunten Lurexstreifen in seltsamem Gegensatz zu ihrem Landfrauenauftritt. Was nichts daran ändert, dass Karola wesentlich lebendiger aussieht als in den Zeiten der Müdigkeit und Erschöpfung, als Lou sich darauf beschränkt hat, ihr das Glas immer wieder vollzuschenken, wenn Karola sich mal wieder über die Mühlen der Justiz und die Unzulänglichkeit deutscher Behörden erregt hat. Ihr das Glas so lange wieder vollzuschenken, bis jeder Funke gelöscht und keine Entzündung mehr möglich war. Das Neue Denken scheint Karola daran erinnert zu haben, dass sie nicht gelöscht werden will. Sondern brennen.

»Nicht wiederzuerkennen, was? Brauchst gar nicht so missbilligend zu gucken, du wärst doch die Erste, die dasteht wie Drops, wenn da draußen der Bürgerkrieg losbricht, die Supermärkte geplündert werden und die Strom- und Wasserversorgung zusammenbricht. Kriegst du eigentlich überhaupt noch mit, was hier los ist? Die Zeit von Brot und Rosen ist vorbei. Glaubst du, ich mache mir die Pfoten schmutzig, weil wir einen Kegelclub gründen wollen? Kennst doch das Fidel-Zitat: ›Die Geschichte wird uns freisprechen.‹ – Die Tatsache, dass ihr unsere Thesen als spinnerte Theorien verkauft, ändert ja nichts an ihrem Wahrheitsgehalt. Die Alliierten mögen das Deutsche Reich vielleicht handlungsunfähig gemacht haben – untergegangen ist es nie. Musste selbst dein Bundesverfassungsgericht bestätigen. Das Deutsche Reich ist nicht untergegangen, weder mit der Kapitulation noch durch Ausübung fremder Staatsgewalt durch die alliierten Okkupationsmächte. Aber selbst wenn ich anerkennen muss, dass die Siegermächte das ziemlich lange ziemlich gut verschleiert haben, ändert das nichts an der generellen Unrechtmäßigkeit des Systems. Und an dem Punkt hast du zwei Möglichkeiten: Entweder du spielst mit und hoffst, dass du den großen Knall nicht mehr erlebst. Oder du fängst an, selber zu denken, die Zeichen zu lesen und dich zu wappnen. Wie deine Entscheidung ausgefallen ist, sieht man ja. Immer schön weitermachen. Einfach weghören, nicht wahrhaben wollen, wenn immer mehr Menschen dieselben Fragen stellen. Im Gegensatz zu mir. Ich bin vorbereitet.«

Lou strafft die Schultern. Zieht den zerknitterten Umschlag aus ihrer Arschtasche. »Bleibt der Gartenfreund nach rechtswirksam zugestellter Kündigung mindestens ein Jahr lang untätig, entsteht der Eindruck, er habe den Besitz an der Parzelle aufgegeben.« Sie muss sich beherrschen, ihre Stimme im Griff zu behalten. »Ist das deine Vorstellung davon, mit Ottilie zu klären, wie es mit ihrem Garten weitergehen soll?« Aus dem Dunkel hinter Karola löst sich eine zweite Gestalt. »Bevor Sie hier zu wüsten Beschimpfungen ansetzen, lassen Sie mich Folgendes klarstellen: Damit der Verein über eine nicht mehr genutzte Parzelle verfügen und sie vom Eigentum des vorigen Pächters beräumen kann, bedarf es eines gerichtlichen Räumungstitels. Ohne ihn fiele die Öffnung und Beräumung der Laube unter verbotene Selbsthilfe, die zum Schadensersatz gemäß § 231 BGB führt, insbesondere, wenn der Gekündigte von der Inbesitznahme seiner Parzelle nichts weiß und aus diesem Grund seine Rechte nicht wahrnehmen kann. Was im Falle Ihrer bedauerlicherweise zu schwerem körperlichen Schaden gekommenen Freundin zuträfe. Ich schlage insofern vor, dass Sie dem Verband zugutehalten, seiner besonderen Sorgfaltspflicht in außerordentlichem Maße nachgekommen zu sein: Das Eigentum wurde erfasst, der Zustand beurteilt, das Protokoll samt Unterschrift der Zeugen liegt Ihnen vor. Wie mit dem Eigentum zu verfahren ist, sollte mit dem Amtsgericht abgesprochen werden, zumal die Wiedervergabe der Parzelle ja aussteht. Und für den Fall, dass Sie mit dem Verbandsrecht nicht so vertraut sind: Aus einer Kündigung ergibt sich weder ein Rechtsanspruch noch ein Mitspracherecht bezüglich des weiteren Umgangs mit der Parzelle. Die Neuvergabe obliegt einzig und allein dem Zwischenpächter, also dem Verband, der den Vereinsvorstand für die Suche nach einem Pachtnachfolger bevollmächtigen kann. Eine Weitergabe des Gartens an einen Nachpächter ohne vorherige Rückgabe an den Verband ist nicht nur unzulässig, sie erfüllt sogar den Straftatbestand der Nötigung. Als durch den Verpächter Bevollmächtigter muss der Verein jeder Weitergabe widersprechen, solange die Übergabe bzw. Übernahme ohne die ein Nutzungsrecht begründende Rechtsgrundlage Unterverpachtung erfolgt. Der weichende Pächter hat kein Verfügungsrecht über den Boden. – Soweit vielleicht in aller gebotenen Kürze zur Rechtslage. Ich verzichte in diesem Fall darauf, Sie wegen unrechtmäßigen Betretens der Pachtsache zu belangen und beschränke mich darauf, Ihnen fünfzehn Minuten zum Verlassen des Grundstücks einzuräumen. Sehen Sie es als Zeichen meiner besonderen Großzügigkeit angesichts der offenbar zwischen Ihnen bestehenden Bekanntschaft, dass ich Ihnen fünfzehn Minuten unter Karolas Aufsicht einräume, etwaige private Gegenstände der gekündigten Gartenfreundin an sich zu nehmen.«

Lou verzichtet darauf, Karolas Begleitung darauf hinzuweisen, dass er sich gerade auf Paragrafen der Rechtsordnung eines Staates beruft, dessen Legitimität er und seine Gefolgschaft erklärtermaßen nicht anerkennen. Lou verzichtet darauf, ihn darauf hinzuweisen, dass ihr eine rechtmäßige Zustellung der Kündigung nicht bekannt ist. Lou verzichtet darauf, ihn auf den Verbleib von Anatols Drachenzeichnungen anzusprechen. Lou verzichtet darauf, Karola ins Gesicht zu springen. Stattdessen bedankt sie sich für die besondere Großzügigkeit und wartet ab, bis er sich mit Wangenküsschen von Karola verabschiedet hat, »Wir sehen uns dann gleich drüben, ja?«, die Vertraulichkeit, mit der er ihr dabei die Hand auf die Hüfte legt, lässt vermuten, dass er nicht nur für Karolas Neues Denken zuständig ist.

Lou verzichtet auch nach seinem Abgang auf jede Reaktion, die die Situation üblicherweise erfordern würde, und wedelt stattdessen einladend mit der Schnapsflasche. Absurder kann die Situation nicht mehr werden, und da Karola offensichtlich abgeordnet ist, jeden ihrer Schritte zu überwachen, kann sie genauso gut bei jedem dieser Schritte weitertrinken. Karola scheint kurz überfordert, dann nickt sie. »Verdammt, Lou, unter anderen historischen Umständen hätten wir Freunde bleiben können. Aber offensichtlich gehörst du zu denen, die nicht nur nichts verstanden haben, sondern die nicht einmal jetzt bereit sind, sich den neuen Verhältnissen und Notwendigkeiten anzupassen. Mann, du kannst mir glauben, dass du die Letzte bist, die ich unter die Räder geraten sehen will. Willst du meinen Rat hören? Akzeptier, was du hier siehst. Und dann verschwinde wieder in deine Welt, solange du kannst. Denn, ganz ehrlich, darin bestand doch immer der Unterschied zwischen deiner und meiner Welt: Für dich gibt es eine andere Welt, aus der du kommst und in die du jederzeit zurückkehren kannst.«

Da ist sie wieder, die ausgelutschte Kamelle. Von der Ahnung, die sie nicht hat. Von den Erfahrungen, die sie nicht kennt. Läge ihr nicht der Wecker im Ohr, der morgen um sechs klingelt, die ungepackte Tasche, Lou hätte verdammt große Lust, sich für den Rest der Nacht vor der Kühlschranktür einzurichten und mit Karola die Gespräche fortzusetzen, die sie Mitte der Neunziger noch so leidenschaftlich geführt haben. Als sie sich die Köpfe heißdiskutiert haben, wer sie waren, woher sie kamen, welche Bücher sie gelesen, welche Lieder sie gesungen, woran sie geglaubt hatten. Was davon sie getrennt, was sie geeint hat. Warum sie das heute nicht mehr tun? Lou hat keine Antwort. Warum tun sie das heute nicht mehr? Die Fragen sind nicht beantwortet. Es gibt auch keine Übereinkunft, dass man auf Basis fehlender gemeinsamer Lieblingsserien keine Übereinkunft finden kann. Die entscheidende Veränderung besteht darin, dass Lou und Karola sich über diese Dinge nicht mehr austauschen, um einander zu verstehen, sondern um sich gegenseitig nachzuweisen, warum sie einander bekämpfen müssen.

»Mitte zwanzig, das Leben geht los. Zumindest für dich.« Da. Wie auf Kommando. So geht eine Kampfansage. Anfang der Neunziger hätte Karola Fragesätze gebildet. Wann und warum sich Ton und Syntax geändert haben, wird in letzter Zeit immer häufiger bei Maischberger und Anne Will diskutiert. Dass Ton und Syntax keine Rolle mehr spielen, haben Lou heute im Mondlicht fluoreszierende Kohlköpfe erzählt.

»Und während für dich das Leben losgeht, stehe ich mit einem Stapel Schallplatten und einer nutzlosen DDR-Ausbildung bei meiner Mutter in Weißenfels auf der Matte. Unter uns ein leerstehendes Schuhgeschäft. In der Fußgängerzone leerstehende Geschäfte. Die Betriebe? Leerstehend. Die Menschen, die in den Geschäften und Betrieben gearbeitet haben? Entlassen, überflüssig. Du erinnerst dich, die leistungsunwilligen Wendeverlierer mit dem leeren Blick und der Sehnsucht nach Solidarität. Du weißt schon, dieses pathetische Ostding, für das wir in der Grundschule unser Taschengeld abliefern durften, als Zeichen der Solidarität mit dem nordvietnamesischen Volk.« Lou will den Zeigefinger heben. Einspruch, euer Ehren. Dass sie minderqualifiziert ist, hat sie doch längst anerkannt. Aber warum die Solidarität mit dem nordvietnamesischen Volk Karola berechtigt, Ottilies Laube zu enteignen, leitet sich damit noch lange nicht hinreichend her. »Und komm mir jetzt nicht mit deinem ›Oma erzählt vom Krieg‹-Blick. Das ist doch der perverse Witz an der Sache. Wir sprechen über unsere Jugend. Du bist mit Hesse in der Jackentasche über den Schulhof gerannt. Ich hab Bier und Sauerbraten und meinen Arsch zwischen besoffenen Stahlwerkern durchbalanciert. Im Sommer 1988 warst du Schülerin und hattest die Wahl zwischen fünf verschiedenen Sonnencremes. Im selben Sommer war ich Mutter und hatte einen Fahrschein für den Grotewohl-Express. Dein größtes Problem war der richtige Sonnenschutzfaktor. Mein größtes Problem war eine Wachtel. Eine Knastaufseherin. Im berüchtigten DDR-Frauenknast Hoheneck. Aus dem heute einer von den Jungs, die dich in den Achtzigern mit Hesse in der Hosentasche beeindruckt haben, ein Erlebnishotel machen will. Mit ›Jailhouse-Feeling‹ …

Dabei hab ich’s damals noch gut erwischt: Kommando Planet. Sagt dir natürlich nüscht. Bettwäsche nähen für den Westen. Über meiner Nähmaschine hing die Wandtafel für die Straße der Besten. Ich hatte Haarausfall, Vitaminmangel und die Hygiene war unterirdisch, aber wenigstens haben sie mich nie in die Dunkelzelle gesteckt. Kannst Menschen ja auch anders zeigen, wo sie in der Hackordnung stehen. Aber gut, für eine wie dich ist der Tag ja schon gelaufen, wenn deine Dämonencrew morgens den Duschstrahl falsch temperiert. In Hoheneck machst du ganz andere Sachen für ein bisschen warmes Wasser. Einer Wärterin die Zunge in die Möse stecken, zum Beispiel. Stundenlang hab ich versucht, mir den Geschmack von der Zunge zu bürsten. Um dann im Besuchsraum auf den Boden zu kotzen. Vor den Augen meiner Mutter. Die saß nämlich auf der anderen Seite der Glasscheibe, mit Micha auf dem Schoß. Weil auf meiner Seite des Besuchsraums die widerliche Möse sitzt, der ich den Besuchstermin verdanke. Meine Mutter hat Micha die Augen zugehalten. Danach ist sie nicht mehr gekommen.«

Der Mond scheint nicht nur die Kohlköpfe zum Fluoreszieren zu bringen, sondern auch Karolas Erinnerungen. Von Hoheneck hat sie früher nie erzählt. »Weghängen war kein Thema, nicht nur wegen Micha. Den Triumph hab ich ihnen einfach nicht gegönnt. Außerdem wussten wir da schon, dass der Westen Politische freikauft. Eine von den Politischen, die Angelika, hatte dann die Idee. Dass wir uns AFFA auf die Stirn schreiben, Aktion für eine friedliche Ausreise. Ich hab in der Werkstatt’ne Nähmaschinennadel abgebrochen und mir das in die Stirn geritzt. Ob die mich da eh schon auf dem Schirm hatten, keine Ahnung, jedenfalls hat die Bundesrepublik mich nach dieser Aktion freigekauft. Plötzlich war ich was wert, 96.000 Mark, aber das hab ich natürlich erst viel später rausgekriegt. Wie so vieles. Viel zu spät geschnallt. Die Panikzustände zum Beispiel. Jahrelang konnte ich morgens kaum Zähne putzen vor Nackenstarre, so krass hab ich nachts mit den Zähnen geknirscht. Panikattacken, beim Aldi, beim Steuerberater, im Kundengespräch, komplett unberechenbar, willst nur noch raus, aber kannst ja nicht einfach wegrennen. Die Zeit heilt alle Wunden, dass ich nicht lache. Nichts ist besser geworden, je länger das alles her war. Im Gegenteil, regelrecht verfolgt hat mich die alte Fotze. Einmal dacht’ ich, ich hätte sie vor der Blechbüchse gesehen, das nächste Mal kam sie aus einem Laden in der Hainstraße. Überall, wo sie auftaucht, kann ich nicht mehr lang, selbst die Motette hat sie mir verleidet, seit die da eins von den Stücken gesungen haben, die sie beim Rundgang immer vor sich hingepfiffen hat. Weißt du, wie das ist, wenn dein Terrain immer kleiner wird? Wenn sich die Mauern schon wieder um dich schließen, nur dass sie diesmal keiner sehen kann außer dir? Völlig irrational, ich weiß, warum hätte sie aus Stollberg weggehen sollen? Aber so ist das eben mit der Angst. Irrational. Muss nur eine die Haare ähnlich haben. Nach ihrem Shampoo riechen. Ein Bein leicht hinterherziehen. Karola, jetzt wirste meschugge. Hab ich wirklich geglaubt.