Tschipo in der Steinzeit - Franz Hohler - E-Book

Tschipo in der Steinzeit E-Book

Franz Hohler

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Beschreibung

Tschipo träumt immer ganz intensiv. Und eines Morgens wacht er sogar in einer Steinzeithöhle auf. Urch, Zwurch und die anderen wundern sich zwar über den Jungen mit der seltsamen Kleidung, aber sie freuen sich, dass er ein paar Tage bei ihnen bleibt.

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Als Ravensburger E-Book erschienen 2015Die Print-Originalausgabe erschien 1995 in der Ravensburger Verlag GmbH© 1995 Ravensburger Verlag GmbHUmschlagillustration und Zeichnungen: Arthur LoosliAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47625-1www.ravensburger.de

Tschipo, wer war das schon wieder?

Ach, richtig – der Bub, der immer so stark träumte, dass am Morgen etwas von seinen Träumen übrig blieb, und der die wildesten Sachen erlebte, von denen unsereiner nur träumen kann. Vielleicht habt ihr ihn schon in die Südsee begleitet? Dorthin hat ihn einmal einer seiner Träume gebracht. Zum Glück traf er dort einen andern starken Träumer an, Tschako, den Piloten, mit dem er dann die verschiedensten Inseln besuchte, bevor es ihm gelang, wieder nach Hause zu kommen.

Oder wart ihr mit Tschipo in der Antarktis? Damals, als am Morgen plötzlich ein Pinguin in seinem Zimmer stand, nur weil Tschipo von ihm geträumt hatte? Diesen Pinguin durfte er dann mit Tschako zusammen dorthin zurückbringen, wo er herkam, und das klingt sehr einfach, wurde aber eine ganz verzwickte Reise.

Die Reise war so spannend, und Tschipo passierten dabei so verrückte Dinge, dass er nachher eine ganze Weile überhaupt nichts mehr träumte.

Vielleicht ist es so: Je langweiliger unser Leben ist, desto verrückteres Zeug träumen wir. Deshalb brauchen Leute, die ein verrücktes Leben führen, gar nichts zu träumen, oder nur ganz langweiliges Zeug.

Ein Mann, der nichts anderes tut, als überall auf der Welt brennende Ölfelder zu löschen, hat kürzlich auf die Frage, was er träume, geantwortet, immer dasselbe, er sitze zu Hause in der Küche und trinke ein Glas Milch. So was Langweiliges.

Dafür hat mir die Verkäuferin im Milchladen, die den ganzen Tag nichts anderes tut, als Milch, Butter, Käse und Jogurt zu verkaufen, gestern Morgen gesagt, sie habe in der Nacht geträumt, ihr Haus brenne und sie müsse aus dem obersten Stock in die Tiefe springen. Das ist zwar unangenehm, aber wenigstens spannend.

Manchmal träumen die Menschen auch vom selben, das sie den ganzen Tag schon tun.

Ein Polizist, den ich kenne, hat mir neulich erzählt, er habe geträumt, wie er Bussenzettel schrieb und unter die Scheibenwischer der Autos klemmte. Doch plötzlich habe er gemerkt, dass er nur seine Jacke und seine Mütze anhatte, darunter sei er nackt gewesen.

Das ist oben langweilig und unten unangenehm.

Und ihr, wovon träumt ihr?

Als ich ein Kind war, träumte ich oft, es sei Krieg, und ich müsse durch brennende Straßen rennen. Dabei bin ich in einem Land aufgewachsen, in dem es seit 150 Jahren keinen Krieg mehr gab, nämlich in der Schweiz.

Tschipo wohnt übrigens auch in der Schweiz, mit seinen Eltern, das werdet ihr manchmal an seiner Sprache merken. So sagt er zum Beispiel für das Unterhemd, das er am Morgen anziehen muss, Unterleibchen. Das klingt fast wie ein kleiner Unterleib, aber was wollt ihr, in der Schweiz sagen wir eben so.

Als Tschipo heute Morgen in sein Unterleibchen schlüpfte, rief er: „Au!“, denn irgendetwas Spitzes hatte ihn geritzt. Gleich danach fiel dieses Etwas zu Boden, und zwar mitten in seine Legoburg. Es warf zwei Playmobilwächter und einen Ritter samt seinem Pferd um und lag nun klein und hart hinter dem Burgtor. Tschipo bückte sich, nahm den Gegenstand vorsichtig in die Hand, und dann kam ihm alles wieder in den Sinn.

Er war heute im Traum mit der ganzen Schulklasse im Heidenloch gewesen, wo die Höhlenmenschen gehaust hatten, und dann hatte er eine Pfeilspitze gefunden, und es war die, die er jetzt in der Hand hielt.

Das war vielleicht ein Fund! Den musste er sofort seiner Mutter zeigen.

Aber halt! Das kannte er doch von früher, dass am Morgen etwas von seinen Träumen übrig blieb. Die Erwachsenen konnten das nicht begreifen und hielten es für eine Art Krankheit. Sie waren sogar mit ihm zum Arzt gegangen deswegen, und der hatte ihm Pillen verschrieben. Tschipo hatte sie jedoch nicht geschluckt, und dann waren die Geschichten mit der Südsee und den Pinguinen passiert, und an die dachte er heute noch gerne.

Wenn das nun also wieder anfing mit dem Träumen, war es vielleicht besser, nichts davon zu erzählen.

Doch die Pfeilspitze war echt, daran zweifelte Tschipo keinen Moment. Schließlich hatte er sie selbst im Heidenloch gefunden.

„Tschipo, bist du auf?“, rief die Mutter aus der Küche. „Ja!“, rief Tschipo zurück, „ich komme gleich!“

Er zog sich fertig an und steckte die Pfeilspitze in die Hosentasche. Ach, war das schwierig! Da fand man etwas, das war derart spitze. Pfeilspitze war das, und man durfte nichts sagen.

Zu Hause wäre ja noch gegangen. Tschipo zeigte seinen Eltern auch nicht alles, was er nach Hause brachte. Die Frauenfürze zum Beispiel, die er von Leo Leuenberger gegen die russischen Briefmarken eingetauscht hatte, hatte er ganz zuunterst in seiner Schublade versorgt, denn Tschipo wusste genau, wie sehr es seine Mutter hasste, wenn es knallte, und vor allem, wenn er knallte.

Aber in der Schule, wo sie gerade von nichts anderem als von Höhlenbewohnern und Pfeilspitzen sprachen! Und er hatte eine Pfeilspitze in der Hosentasche, eine echte Pfeilspitze, und durfte sie nicht zeigen.

Zum Glück hatten sie vor der großen Pause Sprache, wo sie lernten, dass wühlen ein h hat und spülen keins, und Geschichte kam erst nach der Pause dran. Als Werni Lutz jedoch auf dem Pausenplatz eine Versteinerung hervorzog und sagte, die hätte er gestern im Wald gefunden, und die Mädchen schmolzen vor Bewunderung, besonders Mirjam, die Tschipo am besten von allen gefiel, da hielt er es nicht mehr aus und sagte: „So, so, eine Versteinerung hast du gefunden? Und weißt du, was ich gefunden habe? Eine Pfeilspitze.“

Er zog sie beiläufig aus der Hosentasche, und es war wunderbar, wie sich die Mädchenköpfe nun zu ihm drehten, vor allem der Kopf von Mirjam. Alle wollten mit den Fingern prüfen, wie spitz die Spitze war, und Tschipo ließ dies großzügig zu, gab sie aber dabei nicht aus der Hand.

Nach der Pause sprachen sie dann von den Höhlenbewohnern, und da wusste doch Daniela Hebeisen nichts Gescheiteres, als die Hand aufzustrecken und dem Lehrer zu sagen, Tschipo habe eine Pfeilspitze gefunden.

So kommt es heraus, wenn man den Mädchen ein Geheimnis verrät, dachte Tschipo. Doch dann kam ihm in den Sinn, dass er eigentlich gar nicht gesagt hatte, das sei ein Geheimnis, im Gegenteil, er hatte sich sogar laut und deutlich mit seinem Fundstück wichtig gemacht.

Und natürlich kam es, wie es kommen musste: Der Lehrer wollte die Pfeilspitze sehen, und er wollte auch wissen, wo Tschipo sie gefunden hatte.

„Beim Heidenloch“, sagte Tschipo, und er sah sich ganz deutlich im Traum mit der Klasse vor dem Heidenloch stehen. Als es der Lehrer genauer wissen wollte, erinnerte sich Tschipo wieder an die Stelle, wo er sich gebückt hatte. Neben der großen Höhle war noch eine kleine Höhle, ein Loch eher, von dem Tschipo immer gedacht hatte, das sei eine Kinderhöhle gewesen. Ob die Pfeilspitze denn einfach zum Boden herausgeschaut habe oder ob er danach gegraben habe, fragte der Lehrer weiter.

So etwas Dummes. Wieso brauchte der das so genau zu wissen? Doch dann dachte Tschipo nach, wie es im Traum gewesen war, und erzählte es ihm genauso:

„Ich habe“, sagte er, „mit dem Fuß ein bisschen herumgestochert.“

Der Lehrer fand das erstaunlich, im Gegensatz zu Tschipo, der es normal fand, dass vor einer Steinzeithöhle noch ein paar Pfeilspitzen von früher lagen.

Diese Höhle sei samt ihrer ganzen Umgebung schon mehrmals erforscht und umgegraben worden, erzählte der Lehrer, und alles, was man gefunden habe, sei im Museum ausgestellt, das hätten sie ja zusammen besichtigt, und das Museum würde sich sicher sehr für diese Pfeilspitze interessieren.

Tschipo geriet ins Schwitzen. Das wurde ja immer schöner. Wieso hatte er es sich nicht verkneifen können, diese Pfeilspitze aus dem Hosensack zu nehmen? Das war nur wegen der blöden Versteinerung von Werni Lutz. Und es kam nochmals, wie es kommen musste: Der Lehrer schlug Tschipo vor, mit ihm zum Museumsleiter zu gehen und ihm die Pfeilspitze zu zeigen. Ob ihm das recht sei. Au, au, dann erfahren meine Eltern, dass ich wieder träume, und dann muss ich wieder zum Arzt, und der gibt mir wieder Pillen, die ich nicht schlucken will, und das ganze Theater geht von vorne los, und ob ihm das recht sei?

Was?

Tschipo war in Gedanken so weit weg, dass er einfach nickte.

Der Lehrer sagte also, er werde den Museumsdirektor anrufen und werde Tschipo dann sagen, wann es ihm passen würde.

In der nächsten Pause drängten sich wieder alle um Tschipo und konnten gar nicht begreifen, dass er nicht fröhlicher war. Daniela Hebeisen fragte ihn, warum er solch einen Lätsch mache, und sie würde platzen vor Stolz, wenn ihr so etwas passieren würde.

Tschipo antwortete, sie brauche dem Lehrer nicht zu verraten, was er in seiner Hosentasche habe, und das gäbe eine schöne Sauerei, wenn sie platzen würde. Die andern lachten, und Leo Leuenberger und Werni Lutz wollten für den nächsten Mittwochnachmittag mit ihm abmachen zum Pfeilspitzensuchen beim Heidenloch zu gehen, aber Tschipo winkte ab. Es war ihm klar, dass sie sowieso nichts finden würden, denn wo er seine Pfeilspitze herhatte, wusste nur er.

Und so ging er viel schlechter gelaunt von der Schule nach Hause, als er von zu Hause in die Schule gegangen war. Die Mutter fragte ihn, ob sie ein Diktat gehabt hätten, weil sie wusste, dass Tschipo Diktate hasste, aber natürlich hatte Tschipo kein Diktat gehabt. Es sei langweilig gewesen, sagte er bloß und ging in sein Zimmer, um mit seinen Playmobilmännchen zu spielen, die ihre Legoburg tapfer gegen anrückende Monster verteidigten.

Am Nachmittag trat genau das ein, was Tschipo befürchtete. Der Lehrer hatte schon mit dem Museumsleiter telefoniert und einen Besuch für übermorgen nach der Schule vereinbart.

Das machte Tschipo echt Bauchweh, denn das hieß, dass die Wahrheit über die Pfeilspitze herauskommen würde. Ein Museumsdirektor würde niemals glauben, dass eine Pfeilspitze einfach vor einer Höhle lag, die schon hundertmal umgebuddelt worden war, und seine Eltern würden niemals glauben, dass diese Pfeilspitze nicht aus einem Traum kam, und das hieß nichts anderes, als dass die ganzen Schwierigkeiten mit der Träumerei wieder losgingen.

Tschipo schaute während der meisten Zeit, in der er Mengen von Teilmengen und Schnittmengen unterscheiden sollte, zum Schulwandbild mit den Höhlenbewohnern hinauf, das neben der Tafel an der Wand hing, und dachte, dass es die zwei Kinder, die man dort vor der Höhle kauern sah und die er in Gedanken Urch und Zwurch nannte, besser hatten als er, denn sie konnten den ganzen Tag in der Wildnis spielen und aus ihrer Höhle auf den Urwald hinausschauen, aus dem Bären und Wölfe heulten und durch welchen die Mammuts stampften, von denen es damals jede Menge gab.

„Welche Menge gibt das? Tschipo?“, fragte der Lehrer plötzlich.

Tschipo fuhr zusammen.

„Eben“, sagte er. „Jede Menge.“

Und er verstand nicht, weshalb plötzlich alle lachten und der Lehrer seufzend den Kopf schüttelte.

Am nächsten Morgen war Tschipo fast nicht wach zu kriegen. Schon zum dritten Mal rief eine Höhlenbewohnerin: „Tschipo, aufstehen!“, dabei hockte Tschipo mit Urch und Zwurch zusammen in der Kinderhöhle des Heidenlochs und hatte gerade ein Playmobilmännchen gegen einen Rentierknochen getauscht. Sein Männchen hatte den beiden Höhlenkindern besonders gefallen, weil es auf einer kleinen Dampfwalze saß, und so etwas hatten die zwei offenbar noch nie gesehen.

Dafür hatten sie ihm gezeigt, wie man mit einem Feuersteinstichel auf alte Rentierknochen Zeichnungen ritzen konnte. Tschipo hatte es dann selbst ausprobiert und versucht, einen Menschen auf einem Mountain Bike zu zeichnen. Das fand er auf Papier schon schwer, aber erst auf einem Rentierknochen! Einmal glitt ihm der spitze Feuerstein aus, und er fuhr sich damit in den Daumen der linken Hand, der zu bluten begann. Urch hatte sofort ein großes Blatt einer Pflanze geholt, die Tschipo noch nie gesehen hatte, und ihm damit den Daumen verbunden.

Und jetzt, in dem Moment, als Tschipo mit seinem Radfahrer fertig geworden war und ihn seinen Höhlenbewohnerfreunden zeigen wollte, rüttelte ihn die Höhlenfrau hartnäckig an der Schulter und rief schon wieder: „Tschipo, aufstehen!“, und da merkte Tschipo, dass es seine Mutter war.

„Wenn du noch ein bisschen gewartet hättest“, sagte er, „hätte ich Urch und Zwurch meine Zeichnung gegeben.“ „Wem? Was für eine Zeichnung?“, fragte die Mutter.

„Die Zeichnung auf dem Rentierknochen.“

Jetzt wurde die Mutter hellhörig.

„Du träumst also wieder?“, fragte sie.

„Oooch, nur ein bisschen“, brummelte Tschipo, der gleich spürte, dass er das besser nicht gesagt hätte.

„Ach, Bub, wenn das nur nicht wieder losgeht“, seufzte seine Mutter.

„Nein, nein“, sagte Tschipo, „gar nichts geht los“, und schlug die Decke zurück.

Die Mutter stieß einen leisen Schrei aus, denn auf dem Leintuch lag ein Knochen, mindestens so lang wie ein Lineal und bedeutend dicker. „Und was ist das?“, rief sie erschrocken.

„Das ist eben der Rentierknochen, von dem ich dir erzählt habe“, sagte Tschipo.

Nun kam der Vater ins Zimmer, um sich zu verabschieden, und die Mutter hielt ihm Tschipos neuestes Traumstück hin.

„Was sagst du dazu?“, fragte sie ihn ganz beunruhigt, „das soll ein Rentierknochen sein!“

Der Vater nahm ihn in die Hand und drehte ihn auf alle Seiten. Als er die Zeichnung sah, stutzte er.

„Köstlich“, sagte er, „da ist ein Radfahrer abgebildet.“ „Köstlich findest du das?“, rief die Mutter.

„Na, wieso soll er nicht ein bisschen von Lappland träumen“, meinte der Vater.

„Nein, der Knochen kommt von den Höhlenbewohnern“, sagte Tschipo, „ich habe ihn mit Urch und Zwurch gegen den Dampfwalzenplaymobilmann getauscht.“

Jetzt runzelte der Vater die Stirn. Er drehte den Rentierknochen nochmals in seiner Hand und schaute die Zeichnung an. „Ein Radfahrer auf einem Höhlenbewohnerknochen … das ist ja typisch Steinzeit … und den hast du also bekommen von Urch und – wie hieß der andere?“ „Zwurch“, sagte Tschipo trotzig, „und es ist ein Mädchen.“

„Tja“, sagte der Vater zur Mutter, „vielleicht ist es doch besser, du machst heute etwas mit dem Arzt ab.“

„Warum?“, fragte Tschipo, „ich bin gesund.“

„Tschipo“, sagte die Mutter, „du weißt, wie es die letzten Male gegangen ist mit deinen heftigen Träumen. Um ein Haar wärst du nicht mehr zurückgekommen. Das wollen wir nicht mehr erleben.“

Aber was Tschipo nicht erleben wollte, war, dass er wegen seiner Träume wieder zum Arzt musste, und das sagte er seinen Eltern. „Der weiß nichts“, fügte er noch hinzu.

„Tschipo“, sagte die Mutter, „wir wollen dich einfach nicht verlieren.“ Und als sie ihn dazu umarmte, sagte Tschipo, also gut, dann komme er halt mit zum Arzt.

An diesem Tag nahm sich Tschipo fest vor, in der Schule kein Wort von den Höhlenbewohnern zu sagen, und ließ auch seinen Rentierknochen zu Hause, wo er ihn sogar in der Schublade mit den Frauenfürzen versteckte.

Als dann aber der Lehrer im Geschichtsunterricht das Bild eines Mammuts zeigte, das auf einen Knochen eingeritzt war, und dazu bemerkte, es habe schon in der Steinzeit große Künstler gegeben, hielt Tschipo die Hand in die Höhe und sagt, das sei eine Kinderzeichnung.

Woher er das wissen wolle, fragte der Lehrer, und da wurde es Tschipo klar, dass er etwas Dummes gesagt hatte. Er war nämlich im Traum dabei gewesen, als Zwurch mit einem Feuersteinstichel genau diese Zeichnung gemacht hatte. Also stotterte er, er sei sicher, dass schon die Höhlenkinder gute Zeichnungslehrer gehabt hätten.

Mit diesem Witz waren alle zufrieden, und von da an sagte Tschipo nichts mehr und dachte mit wachsendem Unbehagen an den Besuch beim Arzt nach der Schule.

Als ihn der Lehrer beim Abschied an das morgige Treffen mit dem Museumsdirektor erinnerte, wurde es ihm noch ungemütlicher. So viel unangenehme Dinge in so kurzer Zeit! Und nur, weil er so angenehm träumte.

„So, so“, sagte der Arzt, als Tschipo kurz darauf mit seiner Mutter im Sprechzimmer saß, „er träumt also wieder, unser Pipo.“

„Tschipo“, sagte Tschipo.

Der Arzt schaute seine Blätter an, auf denen notiert stand, wie er Tschipo die letzten Male behandelt hatte, und rieb sich dazu gedankenvoll die Nase. „Also der Scharlach war vor einem Vierteljahr – das ist wieder gut, nicht? Und Mittelohrentzündung haben wir auch keine mehr gehabt, oder?“

„Ich nicht“, antwortete Tschipo, der nicht wusste, warum der Doktor „wir“ sagte. Er hoffte schon, das mit dem Träumen stehe nicht auf den Blättern, doch damit war nichts.

„Ah, da haben wir’s ja“, murmelte der alte Herr, „mhm, mhm – träumte von einem Pinguin, worauf Pinguin in vivo in Wohnung …“

Das mit dem Wie und Wo verstand Tschipo nicht, er verstand nur, dass man jetzt sofort von seinen neuen Träumen sprechen würde.

„Und was stand denn heute Morgen neben deinem Bett, Pipo, ein Mammut?“

„Oh Gott“, seufzte die Mutter, die an diese Möglichkeit noch gar nicht gedacht hatte.

„Nein“, sagte Tschipo leise, „nur ein Rentierknochen. Und der lag im Bett, und ich heiße Tschipo.“

Der Arzt schmunzelte und klopfte mit dem Kugelschreiber ein paar Mal auf den Schreibtisch.

„Also“, sagte er, „dann wollen wir aufpassen, dass morgen keine Rentierherde das Treppenhaus heraufkommt.“

„Oh Gott, oh Gott“, seufzte die Mutter wieder, denn auch an diese Möglichkeit hatte sie noch nicht gedacht.

„Dinosaurier hab ich auch gern“, sagte Tschipo.

„Nein!“, schrie seine Mutter und stand auf, denn an diese Möglichkeit hatte sie überhaupt nicht gedacht, „nein, bitte nicht! Stell dir vor, was unser Hauswart sagen würde!“ „Verdammt! Verdammt! Verdammt! “, rief Tschipo fröhlich. „Tschipo, ich bitte dich, was soll das?“, sagte seine Mutter streng.

„Verdammt, verdammt, verdammt!’, würde unser Hauswart sagen“, meinte Tschipo, „wenn ein Dinosaurier in unserm Treppenhaus stünde. Das sagt er doch schon, wenn mein Mountain Bike im Treppenhaus steht.“

„Du stellst es aber auch nie in den Keller“, sagte die Mutter.

„Tja“, meldete sich der Arzt, „was immer der Hauswart sagt, wir sollten aufpassen, dass Pipos Träume nicht zu wild werden, und du bekommst hier diese Tabletten, zwei Stück am Abend nach dem Essen, die geben einen ruhigen Schlaf, und vor dem Essen noch etwas an die frische Luft, das ist das Beste gegen Mammuts im Schlafzimmer, gell, Pipo?“ Tschipo gab es auf, dem Arzt seinen richtigen Namen beizubringen, und knurrte nur ein bisschen, während er mit dem Kopf nickte.

Als er mit der Mutter nach Hause kam, stand Leo Leuenberger vor der Haustüre und spielte mit einem jener kleinen Gummibälle, die man auf den Boden schmeißt, und dann jucken sie doppelt so hoch wieder auf.

„Kommst du noch ein bisschen mit zum Heidenloch?“, fragte er, „Pfeilspitzen suchen.“

„Geh nur“, sagte die Mutter, „frische Luft wird dir gut tun – aber seid nicht enttäuscht, wenn ihr keine Pfeilspitzen findet“, fügte sie lachend hinzu.

„Tschipo hat schon eine gefunden, eine echte“, sagte Leo.

„Ist das wahr?“, fragte die Mutter ganz erstaunt.

„Eehm … ja“, sagte Tschipo, „also gehen wir.“

Und schnell rannte er mit Leo vom Haus weg. Dumm, was Leo da wieder ausgeplaudert hatte, aber der konnte natürlich nicht wissen, was einem ein paar Träume für Schwierigkeiten machten.

Es war nur etwa eine Viertelstunde bis zur Steinzeithöhle, denn Tschipo lebte in einer kleinen Stadt.

Zuerst musste er die Straße hochgehen, an der er wohnte, dann in eine kleinere abbiegen und so lang weiterlaufen, bis sie zu einem Hundescheißweglein wurde, das zum Waldrand führte.

Ging man eine Weile am Waldrand entlang, musste man bei einem Hochspannungsmast in den Wald hinein und gelangte bald auf eine Fluh, von der man auf den Fluss hinuntersah und auf eine Straße und eine Eisenbahnlinie, die sich alle durch dieselbe Felsenge zwängten, welche sich der Fluss vor Jahrtausenden geschaffen hatte. Dann ging es ein steiles Weglein hinunter, auf dem man dauernd ausrutschte, bis zum Fuß der Fluh, und nach wenigen Minuten stand man vor dem Heidenloch.

Ein paar Schritte weiter unten erhob sich der Galgen aus dem Mittelalter, das heißt das, was von ihm noch übrig geblieben war, zwei dicke Säulen in einer alten Ummauerung. Seltsam, dachte Tschipo, als er die zweite kleine Höhle sah, da war ich gestern im Traum mit Urch und Zwurch.

Er ging zur Kinderhöhle, streckte den Kopf hinein und rief „Hallo!“, aber niemand antwortete.

„Tschipo!“, rief Leo, schau mal, hier steckt etwas im Boden!“

Aber es war nur die Scherbe einer Bierflasche, und weiter hinten lagen noch mehr Scherben, vermischt mit angeschmorten Plastikpapieren von Cervelats und kaputten Kunststoffbechern.

„Ein richtiges Höhlenbewohnerpicknick“, sagte Leo, aber Tschipo ärgerte sich.

„Das waren Schweine“, fand er, „haben ihren Dreck einfach liegen gelassen.“

„Und wo hast du deine Pfeilspitze gefunden?“, fragte Leo. Tschipo dachte an seinen Traum.

„Etwa da“, sagte er dann und stocherte mit der Spitze des Turnschuhs im Laub. Dabei stieß er auf etwas Hartes, und er konnte es selbst nicht glauben, aber es war eine Pfeilspitze.

„Du hast ein Glück wie Gustav Gans“, seufzte Leo, der suchen konnte, so viel er wollte, und einfach keine Pfeilspitze mehr fand.

„Tauschen wir?“, fragte er schließlich ziemlich hoffnungslos und hielt Tschipo seinen Springball hin.

„Meinetwegen“, antwortete Tschipo zu Leos Überraschung, „ich hab ja schon eine.“

Irgendwie hatte er das Gefühl, es wäre besser für ihn, mit Pfeilspitzen nichts mehr zu tun zu haben. „Aber dann musst du morgen auch mit ins Museum kommen“, sagte er.

„Klar komm ich mit“, sagte Leo stolz, „wenn ich schon eine Pfeilspitze gefunden habe.“

Am Abend war Tschipo froh, dass er die erste unangenehme Sache überstanden hatte. Jetzt stand nur noch der Besuch im Museum bevor, wo er dem Direktor seine Pfeilspitze zeigen sollte, doch seit er heute Nachmittag eine richtige gefunden hatte, war es ihm wieder wohler. Und eigentlich hatte er auch die im Traum richtig gefunden, sonst besäße er sie ja nicht. Die Erwachsenen sollten halt ein bisschen mehr träumen, dann würden sie auch mehr interessante Dinge finden.

Nun getraute sich Tschipo sogar, die Traumpfeilspitze seinen Eltern zu zeigen und ihnen vom bevorstehenden Besuch im Museum zu erzählen.

Was jedoch vorher noch bevorstand, war das Schlucken von zwei Pillen, und Tschipo beschloss diesmal brav zu sein und würgte beide hinunter.

Ob sie wohl etwas nützten?

Nein, gar nichts nützten die Tabletten, rein gar nichts, sonst wäre Tschipo am nächsten Morgen nicht dort erwacht, wo er erwachte, nämlich in der Kinderhöhle des Heidenlochs, neben Urch und Zwurch, die er ja schon kannte.

„Schnrchi gtt?“, fragte Urch, das größere der beiden Kinder, und Tschipo gab ihm gähnend zur Antwort: „Klurr, gtt.“

Versteht ihr das?

Das würde mich wundern, das ist nämlich die Höhlenbewohnersprache. Tschipo aber hatte sofort verstanden, was er gefragt worden war, nämlich: „Hast du gut geschlafen?“, und er hatte sofort auf Höhlenbewohnerisch geantwortet: „Ja, gut.“

Es fiel ihm gar nicht auf, dass er in einer andern Sprache redete, es fiel ihm nur auf, dass er unter einem dicken Fell auf einem Haufen Laub lag und dass das Tageslicht nicht durch ein Fenster, sondern durch ein Felsenloch hereinkam. Er kroch unter dem Fell hervor und streckte seinen Kopf aus der Kinderhöhle. Wahrscheinlich war es sehr früh am Morgen, denn am blauen Himmel war kein Sonnenstrahl zu sehen – es blieb also noch etwas Zeit, bis die Schule anfing. Als Urch und Zwurch kichernd auf ihn zeigten, blickte Tschipo an sich hinunter und merkte, dass er nicht im Pyjama geschlafen hatte, sondern in seinen Tageskleidern, er trug sogar noch die Turnschuhe. Jetzt kamen ihm wieder die Tabletten von gestern Abend in den Sinn. Vielleicht hatten sie so stark gewirkt, dass er in den Kleidern eingeschlafen war. Aber Urch und Zwurch hatten auch nicht im Pyjama geschlafen, sondern splitternackt, und nun zogen sie sich eine Art Fellhosen an und darüber größere Felle, die wie eine Mischung zwischen einem zu langen Pullover und einem zu kurzen Mantel aussahen; Schuhe schienen sie nicht zu brauchen, auch keine Sandalen oder Pantoffeln, dafür begannen sie Tschipos Turnschuhe zu betasten, als hätten sie in ihrem Leben noch nie einen Turnschuh gesehen. Vor allem von den Klebverschlüssen waren sie begeistert. Tschipo zeigte ihnen, wie sie funktionierten.

„Hp!“, rief er und riss einen Verschluss auf, und mit „Zwk!“ machte er ihn wieder zu.

„Hp!“ heißt auf Höhlenbewohnerisch „auf“, und was könnte wohl „zwk“ heißen? Richtig, „zwk“ heißt „zu“ – woher könnt ihr denn Höhlenbewohnerisch, wart ihr schon einmal in der Steinzeit?

Urch und Zwurch versuchten beide, die Klebverschlüsse von Tschipos Turnschuhen auf- und zuzumachen. Das ist ja wirklich nicht schwer, nicht einmal für Höhlenkinder, die so etwas noch nie gesehen haben, aber Urch und Zwurch konnten nicht genug davon bekommen. Urch riss Tschipos linken Schuh auf und Zwurch den rechten, und dann klebten sie die Verschlüsse wieder zu. Dazu riefen sie je nachdem „hp!“ oder „zwk!“, bis Tschipo ganz entschieden „us!“ rief, und das heißt auf Steinzeitlich „Schluss!“.

Nun begannen die beiden Tschipos Kleider zu untersuchen, die sie mindestens so interessant fanden wie seine Schuhe. Socken zum Beispiel. Wenn es ein Kleidungsstück gab, das Tschipo hasste, dann waren es Socken. Die Mutter behauptete, sie stänken schon nach einem Tag, und er musste sie dauernd wechseln. Urch und Zwurch waren vor allem vom Elastik begeistert. Immer wieder zupften sie an seinen Socken und ließen sie auf Tschipos Haut schnellen, bis er „us! “ rief und sie sich seinen andern Kleidungsstücken zuwandten.

War denn das möglich, dass sie etwas so Gewöhnliches wie Bluejeans nicht kannten? Die trug Tschipo nämlich, und Urch und Zwurch glitten mit ihren Fingern an den Nähten entlang und bewunderten den Hosenknopf und auch die Nieten an den hinteren Hosentaschen, weil sie so schön glänzten.

Als ihm Zwurch mit der Hand in die vordere Hosentasche fuhr, protestierte Tschipo. Da gehörten keine fremden Hände hinein, schon gar nicht die eines Mädchens. Was er denn da drin habe, fragte ihn Zwurch und blinzelte ihn frech und fröhlich an dazu. Ihre Augen erinnerten Tschipo ein bisschen an Mirjam. Deshalb griff er in seine Hosentasche, um zu schauen, ob er überhaupt etwas bei sich hatte, das diesen Augen Eindruck machen könnte.