Tunnel - Grit Krüger - E-Book

Tunnel E-Book

Grit Krüger

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Beschreibung

Preisträgerin des Anna-Haag-Preises 2023! Vom Weg aus der Kälte in die Wärme Mascha und ihre Tochter Tinka leben allein. Am Monatsende können sie nicht mehr heizen. Um die Nacht zu überstehen, bauen sie sich eine Höhle aus Decken. Sie fühlen sich gefangen. Doch sie haben einander. Und die kühne Idee für einen Ausweg. Ein Leben in Armut erfordert Mut, also ist Mascha furchtlos. Sie zieht mit ihrer Tochter in ein Altersheim, um zu überwintern und sich das Amt vom Hals zu halten. Der Tröster kommt, wenn sie ihn braucht, und bleibt, als er nicht mehr im Hinterzimmer einer Kneipe wohnen kann. Übergangslösungen, weiß Mascha. Als Tomsonov, einer der Heimbewohner, unter dem Sandsteinfundament im Keller Geräusche hört, beginnt Mascha zu graben. Nach Loyalität und Geborgenheit, nach zweiten Chancen und nach Abenteuer. Einen Tunnel hinaus.

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Grit Krüger

Roman

ISBN 978-3-98568-063-4eISBN 978-3-98568-064-1

1. Auflage 2023

© Kanon Verlag Berlin GmbH, 2023

© Grit Krüger, 2023

Umschlaggestaltung: Anke Fesel / bobsairport

Unter Verwendung eines Gemäldes von Kim Reuter

Herstellung: Daniel Klotz / Die Lettertypen

Satz: Marco Stölk

Druck und Bindung: Pustet, Regensburg

Printed in Germany

www.kanon-verlag.de

Teil 1

Komm

Kraft

Raster

Amt

Käferin

Reisen

Nachtlieder I

Rand

Komm

Lügnerin

Zimmer

Nimm

Parkdeck

Hilti

Teil 2

Suche

Bach

Struktur

Hüterin

Blut

Verwandtschaftsbesuch

Erdreich

Grund

Kreise

Warten

Stütze

Helferin

Klick

Elfi

Teil 3

Schwimmerin

Wurm

Pfeiferin

Versteck

Puls

Nachtlieder II

Bleib

Scherben

Springerin

Frist

Zurück

Tänzerin

Wand

Chor

Musik

See

Enderin

Teil 1

Komm

Mascha

Kraft

Ihr Wasser, ihr Wasser: eiterweiße See, schonend rückfettende See, Milchundhonigkunstgeruch. Das Abluftbrummen grollt ihr einen Sturm zusammen. Im Dunkeln grollt sichs besser, denkt Mascha, drum pfeift sie rund um sich herum die Teelichter aus. Zwei sind schnell erwischt, beim dritten muss sie sich am Wannenrand hochziehen und hinüberbeugen. Beim letzten aber hilft auch das nicht: Das flackert vor sich hin. Pfiff um Pfiff, und nichts erlischt. So eine Sturheit! Und die Sturheit, die gefällt ihr. Ein halbes Lächeln bricht ihr Pfeifen. Gut so, denkt sie sich. Weiter so. Dann wischt sie das Licht vom Fensterbrett in die Gischt – und tschüs! Im Dunkeln lehnt sie sich zurück, genießt das Tapetenblattern an der Decke und zitiert die Weite herbei.

Hier und heute bräuchte es dreihundert Mann, schätzt Mascha. Mit Sand in den Römersandalen und Kriegslust unter der Brustplatte. Eine Armee, die vom Strand aus auf die Wellen blickt, die kurz vor dem Aufbruch an den Sieg am anderen Ufer glaubt. Sie wäre jedem Krieger eine Meile voraus. Dreihundert Mann, die auf ihr Tausendseitenepos warten, auf den Wind, der da draußen das Gesicht von Mensch zu Held grindet. Jeder einzelne mit Sturmmiene, jeder in Erwartung, die Weite zu bezwingen und mit Geschichte zurückzukehren. Dreihundert Mann, die schon hören, wie die Kinder und Kindeskinder, wie die Schwestern und Mütter und Ehefrauen, wie auch die Vögel und die Fische einmal ihre dreihundert Namen rufen werden. Und Mascha, die Dreihundertundeine, die ihnen da draußen gezeigt hat, wie es geht, würde die Erste sein, deren Name ertönt.

»Mama!«

Sie horcht, sie seufzt, sie taucht unter. Doch auch unten tönts, nur dumpfer.

»Mama!«

Mein Wasser, tja, mein Wasser, denkt sie, hebt sich aus den Wogen hinauf in den Stand. Hält sich an der Waschmaschine fest und steigt aus dem Wannenmatt, noch mit Schaum zwischen den Zehen: »Gleich, Mücke, ich bin fast fertig.«

Ihre Tochter kann nicht pfeifen. Sie macht die Lippen eng, bringt kaum einen Hauch hervor und wundert sich, dass der nicht zum Ton wird. Ihre Tochter ist eine, die weint, wenn es ihr zu dunkel wird. Und ihre Tochter ist eine, die ruft: »Da, guck, man muss bezahlen!«, und dabei die Vetteln im Kassenhaus aufschreckt, wenn man gerade mit ihr daneben durchs Gebüsch gebrochen ist, um sich an den Badesee zu stehlen.

Noch aber ist nicht alle Hoffnung verloren. Die Kleine kann schleichen und grinsend im Park den Schlaksen die Dosen von der Decke schnappen. Rechnen kann sie auch: fünfundzwanzig Cent pro Dose – fünf Dosen, ein Eis. Wenn eine Alte sie fragt, wie alt sie ist, dann sagt sie: »Verrat ich Ihnen für nen Euro!«, und alle lachen. Die Alte, weil sie in sich auch so eine Stimme kennt, die Geld verlangt für Floskeln und sich freut, wenn sie im Kind einmal laut werden darf. Das Kind, weil die Alte lacht – und Alte oft Geld geben, wenn man mitlacht und bittedanke sagt. Sie selbst, weil die Kleine den Blick der Alten hält, die Münze nimmt, im Jackenfutter versteckt und glaubt, dass sie, die Mutter, das Geld am Monatsende dort nicht findet. Das Mädchen muss noch lernen. Aber noch, ja, noch ist nicht alle Hoffnung verloren.

Die Kleine verzieht sich, wenn der Tröster kommt. Einmal, morgens nach einer langen Nacht, sind sie im Wohnzimmer gestrandet – er über dem Sessel hängend eingeschlafen. Das Kind schleicht um sie herum, ohne Mucks, dreht seine Kreise. Kommt irgendwann mit Filzstiften und geht an den verblassten Anker auf seinem Unterarm. Mascha beobachtet das vom Sofa aus, noch im Halbschlaf und murmelt rau: »Nimm alle Farben, Mücke. Regenbogen.« Zu hell, zu früh, der Tröster schnarcht, so fallen ihr die Augen wieder zu. Doch kaum ins Dunkel eingetaucht: ein Schlag, ein Schrei, im Glastisch ein Riss, das Mädchen weint. Sofort ist sie wach: »Raus!«

»Erschreckt hat die mich. Selber schuld. Wenn einer schläft!«

Der Tröster spannt sich halb in den Raum, noch schwer am Sessel abgestützt. Die Kleine, mit rotem Gesicht, drückt sich in die Tür. Die Stifte sind im Zimmer versprengt, nur einer ist noch stur in der Kinderhand geblieben.

»Raus!«, sie reißt den Tröster vom verdammten Sessel, wuchtet fast 100 Kilo Männermasse in die Luft. Er stößt sie von sich – der Stoß jedoch reißt auch eine Masse Wut in ihr herauf, reißt sie mit, bis sie sich selbst von oben sieht. Von dort fährt sie auf ihn nieder.

»Mama!«

Der Tröster ist stark. Wischt sie an die Wand. Doch ebenso schnell ist sie zurück und mit doppelter Wucht: »Raus!«

Bevor sie diesmal nach ihm langen kann, fängt er ihren Schwung ab, hält die Handgelenke fest.

»Mama! Mama!«

»Still!«, sagt er. Der anschwellende Kratzer in seinem Gesicht. Die Adern auf seiner Nase. Der Geruch seines Worts.

»Ist gut, Mücke, ist gut«, bringt sie heraus.

Kein Ton mehr von der Kleinen. Als auch sie selbst ruhiger atmet, lässt der Tröster von ihr ab. Sammelt die Zigarettenschachtel vom Boden auf, klaubt die Schlüssel aus der Polsterritze und geht. Er weiß, wann genug ist.

»Hat er dich erwischt?«

Das Mädchen schüttelt den Kopf und schmiegt sich an sie.

»Das darf er nicht. Das darf niemand, hörst du?«

Wenn der Tröster nun kommt, bleibt das Mädchen im Kinderzimmer. Er stellt ihr einen Teddy vor die Tür, aber ihre Tochter pinkelt lieber in den Legoeimer, als noch einmal herauszukommen, wenn sie ihn nebenan weiß. »Da hat sie doch auch recht«, sagt Mascha dem Tröster, als sie im Wohnzimmer das rosa Mal auf seiner Wange küsst.

Enders

Raster

»Kann ich Ihnen helfen?«

Enders antwortet nicht gern. Er hat gelernt, dass die meisten Fragen nur Raster sind, in die sich die Antwort zu fügen hat. Besonders eine wie diese, die mit einem Angebot von Hilfe nichts zu tun hat – und er braucht weder Hilfe noch will er sie – sondern herausfinden soll: »Wie bringe ich Sie dazu, möglichst schnell wieder zu gehen?«

Er winkt ab. Die Frau mit der Frage und der sehr gebügelten Kleidung nickt unentschlossen, geht ein paar Schritte an ihm vorbei. Der Autoschlüssel klimpert in ihrer Hand. Sie stellt sich bei den Fahrradständern unter, zückt das Handy, als würde ihr etwas Dringendes einfallen – genau dort, wo man ihn zufällig gut im Blick hat. An so etwas ist er gewöhnt. Die ersten Kindertrauben speit es vom Schulgebäude in den Regen. Er lehnt sich an das Schultor.

Was, wenn ihn jemand fragen würde, warum er hier ist – der Antwort wegen und nicht, um ihn schnellstmöglich wegzuschicken? Enders zieht die Schultern hoch. Er muss an seine Mutter denken, die vor fünfunddreißig Jahren trotz fieberglänzender Stirn mit dem Rad ins Nachbardorf zum Hähnchenmann fuhr, weil der Vater ihm zum Geburtstag Brathähnchen versprochen hat. An ihren Blick, als er, elf Jahre später, gerade erwachsen, den gepackten Koffer auf das alte Rad hievt, um damit in die Welt zu fahren – daran, dass sie sich wegdreht, damit er sie nicht weinen sieht. An Postkarten an der Zellenwand knapp 600 Kilometer von seinem Heimatort entfernt, in die ihn die Reise durch die Welt gebracht hat; den einen Brief von seinem Vater unter dem Kopfkissen, die vierzehn der Mutter in der Schachtel auf dem Regalbrett. Er denkt an seine Mutter, die ihn erwartet, als er rauskommt. Daran, dass sein Freund Emre auf seine Hündin aufgepasst hat. Dass seine Rosi eine weiße Schnauze bekommen hat, aber sich vor Freude im Kreis dreht, bis sie kotzt, als er sie abholt. An den Moment, in dem er der Hündin einen letzten Stock wirft, um sich zu verabschieden, weil ihn Emre und seine Frau nicht so lange bei sich wohnen lassen können, aber Emres Junge das Tier so liebgewonnen hat. Daran, dass Grunja ihm ein Zimmer verschafft hat und ihn immer noch anschreiben lässt, obwohl es Anschreibenlassen nicht mehr gibt. Dass Mascha »Schon gut« sagt, obwohl da ein Riss im Glastisch bleibt. Wie er einen Stoffbären mit Plastikaugen vor die Tür der Kleinen setzt und wünscht, es wäre ein Welpe. Daran, wie er im Nachmittagsgrau hier wartet, mit dem Geschmack von Magensäure im Mund, obwohl sein Gesicht schmerzt und ihn der Druck im Schädel langsam macht. Weil ihn Mascha darum gebeten hat.

Das Mädchen bleibt im Hof stehen, als es ihn entdeckt, sondert sich von der Gruppe Kinder ab, kommt zögerlich auf ihn zu.

»Ich hol dich heute ab, Kleene.«

»Ist das dein Papa?« Ein Junge in neongrüner Jacke mustert ihn von oben bis unten. Diese Fragen. Die Kleine schüttelt den Kopf.

»Aber du kennst den?«

Sie zuckt mit den Schultern, nickt. Enders merkt, dass der Junge in der grünen Jacke stehen bleiben möchte, doch die Kindertraube bewegt sich weiter, ruft nach ihm. Der Junge wägt ab, winkt, dreht ab – die Kleine ist merklich erleichtert.

»Na komm, ich bring dich heim.«

»Wo ist Mama?«

Enders verzieht den Mund: »Verspätet sich. Muss was Wichtiges erledigen.«

»Und wenn ich nicht mitgehe?«

»Dann müssen wir beide im Regen warten. Die Schule macht bald zu. Ich hab den Schlüssel für die Wohnung. Auf, wir bringen dich ins Trockene.«

»Wenn ich einfach renne?«

»Dann muss ich wohl auch rennen. Wäre aber leichter für dich, wenn du mir vorher den Ranzen gibst.«

»Ich kann auch zum Hort. Da warten die anderen auch. Meine Freundin geht da hin. Jasmin.«

»Das geht nicht, Kleene.«

»Das geht. Ich hab eigenes Geld. Ich zahl den Hort auch selbst.«

»Das geht wirklich nicht.«

»Aber Mama kommt heute noch?«

Er nickt.

Der Schulhof leert sich. Der Regen kriecht langsam durch die Nähte seiner dünnen Jacke. Die Kleine im Regencape ist besser ausgestattet, trotzdem lecken schon die Strähnen an ihrer Stirn.

Geduld. Nach einer Weile schmeißt sie den Ranzen von sich, kaum einen Meter weit, und stapft an ihm vorbei. Enders atmet einmal schwer durch, geht die paar Schritte, um den Ranzen aufzuheben, braucht dafür zwei Versuche. Das Mädchen beobachtet ihn genau, diesmal von der anderen Seite des Schultors. Bei den Fahrradständern packt die Frau mit den gebügelten Sachen ihr Handy weg und verschwindet in Richtung Parkplatz. Als Enders zu der Kleinen aufholt, dreht die sich weg, reibt sich mit dem Jackenärmel Nase und Augen – aber kommt mit ihm mit.

»Sollen wir beim Hähnchenmann vorbei?«

Mascha

Amt

Was machen wir mit der jungen Heerdmann?

Zeig mal die Akte, du meintest Heerdmann?

Schwer zu vermitteln, die gute Heerdmann,

ganz schwierige Sache.

Das Amt, das Amt: salbungsvolle Flure, verheißungsvolle Flure, ach, das Montagmorgenlächeln der Wartenden! Gereckt, geradegerückt und die Nummer gezückt, geht Mascha erhobenen Hauptes den Weg, den ihre Füße längst auswendig kennen. Ihre Patrouille. Die Stehcomputer im Eingangsbereich, an denen unter Aufsicht Bewerbungen getippt werden sollen. Frau Lauch am Empfang, »Einen herrlichen Morgen, Frau Lauch!«, die die Aufsicht führt, die zwar freundliche Augen hat, aber der Mascha schon einmal einen lauwarmen Becher Automatenkaffee ins Gesicht schütten musste, als sie keinen anderen Ausweg fand. Der neue Laminatboden, wo früher ehrlicher, fleckiger Teppich war. Die Fenster, die sich in den höheren Stockwerken nicht öffnen lassen. Die zwölf blassgelben Türen, darunter ihre, F bis H, dahinter Frau Huhn. Alles in Ordnung, alles wie immer. Der ihr angebotene Platz auf dem Plastikstuhl.

Maßnahmen verweigern und das als Mutter?

Hat sogar nen Abschluss und trotzdem: Mutter.

Das Problem ist die Betreuung, ich sags doch, Mutter.

Wie wärs mit der Pflege?

»Verstehen Sie: Wenn es sich um ein Schulkind handelt, bleibt uns wenig Spielraum.«

»Ich verstehe sehr gut, was Sie mir sagen wollen. Ich verstehe nur nicht, was das an meiner Situation ändern soll.«

»Ich möchte mit Ihnen zusammenarbeiten – aber Sie müssen uns hier entgegenkommen. Wie kann ich Ihnen dabei helfen?«

»Was?«

»Ich meine, wenn Sie jetzt die Anforderungen für diese spezielle Fortbildung nicht erfüllen, heißt das nicht, dass Sie sich nicht anderweitig weiterbilden können. Vielleicht auch zu einem anderen Zeitpunkt. Ich weiß, das ist nicht einfach, aber wenn Sie dranbleiben –«

»Einen Dreck wissen Sie.«

»Hören Sie. Ich verstehe, dass Sie frustriert sind. Und wünschte wirklich, wir könnten Ihnen einen Betreuungsplatz stellen. Die Kollegen vom Jugendamt können vielleicht – war da nicht ein Termin?«

»Tut mir leid, ich hatte keine Betreuung. Schulferien.«

»Nun, das ist nicht mein Bereich, aber – Sie sollten diese Termine wirklich ernst nehmen. Ich meine es gut mit Ihnen.«

»Und das zeigen Sie, indem Sie mir Leistungen kürzen?«

»Glauben Sie mir, ich mache das nicht freiwillig.«

»Machen Sie irgendwas freiwillig?«

»Hier: Wir haben da etwas für Sie. Die Einrichtung umfasst betreutes Wohnen und klassische Pflege für Senioren. Ein besonderes Haus. Da ist beiderseitig Flexibilität möglich. Schauen Sie sich das an, es könnte etwas für den Übergang sein, um Sie erst einmal wieder einzugliedern – danach haben wir es leichter. Was Fortbildungen angeht, können wir gern weiter gemeinsam die Augen offen halten. Wenn Sie mir jetzt auch nachweisen, dass Sie sich bewerben, dürfen wir Ihnen auch wieder die volle Leistung zukommen lassen.«

Die Eschenallee sucht Arbeitskräfte,

fleißige, flexible Arbeitskräfte,

günstige und schlichte Arbeitskräfte –

es bleibt kaum eine lange.

Das Amt, tja, das Amt. Mascha merkt, wie ihre Schritte schwerer werden, streckt sich doppelt in die Höhe. Bewegt sich auf dem Flur hin und her, auf dass einer der Stehcomputer freiwerde und ihr eine andere Verheißung als Frau Huhn gebe. Als ihr das zu lange wird, stellt sie sich dicht hinter so einen Fadenknochen, der vor dem Bildschirm hängt; atmet ihm in den Nacken, bis er kuscht. Da tippt sie und klickt und tippt, tipptipptippt, tippt –, tippt – und versucht sich passend zu sehen, auf Straßen, die asphaltiert werden müssen. Sich möglich zu sehen neben Gummibäumen und Druckerpapier. Fragt sich, wie sehr man die Schultern einziehen muss, um in ein Kassenhaus zu passen. Am Ende schreibt sie die Bewerbung, die ihr auferlegt wurde. Die, die die Rechnung mit der dritten Mahnung bezahlt und bald auch neue Turnschuhe für die Kleine. Danach will sie den Ort nur noch schnell verlassen, um zu retten, was von ihr übrig ist. »Auf Wiedersehen, Frau Heerdmann«, ruft ihr die Lauch am Empfang hinterher, »bis zum nächsten Mal!«

Auf der Straße vor dem Amt steigt ihr Metallgeschmack vom Mund in die Nase. So kann sie nicht wieder in die Wohnung. Sie ruft den Tröster an. Jemand muss eine Weile auf das Mädchen aufpassen; sie weiß sich nicht anders zu helfen.

Hurra, sie wird vermittelt!

Hurra, sie wird vermittelt!

Hurra, sie wird vermittelt,

so früh auch im Quartal noch.

Tinka

Käferin

14 ist die magische Zahl, an einem 14. hat Tinka Geburtstag, ihre Glückszahl, und wenn sie bis 14 zählt und fest darum bittet, dann passiert etwas Gutes, das weiß sie, dann kommt zum Beispiel Mama wieder nach Hause. 12, 13, 14 – nichts. Noch mal: 2, 3, 4. Sie legt das Ohr an die Tür, leise jetzt, nicht rascheln. Drüben der Fernseher, sein Schnarchen, 7, 8, Tinka macht sogar ihr Zimmerlicht aus, um noch leiser zu werden, 13, 14 – und keine Schritte auf der Treppe, kein Knacken der Wohnungstür, nichts.

Vielleicht so: fester bitten, selbst gehen. Sich trauen und einfach machen. Wenn es bis zu den nächsten 14 ruhig bleibt, wenn er einfach weiter schnarcht, 1, 2, ganz gleichmäßig, dann schläft er tief genug und sie kann vorbei. Ihr Plan: Der Schlüssel liegt auf dem Glastisch, das hat sie gesehen und sich gemerkt. Den kann sie sich schnappen und dann raus, 6, 7, schnell wie ein Wiesel, mutig, dass Mama stolz ist, 9, 10, könnte sie sie dabei sehen, nichts wie raus dann und nach ihr suchen. 13, 14 – los. Tinka schlüpft ins Wohnmamazimmer, macht die Füße ganz leicht. Sie hält die Luft an, als sie den Schlüssel greift. Er schläft tief, zum Glück. Erst im Flur erinnert sie sich ans Weiteratmen. So laut! Wie laut ihr Atem aus ihr rauskommt. Nebenan im Bad an der Tür hängt Mamas roter Bademantel. Sie kippt die Wäschetonne, klettert hoch und bekommt ihn vom Haken – wie schwer er ist – und ihr fällt auf, dass sie noch Hausschuhe anhat, aber die mit den festen Sohlen, das ist okay, zur Tür raus also, raus. Zu. Runter und auf die Straße, wo es nach Autos riecht und Döner, wo es bald dunkel wird und schon die Straßenlaternen und bunt die Schilder leuchten. Der Bademantel riecht nach Mama, reicht bis zum Boden – sie muss ihn heben. In den Hof darf sie und vor bis zur Ecke, hinten bis zum Tedi und um den Block, das sind die Regeln, deshalb geht sie um den Block und bis zum Tedi und bis zur Ecke und zurück in den Hof und darin umher. Die kaputten Fahrräder, an denen man sich wehtun kann. Der Stapel leerer Kartons, eingeweicht und zusammengefallen. Auf den grauen Tonnen, oh, da krabbelt ein Marienkäfer, wie schön und wie glatt er ist, wie glatt das Laternenlicht auf dem roten Panzer, eine Sie bestimmt, eine Käferin und die Punkte, 3, 4, 5, solange sie die Punkte nicht genau zählt, könnten es 14 sein. Tinka nimmt die Käferin auf die Hand, flüstert: »Ich pass auf dich auf«, und es kitzelt über ihre Finger. Am Boden beim Schuppen entdeckt sie eine Pfütze, darin kräuselt sich das Laternenlicht. Aus der Tonne zieht sie ein leeres Glas mit grünem Etikett, das sauer riecht, aber noch okay, das wird das Käferhaus. Sie setzt die Käferin hinein und beobachtet, wie sie innen die Wand entlanggeht. Dann stülpt Tinka das Glas mit offenem Deckel über die Pfütze: »Ich pass auf dich auf, aber schwimmen lernen musst du.« Die Käferin krabbelt nach oben, weg vom Wasser – das versteht Tinka, auch sie war einmal wasserscheu. Erst muss sie ihr Zeit lassen – aber nicht ewig – dann aber rein mit ihr, zur Not reinschütteln. Wasser ist nicht giftig und sie ist ja dabei, da wird nichts passieren. Bis sie schütteln wird, geht Tinka noch einmal vor bis zur Ecke. Der Bademantel ist unten nass und dunkel geworden, schlägt ihr kalt um die Knöchel, noch einmal zum Tedi, und wirklich, da hinten! Sie erkennt Mama am Gang – wie groß und schön sie ist. Erkennt am Gang, dass Mama heute wieder langsam ist: weite Schritte und die Schultern so. Sie erkennt, dass es Umarmungen gibt, wenn sie es richtig anstellt. Sieht schon von fern, dass sie heute aufpassen muss, sonst wird Mama still und sagt gar nichts oder nur, dass sie bitte ein einziges Mal ihre Ruhe haben will und wird streng, wenn Tinka sie dann nicht ein einziges Mal in Ruhe lässt. Man muss auf ihr Gesicht achten und vorsichtig sein, man muss am besten auch nicht auf der Straße in Hausschuhen und dem Bademantel – Tinka rennt zurück zum Haus, bevor Mama sie sieht, hofft sie. Es wummert in der Brust, 2, 3, 4, sie dreht den Schlüssel, so schnell sie kann, 5, 6, 7, rennt die Treppe bis zum zweiten Stock, dann wieder mit leichten, 10, 11, ganz leisen Füßen bis hoch zur Tür und zurück in die Wohnung.

»Kleene?«

»Ja?«

»Wo warst du?«

»Mama kommt gleich.«

»Gut, gut.«

Enders

Reisen

Enders kennt das: Vom Amt kommt man nur in einem Zustand zurück. Jeder anders, aber keiner normal, erst recht keiner glücklich. Mascha liegt auf dem Sofa, den Blick zur Decke gerichtet. Als sie nach Hause gekommen ist, hat sie die Kleine in den Arm genommen, ihm über die Kinderschulter matt zugelächelt und sich hingelegt, ohne groß etwas zu sagen. Das Mädchen ist nach einer Weile zurück ins Kinderzimmer, er ist hier im Wohnzimmer bei Mascha sitzen geblieben. Was das Amt mit einem macht. Früher einmal hat er sich nach den Terminen den Mund auswaschen müssen – Strohrum, Weinbrand, Hauptsache schnell und mit Biss – um den Geschmack des Flehens und Schimpfens wieder loszuwerden. Bis ihm das Amt den Magen ruiniert hat.

Mascha lässt ihm seinen Lieblingsplatz im Sessel, von wo er beide Türen und das Fenster im Blick haben kann, hier ist er ruhig. Er hat den Fernseher stumm geschaltet und beobachtet, wie das bläuliche Licht über ihr Gesicht flirrt. Ihre Haut sieht so glatt aus, trotz der feinen Narbe, die sich von der Schläfe bis zum Kiefer zieht, weich. Er reibt sich den Nacken, die Knie. Ihm fällt der Schmutz unter seinen Fingernägeln auf, und er greift sich ein Prospekt vom Wohnzimmertisch, um sie mit einer Ecke des Papiers sauber zu schaben.

Nach seinem letzten Termin beim Amt – das muss vor über einem halben Jahr gewesen sein – hatte er es mit Bier versucht. Die Bitterkeit hat gutgetan, aber es wirkte zu langsam, um zu helfen. Nach dem dritten hat er aufgehört, bevor er wütend wurde auf alles. Ist raus an den Stadtrand gegangen, zu den Gärten, an den Vereinsheimen entlang hin zum Waldrand, immer weiter, bis in die Nacht – ist gegangen, bis seine Muskeln brannten und er Rast machen musste, weil es der Wind war, der ihn gebissen hat. Erst wollte er auf einem Hochsitz bleiben, aber die Kälte trieb ihn bald wieder hinunter und ließ ihn weitergehen. Nach einer Weile stieß er auf eine Art Höhle, eine Ausbuchtung hinter einem niedrigen Felsspalt, gerade groß genug für ihn. Es roch nach Erde, war trocken und windgeschützt genug. Der Ort schien eine Sehenswürdigkeit für Wanderer zu sein, ein Messingschild, das er nicht richtig lesen konnte, hatte etwas dazu zu sagen. Hätte ihn hier nur ein wildes Tier, ein Wildschwein, Luchs oder Wolf erwischt, er wäre erleichtert gewesen.

Kaum hatte er sich niedergelassen, döste er, an die schräge Felswand gelehnt, weg. Ein paar Stunden müssen es gewesen sein. Schwere Träume durchsickerten ihn hier: Ihm war, als gäbe es tief unter ihm Bewegung, Schaben und Klopfen und Schaben, das er in der Magengrube spürte. Als er im Morgengrauen fröstelnd hochschreckte, ließ sich das Gefühl kaum vertreiben. Erst als Enders eine gute halbe Stunde weitergezogen war und an einem kleinen Brunnen eiskaltes Wasser getrunken hatte, fühlte er sich einigermaßen wach. Den Wald ließ er hinter sich, ging die Felder entlang bis zum Dorf, dann bis zum nächsten, übernächsten, weiter in den Abend. Als er nicht mehr konnte, blieb er zwei Stunden an einer Bushaltestelle sitzen, bis ein Bus in die richtige Richtung kam. Enders zeigte dem Busfahrer ein altes Ticket für eine andere Strecke. Der Busfahrer bemerkte das, Enders erkannte es am Blick, aber nickte ihn trotzdem durch. Zu einem anderen Zeitpunkt wäre er nicht eingestiegen, wenn man ihn so anguckte, Almosen hat er nie genommen, diesmal aber war er zu müde. Er ließ sich auf ein Sitzpolster fallen. Niemand, der zustieg, setzte sich in seine Nähe. Zurück in seiner Straße war er dankbar, sich kurz vor Ladenschluss beim Metzger vom letzten Kleingeld ein Eisbein kaufen zu können, geschwiegen zu haben und in seiner kleinen Wohnung, die er damals noch hatte, schlafen zu können. Tief genug, dass er bis zum Morgen den Zustand, in den ihn das Amt gebracht hatte, vergessen hatte. Zwei Tage und alle Kraft hatte er gebraucht, bis er ihn loswerden konnte. Wenn aber so ein Kind auf einen wartet?

»Die Kleene hat gegessen«, sagt Enders leise.

Mascha nickt.

»Hast du Hunger?«

Mascha zuckt mit den Schultern.

»Ich bring dir was?«

Mascha schüttelt den Kopf, schließt die Augen.

Enders lehnt sich im Sessel zurück. »Auf dem Schiff«, fängt er an zu erzählen, weil er weiß, dass Mascha diese Geschichten mag. Überbleibsel von etwas, das er als Zwanzigjähriger zusammengelebt hat, als ihm das Amt noch kein Begriff war. Geschichten, die wenig mit dem zu tun haben, was er ihr heute in dieses Wohnzimmer bringen kann.

»Auf dem Schiff haben die Urlauber oft das halbe Essen stehenlassen, halbe Flaschen Champagner. Weil ihnen schlecht war, was weiß ich. Wir hätten das wegkippen müssen, haben aber oft hinten vorm Spülen genascht. Datteln im Speckmantel, Kaviar. So was gab es für uns Fußvolk natürlich nicht. Uns hat man Reis gekocht, mit irgendwas, das weg musste. Manche der Kollegen waren sich zu fein für die Reste, vielleicht auch zu feige – Harry und mir war das aber egal. Wenn wir die Chance hatten, Kaviar zu essen, haben wir die genutzt. Dabei hat das nicht mal richtig geschmeckt: salzig, fischig, so Wunzgummikörner – braucht kein Mensch. Aber wir konnten nach Hause schreiben, dass es Kaviar und Champagner gab.«

»Enders?«