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Türen schützen, verbinden, verschließen, trennen. Wege enden oder beginnen an einem Tor. Ein Portal kann bewerten oder die Reise in ferne Galaxien ermöglichen. 55 Kurzgeschichten erforschen Geheimnisse hinter verschlossenen Türen, öffnen Portale in fantastische Welten und machen auch vor befestigten Toren nicht Halt. Die Protagonisten – wackere Ritter und Raumfahrer, introvertierte Elfen und abgebrannte Pizzaboten sowie Dämonenbeschwörer, Computernerds und Bibliotheksgründer – treffen dabei auf Aliens, Drachen, Heinzelmännchen, Geister und Wolpertinger. Einige lauern in Mauselöchern, verstecken sich hinter Türspionen, bewachen Tore oder erfinden futuristische Portale. Manche Tür führt in schönere Welten oder Zeiten, eine andere wäre besser für immer verschlossen geblieben. Das Autorenduo Sabine Frambach und Kai Focke hat Schlupflöcher, Miniatürchen, Stadt- und Fußballtore zusammengetragen, die belustigen, erstaunen, berühren – und den Leser ab und an erröten lassen. Der Genremix umfasst Fantasy, Horror, Schmunzelfantastik, Märchenadaptationen, Persiflagen und Science-Fiction.
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Seitenzahl: 276
Veröffentlichungsjahr: 2022
Sabine Frambach & Kai Focke
AndroSF 154
Sabine Frambach & Kai Focke
TÜREN, TORE & PORTALE
55 fantastische Kurzgeschichten
AndroSF 154
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2022
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Sean Wareing (Pixabay)
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 289 8
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 814 2
»Eben ist ein tolles Angebot durch den Briefschlitz geflattert: Zwei Autoren wollen über uns schreiben.«
»Über uns?« Die Kellertür knarzte; das tat sie immer, wenn sie aufgeregt war.
»Ja! Über Türen, Tore & Portale – und zwar gleich fünfundfünfzig Mal!«
Die Tür zum Blauen Salon schwieg; sie war meist verschlossen.
»Ich glaub, ich dreh durch«, jubelte die Drehtür.
Die Tresortür tönte blechern: »Wir werden aber am Umsatz beteiligt, oder?«
Die Haustür betrachtete den Brief, las ihn nochmals durch und nickte. »Ja, werden wir. Aber wir müssen alle zustimmen. Liebe Kellertür, kannst du unten bei den Portalen mal nachfragen, ob sie einverstanden sind?«
»Wird gemacht«, quietschte die Kellertür.
Die Nachricht ging von Tür zu Tür, und dank emsiger Helfer wie den Heinzelmännchen wurden auch die Gartenpforte, das Stadttor und die Falltür informiert.
»Die Autoren Frambach und Focke? Wer soll das sein?«, knarrte die Katzenklappe skeptisch.
Die Eingangstür grübelte ein wenig. »Keine Ahnung, nie gehört. Vielleicht weiß es die Bibliothekstür?«
Diese suchte im Archiv. Sie suchte lange, sehr lange, schaute ganz zum Schluss hinter den geheimen Zugang und entdeckte einige Einträge zu Sabine Frambach und Kai Focke. Nicht berühmt, aber zumindest leben die beiden noch. »In Ordnung, vorausgesetzt, wir werden handelseinig!«, verkündete die Bibliothekstür.
Schließlich, nach zähen Verhandlungen mit der Tresortür, konnten sich die Autoren sämtliche Rechte sichern und fanden einen fantastischen Verlag, der die Geschichten zwischen zwei Buchdeckel packte.
Viel Vergnügen bei Türen, Tore & Portale!
Sie fragten, wie ich in den Raum gelangen konnte. Wie ich erscheinen konnte. Die Tür, sagten sie, war verschlossen, das Fenster ebenso. Ich weiß nicht, was sie meinen. Ich kann überall hinein und hinaus. Sie selber wechseln die Räume, indem sie die Tür öffnen, hindurchtreten und hinter sich wieder schließen. Es erscheint mir kompliziert.
Sie könnten alle Türen im Haus offenstehen lassen, um sich leichter von Raum zu Raum zu bewegen, aber sie ziehen es vor, die Türen abzuschließen. Eine von ihnen hat sogar eine Kommode von innen vor die Tür geschoben. Ich weiß nicht, wieso sie das getan hat.
Am Abend haben sie angefangen, mich anzusprechen. Sie riefen: »Bist du da? Was willst du?«
Was soll ich wollen: Ich war immer hier, ich streife mit der Nachtluft durch die Gänge, verfange mich in den Gardinen, schlüpfe durch die Wände von Raum zu Raum. Ich benötige keine Tür.
Sie sagten, dass sie mich austreiben wollten, und die mit der Kommode vor der Tür weinte. Da verstand ich, dass sie Angst hatte.
Sie wedelten mit Dampf, warfen Kräuter ins Feuer und lasen aus einem eigenartigen Buch. Ich wartete; wohin sollte ich auch verschwinden? Ich war immer hier.
Am siebten Tag kamen weitere von ihnen. Eine dicke Frau sagte etwas von einer Tür, die ich nicht finden könnte. Sie würde mir diese Tür zeigen. Ich wartete. Obwohl ich sie nicht benötige, kenne ich alle Türen des Hauses. Welche Tür will sie mir zeigen?
Mitten in der Nacht bildeten sie einen Kreis und sangen. Schließlich deutete die dicke Frau mit aufgerissenen Augen auf eine Ecke im grünen Salon. »Geh ins Licht«, rief sie. »Geh ins Licht!«
Tatsächlich entstand mitten auf der Wand eine glühende Tür. Das Licht wärmte. Nie zuvor hatte ich solch eine Helligkeit gesehen, so rein, so klar. Langsam schwebte ich darauf zu. Wie warm mir wurde …
»Das Haus ist gereinigt«, rief die dicke Frau. »Der Geist ist ausgetrieben!«
Ich bin seitdem leise, damit niemand merkt, dass ich nicht ins Licht gegangen bin. Was soll ich auch dort? Ich bin immer hier gewesen. In meinem Haus.
Mark schnaubte wie ein Stier mit Verdauungsstörungen. Er befand sich vor einem alten Haus, dessen hölzerne Eingangstür der Schriftzug »Schlossberg 11« zierte. Über der daneben angebrachten regenbogenfarbenen Miniaturtür, kaum größer als Marks Handfläche, stand in goldener Schrift »Schlossberg 11a«. Es war nicht das erste Mal, dass Mark, Ausfahrer bei »Pepe’s Italy-Express«, eine Feentür ins Auge fiel. Immer mehr durchgeknallte Fantasyfreaks klebten sich diese Attrappen an die Hauswand und kamen sich dabei ultrakomisch vor. Sollten sie doch! Der Spaß hörte aber auf, wenn jemand eine Party-Pizza Champignon an die Feentür-Adresse bestellte und dann nicht daheim war. Jede Verzögerung der Auslieferung führte zu Verspätungen bei den folgenden Kunden, jede Verspätung verringerte wiederum die Aussicht auf ein Trinkgeld. Vom Stundenlohn eines Pizza-Ausfahrers konnten weder Mark noch seine Kollegen leben – und nachdem er sich am letzten Wochenende massiv beim Backgammon verzockt hatte, brauchte er ohnehin jeden beschissenen Euro. Fluchend zückte er das Smartphone und rief seinen Disponenten an.
»Bestellung 451 an ›Schlossberg 11‹ kann nicht ausgeliefert werden: niemand da.«
»Die Lieferadresse von 451 lautet ›Schlossberg 11a‹, du Honk!«
»Selber Honk: ›11a‹ ist nur ’ne bescheuerte Feentür.«
»Kein Stress! 451 ist online aufgegeben und mit Kreditkarte vorab bezahlt worden. Eine Telefonnummer wurde nicht angegeben. Pech für den Kunden. Dein Zustellversuch ist im System vermerkt.«
»Check! Ich fahr’ dann weiter zur Wilhelmstraße.«
»Moment«, meldete sich der Disponent. »Der Kunde hat im Bestellformular bei ›Information an den Zusteller‹ Folgendes hinterlegt: Sprich ›Pizza‹ und tritt ein. Ist da vielleicht ein elektronisches Eingabefeld an der Haustür?«
»Nein«, antwortete Mark, nachdem er die Klingelanlage untersucht hatte. »Sprich ›Pizza‹ und tritt ein ist echt die dümmste Tolkien-Verarschung, die ich je gehört habe.«
Kaum hatte er den Satz beendet, begann sich alles um ihn herum zu drehen. Mark wurde schwarz vor Augen. Er meinte zu fallen, so als wäre er im Freibad mit geschlossenen Augen vom Zehnmeterturm gesprungen.
Als er wieder zu sich kam, kauerte er vor einer regenbogenfarbenen Haustür. »Schlossberg 11a« prangte darüber in goldenen Lettern.
Die Feentür, schoss es ihm durch den Kopf. Aber wie ist die auf einmal so groß geworden? Irritiert blickte er sich um – und musste feststellen, dass nicht sie gewachsen, sondern er geschrumpft war. Da öffnete sich die Tür. Im Rahmen stand ein Mann, dessen rote Zipfelmütze und der bis zum Bauchnabel reichende Spitzbart ihn als Gartenzwerg ausgewiesen hätten. Dagegen sprachen allerdings dessen verspiegelte Sonnenbrille, das Hawaiihemd sowie Bermudashorts und Strandsandalen.
»Hi«, grüßte der Zwerg und machte ein Peace-Zeichen. »Komm rein, Bruder!«
Wie hypnotisiert marschierte Mark an der seltsamen Gestalt vorbei und befand sich in einem ebenso geräumigen wie verqualmten Apartment. Fünf, lediglich Baströcke und Blumengirlanden tragende, gertenschlanke Mädchen mit blauen Haaren und spitzen Ohren tanzten zu laut wummerndem Psychedelic-Trance durch den Raum. Derweil chillten auf einer Couchgarnitur zwei weitere Hippiezwerge. Sie hatten ein halbes Dutzend Flaschen mit bunten, wahrscheinlich hochprozentigen Flüssigkeiten vor sich aufgebaut und rauchten Wasserpfeife mit äußerst aromatisch riechendem Tabak – zusammen mit einer mannshohen Raupe. Die Szenerie wurde von mehreren Lavalampen und den kreisenden Lichtpunkten einer Discokugel beschienen.
»Stell die Pizza auf den Küchentisch!«
Nachdem Mark der Aufforderung gefolgt war, schlug der Zwerg ihm kumpelhaft auf den Rücken. »Willst du mit uns feiern, Bruder?« Er zog die Sonnenbrille tiefer ins Gesicht und zwinkerte ihm über die Gläser zu. »Wir haben Damenüberschuss.«
»Danke … ein … ein anderes Mal«, stotterte Mark. »Ich muss … muss noch Pizza ausfahren.«
»Kein Stress, Bruder!« Der Zwerg nickte verständnisvoll, griff nach Marks Hand und schüttete aus einem Säckchen feinen Sand hinein. »Steck ein, Bruder: is’ alles für dich!«
Völlig perplex stopfte sich Mark den Sand in die Hosentasche. Danach geleitete ihn der Zwerg vor die Haustür und klatschte dreimal in die Hände. Mark wurde erneut schwarz vor Augen.
Vor der Feentür kniend, mit dem Smartphone in der Hand, kam Mark langsam zu sich.
»Okay, dann fahr weiter zur Wilhelmstraße«, bestätigte der Disponent und beendete das Gespräch.
Mark blinzelte mehrmals. Doch selbst, nachdem er sich kräftig die Augen gerieben hatte, blieb die Party-Pizza Champignon verschwunden. Und die Tatsache, dass Sand aus seiner rechten Hosentasche quoll, machte das Ganze nicht wirklich besser. Er entschied sich spontan, diese surreale Episode – sofort und komplett – aus seinen Erinnerungen zu streichen. Nachdem er mehrmals tief durchgeatmet hatte, schüttelte er den Sand aus der Tasche und beendete die Tour.
Als Mark am Abend die Arbeitskleidung auszog, fiel der verbliebene Sand aus seiner Hosentasche. Beim genauen Hinsehen begann er plötzlich, zu hyperventilieren. Der Sand hatte sich verwandelt: Bei den Körnchen handelte es sich zweifelsfrei um Gold! Sehr gerne hätte er jetzt zum dritten Mal an diesem Tag das Bewusstsein verloren.
»Ist der lässigste Club im ganzen Universum. Wirklich, das fetzt. Sie schenken Wirkbier aus, das extrem fescht, Alter! Und die Medusen tanzen vorne auf der Bühne. Ein Traum, Alter, eine Mischung aus der guten alten Milchbar und dem Paradise Jungle auf Delta V.«
»Wo ist der Haken?«
Kerjen schlürfte die Brause mit einem Schmatzen aus. »Der Haken ist, dass sie uns nicht reinlassen. Sie sind der lässigste Club mit dem strengsten Türsteher des ganzen Universums. Der Troll lässt nur Stammkunden vorbei und schlägt jeden nieder, der sich vorbeidrücken will.«
Ich nuckelte an meiner Brause. »Du warst also nie drin?«
»Nein.«
»Woher weißt du dann, dass es der lässigste Club ist?«
Kerjen knallte das Glas so hastig auf den Tresen, dass die Eisgeister darin knisterten.
»Alter, Benji kennt einen, der einen kennt, der drin war. Ist mit Abstand der lässigste Club, hat der gesagt! Wir müssen an dem Troll vorbei!«
Ich nickte. »Wir versuchen es«, sagte ich. Mit Trollen kenne ich mich aus.
Tatsächlich war der Troll selbst für einen Troll riesig. Selten so einen gesehen. Musste von der altmärkischen Linie abstammen, vielleicht mit einem steirischen Einschlag. Ich packte Kerjen und zog ihn aus der Schlange zurück.
»Vor dem können wir uns nicht verbergen. Seine Augen sind scharf, sein Blickfeld weit. Entweder sind wir schneller durch, als er zuschlagen kann …«
Im selben Augenblick sahen wir eine Sylphe, die schnell wie ein Komet an der Schlange vorbeiraste. Der Troll stand unbewegt da. Im nächsten Augenblick haute er mit der Faust zu. Die Sylphe kreischte, ehe sie sich in Luft auflöste.
»Wir sind nicht schneller als er«, korrigierte ich. »In dem Fall müssen wir klüger sein als er.«
»Das dürfte nicht schwierig sein. Es ist ein Troll.«
»Aber ein altmärkischer, Kerjen. Die sind nicht zu vergleichen mit den gewöhnlichen Feldbergtrollen. Wir werden es versuchen mit dem Zwergentrick. Der funktioniert bei allen Trollen.«
Wir drängten uns nahe an ihn heran, so nahe, dass ich die Kieselrunzel auf der Trollhaut sehen konnte.
Der Troll blickte mit lidlosen Augen auf uns herab.
»Ihr kommt nicht vorbei«, grollte er.
»Oh, das ist kein Problem«, antwortete ich. »Wir wollen nicht vorbei.«
»Nicht?«, grollte der Troll.
»Nein, beim heiligen Wackerstein, ich schwöre. Was sollen wir auch da drin? Uns liegt nichts an Wirkbier. Das ist Zwergenzeug.«
»Ja«, grollte der Troll.
»Wir haben dort vorne einen winzigen Hammer gefunden, eine Kappe und einen abgeschnittenen Bart. Und da dachten wir, wir fragen mal, wem die Sachen gehören. Sieht ja aus, als ob sich ein Zwerg …«
»Zeig es mir!«, donnerte der Troll.
»Hier!« Ich holte die Tasche hervor.
Tief hinab bückte sich der Troll, bis er mich berührte. Erst dann schnupperte er. »Zwerg!«, grollte er. »Hat sich eingeschlichen. Zwergenvolk! Das ist nicht erlaubt!«
»Das muss so einer mit Mantel gewesen sein«, sagte ich. »Dort hinten. Auf Stelzen und mit riesigem Hut.«
Da drehte sich der Troll um, brüllte, bis Steine von seinen Schultern rieselten, und trampelte davon. Mit jedem Schritt bebte die Erde, der Kies klackerte, die Steine stoben auf.
Kerjen und ich rannten los. Wir rannten in die entgegengesetzte Richtung, so schnell wir konnten, rasten auf die Tür zu, rissen sie auf, quetschten uns durch und warfen sie hinter uns zu, lehnten mit dem Rücken dagegen und lachten.
»Alter, wir haben es geschafft!«, rief Kerjen.
»Fast«, entgegnete ich.
Links befand sich eine Garderobe.
Vor uns war eine weitere Tür.
Mit äußerster Verwunderung betrachtete Meister Empetanes die dampfende Teetasse, die ihm der streng dreinblickende Diener kredenzte. Er hatte fest mit edlem Importwein und nicht mit einem Kräuteraufguss gerechnet. Er war schließlich durstig, nicht krank. Ebenso befremdlich erschienen ihm die auf einer Holzplatte akkurat arrangierten Apfel- und Karottenstücke. War obendrein das Zuckerwerk ausgegangen? Es sollte nicht die letzte Überraschung an diesem Nachmittag sein.
Gerkon Suder, Oberhaupt der einflussreichsten Tuchhändlerfamilie der Stadt, und dessen Ehefrau Faseola hatten Meister Empetanes, den freischaffenden Dämonologen und Alchemisten, in den Kleinen Salon ihres vorstädtischen Anwesens eingeladen. Der Wohlstand der Suders stand eigentlich außer Frage: Bereits der Kleine Salon hätte mehr als ausreichend Platz für dessen Ladenlokal nebst Beschwörungskeller geboten. Umso seltsamer mutete das Fehlen der in diesen Kreisen üblichen Zurschaustellung von Luxus an. Geweißte Wände statt Stofftapeten, Holzdielen statt Marmorböden, schlichtes Mobiliar und der vollständige Verzicht auf Gemälde und Skulpturen.
»Trotz unseres Wohlstands haben wir uns zu einem Leben in Einfachheit entschieden«, eröffnete Faseola das Gespräch, wobei sie offensichtlich die Gedanken ihres Gastes erraten hatte. »Guru Pe Nun-Ze hat uns dies gelehrt. Er tut viel Gutes mit dem überschüssigen Geld und stärkt damit unser Karma. Nicht wahr, Schatz?«
Der untersetzte Endfünfziger räusperte sich. »Er …«
»… ist einfach großartig!«, ergänzte Faseola. Spindeldürr und hochgewachsen stellte sie das perfekte Gegenbild ihres Gatten dar. »Leider ist mein Mann auf dem Pfad der geistigen Erkenntnis noch nicht so weit fortgeschritten wie ich. Die Arbeit vereinnahmt ihn sehr.«
»Hochinteressant«, stellte Empetanes fest und nippte aus reiner Höflichkeit an seiner Teetasse. »Aber wofür benötigen die Herrschaften meine Dienste?«
»Das kann Euch mein Mann besser erklären.«
Gerkon räusperte sich erneut. »Ab und an …«
»… nimmt sich mein Mann eine Auszeit in seinem Jagdhaus«, vervollständigte Faseola. »Selbstverständlich sehe ich die Jagd kritisch. Der Guru sagt, man soll von Obst, Früchten und Getreide leben: das, was die Natur einem freiwillig schenkt. Selbstverständlich darf es nicht vergoren sein, denn Alkohol ist schlecht für das Karma. Aber ich schweife ab. Mein Mann hat im vergangenen Jahr von einem Magier günstig ein Jagdhaus erworben. Der niedrige Kaufpreis begründete sich in dem Umstand, dass der Keller von der Nutzung ausgeschlossen ist.«
Empetanes bemerkte, dass schon bei der ersten Erwähnung des Hauses ein Lächeln über Gerkons Gesicht huschte.
»Nun sag doch auch mal etwas!«, herrschte Faseola ihren Mann an.
»Nun ja, die Kellertür trägt ein Siegel, mit welchem der zwischenzeitlich unbekannt verzogene Magier einen schrecklichen Dämon gebunden hat. Man dürfe daher keinesfalls die Kellertür öffnen. Was sich in den Räumen dahinter befindet, hat er nicht erklärt. Er meinte lediglich, dass der Aufenthalt im Haus ansonsten völlig ungefährlich sei. Es war wirklich ein preisgünstiges Angebot«, fügte Gerkon fast entschuldigend hinzu.
»So ein Wahnwitz«, übernahm Faseola wieder die Gesprächsführung. »Ein ohnehin kleines Haus, bei dem der Keller nicht genutzt werden darf! Ich werde zukünftig meinen Mann bei dessen Auszeiten begleiten, weshalb mir ein Ausbau vorschwebt: Zusammen mit einem Bediensteten wird er im Keller Quartier beziehen, ich richte mich im Erdgeschoss ein. Dann können wir gemeinsam meditieren und auf dem Pfad der geistigen Erkenntnis weiter voranschreiten.«
»Welcher Dämon wurde mithilfe des Siegels gebunden?«, fragte Empetanes.
»Das weiß ich nicht«, erklärte Gerkon und rutschte dabei unruhig auf seinem Stuhl herum. »Ich hatte bereits Magister Perinox, einen Dämonologen aus der Reichshauptstadt, zurate gezogen. Er meinte, dass der Dämon ausgesprochen mächtig und eine Austreibung viel zu gefährlich sei. Ich solle die Tür keinesfalls öffnen und mich nicht weiter um die Kellerräume kümmern.«
Empetanes überlegte. Den Namen des Dämonologen hatte er noch nie gehört.
»Davon ausgehend, dass es sich um einen mächtigen Wächterdämon handelt, möglicherweise einen Raadinug«, dozierte Empetanes, »wäre zeitnahes Handeln erforderlich. In der heutigen Nacht stünden die Sterne für dessen Exvocation günstig. Die nächste Gelegenheit würde sich erst in einem halben Jahr bieten. Ich bräuchte dazu allerdings einige Paraphernalia aus meinem Laden.«
»Wir sollten nichts übereilen«, warf Gerkon hastig ein. »Zusammen mit Meister Empetanes werde ich in einem halben Jahr allein …«
»Das ist kein Problem«, schnitt Faseola ihrem Mann das Wort ab. »Der Kutscher kann uns alle sofort zum Jagdhaus bringen und auf dem Weg am Laden haltmachen. Wir wären innerhalb von etwa zwei Wassermaßen dort.«
Empetanes zupfte mit Daumen und Zeigefinger an seinem gewachsten Spitzbart. »Leider werde ich für diesen Auftrag einen Aufschlag berechnen müssen. Aktuell sind meine Dienste sehr gefragt. Für unser heutiges Treffen musste ich sogar einen Termin verschieben.«
Tatsächlich sah sich Empetanes gerade mit einer geschäftlichen Flaute konfrontiert und bei dem Termin handelte es sich um ein Schäferstündchen mit Vestalia, der hübschen Buchdruckerin. Er seufzte leise: Sie wird sicher alles andere als begeistert sein …
»Mein Mann entlohnt Eure Dienste gern. Nicht wahr, Schatz?«
Gerkon nickte – ebenfalls mit einem leisen Seufzen.
Verwundert betrachtete Empetanes das an der breiten, aus zwei Flügeln bestehenden Kellertür aufgebrachte Siegel. Etwas Derartiges hatte er noch nie gesehen. Schließlich holte er einen in Leder gebundenen Folianten aus seiner Reisetasche hervor und begann darin zu blättern.
»Diese Austreibung ist sicher sehr gefährlich«, meldete sich Gerkon zu Wort. »Schatz, ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn du beim Kutscher auf uns warten würdest.«
»Ich kann Euch beruhigen«, murmelte Empetanes, ohne vom Buch aufzublicken. »Weder Euch noch Eurer Frau droht eine Gefahr. Dafür werde ich sorgen.«
Kopfschüttelnd legte er den Folianten zur Seite und nahm ein Stück Kreide aus der Tasche. Mit weit ausholenden Bewegungen zog er zwei Kreise auf dem Boden. In den einen Kreis zeichnete er ein Enneagramm, einen Neunstern, und bat die Eheleute sich darauf zu stellen. Den anderen Kreis versah er am Rand mit fünf arkanen Runen und platzierte sich selbst in dessen Mitte. Ohne weitere Erklärungen stimmte er einen Singsang in einer den beiden unbekannten Sprache an. Am Ende des Gesangs – passierte nichts.
»Was ist denn jetzt?«, fragte Faseola vom hinteren Kreis aus.
Empetanes drehte sich um. Er wurde nicht nur Faseolas ungeduldiger Mine gewahr, sondern auch, wie ihn Gerkon flehentlich anblickte. Jetzt begann er zu begreifen.
»Mein Kollege … scheint Recht zu haben. Mithilfe des Siegels wurde ein extrem mächtiger … Dämon gebunden, ein … ähm …«, er strich sich verlegen durch die kurz geschnittenen Haare, »ein … Securityan. Genau! Der Schutzzauber des Magiers wirkt, der Dämon stellt keine Gefahr dar … zumindest nicht für männliche Wesen. Da Dämonen eine Affinität zu besonders schönen Frauen besitzen, muss ich der gnädigen Dame bedauerlicherweise verbieten, sich diesem Haus zukünftig mehr als neunhundertneunundneunzig Schritte zu nähern.«
»Das …«, setzte Gerkon lächelnd an.
»… sind schlechte Nachrichten«, stellte Faseola fest, während sie sich durch die Haare fuhr, um ein paar lose Strähnen zu ordnen. »Deine Umbaupläne«, wandte sie sich an Gerkon, »kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Meine Schönheit bringt mich hier in allerhöchste Lebensgefahr! Ich werde dieses unsägliche Haus nie wieder betreten. Da Euch die Austreibung nicht gelungen ist, Meister Empetanes«, fügte sie streng hinzu, »wird mein Mann lediglich Eure Expertise vergüten können.«
Mit übertrieben betontem Hüftschwung stolzierte sie die Kellertreppe hinauf, ohne die beiden Männer eines weiteren Blicks zu würdigen.
»Meister Empetanes, ich bin überaus dankbar für Eure Expertise!« Gerkon strahlte wie Mond und Sonne zugleich. »Sicher werden wir uns über die Vergütung einig.«
»Ihr habt mich vor einer handfesten Ehekrise bewahrt«, stellte Gerkon fest. »Ich stehe tief in Eurer Schuld.«
»Nicht doch!«, protestierte Empetanes. »Ihr habt mich bereits mehr als gut entlohnt.«
»Keine Widerrede!«, wiegelte Gerkon den Einwand in gespielter Strenge ab. »Ihr werdet stets ein willkommener Gast in meinem Refugium sein. Zumindest ab und an brauche ich eine Auszeit von der Sträflingsküche und diesem Guru-hier-und-Guru-da-Geschwätz. Aus diesem Grund habe ich das Häuschen erworben. Um den Schein zu wahren, kaufe ich meine Jagdtrophäen einem Jäger ab, der mir auch Rehrücken, Bärenschinken und Wildschweinwurst liefert. Zudem lasse ich mich, da meine Frau das ganze Geld zum Guru trägt, von einigen Kunden in Wein bezahlen.« Mit einer weit ausholenden Geste zeigte er auf die an den Kellerwänden stehenden Fässer. »Tut Euch bei Euren Besuchen also keinen Zwang an, denn für Nachschub ist gesorgt. Im Übrigen steht das Haus die meiste Zeit leer: Ideal für einen ungebundenen Herrn im besten Mannesalter«, fügte Gerkon mit einem Augenzwinkern hinzu. Dabei überreichte er seinem Gegenüber einen Metallbund mit zwei Schlüsseln. »Für die Haustür und den Keller«, erklärte er.
Empetanes deutete eine Verbeugung an und prostete seinem Gastgeber dankend zu. Nun wusste er, wie er die noch immer schmollende Vestalia wieder gütig stimmen konnte.
»Eine Scheidung würde mich finanziell ruinieren«, seufzte Gerkon und nahm einen tiefen Schluck. »Immerhin werde ich – dank Euch – hier zukünftig vor der selbstgefälligen Bohnenstange sicher sein. Ihr beherrscht nicht zufällig die Kunst, Ehedämonen auszutreiben?«
Das Lachen der beiden sollte an diesem Abend noch oft durch den Weinkeller schallen.
Sanft streichelte Holler über den Kopf des Kaninchens, ehe er dem Tier mit einer raschen Bewegung die Hinterläufe brach. Er konnte hören, wie die Knochen knackten.
Das Tier schnaufte; kurz schimmerte das Weiß in den Augen auf. Holler setzte das Kaninchen mitten auf die dünne Schicht aus Zweigen und Moos. Mit einem Seil band er es an, sodass es mit den Vorderläufen kratzend immer um sich selber kroch, während die nutzlosen Hinterläufe über das Moos rutschten. Das Kaninchen zappelte zufriedenstellend und gab ausreichend Laut von sich. Nochmals packte Holler das Tier am Genick, klemmte es zwischen seine Beine und schnitt dem Kaninchen ein Ohr ab. Es blutete. Ein verletztes, noch lebendiges Tier; eine perfekte Beute.
Ein perfekter Köder.
Holler lauerte in der Nähe der Falltür auf jedes Geräusch. Hoffentlich kam ein Kager, um das Kaninchen zu reißen. Wenn es in seine Falle tappte, konnte Holler es überwältigen. Die Kager witterten Blut; das verletzte Kaninchen sollte sie anlocken. Langsam brauchte er Fleisch. Seit Tagen hatte er nur Rüben gekaut.
Holler blieb in Deckung, das Messer in der Hand, das Seil in der anderen; er lauschte wachsam. Der Mechanismus der Falltür löste bei etwa fünfzig Kilogramm aus. Ein Wildhund hatte auf den dünnen Zweigen stehend das Kaninchen gefressen, bei einem Kager klappte die Tür auf, und das Tier stürzte hinab. Seit Holler diese Falltür entdeckt hatte, erbeutete er auf diese Weise Fleisch. Holler hoffte, keinem Raubtier außerhalb der Grube zu begegnen. Mit einem Kager wollte er nur kämpfen, wenn dieser in der Falle saß. Beim letzten Mal hatte das Tier ihm eine Wunde am Bein zugefügt, ehe Holler es getroffen hatte. Er hatte von dem Fleisch Wochen gegessen, doch das Blut des Kagers hatte er nicht auffangen können. Manchmal schmerzte die wulstige Narbe in der Kälte.
Holler wartete. Schließlich drückte die Blase, er kroch in den Graben, zog den Schlitz auf und pinkelte so leise wie möglich. Die Tropfen prasselten auf das trockene Laub. Hinter ihm blitzte es, als ob für einen Augenblick die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hatte. Zugleich ertönte das Fiepen des Kaninchens; er stopfte sein Glied mit der Feuchtigkeit in die Hose und hielt das Messer, stürzte zurück. Es krachte; das musste die Falltür gewesen sein. Was auch immer das Kaninchen gerissen hatte, saß nun in der Grube. Hoffentlich war es ein Kager.
Er schlich heran, zuletzt mit trippelnden Schritten, um nicht selber abzustürzen. Am Grubenrand blickte er hinab.
Kein Kager.
Nichts, was er kannte. Groß und Weiß, das Fell kurz, die lange Schnauze blutig. Es hockte da, jaulte und reckte die vorderen Extremitäten, fuhr mit den Krallen durch die Luft.
Als es ihn bemerkte, schaute das Vieh hoch, riss das Maul auf und grollte. Er sah rot triefende Zähne.
»Was ist das?«, murmelte er; »so etwas habe ich auf diesem verdammten Planeten noch nie gesehen.« Hoffentlich war es genießbar. Doch zunächst musste Holler es töten.
Er umrundete die Grube, ohne das Vieh aus den Augen zu lassen. Am Hinterkopf blutete es, vielleicht hatte es sich am Holz der Falltür das Fell aufgeschrammt. Es drehte den Kopf in seine Richtung, fuhr mit den vorderen Pranken durch die Luft, doch es sprang nicht auf. Holler musste es von hinten erwischen; wenn das Vieh ihn zu packen bekam, war es aus mit ihm. Er sicherte sich wie gewohnt mit dem Seil am Baum, um langsam in die Grube abzusteigen. Seinen Rücken hielt er schützend gegen die Wand, Stück für Stück glitt er am Seil hinab, ohne das Vieh aus den Augen zu lassen. Es grollte, doch es griff nicht an.
Mit beiden Füßen berührte er den Boden. Den Haken löste er, ließ das Seil baumeln, er musste sich frei bewegen können. Sein Messer lag gut in der Hand, er beschleunigte, lief im Kreis, das Vieh reckte sich, er stoppte, sprang zurück, da spürte er einen Schlag am Rücken, rollte ab, drehte sich weg, sprang wieder auf. Sein Bein blutete aus drei Striemen. »Verfluchtes Vieh«, zischte er, spuckte aus, ging gebeugt nach vorn, täuschte einen Angriff an, drehte sich, nahm eine Handvoll Erde, die er dem Vieh entgegenschleuderte. Im Staub rannte Holler zurück, das Vieh grollte, drehte den Kopf suchend umher; genau auf diesen Moment hatte er gewartet, stürzte vor, packte mit einer Hand zu, schob sich auf den Körper und stach dorthin, wo er die Kehle vermutete.
Das Vieh bäumte sich auf, er rutschte, sah die Krallen, duckte sich weg, stach nochmals zu, dieses Mal erklang ein Gurgeln. Langsam sackte das Vieh zusammen.
Holler zog sein Messer heraus, wischte es am Fell ab. Dieses Mal würde er das Blut auffangen. Doch zunächst sollte er sicher sein, dass es tot war. Er schob den Körper, bis dieser zur Seite rollte. Schlaff kippte der Kopf zurück. Nun sah er die seltsame Wunde am Hinterkopf, nicht aufgeschürft, eher wie ein Schnitt. Die Zunge hing heraus, die Augen wie aus Glas, das Fell blutig. Erledigt. Holler sollte seine Ausrüstung holen. Er stand auf, steckte das Messer ein, betrachtete den massigen Körper. Eigenartig; nun wusste er, warum das Vieh ihn nicht angesprungen hatte. Er trat näher und betastete die hinteren Extremitäten, die im eigenartigen Winkel abstanden. Gebrochen. Sie waren gebrochen. Vielleicht beim Sturz?
Plötzlich blitzte es; die Sonne schien grell herab. Holler starrte in den Himmel und glaubte, eine riesige Flugscheibe zu sehen; Strahler blitzten auf, die Grube war in gleißendes Licht getaucht. Geblendet hielt Holler die Hand schützend vor die Augen. Er glaubte, im Lichtstrahl eine riesige Gestalt zu sehen. Sie stand an der Grube und starrte ihn an.
Kerjen starrte auf die Tür. »Das gibt es doch nicht! Wir überwinden den Türsteher, und nach dem Troll stehen wir vor einer weiteren Tür. Warum hat Ben uns nicht vorgewarnt?«
»Gibt es noch einen Türsteher?«, fragte ich. Erst dann entdeckte ich ihn. »Ein Speyer! Lass uns verschwinden!«
»Wie denn? Hinter uns ist die Tür mit dem Troll. Dem wütenden Troll!«
Ich schluckte. Mit Speyern kannte ich mich nicht gut aus. Soweit ich wusste, waren sie etwas hochnäsig. So von oben herab. Also entweder begegnen wir ihm herablassend oder unterwürfig, überlegte ich und näherte mich langsam der Tür mit dem steinernen Wächter darüber.
»Sieh an, sieh an! Zwei Menschen. Wie ist es euch gelungen, am Troll vorbeizukommen?«
»Mit Geschick«, antwortete ich.
»So werdet ihr bei mir mehr als ein geschicktes Händchen benötigen, um passieren zu dürfen.«
»Sicherlich. Ich weiß, dass ihr Speyer viel wachsamer seid, als ein Troll es je vermag. Und klüger. Ihr ahnt, was die Person zu euren Füßen im Schilde führt. Ihr durchschaut die Menschen.«
»Schmeichelt ihr mir?«, fragte der Speyer.
Ich pfiff ein Lied. »Sagt Ihr es mir. Ihr wisst es besser. Habt den Überblick.«
Der Speyer zeigte keine Regung. Schließlich näselte er: »Ihr schmeichelt mir, doch das wird euch nichts nutzen. Ich werde euch nicht einlassen. Ihr seid zu gewöhnlich.«
»Tja«, sagte ich, pfiff weiter und zuckte mit den Schultern. »Da kann man nichts machen. Kommen Sie, Lord Kerjensan?«
Dabei zwinkerte ich wie verrückt.
»Ich komme, Bruut«, sprach Kerjen grinsend, hielt mir den Arm hin und schritt würdig in Richtung der Tür.
»Lord?«
»In der Tat«, sagte ich. »Lord Kerjensan, Träger des blauen Bands, Mitglied der alten Tafelrunde, zu Besuch auf Burg Bliewen.« Jetzt wusste ich, wozu diese High-Society-Heftchen meiner Ma gut waren. Im Stillen dankte ich ihr für die Lektüre.
»Ihr täuscht mich«, krächzte der Speyer. »Eure Kleidung ist gewöhnlich.«
Ich musterte den Speyer so gelangweilt wie möglich. »Der Lord ist inkognito unterwegs, um nicht vom gemeinen Volk erkannt und belästigt zu werden. Graf von Bliewen riet uns, dieses Etablissement aufzusuchen. Ich werde ihm mitteilen, dass wir nicht erwünscht waren.«
»Wartet!« Der Speyer schnarrte. »Ihr dürft eintreten, Lord!«
Wie von Zauberhand öffnete sich die Tür. Wir schritten so elegant wie möglich mit distinguiert abgespreiztem Finger hindurch. Erst, als die Tür sich hinter uns geschlossen hatte, platzte Kerjen heraus. »Wahnsinn, wir sind drin!«
Ich kniff die Augen zusammen und starrte auf den Raum vor mir. »Das ist der angesagte Club?«
»Das ist nicht mein Habitat«, zweifelt Ullrich.
»Es ist die Adresse. Block 18, Habitat 12.«
Ullrich starrt hinaus. Das Gras sattgrün und akkurat gemäht, der Zaun instand gesetzt, frisch lasiert. Die Fassade geweißt. Ullrich steigt aus, der Autobus braust davon.
Habitat 12. Block 18. Die Adresse stimmt. Tatsächlich ist der gebrochene Pflasterstein ausgetauscht, der Weg glänzt. An der Tür kommt ihm Jannika entgegen; sie sieht aus wie heute früh, nur glücklicher.
»Hast du geschnupft?«, fragt Ullrich.
»Nein, komm mit! Das musst du dir ansehen!«
Sie zerrt an seinem Arm, zeigt in diese und in jene Richtung. »Siehst du die Fassade? Frisch geweißt! Die Hecke gestutzt, das Gras gemäht, der Zaun repariert, das E-System upgedatet …«
»Jannika! Woher hast du das Geld?«
»Hat nichts gekostet«, flötet sie mit roten Wangen.
Ullrich tappt hinter ihr her in das fremde Haus, das sein Habitat ist, betrachtet die glänzenden Armaturen, den gesäuberten Teppich, die geglätteten Tagesdecken.
Er zieht die Jacke aus, die ihm nun ein wenig zerknittert vorkommt, zudem hat der linke Ärmel ein kleines Loch. Jannika eilt zu ihm und greift nach der Jacke. »Lass sie mich aufhängen, Schatz!«
»Ich mach das schon.« Er hält die Jacke fest, schiebt die Garderobentür zur Seite, starrt vor sich auf die Erde. Mit gerunzelter Stirn reibt er seine Augen.
»Jannika?«
»Ja?«
»Da steht ein gefesselter und geknebelter Mann in unserer Garderobe.«
Jannika zieht die Brauen hoch, spitzt die Lippen und blinzelt.
»Jannika?«
»Ja«, haucht sie.
»Wer ist der Mann?«
Sie schiebt sich zwischen ihn und die Garderobe, legt ihm die Hände um den Hals und krault seinen Nacken. »Das ist nur der Vertreter für Haustechnik, Robotik und Zubehör. Du weißt schon, Janus Industries. Er hat den Fred S&F vorführen wollen. Und du hast gesehen, was dieser Haushaltsroboter alles geschafft hat!«
»Jannika! Da steht ein gefesselter Mann in unserer Garderobe!«
Sie schmollt. »Eigentlich ist es deine Schuld«, meint sie. »Wie lange hast du mir schon versprochen, diesen Zaun zu reparieren?«
Ullrich seufzt. »Was hat das mit dem Mann zu tun?«
»Ich konnte ihn nicht gehen lassen. Der S&F ist fantastisch! Nach zwanzig Minuten wollte er ihn abstellen, da musste ich etwas unternehmen!«
»Jannika! Was willst du jetzt mit ihm machen? Er kann nicht in der Garderobe stehen bleiben. Oder willst du ihn verhungern lassen, damit du den Roboter weiter nutzen kannst?«
Der Mann unter dem Knebel schwitzt, wackelt mit dem Kopf und bekommt einen feuchten Fleck in der Leistengegend.
»Ich wollte ihn wegschaffen, bevor du kommst«, erklärt Jannika. »Aber der Roboter wollte mir nicht helfen. Er war nicht bereit, dem Mann zu schaden. Etwas mit den Robotergesetzen oder so. Nur die Grube im Garten hat er für mich ausgehoben.«
Unter dem Knebel erklingen quietschende Geräusche.
Ulrich beginnt zu schwitzen. Es läuft nicht gut in seinem Job; er verdient kaum genug, das Habitat abzuzahlen, Jannikas Sonderwünsche werden immer exklusiver. Entweder schnupft sie oder sie gibt Geld für andere Dinge aus. Als ob er nicht genug Probleme hat! Jetzt steht ein gefesselter Mann in seiner Garderobe, während ein Vorführroboter Arbeiten verrichtet. Hoffentlich muss er die nicht bezahlen. Es genügt kaum, die laufenden Kosten zu decken. Und was soll er mit dem Mann tun? Ulrich schließt die Augen und erinnert sich an die Lösung. Sein Supervisor trichtert ihm diese Technik seit Wochen ein, damit Ulrich seine Quote verbessert.
»Jannika. Du kennst die Robotergesetze. Ein Roboter darf keinem Menschen Schaden zufügen. Der Fred wird dir also nicht helfen, die Leiche loszuwerden.«
Bei dem Wort Leiche quiekt der Mann hinter dem Knebel erschreckt auf.
»Dafür brauchst du einen richtigen Mann. Einen wie mich. Ich werde dir wie immer helfen, keine Sorge.«
Sie lächelt und küsste ihn plötzlich stürmisch auf beide Wangen. »Danke! Und den Roboter darf ich behalten?«
»Sicher. Aber du musst mir für ein paar Stunden den Befehlsknoten geben. Und stell mir keine Fragen – je weniger du weißt, desto besser.«
Jannika zieht den Knoten aus der Tasche. Es fällt ihr sichtlich schwer, sich davon zu trennen. Ullrich nimmt den Knoten, durchwühlt die Tasche des gefesselten Mannes, findet die Schlüsselkarten, zwinkert ihm aufmunternd zu, schließt die Garderobentür und schaut Jannika mit erhobenen Brauen an. »Ich bin gleich zurück. Keine Dummheiten! Schnupfe von mir aus etwas und lass den armen Mann leben, verstanden?«
Jannika nickt.
