Twin Cities - Ulrike Schrimpf - E-Book

Twin Cities E-Book

Ulrike Schrimpf

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Beschreibung

Virginie und Bertie sind Zwillinge. Zwillinge, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Während Virginie ihrer großen Leidenschaft, dem Eislaufen, nachgeht, fühlt Bertie sich ein bisschen verloren in Berlin. Und so entschließt er sich nach der Trennung der Eltern, mit seiner Mutter nach Wien zu gehen. Virginie bleibt mit ihrem Vater in Berlin. Doch die Zwillinge vermissen einander mehr, als sie gedacht hätten - und schmieden eifrig Pläne, wie sie die Familie wieder zusammenführen könnten.

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Für Susanne,

meine Virginie.

Irgendwie.

Für meinen Dichter-Vater.

Du fehlst mir.

Jeden einzelnen Tag.

Manchmal hatte Virginie den Eindruck, von Schattenmenschen umgeben zu sein, und sie selbst drehte sich, ein Feuerrad, in der Mitte.

Virginie

Wer würde endlich eine Transformationsmaschine erfinden, mit der man reisen konnte, von Buch zu Buch, von Traum zu Traum, ohne jemals aufzuwachen?

Bertie

Herbst

Bertie, Wien, 9.9., 7.13 Uhr, Bett

Irgendetwas piepte. Bertie zuckte im Schlaf zusammen und öffnete langsam sein linkes Auge. Nur einen Spalt. Blonde, dünne Strähnen fielen ihm ins Gesicht. Er fröstelte. Seine Mutter hatte das Fenster mal wieder über Nacht offen gelassen. »Frischluftfanatikerin«, hatte Papa immer zu ihr gesagt und gelacht.

Berties rechte Hand tastete sich zum Nachttisch, bekam sein Handy zu fassen und hielt es dicht vor seine schlafmüden Augen. Wer wagte es, ihn zu stören, frühmorgens, und dann auch noch an einem Sonntag?

Grüß Gott, oller Piefke! Heute schon gejodelt? V.

entzifferte Bertie langsam auf dem Display. Virginie! Natürlich. Die Ziege. Niemand sonst würde ihn schon um sieben Uhr früh mit SMS belästigen. Niemand, außer der nervigsten Schwester der Welt: groß, hübsch, braune lange Haare, TOTAL sportlich, TOTAL beliebt. Papa nannte sie »eine Augenweide«. Bertie fand, dass sie eher aussah wie eine weidende Kuh, mit ihren dunkelbraunen Telleraugen und ständig Kaugummi kauend. Das war wichtig! Virginie durfte nicht zu dick werden, fürs Training.

Bertie beschloss, seiner Zwillingsschwester nicht zu antworten. Wahrscheinlich langweilte sie sich, weil Bertie nicht mehr da war, und sie niemanden mehr hatte, den sie ärgern konnte. Pech gehabt! Bertie musste grinsen. Wenigstens dieses Problem hatte der Umzug nach Wien gelöst.

Bertie zog die Bettdecke über den Kopf und versuchte, wieder in seinen Traum zurückzufinden. Er hatte keine Lust, schon aufzuwachen. Schattenfiguren begannen, vor seinen Augen zu tanzen, als sein Handy zum zweiten Mal piepte. Mit einem Ruck richtete Bertie sich verärgert in seinem Bett auf und griff nach dem Telefon.

Eine neue Nachricht empfangen.

leuchtete ihm die Schrift entgegen.

Schlaftrunken klickte Bertie auf »Nachricht öffnen«.

P.S. Habe ich dich etwa geweckt? Sorry! ;-) Dein Würgeengel

Wütend pfefferte der schmächtige Junge sein Handy auf den Boden. Der Spitzname »Würgeengel« traf ins Schwarze! Oft nannte Bertie seine Schwester auch einfach »Würgi«. Mann, ging die ihm auf den Wecker! Sogar hier in Wien, 524 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernt. Nicht zu fassen! Sie sollte lieber zum Training gehen! Oder Papa Frühstückseier zubereiten oder was auch immer, anstatt ihn zu nerven. Bertie strich sich eine feuchte Haarsträhne hinters Ohr und sah aus dem Fenster. Auf der großen Tanne vor dem Haus saßen ein paar fette Raben mit Hackschnäbeln. Weißer Nebel waberte durch die Luft und legte sich wie eine Decke auf die Häuserdächer. Die Raben schrien. Massen gab es von denen, hier, im Nirgendwo. Am A der Welt. Wo Bertie gelandet war. Eine alte Frau wackelte auf dem Gehweg entlang, pitsch, patsch, rechter Fuß, linker Fuß, ganz langsam, mit einem Stock in der Hand. Sie trug einen riesigen goldbraunen Pelzmantel und einen beigen Hut mit Feder auf dem Kopf. Wie ein watschelndes Zelt sah sie aus, pitsch, patsch, rechter Fuß, linker Fuß. Bertie musste leise lachen. Manchmal hatte er den Eindruck, dass es in Himmelhof nur alte Menschen, Eichhörnchen und Babys gab.

Entschlossen sprang der Junge aus dem Bett, mit nackten Füßen aufs dunkelbraune Parkett. Wieder fror er. Schnell rannte Bertie zum Regal, schnappte sich seinen Zauberwürfel und verkroch sich zurück ins Bett. Mama und Herbert schliefen noch. Der neue Freund seiner Mutter grinste dämlich und hatte zehn Kilo Muskeln. Vor allem an den Armen, die sahen aus wie dicke Abflussrohre.

»Na, Bertie, kommste mit, sporteln?!«, sagte er und lachte.

Idiot! Bertie hasste den Wiener Dialekt. Alle sprachen hier so breit und lang gezogen, als würden sie auf Gummisohlen rumkauen. Jedes Mal, wenn Bertie das hörte, zog sich sein Magen zusammen. Bevor er darüber länger nachdachte, konzentrierte er sich lieber auf seinen Zauberwürfel. Bertie hatte vor, seinen Rekord zu brechen. Den von vor vier Wochen, im Flugzeug. Als Mama und Herbert Sekt getrunken hatten. Da hatte Bertie den Zauberwürfel in zehn Minuten und 32 Sekunden geschafft. Bertie wurde schwindelig, als er daran dachte. Alles war in dem Moment egal gewesen, die unglaublichen 15000 Meter Flughöhe, Berties Testament, das noch nicht fertig war, die nicht zu unterschätzende Wahrscheinlichkeit von 0,000012 Prozent, dass sie abstürzen würden.

Bertie drehte und drehte, alles durcheinander. Die Farben brannten in seinen Augen. Er HASSTE diese Unordnung. Alles war verkehrt. Berties Herz schlug schneller, und seine Hände wurden schwitzig. Sein Atem ging schnell. Er konzentrierte sich und kniff die Augen zusammen. Dann sah er die Bewegungen vor sich. Jede einzelne. Exakt. Los! Fast hätte Bertie die Augen schließen können, so sicher war er sich. Rot zu rot, blau zu blau, grün zu gelb, dann zu weiß dann zu grün. Die Flächen formten sich, und die Farben hörten auf zu springen. Eine glatte Wand wurden sie. Bald atmete Bertie wieder ruhiger. Die letzten Steine drehte er langsam. Er wusste, dass er gut in der Zeit lag. Sein rechtes Augenlid zuckte, als ob eine Fliege hineingeflogen wäre. Dann sah er auf die Stoppuhr: Zehn Minuten und elf Sekunden. Wow! Bertie lachte leise. Bald wollte er es mal mit verbundenen Augen probieren. Das war die höchste Kunst! Er hatte einen Jungen auf YouTube gesehen, vielleicht ein, zwei Jahre älter als er. Der hatte das in drei Minuten und sieben Sekunden geschafft.

Zufrieden legte Bertie den Zauberwürfel beiseite, schnappte sich eine saure Gummischnur aus seinem Geheimdepot hinten im Nachttischfach und hob sich das Handy vom Teppich auf.

Quatsch, bin schon seit 5 wach und übe für mein Jodeldiplom. Und du? Gestern oft auf den Bobsch gefallen? B.

tippte er bedächtig in sein Handy. Seine Zungenspitze lugte dabei aus dem Mund hervor, wie eine rosa Nacktschnecke. Virginie würde staunen! Bertie lachte wieder leise in sich hinein. Was ein Bobsch war, wusste sie bestimmt nicht.

Samstags hatte Virginie immer besonders lange Training, im Eisstadion Berlin-Mitte. Da rannte sie im Glitzerkleidchen übers Eis und fand sich fantastisch. Normalerweise stand Mama am Rand, hielt eine Trinkflasche bereit und war sooo stolz auf ihre Große! Virginie war nämlich die Große, und Bertie war der Kleine, das musste man wissen. Aber leider war Mama nun nicht mehr in Berlin, sondern in Wien. Wie sollte das nur werden, für Virginie? Bertie verzog eine Grimasse und schlackerte mit seiner Zunge hin und her. Keine Mama mehr, die ihre Füße massierte, keine Mama, die Tanzkleider nähte, keine Mama, die Virginie zum Training brachte. Ha!

Bertie nahm sich noch eine Schlange, legte den Kopf in den Nacken und ließ sie langsam in den Mund gleiten. Stück für Stück. Die Säure brannte auf seinen Lippen und seiner Zunge, und Zuckerkrümel rollten an seinem Hals herunter. Früher, als Virginie und Bertie noch klein gewesen waren, fünf Jahre alt oder so, hatten sie sich immer gemeinsam eine Schlange in den Mund gesteckt. Jeder von einer Seite. Wer am schnellsten kauen konnte, hatte am meisten abbekommen. Irgendwann hatten sich dann immer ihre Münder getroffen, kurz, so für eine Millisekunde. Dann musste sie kichern und sich schütteln. Das war ein weiches, kitzliges Gefühl gewesen.

Dass sie mal zusammen in Mamas Bauch gewesen waren – vor zwölf Jahren und drei Monaten, um genau zu sein –, konnte Bertie nicht glauben. Virginie und er. Ganz nah beieinander. Zwei strampelnde Fleischklumpen. Mama hatte immer Geschichten davon erzählt, wie sie sich geboxt hatten. Das wunderte Bertie nicht. Wenn Virginie damals schon so nervig gewesen war wie heute. Ständig quatschte sie und hampelte herum! Und immer machte sie sich darüber lustig, dass Bertie so klein war und so dünn. »Zwerg« nannte sie ihn und »Gnom«. Wenn sie gute Laune hatte, manchmal auch »Meister Yoda«. Das gefiel Bertie nicht schlecht. Aber alle anderen Spitznamen machten ihn wütend!

Virginie war immer schon größer und dicker gewesen als Bertie. Wahrscheinlich hatte sie einfach alles aufgefressen vom Mutterkuchen. Und für Bertie war kaum noch etwas übrig geblieben. Das war typisch Virginie!

Bei der Geburt hatte sie sich als Erste rausgedrängt und draußen erst mal wie am Spieß gebrüllt. Sie wollte gar nicht mehr aufhören damit, und die Hebamme hatte gelacht und gesagt: »Was für ein Temperamentsbündel!«

Bertie war eine halbe Stunde später gekommen, per Kaiserschnitt. Er hatte nicht genug Kraft gehabt, um den Weg nach draußen alleine zu finden, hatte seine Mutter erzählt. Klein und schmächtig war er gewesen und blau angelaufen, von oben bis unten, wie eine große reife Pflaume. Als er endlich da war, hatte Bertie keinen Mucks von sich gegeben. Er hatte nicht geschrien, nicht geatmet, sich nicht bewegt. Alle hatten erst mal befürchtet, er wäre krank oder nicht ganz richtig im Kopf. War Bertie aber nicht! Nur zu klein und zu dünn. Aber ansonsten funktionierte alles hervorragend. Sein Kopf war eine Zahlen- und Rechenmaschine. Bertie wusste alles über Raketen, Star Wars, erneuerbare Energien, tropische Regenwälder, das Ozonloch, Flugzeuge, die Aborigines, Computer, die Steinzeit. Sein Vater und er spielten immer das »Wusstest du schon, dass …«-Spiel. Einer begann mit der Frage:

»Wusstest du schon, dass …«

Darauf antwortete der andere:

»Was?«

Dann musste es dem Ersten gelingen, irgendeine verrückte Geschichte zu erzählen, zum Beispiel, dass der Eiffelturm bei Kälte um 15 Zentimeter schrumpfte oder dass Spinnen mit Hilfe ihrer Spinnweben und dem Wind kilometerweit über den Ozean segeln und so neue Inseln besiedeln konnten und anderen »Nerd-Quatsch«, wie Virginie es nannte. Wenn es dem einen gelang, den anderen von der Wahrheit seiner Geschichte zu überzeugen, bekam er einen Punkt auf der »Wusstest du schon, dass …«-Liste, und wenn man 20 Punkte hatte, durfte man sich eine Unternehmung mit dem anderen wünschen. Ins Kino gehen, Scrabble spielen, eine Ruderboot-Partie auf dem Schlachtensee.

Ganz tief drinnen, unten in seinem Bauch, war sich Bertie sicher, dass seine Mutter sich die Geschichte mit den Zwillingen ausgedacht hatte. Virginie und er konnten nicht gemeinsam in einem Bauch gewesen sein; das war unmöglich!

»Wie Tag und Nacht sind sie!«, sagte Papa immer, und Mama stellte gerne lachend fest:

»Unterschiedlicher als Bertie und Virginie könnte man wirklich nicht sein.«

Wahrscheinlicher war, dass Bertie von einem anderen Planeten auf die Erde gefallen war, direkt in das Bett von seinen Eltern. Luke Skywalker hatte ihn dazu auserkoren, die Welt auszukundschaften. Aber irgendwann würde er ihn zurückholen in die Galaxis. Dann würde Bertie an seiner Seite kämpfen, und nachdem Luke im ultimativen finalen Battle gegen die imperialen Streitkräfte gestorben war, dessen Erbe antreten. Bertie zog tief so viel Luft wie möglich ein, stoppte dann den Atem, bis er rot angelaufen war, und prustete die Luft mit einem lauten Schnauben wieder aus.

Oder Bertie war adoptiert worden, von kleinwüchsigen Eltern aus einer Zirkusfamilie. Sie hatten sich nicht um ihn kümmern können. Das würde auch erklären, warum Bertie so anders aussah nicht nur als Virginie, sondern auch als seine Eltern. Er war der Einzige in seiner Familie, der klein und dünn war, auch der Einzige, der blonde Haare hatte, die sich wellten, wenn es regnete oder er schwitzte.

Bertie hörte ein Lachen aus dem Nebenzimmer. Dann ein Flüstern und ein Geräusch, als ob ein Kissen durch die Luft fliegen würde. Jetzt fing das schon wieder an … Bertie seufzte, schnappte sich seine Ohrstöpsel, die auf dem Nachttisch lagen, und stopfte sie in seine Ohren. Dann nahm er sein Buch, Reise durch den Weltraum, in die Hand und schlug die Seiten über den Mond auf. Da wäre er jetzt gerne! Wie ein pickliger grauer Ballon sah der Mond aus. Bertie mochte die verrückten Namen, die die Kraterlöcher trugen. »Honigmeer«, »Meer der Stürme«, »Meer der Heiterkeit«. Wer sich die wohl ausgedacht hatte? Bertie kicherte leise. Dann begann er zu lesen.

Virginie, Berlin, 18.9., 16.20 Uhr, Eisstadion Berlin-Mitte

Virginie flog über die Eisfläche. Dunkle Beats hämmerten in ihren Ohren und durchzuckten ihren Körper. Eine blecherne Frauenstimme sang. Virginies Arme bewegten sich roboterhaft zur Musik, und ihr Kopf schlenkerte dabei hin und her. Vor ihren Lippen bildete sich feiner weißer Nebel. Virginie hatte die braunen langen Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Sie trug ein enges rotes Oberteil mit langen Ärmeln, einen kurzen schwarzen Sportrock und schwarze Leggings mit Stulpen aus weicher roter Wolle. Um sich gegen die Kälte zu schützen, die im Stadion herrschte, hatte Virginie sich außerdem ein Stirnband aus roter Wolle und rote Wollhandschuhe angezogen.

Pokerface dröhnte aus den Lautsprechern, Lady Gaga. Virginie liebte diesen Song! Drei Schritte vorwärts, eine kleine Pirouette, dann Wechselschritt, Anlauf zum zweifachen Flip. Virginie war wie im Fieber; sie musste sich konzentrieren, alles anspannen, bis ganz tief hinein. Auf ihrer Stirn bildete sich eine kleine steile Falte zwischen den Augenbrauen; das sollte eigentlich nicht passieren, Manfred hatte es ihr schon so oft gesagt.

Wie hatte Virginie kämpfen müssen, um bei Manfred, ihrem Trainer durchzusetzen, dass Pokerface ihr Wettbewerbssong würde! Lady Gaga gehe gar nicht, das sei keine Musik für zwölfjährige Mädchen, nicht jugendfrei und überhaupt diese schrecklichen Kostüme! Ob sie jetzt auch so rumlaufen wolle, eingewickelt in blutige Fleischfetzen? Die Jury würde Virginie schon wegen der Musik links liegen lassen … und so weiter und so fort. Virginie hatte damals einfach auf Durchzug geschaltet, und Manne, so nannten die Mädchen ihn, schließlich einen Deal vorgeschlagen: Sie würde selbstständig eine Kür erarbeiten, zu diesem Lied, in ihrer freien Zeit. In der Trainingszeit mit Manne würde sie zu der Musik, die er für sie ausgesucht hatte, trainieren. Nena, Wunder geschehen, so ein Schnulzenscheiß! Virginie HASSTE das Lied! Lalalalaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaalala, heile Lollipopwelt, es gibt so vieles, was wir nicht verstehen, rosa, pink und Eiscreme, mit dem Händchen gewinkt und immer schön lächeln, läääächeln.

Virginie hatte Manne erklärt, er dürfe am Ende entscheiden, welche Kür sie bei den Berliner Kinder- und Jugendmeisterschaften im Februar laufen würde. Zum Glück hatte Manfred sich auf ihren Vorschlag eingelassen. Und Virginie hatte ihn überzeugt! Ihre Lippen zuckten, als sie daran zurückdachte. Luft holen, ein, aus, Muskeln anspannen, und … der zweifache Tolup. Mist! Virginie war hart auf den Boden gefallen. Blitzschnell rappelte sie sich wieder auf und lief weiter. Dabei vermied sie es, zu Manfred zu schauen. Der würde bestimmt wieder seine Das-gibt’s-doch-nicht-was-ist-denn-mit-der-heute-los-Miene aufsetzen.

Wie eine Verrückte hatte Virginie damals trainiert, bis spät in den Abend und an jedem Wochenende. Ihre Mutter war zunächst auch gegen Virginies Idee gewesen, aber als sie gesehen hatte, mit welchem Feuer Virginie sich in das Training gestürzt hatte, hatte sie sie unterstützt. Wie eigentlich immer. Mama! Virginie dachte kurz an sie, es kratzte in ihrem Hals. Aber sie musste sich konzentrieren, gleich kam der doppelte Rittberger, Virginies Angstsprung! Wenn sie jetzt noch mal hinfiel, würde Manne sie zusammenschreien und ihr nicht erlauben, die Kür zu Ende zu laufen. Anlauf, tief durchatmen, hoch! Und sauber landen, Bein schön gestreckt. Aus der Ferne hörte sie ein lautes »Ja!«; Manne freute sich über den gelungenen Sprung. Virginie spürte ihr Herz hart gegen die Brust schlagen.

Nie würde sie den Abend vergessen, als ihre Mutter mit auf die Eisfläche gekommen war. Alle Lichter waren schon ausgeschaltet gewesen, bis auf einen Scheinwerfer, der einen grellen dicken Ball auf die Eisfläche geleuchtet hatte. Ein bisschen unsicher war ihre Mutter auf Virginie zugelaufen, wackelig, lächelnd, weiß angestrahlt vom Scheinwerfer. In Virginies Herz hatte eine feine Nadel gepiekt.

Lachend hatte ihre Mutter gerufen:

»Fühl mal! Du musst die Musik fühlen, mit deiner Haut, deinem Bauch, deinem Herzen! Mit allem.«

Mit ihrer kleinen Hand, die zu einer Faust geschlossen war, hatte Agatha sich gegen den Brustkorb geschlagen. Ein trockenes Geräusch hatte das gemacht. Dann hatte die zierliche Frau mit den hochgesteckten Haaren und den ordentlich geschminkten Augen einen Wahnsinnstanz hingelegt. Zu Lady Gaga. Außer Kontrolle! Beweglich wie eine Gummipuppe, ganz weit weg, fast wie besessen war sie Virginie erschienen. Ihre Mutter war auf- und abgezuckt, hatte sich auf das Eis fallen lassen, war wieder hochgesprungen, gegen die Bande geknallt und von ihr zurückgefedert. Ihre feinen braunen Haare waren aus den Haarspangen gesprungen und durch die Luft geflattert wie kleine Derwische.

Als Agatha zu tanzen begann, hatte Virginie scharf gestoppt, ihre Kufen hatten dabei geknirscht. Sie hatte die Luft angehalten und ihrer Mutter zugesehen. Der feine durchdringende Schmerz im Herzen hatte Virginie nicht losgelassen. Plötzlich war die Musik zu Ende gewesen. Nur noch das heftige Atmen ihrer Mutter war zu hören gewesen, die sich lachend gegen die Bande gestützt und den Schweiß mit ihrer Hand vom Gesicht gewischt hatte. Virginie war zu ihr gelaufen und ihr um den Hals gefallen.

»Mama, das war …«

Ihre Mutter hatte noch mehr gelacht.

»Das war … einfach großartig!!!«

»Hättste nicht von mir gedacht, was?«, hatte ihre Mutter gekichert, und sie hatten sich in den Armen gehalten, ganz fest, so, dass Virginies Handgelenke weiß angelaufen waren.

Weiter atmen, immer weiter, möglichst ruhig. Langsam wurden Virginies Beine schwer. Sie trainierte nun schon seit eineinhalb Stunden ohne Pause. Die aufrechte Pirouette, einen inneren Punkt fixieren. Alles drehte sich, Virginie sah nur noch bunte Flecken, die um sie herumsausten. In ihren Ohren rauschte es. Virginie fühlte sich leicht, als würde sie gleich abheben und wegfliegen. Dieses Gefühl liebte sie so sehr am Eislaufen! Noch einmal aufpassen, Übergang in die Himmelspirouette, ausdrehen, die Arme pendelten wie die Arme einer Marionette an ihrem Körper herunter, den Kopf senkte sie auf die Brust, mit geschlossenen Augen. Virginie hörte nichts als ihren Atem. Die Kür war zu Ende. Dann ein hallendes Klatschen, zwei-, dreimal.

»Nicht schlecht, Püppi!«, rief Manfred. »Hast dir eine Pause verdient.«

Erschöpft lief Virginie zum Ausgang, wischte sich mit einem Handtuch den Schweiß von der Stirn und ließ sich auf eine Bank fallen.

»Na Olle, alles klar?«

Jennifer grinste sie an. Sie saß Virginie gegenüber und leckte an einem pink leuchtenden Lolli. Jennifer war ein Jahr älter als Virginie, mittelgroß und ein bisschen zu pummelig fürs Eislaufen. Immer kämpfte sie mit ihrem Gewicht. Die Freundinnen nannten sie deshalb manchmal liebevoll Möppi. Das machte ihr nix aus! Jennifer liebte Hamburger und Pommes, Cola und Donuts und allen ungesunden Kram. Sie hatte ihre blonden Haare zu zwei dicken Zöpfen geflochten, und in ihren Backen leuchteten Grübchen, wenn sie lachte. Was fast immer der Fall war! Aber nicht nur deswegen mochte Virginie Jennifer.

»Geht so«, murmelte Virginie und ließ ihren Kopf schwer atmend nach vorne runterfallen, zwischen die Beine.

Unter der Bank sah sie Staubflusen, zwei platt getrampelte Gummibärchen, einen schmuddeligen Tennisball. Blut rauschte in Virginies Ohren. Sie hatte das Gefühl, ihr Kopf würde gleich platzen. Seufzend hob sie ihn wieder.

»Hier, Nervennahrung!« Jennifer pfefferte Virginie einen Lolli in den Schoß.

»Hab aber leider nur noch einen mit Waldmeistergeschmack.«

»Danke …« Virginie lächelte schief und schnupperte an der Verpackung.

Nie und nimmer würde sie so ’ne Zuckerbombe verdrücken. Zu viele Kalorien! Aber riechen war erlaubt.

»Agatha fehlt dir, was?!« Jennifer blickte Virginie in die Augen.

Ihre türkisfarbenen Augen sahen mit einem Mal dunkelgrün aus.

»Na ja …« Tausend Tränen schossen in Virginies Augen.

Fast niemand kannte sie so gut wie Möppi. Das machte Virginie manchmal wütend! Hastig fuhr sie sich mehrmals mit den Händen übers Gesicht und begann, ihre Schlittschuhe aufzuschnüren. Sie würde heute auf die Zweierübungen verzichten, die Manne sich immer zum Abschluss des Trainings ausdachte. Virginie wollte so schnell wie möglich alleine sein. Aber ihre Hände zitterten so heftig, dass sie die straff gezurrten doppelten Schleifen an ihren Schlittschuhen nicht aufbekam.

»Pomm, ih elf dia!«, Jennifer hatte ihren Lolli in den Mund gesteckt, damit sie beide Hände frei hatte, und kniete vor Virginie.

Kurz strich sie mit ihren Knuddelhänden über das Leder von Virginies Schuhen.

»Die ham auch schon viel erlebt …«, murmelte sie und begann dann, die Schleifen aufzulösen.

Virginie lehnte sich zurück. Sie hatte die Augen geschlossen.

»Seit Mama und Bertie weg sind, hat Papa nur noch miese Laune.«

Die Worte platzten aus Virginie heraus wie Luft aus einem übervoll aufgeblasenen Luftballon. Peng!

»Er spricht kaum noch mit mir und läuft schlampig rum. Wie ein Penner! Unrasiert und immer in den gleichen Klamotten. Wenn er abends mal rechtzeitig aus dem Krankenhaus nach Hause kommt, gibt es Ekelkram zu essen: Spiegelei mit Toast, so was, oder Nudeln mit Butter und Käse. Beim Essen schweigen wir uns an. Seit Neustem macht Papa einfach den Fernseher an, wenn wir zusammen am Tisch sitzen. Das hätt’s bei Mama nicht gegeben. Echt toll! Ich könnte kotzen.«

Tränen schmierten an Virginies Wangen entlang. Kleine Flussarme. Solange niemand anders außer Möppi sah, dass Virginie weinte, war es ihr egal. Ihre Freundin hatte aufgehört, an Virginies Schuhen herumzupuhlen, und sah ihre Freundin mit großen Augen an. Wie ein ratloser Frosch mit Glupschaugen. Fast musste Virginie kichern.

Dann sprach sie stockend weiter: »Ein Glas Rotwein nach dem anderen kippt Papa abends runter und starrt wie hypnotisiert auf die Glotze. Ich glaube, der weiß gar nicht mehr, wie das geht: Lachen. Nettsein! Spaß haben. So was.«

Jennifer setzte sich neben Virginie und legte einen Arm um ihre Schultern. Seufzend murmelte sie: »Das kenn ich … Annalena ist auch manchmal so. Das sind dann ihre schlechten Tage. Die hat sie mindestens einmal pro Monat. Da hilft nix …«

Jennifers Mutter hieß Annalena. Obwohl sie gerade erst 30 Jahre alt geworden war, sah sie oft älter und müder aus als Virginies Mutter, die schon 42 Jahre alt war. Weil Annalena den ganzen Tag in einer Bank putzen musste und sich alleine um ihre vier Kinder kümmerte. Jennifers Vater Mike war nie da. Er arbeitete auf einer Bohrinsel in der Ostsee und hatte anscheinend nie Ferien. Jedenfalls hatte Virginie ihn noch nie gesehen! Obwohl sie schon seit der Grundschule mit Möppi befreundet war. Das fand Virginie seltsam. Aber ihre Freundin sprach nicht gerne über ihren Vater, und Virginie wollte sie nicht mit neugierigen Fragen nerven.

Virginie wand sich aus Jennifers Umarmung.

»Und alles nur, weil Mama sich wie der bekloppteste aller Teenager aufführen muss! Verknallt sich in irgend ’nen Typen, als wäre sie sechzehn und nicht schon fast ’ne Oma. Weißt du, wie alt ihr neuer Lover ist? Herbert?«

»Nee. Fünf?« Jennifer kicherte leise vor sich hin.

»Haha!« Virginie warf Jennifer einen vorwurfsvollen Blick zu.

»In echt: Der ist mindestens zehn Jahre jünger als Mama. Trägt ’nen Käppi falsch herum, wie ’nen Junge, und ist muskelbepackt. Als würde er den ganzen Tag Gewichte stemmen. Hätte ich nie gedacht, dass Mama auf so was steht!«

Möppi biss krachend auf den Zuckerguss und begann dann genüsslich, auf dem Kaugummi herumzumampfen, das sich im Kern des Lollis befand.

»Ich wäre froh, wenn Annalena sich mal in jemanden verknallen würde! Könnte Kermit, der Frosch sein! Oder ’nen Außerirdischer. Hauptsache, sie macht mal was anderes als immer nur putzen oder die J-Monster betüteln.«

Die J-Monster, so nannten Virginie und Jennifer Jennifers kleine Brüder: Justin, John und Jacko, sechs, fünf und vier Jahre alt.

»Und was ist mit Mike?« Fragend sah Virginie Jennifer an.

»Immerhin sind deine Eltern verheiratet, oder?«

Auf den wenigen Fotos, die Virginie von Jennifers Vater gesehen hatte, hatte er lustig ausgesehen. Nett! Ziemlich klein und dünn war Jennifers Papa. Er hatte hellblonde Stoppelhaare auf dem Kopf, ein breites Grinsen und ein Piercing in der Unterlippe.

»Na und? Papa is’ doch sowieso nie da. Ich sag Mama schon lange, sie soll sich ’nen anderen Typen suchen.

Möppi blies einen kleinen Kaugummiluftball auf, der für einen kurzen Moment milchig-rosa vor ihrem Gesicht schwebte und dann knallend zerplatzte.

Kurz schwieg Virginie, dann schimpfte sie weiter »Und Bertie? Sagt einfach nix zu alledem. Mit dem kannste echt nicht reden!«

Wütend stampfte sie mit einem Schlittschuh-Fuß auf den Boden.

»Als wir noch alle zusammen gewohnt haben, habe ich ihn ständig gewarnt: ›Du, wir müssen was tun, die trennen sich am Ende wirklich noch!‹ Aber der Zwerg hat sich immer nur in sein Zimmer verkrochen und Bücher gewälzt. Dass ich spinne, hat er gesagt, und dass ich ihn mit meinem Psychokram in Ruhe lassen soll. Was is’ jetzt?! Bertie hockt zusammen mit Mama in Österreich, Mama dauerturtelt mit ihrem blöden Lover, und ich muss Papas schlechte Laune ertragen. Alleine. Echt spitze!«

Virginie fing an zu zittern. Eilig trank sie mehrere Züge aus ihrer Trinkflasche und begann mit Dehnungsübungen für ihre Beine und Arme. Wahrscheinlich hatte sie nicht genug getrunken. Seitdem ihre Mutter sie nicht mehr zum Training begleitete, vergaß Virginie das manchmal.

Hinter sich hörte sie Mannes stampfende Schritte. »Gut gemacht, Kleene!« Er haute ihr knallend auf die Schulter. »Aber beim zweifachen Tolup haste geträumt. Oder was war da los?«

»Weiß nicht«, murmelte Virginie, und fuhr fort mit den Dehnungsübungen.

Sie hatte Manfred im September nur kurz erzählt, dass ihre Eltern sich getrennt hatten und ihre Mutter mit ihrem Zwillingsbruder nach Wien gezogen war.

»Tut mir leid, Püppi«, hatte er gemurmelt und ihr die letzte Trainingsstunde an dem Tag erlassen.

Virginie stopfte sich einen Proteinriegel in den Mund, weiße Schokolade mit Vanillegeschmack. Bahhh! Sie schüttelte sich. Der künstliche Geschmack war ihr zuwider. Aber es war praktisch, diese Dinger zu essen. Brote machte Virginie sich ja sowieso nicht, solche, wie ihre Mutter sie immer gemacht hatte, mit Frischkäse und Tomaten und Kresse, für Virginies langen Trainingstage.

Ihr Handy vibrierte. Im Training hatte sie es immer auf lautlos gestellt.

Hallo, meine Süße! Training schon zu Ende? Nicht vergessen: Verschwitzte Wäsche wechseln, viel trinken, Vitamine. Rechtzeitig schlafen gehen! Kuss! Deine Mama

Virginie knallte das Handy wütend neben sich auf die Bank. Sie fühlte sich plötzlich unendlich müde, als könnte sie sich nicht mehr bewegen. Noch nicht einmal den kleinen Finger heben. SMS schreiben war einfach! Eben mal so tun, als würde man sich Gedanken machen. Als wäre man da. Als hätte sich nichts verändert. Virginie schossen Tränen in die Augen. Da hörte sie Manfred rufen:

»So, nun noch ein paar Zweierübungen zum Auslaufen, Virginie mit Jennifer, Emma mit Alex. Hopp, hopp, wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Möppi, sag Manne, dass ich Bauchschm…«

Ehe Virginie den Satz zu Ende gesprochen hatte, fühlte sie Jennifers kleine Hand in ihrer, mit den kratzigen Schwielen vom Hinfallen auf dem Eis.

»Nee, Virginie, jetzt rocken wir zusammen die Eisfläche! Jut?!«

Virginie seufzte. Wenn Jennifer ihr mit ihren Scheinwerfer-Augen ins Gesicht strahlte, konnte sie ihrer Freundin keinen Wunsch abschlagen.

»Okay …«, murmelte Virginie.

Schwerfüßig stapfte sie zur Eisfläche und fing an, auf dem schimmernden Untergrund dahinzugleiten. The Edge of Glory erklang aus den Boxen der Musikanlage. Hämmernd! Eine Explosion in Virginies Körper! Sie fühlte neue Kraft in ihren Armen und Beinen. Manne grinste hinter der Bande. Er wollte ihr eine Freude machen. Der Liebe! Noch mal Lady Gaga. Virginies Königin der Nacht!

Virginie, Berlin, 23.9., 23.01 Uhr, Wohnzimmer

Skypen wir mal wieder? V.

Bertie, Wien, 24.9., 21.19 Uhr, Bett

Wenn’s sein muss. B.

Virginie, Berlin, 24.9., 21.20 Uhr, Bett

Morgen 19.00?

Bertie, Wien, 25.9., 14.22 Uhr, Küche

O.k.

Bertie, Wien/Virginie, Berlin, 26.9., 20.03 Uhr, vor dem Computer

Virginie ruft Bertie an.

Virginie: Hallo? Hallo! Hörst du mich? Mann, du Nase, ich glaube, dein Mikro geht nicht. Hallo?

lukeSky: moment hab’s gleich

Virginie: Hallo?! Haaaaallloooooo?

Virginie summt leise vor sich hin und zuppelt an ihren Haaren herum.

lukeSky: du bist wuuuuunderschön, keine sorge, Würgi

Virginie: Ha ha! Was hast’n du für ’nen komischen Pullover an? Siehst aus wie ein Junge aus ’nem Internat …

lukeSky: hat mama mir gekauft

Virginie: Ach, wie hübsch …!

Plötzlich kruschpelt es in ihrem Mikrofon.

Virginie: Hallo? Haaalloooo? Geht’s jetzt?

Man hört, wie Bertie an den Kabeln ruckelt, dann einen dumpfen Stoß.

Bertie: Autsch!

Virginie: Bertie?

Bertie: Hi! Hab mich am Schreibtisch angeschlagen.

Virginie kichert: Mister Ungeschickt! Hi!

Schweigen.

Bertie: Was willste?

Virginie: Keine Ahnung. Mal hören, wie’s euch so geht?

Bertie: Wie soll’s uns schon gehen?

Schweigen.

Bertie: Wie geht’s Papa?

Virginie: Bläst Trübsal. Und arbeitet wie verrückt! Nix anzufangen mit ihm. Und Mama?

Bertie: Kichert die ganze Zeit wie so ’nen Mädchen. Mmh, warte mal …

Bertie steht auf, geht zur Tür, lauscht und kommt wieder zum Computer zurück.

lukeSky: weiß nicht ob die vielleicht zuhören

hier sind die wände so dünn

schreib lieber

Herbert nervt

spreche eigentlich nicht mit ihm

schule ist scheiße

sonst nix neues

Virginie: Redet ihr manchmal über uns? Hat Mama mal was über mich gesagt?

lukeSky: nee eigentlich nicht was soll sie denn gesagt haben?

Virginie: Na, weiß ich nicht, dass sie mich vermisst oder so? Wie’s mir so geht?

lukeSky: nein nichts

Virginie: Aha.

Schweigen.

Virginie: Ich glaube, Papa vermisst dich.

Bertie: Mmh …

Schweigen.

Virginie: Wie kannst du dich nur lukeSky nennen?

Kichert.

Bertie: Und du ladyVi …

Kichert auch.

Virginie: Was machst du denn so, nach der Schule?

Bertie: Nichts Besonderes. Lesen, Videos gucken, Zauberwürfel-Training.

Virginie: Aufregend!

Bertie: Besser als auf der Eisfläche rumzuhampeln …

Virginie: Idiot!

Beide kichern.

Schweigen.

Virginie: Macht ihr schöne Ausflüge in die Berge und so?

lukeSky: manchmal in den lainzer tiergarten da gibt’s wildschweine und nen haufen alter leute das fetzt

Virginie (kichert): Hört sich gut an …

Bertie kichert auch.

Schweigen.

Bertie: Grüß mal Papa. Und sag ihm, dass der Trainer des VfL Wolfsburg von 1998 bis 2003 »Wolfgang Wolf« hieß. Ob er das schon wusste?

Virginie: Spinner! Kann ich mir sowieso nicht merken … Willste mal mit ihm reden? Er ist in seinem Zimmer.

Bertie: Nee, jetzt nicht. Nen andermal.

Virginie: Was macht Mama gerade?

Bertie: Räumt die Küche auf, glaube ich. Soll ich sie holen?

Virginie: Nee. Sie kann sich ja melden, wenn sie mich sprechen will.

Bertie: Mmh …

Schweigen.

Virginie: Hätte nicht gedacht, dass ich dich vermissen würde …

Bertie: Mmh …

Virginie: Stoffel!

Bertie: Ziege!

Beide kichern.

Bertie: Tschö mit Ö!

Virginie: Tschüssi mit Üssi!

ladyVi: ;(

lukeSky: rofl

ladyVi: :*

lukeSky: puke

ladyVi: (u)

lukeSky: chuckle

ladyVi: dance

lukeSky: Ninja

Bertie, Wien, 29.9., 11.05 Uhr, Traxl-Berg, 1623 Meter Höhe

Bertie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Herbstsonne durchleuchtete den Himmel. Obwohl es schon Ende September war, war es erstaunlich warm. Rechts und links erhoben sich Felswände, bewachsen von Moos und Tannen. Wie Giganten aus Stein standen sie da und schauten von hoch oben dabei zu, wie die Klasse den Berg erklomm.

Durch Berties Gehirn zogen dunkle Gedanken. Was, wenn plötzlich alles einstürzte? Er bekam Gänsehaut. Oder eine Felslawine löste sich und käme auf sie zugerast? Was, wenn Herr Moser, ihr Klassenlehrer, und Frau Fuchs, die Sportlehrerin, sich verirrten, und sie nie wieder nach Hause kämen?

Liebe Mama, Wien und Herbert waren eine Schnapsidee, aber ansonsten habe ich dich sehr lieb! Sag Papa, er soll sich Mühe geben und nett zu dir sein, damit du wieder zurückkommst. Dann wird alles wieder wie früher. Außer dass ich dann natürlich nicht mehr bei euch bin …

Bertie schniefte, so traurig fand er die Abschiedsworte, die er per SMS an seine Mutter schreiben würde. Da ließ ihn ein donnerndes Geräusch zusammenzucken: An einer Felswand rauschte ein breiter Gebirgsbach ins Tal herunter. Der Bretterwandbach! Von ihm hatte Bertie im Reiseführer gelesen. Er beschattete seine Augen mit einer Hand und blinzelte zu dem tosenden Wasserstrom hinauf. An einer Stelle zerteilte er sich in mehrere Ströme. Wie ein Adernetz sah das aus. Dann fanden die Ströme wieder zu einem einzigen dicken Fluss zusammen, der wütete und spritzte. Das Wasser war wie ein wildes Tier, das den Berg hinuntertobte. Bertie blinzelte in die Sonne. Wo waren die anderen? Konnte denn keiner auf ihn warten, noch nicht mal Frau Fuchs?

Bertie hätte nicht gedacht, dass es so anstrengend war, auf einen Berg zu steigen! Als seine Mutter ihm für den Schulausflug Wanderschuhe beim Sport-Eybl kaufen wollte, hatte Bertie nur spöttisch gelacht. Das war doch lächerlich! Da käme er doch auch mit normalen Sportschuhen hoch. Die anderen würden ihn auslachen, wenn er mit so fetten Botten ankäme.

Bertie hatte sich auch geweigert, ein Käppi gegen die Sonne mitzunehmen und das Regencape, falls es regnen sollte. Gerade mal eine Flasche Wasser hatte Bertie dabei. Die belegten Brote, die Banane, Schokolade und ein paar Kekse, zwei Flaschen Apfelsaftschorle, die seine Mutter ihm am Morgen zusätzlich eingepackt hatte, hatte Bertie heimlich wieder aus dem Rucksack genommen und in seinem Zimmer versteckt. Er wollte sich nicht blamieren und so ausgestattet beim Bus ankommen, als ginge es auf Expeditionstour in die Antarktis.

Vor sich konnte Bertie noch ganz klein die letzten Schüler erkennen, ihre bunten Pullover und Regenjacken. Natürlich war er nun doch der Einzige, der keine Wanderschuhe trug und keine Sportkleidung. Alle anderen rannten in ihrer albernen Bergsteigerkluft den Berg hoch, als würden sie durch einen Park joggen. Es strengte sie überhaupt nicht an! Dabei stopften sie Chips und Gummibärchen in sich hinein, kletterten auf herumliegende Holzstapel, rannten vor und wieder zurück, rissen sich die Käppis vom Kopf, und quatschten ohne Pause.

Was, wenn er einfach stehen bliebe? Rechts auf der Wiese stand eine kleine Holzhütte. Dorthin würde er sich am liebsten zurückziehen und so lange warten, bis die anderen zurückkämen. Dann würde er mit seinem iPhone Musik hören und träumen, eindösen. Nur leider stand direkt vor dem Holzhäuschen eine riesige braun-weiß gefleckte Kuh, die gelangweilt in Berties Richtung glotzte. Dabei mampfte sie in Zeitlupentempo Heu und schlug ab und zu mit ihrem Schwanz Fliegen in die Flucht. Der wollte Bertie lieber nicht von Nahem begegnen!

Also ging er weiter. Berties Magen knurrte, und seine Zunge fühlte sich an wie ein dickes, pelziges Tier, das seinen Mund verstopfte. Hätte er jetzt nur Mamas belegte Brote bei sich! Die paar Kekse, die Bertie im Rucksack hatte, würden seinen Kohldampf nie stillen. Bertie blickte wieder nach vorne. Nun war auch der letzte Schüler um die nächste Kurve gebogen. Still wurde es. Bertie hörte nur noch das Donnern des Bretterwandbaches, sonst nichts mehr. Kein Lachen, keine Stimmen, keine Steine, die knirschten von Schritten. Bertie fror. Sobald man stehen blieb und sich nicht mehr bewegte, spürte man, dass es schon Herbst war. Der Junge seufzte, zog die Ohrstöpsel von seinem iPhone aus der Hosentasche und stopfte sie sich in die Ohrmuscheln. Dann stellte er Peter Fox an, Schwarz zu Blau, Berties Heimweh-Lied nach Berlin, WESHALB NUR WAR ER NICHT IN BERLIN GEBLIEBEN, BEI PAPA?!

Schlecht gelaunt machte Bertie sich wieder auf den Weg. Er beschleunigte seine Schritte; zu den dunklen rhythmischen Beats ging das gut. Bertie musste sich jetzt wirklich beeilen, wenn er die anderen nicht ganz aus den Augen verlieren wollte.

Immer schneller lief Bertie und versuchte, dabei ruhig und gleichmäßig zu atmen, länger aus als ein. So wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte: – Eins, zwei, drei einatmen und eins, zwei, drei, vier, fünf ausatmen, und wieder eins, zwei, drei einatmen …

Nach der nächsten Kurve erblickte Bertie die letzten Schüler der Wandergruppe und seufzte erleichtert auf. Als Letzter lief ein großer muskulöser Junge mit grünem Käppi und karottenroten Haaren den Weg entlang. In seinen Händen hielt er ein Buch, in dem er las. Seine Lippen bewegten sich leicht dabei.

»Aufschließen! Aaaauuuufschliiiieeeßen!«, brüllte Herr Moser von vorne.

Bertie nahm die Stöpsel seines iPhones aus den Ohren.

»Liest du immer beim Wandern?«, fragte er die wandelnde Mohrrübe.

Der andere Junge drehte seinen Kopf langsam zu Bertie um.

»Kommt darauf an. Wieso?«, antwortete er lächelnd.

Bevor Bertie weitersprechen konnte, hielt der Junge ihn am Arm fest und zischte:

»Psst! Schau da, siehst du das?! Ein Hochalpenapollo!«

Bertie schaute verwirrt in der Gegend herum. Ein Hochalpenapollo, was sollte das sein? Eine Mähmaschine? Ein Rettungshubschrauber?

Aufgeregt zeigte der andere auf eine Gruppe von gelben Blumen, die am Wegesrand blühten.

»Da! Der Schmetterling! Der weiße mit den kleinen schwarzen Streifen und den zwei roten Flecken auf jedem Flügel.«

Bertie kniff die Augen zusammen; die Sonne blendete ihn. Ja, er erkannte ein weißes flatterndes Ding mit schwarzen Streifen und roten Flecken. Und?!

»Der helle Wahnsinn!«, murmelte er leise.

»Interessierst du dich nicht für die Natur?«, fragte der Junge.

Er blinzelte Bertie neugierig mit hellgrünen Augen zu. In seinem Gesicht kullerten Sommersprossen herum.

»Ich heiße übrigens Christoph. Und du?«

»Bertold«, brummte Bertie peinlich berührt.

»Ich weiß, das ist ein bekloppter Name. Freunde nennen mich auch ›Bertie‹. Wenn du willst …«

»Okay, Bertie mit dem bekloppten Namen«, Christoph grinste, »das hier ist ein Hochalpen-Apollofalter, der kommt ziemlich selten vor, erst recht nicht in diesen Höhen. Eigentlich hält er sich nur in Regionen ab 1800 Metern auf. Weiter unten habe ich ihn noch nie gesehen. Vorhin ist außerdem eine sibirische Keulenschrecke vor mir auf dem Weg langgekrochen! Das ist heute echt ein Glückstag! Kennst du die?«