Zara - Alles Sommer - Ulrike Schrimpf - E-Book

Zara - Alles Sommer E-Book

Ulrike Schrimpf

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Beschreibung

Auf keinen Fall will Zara in den Sommerferien mit ihrer Familie nach Griechenland fahren! Sie hat eigene Pläne: Heimlich macht sie Straßenmusik, um das Geld für ein Musikcamp auf Rügen zu verdienen. Doch ihr Geheimnis fliegt auf. Zum Glück zeigt sich Zaras Vater aber ziemlich beeindruckt von der Willensstärke seiner Tochter und steuert sogar das restliche Geld für die Teilnahme am Camp zu. Glücklich fährt Zara auf die Insel: Ein langer Sonnen-Sommer an der Ostsee mit viel Musik, coolen Leuten und Abenteuern liegt vor ihr. Als sie im Camp ankommt, trifft sie aber zunächst einmal der Schlag: Die eiskalte Greta ist auch dabei.

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Von Ulrike Schrimpf ist außerdem bei Aladin erschienen: Zara – Alles neu Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.www.aladin-verlag.de Copyright © Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2014 Alle Rechte vorbehalten Umschlagbild: Regina Kehn Umschlagtypografie: Karin Kröll Lektorat: Svenja Drewes Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-8489-2013-6

Für Michael. Für Margit.

Personenverzeichnis

Zara Schumann

Heldin des Buches, Träumerin, Sängerin und Dickköpfin

Elisa Schumann

Zaras Mutter, Yogalehrerin

Wolfgang Schumann

auch genannt Paposchka, Zaras Vater, Professor für Germanistik

Jonathan Schumann

auch genannt Jonnie-Poponnie, Zaras jüngerer Bruder, ist außergewöhnlich

Benno

Zaras Onkel, Tischler und Saxophonspieler, ist in Perihan verliebt

Perihan

türkische Feenkönigin, Gärtnerin im Botanischen Garten und Zaras Freundin, ist in Benno verliebt

Eiscafé-Eva

polnische Kellnerin in der Eisdiele Morgenschön

Greta von Ganten

auch genannt die eiskalte Greta, Zaras Erzfeindin?

Elias Waldau

netter Nerd, Freund von Zara

Mathilde

Musterschülerin und Freundin von Zara

Julia Waldau

Elias‘ Mutter, Buchhändlerin, arbeitet in der Buchhandlung Kinder-Kunst-Buch

Michael

Julias Freund und Elias‘ richtiger Vater, Krankenpfleger und Dichter

Korbinian

heißt eigentlich Karl Schmidt, Elias‘ leiblicher Vater, Bildhauer und Maler

Herr Jakob

Zaras Lieblings- und Klassenlehrer, unterrichtet Musik und Deutsch

AnnaLi

Straßenmusikerin, die Zara bewundert, sie gibt Zara Gitarren- und Gesangsunterricht

Hühnergott-Heinrich

alter Freund von Zaras Oma Lene, Strandkorb-Verleiher auf Rügen

Margie

lustige Saxophonspielerin aus London, nimmt am Musikcamp auf Rügen teil

Mats

cooler Schlagzeuger aus Hamburg, mit dem Zara sich ziemlich gut versteht, nimmt am Musikcamp auf Rügen teil

Ferdi

mundfauler Schlagzeuger aus Hamburg, bester Freund von Mats, nimmt am Musikcamp auf Rügen teil

Fabrice

1  Donner-Kapitel,

in dem Papa mir von Omas Grabstein erzählt, Herr Jakob eine Standpauke hält und ich beschließe, Straßenmusikerin zu werden

Am Meer war sie am liebsten, der Satz steht auf dem Holzkreuz für meine Oma im Gemüsegarten. Hat Papa mir erzählt. Ihr Körper schwimmt jetzt als Asche in der Ostsee rum. Oder die Fische haben sie aufgefressen?

Ich wollte eigentlich über meine Mathe-Nawi-Sorgen sprechen, in der Küche gestern Abend mit Papa. Aber keine Chance! Papa war traurig wegen Oma, Papas Mama. Da wollte ich ihn nicht mit meinen Schulproblemen nerven.

Oma Lene hat an der Ostsee gelebt, auf einer Miniinsel ohne Autos. Hiddensee heißt die. Leider ist meine Oma schon lange tot. Ich kann mich noch ein bisschen an sie erinnern. Daran, dass sie eine blau-weiß karierte Schürze getragen hat und einen Knoten am Hinterkopf. Aus dem hingen immer weiße Haarsträhnen raus. Oma hat sie zurückgestrichen, als würde sie Fliegen verjagen. Aber die Haarsträhnenfliegen kamen immer wieder. Nach Kuchen hat Oma Lene gerochen und nach Fisch, ein bisschen wie die Eiscafé-Eva. Manchmal hat sie ihre schrubbige Hand an meine Wange gelegt und leise gemurmelt: »Summ, Biene, summ.«

Am Meer war sie am liebsten, ich muss an den Satz denken, während Herr Jakob mit seinem superernsten Das-ist-jetzt-wirklich-wichtig-Zara-Gesicht mit meiner Mutter und mir spricht, weil ich so schlechte Noten habe, in Nawi und Mathe. Nun wissen wir nicht, ob ich die Klasse schaffe. Mama und ich sitzen vor dem Herrn-Jakob-Riesen, wir zwei Murkel, und er erzählt uns, was ich alles falsch mache: dass ich zu viel träume und mich nicht genügend am Unterrichtsgeschehen beteilige. Dass ich viel Fantasie habe und Grips im Kopf, aber drei Fünfen sind nun mal drei Fünfen! Die habe ich geschrieben, in den letzten Mathearbeiten. Ob er mir eine gute Note im Mündlichen geben soll für meine ständigen Quakkeleien mit Mathilde oder Elias?, fragt Herr Jakob.

Ich murmele schüchtern ein Nein, wie eine Gänsemagd aus den Märchen. Die sind fast immer arm, wunderhübsch und ein bisschen dämlich. Am Ende vom Märchen bekommen sie dann aber trotzdem den Prinzen, eine Kutsche aus Gold und das ganze Königreich dazu.

So geht es nicht weiter, sagt Herr Jakob, bei aller Liebe, ich wisse ja, wie gern er mich habe, nicht wahr, Zara? Herr Jakob hebt die Arme über den Kopf, wie ein Dirigent, und ich sehe, dass sich unter seinen Achseln zwei Schweißflecken gebildet haben. Beinahe muss ich kichern.

Es ist heiß, richtig doll für Mitte Mai, da krepieren alle Maikäfer! Mama knetet ihre Finger und kuckt miesepeterig. So, als müsste sie an einem Steak herumkauen. Mama ist Vegetarierin, und von Fleisch wird ihr schlecht.

Das wird ein Donnerwetter geben, wenn wir aus der Tür sind. Mit meiner ganzen Zora-Zara-Kraft hoffe ich, dass Jonnie-Poponnie schon zurück ist, vom Theater, wenn wir nach Hause kommen. Mein kleiner Bruder geht seit neustem in eine Theatergruppe für außergewöhnliche Kinder mit Down-Syndrom und stinknormale zusammen. Er liiiieeebt das! Mama und Papa sind aus dem Häuschen, weil Jonnie sich gut macht und Talent hat. Wahrscheinlich wird er einmal ein berühmter Schauspieler und spielt bei James Bond mit. Den Oscar wird er kassieren und Geld scheffeln wie Dagobert Duck. Ha!

Zumindest macht seine Theatergruppe, dass Mama immer gut gelaunt ist, wenn sie ihren Zuckerschatz wiedersieht. (Ich würde mich auch freuen, wenn sie bei mir mal so aus dem Häuschen wäre …) Dann bombardiert Mama Jonnie mit Fragen, kocht Kakao, massiert seine Schultern, und Jonnie-Poponnie kichert, weil das kitzelt. Sie pustet ihm einen Schmatzer in den Hals, und Jonnie kichert noch mehr.

Vielleicht schaffe ich es nachher, mich zu verdünnisieren, in mein Zimmer, und das Donnerwetter wird nicht ganz so schlimm? Später, wenn Papa auch zu Hause ist. Bis dahin hat Mama sich hoffentlich ein bisschen beruhigt.

Am Meer war sie am liebsten, am Meer …, eine Ohrwurm-Melodie tobt in meinem Kopf. Wie eine Welle, die immer wieder zerschellt, hinter der Stirn.

Als ich gestern Abend noch einmal runtergekommen bin, weil ich nicht schlafen konnte, saß Papa am Küchentisch und blätterte in einem dicken Fotobuch.

»Ach Süße, du schläfst noch nicht?«, murmelte er zerstreut.

Er sah komisch aus! Ein bisschen zerknautscht, und seine Augen waren rot.

»Wieso siehst du dir das an?«, fragte ich ihn, während ich mir die Milch eingoss.

Ich setzte mich zu Papa an den Küchentisch, mit den Beinen im Schneidersitz, und trank das Glas in einem Zug aus. Die Milch schmeckte kalt und dick und gut. So richtige Vollmilch! Nicht die Labber-Magermilch, die Mama immer kauft. Seit Papa wieder aus Paris zurück ist und bei uns wohnt, gibt’s endlich wieder alle leckeren Sachen: Vanillequark und Nutella und halbe Hühnchen und Camembertkäse vollfett und Tonnen von Nussschokolade.

»Deine Großmutter hat das Meer geliebt, weißt du?«

»Echt?«, fragte ich und angelte mir einen Käsecracker, die standen in einer Keramikschüssel auf dem Tisch.

Gleichzeitig überlegte ich, wie ich Papa erklären könnte, dass er mitkommen soll! Morgen, zu dem Gespräch mit Herrn Jakob. Weil es bestimmt ganz schlimm und furchtbar werden würde, mit Mama und mir, und dass er mich unbedingt verteidigen musste. Bittebittebitte!

»Ja!« Papa nickte nachdenklich und strich mit seiner Hand über eine Doppelseite.

Auf der war ein dunkelblaues Meer abgebildet, mit dünnen lang gezogenen Schaumkronen wie Zuckerlinien. Darüber sah man einen grauen Regenwolkenhimmel.

»Oma musste jeden Tag arbeiten, in der Küche und der Fischräucherei von Opa. Auch an den Wochenenden und an Feiertagen. Im Herbst, wenn es kälter wurde und der Sanddorn reif war, hat sie Sanddorn gepflückt. Man muss die Sträucher ›melken‹, sagt man, die Beeren direkt von den Zweigen abzupfen. Die sind stachelig und die Beeren prall und saftig. Sie zerplatzen oft beim Pflücken, dann bekommt man gelbe Finger. Kannst du dich an Omas Hände erinnern, Zarinchen? Dass sie so aufgerissen waren, voller Grinde, und gelb? Du wolltest früher nicht, dass Oma dich streichelt, weißt du das noch?«

»Nö …«, ich schüttelte den Kopf und dachte, dass gerade nicht der beste Moment war für ein Gespräch über meine unterirdischen Noten.

Unterirdisch heißt »unter der Erde«, aber auch »superschlecht«, hat mein Schleimbeutel-der-eigentlich-gar-kein-Schleimbeutel-ist-Freund Elias mir neulich erklärt. »Überirdisch« ist dagegen alles, was fantastisch ist, fast magisch, ein bisschen! Über der Erde schwebend. Wie, wenn ich Gitarre spiele und dazu singe.

Der Cracker schmeckte nach mehr, und während ich überlegte, ob es sich lohnte, noch mehr davon zu essen und zu riskieren, dass Mama ein Tamtam machen würde, weil ich nach dem Zähneputzen noch Knabberzeugs aß, sprach Papa weiter:

»Als Kind dachte ich, Oma hätte eine schlimme Krankheit, die Fingergelbsucht oder so was. Ich habe mir vorgestellt, dass ihre Finger langsam verfaulen und eines Tages abfallen würden«, Papa lachte leise auf.

»Igitt, Papa, hör auf!«, rief ich aus und schnappte mir noch eine Handvoll von den Käsedingern, Mama-Tamtam hin oder her.

Papa blätterte weiter in dem Buch:

»In jeder freien Minute ist Oma ans Meer gegangen. Dort ist sie gewandert, hat Muscheln gesammelt, den Möwen zugesehen. Am liebsten saß sie aber im Sand, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen und hörte den Wellen zu.« Papa seufzte. »Es tut mir noch heute leid, dass sie dafür so wenig Zeit gehabt hat in ihrem Leben.«

Papa kramte eines seiner weißen Stofftaschentücher mit lila Rand aus der Hosentasche, die sehen nach Uropa aus! Umständlich schnäuzte er sich die Nase. Ich tätschelte seinen Arm und wollte etwas Tröstendes sagen. Konnte ich aber nicht, weil mein Mund vollgestopft war bis oben hin. Also keuchte ich nur leise rum.

»Oma hatte vier Kinder und einen strengen Mann, den Opa. Der hat sich nur für die Arbeit interessiert! Das Meer war wegen der Fische wichtig für ihn, sonst wegen nichts. Am Strand sitzen, ohne etwas zu tun, das war ein Schnack für ihn! Unsinn. Deine Oma und dein Opa waren sehr verschieden, weißt du, Zara?«

Papa sah mich mit Glasaugen an. Die haben Menschen manchmal, wenn sie sich an etwas erinnern, das vorbei ist. Augen, die durch einen hindurchsehen, als wäre man nicht da und sie an einem anderen Ort. Millionen von Kilometern weit weg.

»So wie Mama und du?« Ich wischte mir ein bisschen Crackerkrümelspucke aus den Mundwinkeln.

Überrascht sah Papa mich an.

»Nee! Viel verschiedener als Mama und ich! Wieso? Findest du, dass wir so unterschiedlich sind, Mama und ich?« Papa nahm einen Schluck aus seinem Weinglas und sah mir wieder mit normalen Papa-Augen ins Gesicht.

Jetzt war er da! Der Moment, in dem ich von meinem Schul-Kummer erzählen konnte. Ich wusste nicht, wie ich anfangen sollte, und druckste herum. Wie konnte ich Papa die Misere erklären? Dass ich immer gedacht hatte, Herr Jakob würde mich so gern mögen, der würde mich niiiieeee sitzenlassen! Dass ich ein paar schlechte Arbeiten nicht zu Hause gezeigt, sondern sie einfach selbst unterschrieben hatte. Mir wurde mulmig im Bauch, und meine Finger begannen zu zittern. Auf einmal hatte ich Lust, in mein Zimmer zu laufen und mich unter meiner Bettdecke zu verstecken. Am liebsten wollte ich Papa sagen, dass mir die Schule egal war! Kompletto. Dass ich Musik machen wollte, das musste Papa doch verstehen! Wenn ich eines Tages im Vorprogramm von Bruce Springsteen spielen würde oder von Justin Timberlake, würde sich sowieso niemand mehr dafür interessieren, ob ich das Abi habe oder nicht. Meine Gedanken wirbelten durcheinander.

Gerade als ich mir meine Worte zurechtgelegt hatte, murmelte Papa weiter: »Als Oma tot war, von einem Moment auf den anderen, habe ich Opa zum ersten Mal weinen sehen. Das war fast schrecklicher als Omas Tod! Er saß einfach nur da, auf der Holzbank im Garten, und starrte in die Ferne. Eine Träne nach der anderen lief über sein Gesicht. Ohne einen Laut! Richtig unheimlich war das.«

Mir wurde kalt, und ich stopfte meine Füße zwischen Papas Beine. Ich wollte ihm zeigen, dass ich auch noch da war! Dass die Oma-Lene-Geschichte keine besonders schöne Gutenachtgeschichte war und dass ich selbst Sorgen hatte. Aber Papa merkte nix.

»Dann haben wir Omas Körper verbrennen lassen. Wir sind mit dem Fischerboot hinaus aufs Meer gefahren und haben ihre Asche in den Wind gestreut. Es hat geregnet an dem Tag, wir waren alle triefnass, als wir nach Hause kamen. Dein Onkel Ole hat ein Holzkreuz geschnitzt und daraufgeschrieben: Am Meer war sie am liebsten, mit Omas Namen und ihrem Geburts- und Sterbedatum. Das haben wir in Omas Gemüsegarten gestellt, so dass die Schrift in Richtung Meer zeigt. Habe ich dir das mal gezeigt, Löwenkind?« Papa sah mich fragend an.

Ich klapperte mit den Zähnen, ein bisschen doller, als ich eigentlich musste, und blickte ihn vorwurfsvoll an.

»Nö, haste nicht. Wir waren ja nie mehr dort, seitdem Opa ins Heim gekommen ist. Außerdem ist mir superkalt! Und außerdem sollst du mich nicht mehr ›Löwenkind‹ nennen, das ist peinlich. Wie oft muss ich dir das noch sagen?«

Papa lachte auf, schlang seine Arme um mich und hob mich mit einem Ruck hoch, als wäre ich eine Porzellanfigur.

»Du hast völlig recht, Löwenk  …, ich meine, Zara. Was machst du außerdem zu dieser nachtschlafenden Uhrzeit noch hier unten? Du solltest schon längst im Bett sein und schlummern. Komm, ich trag dich nach oben.«

Während Mama sich mit Herrn Jakob darüber berät, was zu tun sei, damit ich doch noch in die sechste Klasse versetzt werden könne, und sie zusammen einen »Notfallplan« entwickeln, zähle ich die Linien an der Decke im Klassenzimmer. Ich will nicht mehr an Oma Lene denken! An den Tod und an Papas Glasaugen. Die Decke besteht aus weißen quadratförmigen Platten. Wenn beide langen Seiten aus vierzig Quadraten bestehen, dann sind das 160 Linien, oder? Nee, kann nicht sein, ich schüttele den Kopf, denn jede Linie bis auf die beiden äußeren gehören immer zu zwei Quadraten. Also sind es viel weniger. Aber wie viele? Ich beginne wieder von vorne mit dem Zählen.

»Zara!«

Mama rammt mir ihren Ellenbogen in die Seite.

»Würdest du Herrn Jakobs Frage bitte beantworten?«

»Ähm, ja …«, ich versuche Zeit zu gewinnen, weil ich keine Ahnung habe, wovon die beiden sprechen.

Herr Jakob schüttelt den Kopf. »Zara, es geht hier um dich! Hast du uns überhaupt zugehört? Deiner Mutter und mir kann es egal sein, ob du Abitur machst oder nicht. Es ist DEIN Leben!« Blablabla, die Worte rauschen an mir vorbei wie ein kleiner Fluss. Ich weiß auch nicht, was los ist mit mir. Ich schaffe es einfach nicht zuzuhören!

Hey, Elias, hilfst Du mir in Mathe und Nawi, bitte? Bei uns zu Hause herrscht sonst Krieg, sagt Pitbull-Mama. ☹ Dein armer schwarzer Kater

So schlimm? Klar, ich bin dabei. Das schaffen wir! ☺ Eisbombe im Morgenschön, in zwanzig Minuten? Dein Superchecker

Ich habe aber keine Zeit, mich mit Elias zu treffen, weil ich zur Gitarrenstunde bei AnnaLi muss. AnnaLi ist der einzige Lichtblick in meinem bekloppten Leben, in dem ich nur noch pauken muss und büffeln, damit ich die fünfte Klasse doch noch schaffe. Und mit Mama und Papa und Jonnie-Poponnie wie immer, wie jedes Jahr, nach Griechenland reisen darf! Wenn ich mich jetzt nicht wirklich und superdoll am Riemen reiße, hat Mama gesagt, muss ich die ganzen Sommerferien lernen. In einem Lerncamp, wo lauter dicke Super-Mario-Kinder weniger als nix verstehen.

Seit neustem gehe ich nicht mehr zu der ollen Tante Hilde Gitarre spielen, die eigentlich Margarethe Minz heißt und immer blöde Sprüche gekloppt hat von wegen ÜBUNG MACHT DEN MEISTER und so weiter. Sondern ich darf bei AnnaLi lernen. Sie ist die wunderbarste Straßenmusikerin überhaupt! Perihan, meine türkische Feenkönigin, und ich, wir lieben AnnaLi. Eines Tages, da war es schon Frühling, sind wir ihr zufällig begegnet, auf der Straße. AnnaLi hat eine Stimme wie warme Erde. Sie kennt mich, weil ich schon mehrere CDs von ihr gekauft habe. Manchmal quatschen wir ein bisschen zusammen. Als sie eine Pause gemacht und Wasser getrunken hat, hat Perihan mich kichernd angeschubst: »Los, frag sie, ob sie dir Unterricht gibt. Fragen kostet nix!«

AnnaLi hat zu meiner Überraschung Ja! gesagt. Meine Eltern auch. Allerdings erst nach zehntausend Stunden Diskutieren. Das war so ähnlich wie mit der roten knallteuren E-Gitarre, die ich unbedingt haben wollte, zu meinem neunten Geburtstag. Da habe ich so doll geweint und geschrien und gebettelt, dass ich am Ende heiser war. Keine Chance! Mama meinte, ich sei zu jung für so ein teures Geschenk. Wer wüsste außerdem, ob ich dann wirklich auch üben würde? Also habe ich schnell mal Mamas neuen Backofen ruiniert, den hatte sie erst seit einem Monat. Mit dicker Kakaokuchenschmiere. Ich wollte selbst gebackenen Kuchen verkaufen, vorm Haus, und mir von dem Geld, das ich damit verdiente, selbst die Gitarre kaufen. Aber ich habe beim Backen das Backpulver vergessen und die Kuchenform nicht richtig zubekommen. Also ist alles ausgelaufen, in den blitzenden Ofen aus Edelstahl. Der Kuchen war eine Kuchenpuddingmatsche. Ich habe Puderzucker drübergestreut, unseren Gartentisch mit Blumenservietten geschmückt und Kuchenlöffel verkauft. Wie Eiskugeln, nur warm und ein bisschen bröckelig. Für fünf Cent das Stück.

»Ziemlich innovativ!«, hat Mama gesagt und gelächelt.

Eine Woche später, zu meinem Geburtstag, stand die Gitarre an den Wohnzimmertisch gelehnt. Mit bunt glitzernden Schleifen und einem schwarzen Rock-’n’-Roll-Schlapphut. Der hing über dem Griffbrett.

Als ich zu AnnaLi komme, in die WG, in der sie lebt mit drei anderen Frauen zusammen, ist alles bunt und chaotisch. Wie immer! Wir trinken Chaitee mit Milch, den hat AnnaLi gekocht. Ihre Freundin Maja liegt heulend auf dem Sofa. Weil die Männer Machos sind und untreu und gefühllos! Annegret, eine andere Freundin von AnnaLi, umarmt Maja, wischt ihre Tränen weg und füttert sie mit Schokoladeneis. Ida klimpert auf dem Klavier. Sie ist lang und dünn, hat schwarze glänzende Haare und liebt Frauen. Sagt AnnaLi. AnnaLi selber sitzt im Schaukelstuhl und raucht. Ich habe ein bisschen Schokoeis ergattert. Während ich es genüsslich »vapeise«, würde Jonnie-Poponnie sagen, hoffe ich, dass meine Lehrerin noch ein bisschen nachdenkt und ich ihr nicht gleich Gitarre vorspielen muss. Sondern dass ich noch ein bisschen bleiben darf! Bei den Frauen und der Eisbox, da sind echte Schokoladestückchen drinne. Dann kann ich weiter über meinen neuen Masterplan nachdenken: Ich hatte nämlich die Idee des Jahrhunderts, plötzlich – die Lösung aller meiner Probleme! Ich werde auch Straßenmusikerin! Wie AnnaLi. Vielleicht darf ich sogar mit ihr zusammen spielen und singen? Dann könnte ich alles Wichtige von ihr lernen, was ich brauche fürs Musikmachen. Wie man seine Gefühle und Gedanken so singt, dass die anderen sie spüren. Wie man die Stimme vor Erkältungen schützt. Welche Plätze in der Stadt am besten sind zum Musizieren, wie man ein gutes Vibrato spielt und Finger-Picking und wie die Techniken alle heißen. Dann brauche ich kein Abitur und kein Mathe und erst recht nicht zu wissen, wie eine Müllverbrennungsanlage funktioniert.

2  Zoo-Kapitel,

in dem ROCK-AUF-RÜGEN durch die Luft segelt, Perihan und ich die Totenkopfäffchen besuchen und meine Feenkönigin eine Heulsuse ist

Ob ich auch nicht zu traurig bin wegen unseres Gesprächs?, fragt Herr Jakob mich in der Pause. Ich wirke so abwesend und blass. Stumm schüttele ich mein Gänsemagd-Gesicht und denke, dass mein Klassenlehrer süß ist, wie er so da sitzt. Ein begossener Pudel mit Sorgenfalten auf der Stirn. Dabei denke ich die ganze Zeit nur darüber nach, wie ich AnnaLi dazu überreden kann, dass sie mich mitnimmt. Auf ihre Straßenmusiktouren! Das kann ich Herrn Jakob aber schlecht sagen. Oder?

Hi Z., Treffen um 15.00 Uhr vor dem Haupteingang? Bringe selbst gemachten Zitro-Kuchen mit. Kussi, P.

Mein Herz macht einen Heuschreckenhüpfer, weil ich mich so freue auf mein Treffen mit Perihan. Sie arbeitet im Botanischen Garten und liebt bunte Ketten und alle Menschen und Dinge, die »’nen Schuss an der Waffel« haben. Seit einiger Zeit auch Benno, meinen Chaoten-Onkel aus Prenzlauer Berg. Er ist Tischler und spielt in seiner Freizeit E-Bass in einer Rockband. Ich, geniale Verkupplerin, habe die beiden miteinander bekannt gemacht. Als ich verzweifelt war, weil die eiskalte Greta zusammen mit mir in einer Band spielen sollte, habe ich meine Feenkönigin, das bedeutet Perihan auf Deutsch, im Botanischen Garten kennengelernt. Seitdem sind wir Freundinnen. Im Gegensatz dazu ist Greta meine Hassfeindin Nummer eins! Weil sie meinen kleinen Bruder auf dem Kieker hat und außerdem ein dummes Angebermädchen ist mit stinkreichen Eltern und Markenklamotten und nichts als Matschepampe im Hirn.

Perihan und ich treffen uns ab und zu, gehen ins Kino oder zu Konzerten und machen Frauennachmittage bei ihr zu Hause. Manchmal gehen wir auch zusammen in den Zoo. Zu unserem Standardprogramm gehört:

1.  einen Leiterwagen ausleihen und uns abwechselnd darin ziehen, auch wenn das eigentlich total peinlich ist,

2.  deswegen Lachanfälle bekommen und beinahe einpinkeln,

3.  Schokolade mampfen und komische Früchte, Papayas, frische Feigen und Granatapfelkerne, die bringt Perihan in Tupperdosen in Herzform mit,

4.  Zoogeschichten erzählen, also uns erzählen, welches Tier wir gerne wären und warum und was wir dann machen würden,

5.  Eddy, den Löwen-Tierpfleger mit den Muskelarmen, anflirten, der braun gebrannt ist und »unverschämt gut aussieht« (sagt Perihan). Das machen wir jedes Mal, obwohl Eddy nie ’ne Miene verzieht und durch uns hindurchsieht. Als wären wir eine Fensterscheibe! Ob er wirklich Eddy heißt, wissen wir auch nicht. Haben wir uns nur ausgedacht,

6.  eine Tierpostkarte im Zooshop aussuchen und sie inkognito, das heißt, ohne unseren Namen draufzuschreiben, an einen Menschen schicken, dem wir schon immer mal was Nettes sagen wollten. Zum Beispiel an den Schulhauswart von meiner Schule, der ist dick wie zwei Tonnen, schnauft beim Gehen und wird von den Schülern geärgert.

Perihan und ich lieben die Tiere, die sonst keiner besucht! Zum Beispiel den »Wandelnden Ast«. Das ist eine riesige Stabheuschrecke, die aussieht wie ein trockener Stock. Zu den Nacktmullen gehen wir auch, die sind komplett blind und sehen aus wie rosa Miniratten ohne Fell. Am Anfang habe ich mich vor ihnen geekelt. Aber Maxi, die Tierpflegerin, hat mir gesagt, an jedem Tier kann man etwas Schönes oder Sympathisches finden, wenn man sich ein bisschen Mühe gibt. Deswegen sage ich mir jetzt immer, dass die rosa Würste vielleicht verhexte Königsfalter sind. Nachtblaue Schmetterlinge! Der Froschkönig im Märchen ist auch in Wahrheit ein hübscher Prinz und kein widerlicher Glibber-Frosch. Mit den Malaienquallen ist das genauso: Von denen denkt man beim ersten Hinsehen, sie wären schleimige weiße Klumpen. Aber in Wahrheit sind sie Seenixen, die mit ihren Fangarmen Muster ins Wasser schlängeln.

Während ich nachdenke, flattert ein Flyer in meinen Schoß. Auf dem steht in roter Schrift geschrieben: »Rock-auf-Rügen« und darunter: »Wenn du Musik magst, schon immer mal in einer richtigen Band spielen und von Profis lernen wolltest, bist du bei uns richtig: ROCK-AUF-RÜGEN. Das einzigartige Sommer-Musik-Camp für Kinder ab 12 Jahren auf der …«, weiter komme ich nicht, weil in dem Moment Greta kreischend auf mich zurennt: »Gib sofort den Flyer wieder her, der gehört Ella!«

Gretas Gesicht ist rot angelaufen. Sie trägt dunkelblaue Skinny-Jeans mit einem pinken Nietengürtel, ein Halstuch in der gleichen Farbe und ein weißes eng anliegendes T-Shirt, auf dem in grau verwischten Buchstaben geschrieben steht: Born to be a star!

Beinahe muss ich herausprusten, als Greta schnaufend vor mir steht. Mit roten Wangen und dem albernen T-Shirt. Aber ich reiße mich zusammen und reiche ihr den Papierfetzen.

»Hier hast du deinen Wisch. Rock-auf-Rügen …«, ich dehne die Wörter, als würden sie eklig schmecken in meinem Mund, wie trockene Spargelfetzen. »Wollt ihr da mit eurer Funky-Punky-Pink-Pong-Mädels-Band mitmachen, oder was? Ihr seid doch noch gar nicht alle zwölf, oder …«

Hinter mir höre ich, wie Mathilde zu kichern beginnt, und Elias streckt von seinem Tisch aus grinsend den erhobenen Daumen in die Luft.

»Das geht dich gar nichts an!«, kläfft die Eishexe mir ins Gesicht und rennt mit dem Zettel zurück zu Ella, Finja und Marlen-Henriette.

Mit denen hat sie seit Neustem eine Mädchenband. Früher hatte Greta eine Band zusammen mit Leon und David-Beckham-Karl. Die war ganz zuerst meine. Die Jungs spielen angeblich nicht mehr in Gretas Band mit, weil sie so oft Fußballtraining haben. Mathilde, Elias und ich glauben aber, dass sie keinen Bock mehr hatten auf das Gezicke von der Eishexe. Das können wir gut verstehen!

Als Perihan und ich müde vom Leiterwagenziehen sind, beschließen wir, im Affenhaus Rast zu machen. Wir lassen uns auf eine Bank fallen, mampfen Zitronenkuchen und sehen den Totenkopfäffchen zu. Sie springen, raufen und knacken Nüsse in einem fort. Wie Stehaufmännchen, die nie müde werden. Zerbrechlich sehen sie aus, wie Puppen aus einem fremden Land. Ihr Gesicht wirkt gar nicht wie ein Totenkopf, finde ich, sondern eher wie das Gesicht von jemandem, der weise ist und alt. Der schon viel erlebt hat in seinem Leben! Perihans Kuchen schmeckt »göhtliesch«, würde die Eiscafé-Eva sagen. Nach Butter, echter Zitrone und Puderzuckerguss, nicht zu trocken und nicht zu matschig. Eine Frau mit hochgesteckten Haaren schiebt ein kleines Kind mit einem Buggy an uns vorbei und gähnt dabei mit weit aufgerissenem Mund. Das Kleine hat ein verschmiertes Gesicht und rote Augen. In seinem Arm hält es einen Kuscheltiger, der ist fast so groß wie das Kind selbst. Während ich mir meine Worte zurechtlege und ordne wie Dominosteine, um Perihan von dem Herrn-Jakob-Schul-Ärger zu erzählen und dass ich Straßenmusikerin werden will, fängt meine Feenkönigin plötzlich an zu schniefen: »Ich hatte auch mal einen …« Perihan heulte gleich so doll, dass ich nicht mehr verstehen kann, was sie sagt.

»Was hattest du?«

Ich lege meine Hand auf ihre Schulter. Was ist jetzt los, bitte?

Perihan weint und weint und stößt Sätze hervor, von denen ich nur einzelne Wörter verstehe.

»Kuschel…, eines Tages …, im Bus vergessen …«

»Du weinst jetzt nicht wirklich, weil du mal ein Kuscheltier verloren hast, oder?!«

Ich habe Lust zu kichern. Macht Perihan sich über mich lustig?