Twisted. Durchs Schicksal entzweit - Ayleen Beekmann - E-Book
SONDERANGEBOT

Twisted. Durchs Schicksal entzweit E-Book

Ayleen Beekmann

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 3,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

**Wenn die Liebe das Schicksal auf die Probe stellt** Schon seit ihrem sechzehnten Geburtstag besitzt Juniper die göttliche Gabe, bei jedem Menschen zu erkennen, wie lange er noch zu leben hat. Allzu gerne würde die Moiren-Tochter auf diese Fähigkeit verzichten, bis sich eines Tages die Zahl ihrer Zwillingsschwester drastisch verringert und sie alles daransetzen muss, das Schicksal ihrer Schwester abzuwenden. Also schließt sie mit einem Nachfahren des Todesgottes einen unmöglichen Deal ab: Juniper soll dafür sorgen, dass sich der Thanatos-Sohn trotz seines eisernen Herzens verliebt. Notgedrungen lässt sie sich auf den faszinierenden Miles ein und merkt schnell, dass der sie längst nicht so kaltlässt, wie er eigentlich sollte … Lass dich von Londons verborgener Götterwelt in den Bann ziehen! //Dies ist ein Spin-off des gefühlvollen Götterromans »Intertwined. Durchs Schicksal verbunden«. Alle Romane der Fantasy-Serie bei Impress: -- Intertwined. Durchs Schicksal verbunden -- Twisted. Durchs Schicksal entzweit// Jeder Roman der Serie ist in sich abgeschlossen und kann eigenständig gelesen werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Impress

Die Macht der Gefühle

Impress ist ein Imprint des Carlsen Verlags und publiziert romantische und fantastische Romane für junge Erwachsene.

Wer nach Geschichten zum Mitverlieben in den beliebten Genres Romantasy, Coming-of-Age oder New Adult Romance sucht, ist bei uns genau richtig. Mit viel Gefühl, bittersüßer Stimmung und starken Heldinnen entführen wir unsere Leser*innen in die grenzenlosen Weiten fesselnder Buchwelten.

Tauch ab und lass die Realität weit hinter dir.

Jetzt anmelden!

Jetzt Fan werden!

Ayleen Beekmann

Twisted. Durchs Schicksal entzweit

**Wenn die Liebe das Schicksal auf die Probe stellt**

Schon seit ihrem sechzehnten Geburtstag besitzt Juniper die göttliche Gabe, bei jedem Menschen zu erkennen, wie lange er noch zu leben hat. Allzu gerne würde die Moiren-Tochter auf diese Fähigkeit verzichten, bis sich eines Tages die Zahl ihrer Zwillingsschwester drastisch verringert und sie alles daransetzen muss, das Schicksal ihrer Schwester abzuwenden. Also schließt sie mit einem Nachfahren des Todesgottes einen unmöglichen Deal ab: Juniper soll dafür sorgen, dass sich der Thanatos-Sohn trotz seines eisernen Herzens verliebt. Notgedrungen lässt sie sich auf den faszinierenden Miles ein und merkt schnell, dass der sie längst nicht so kaltlässt, wie er eigentlich sollte …

Wohin soll es gehen?

Buch lesen

Vita

Danksagung

© privat

Ayleen Beekmann wurde 1998 in Ostfriesland geboren und fand zwischen Disney-Filmen und Lego-Steinen schnell die Liebe zu Geschichten. Sie liest Bücher und schreibt selbst, seit sie das Alphabet beherrscht. Ihre Protagonisten schubst sie gerne in fantastische Abenteuer und lässt sie dabei über die Liebe stolpern. Wenn sie gerade nicht schreibt, hat sie wahrscheinlich eine große Tasse Tee in der Hand und plant ihren nächsten Kurztrip nach London.

Für Doreen.Für dich würde ich durch den Tartaros gehen.

EINS

Manchmal vergesse ich für einen Moment, was die Zahlen bedeuten, die ich über dem Kopf eines jeden Menschen sehe. Allerdings immer nur kurz, bis mich die Realität wieder einholt. In Momenten wie diesen zum Beispiel. Als die U-Bahn gerade mit einem Ruckeln in die nächste Station einfährt, rempelt mich ein Typ an. Automatisch greife ich nach der Metallstange über mir, um nicht den Halt zu verlieren, und schaue in seine Richtung, bereit, den Kerl anzuschnauzen. Doch der Protest bleibt mir im Hals stecken, sobald mein Blick auf seine Zahl fällt. Wie alle niedrigen Ziffern bringt sie mich vollkommen aus dem Konzept. Und während der Typ sich mit einigen anderen Passagieren durch die Türen der U-Bahn drängt, kann ich nur an die verheerenden Folgen denken.

Dreizehn Tage. O Mann.

»Alles okay, Juniper?« Sage legt eine Hand auf meine Schulter und holt mich damit zurück ins Hier und Jetzt.

Ich schlucke den bitteren Geschmack auf meiner Zunge herunter, drehe mich zu meiner Zwillingsschwester und zwinge mich zu einem Nicken. »Ja … alles gut.«

Sage presst die Lippen aufeinander, sagt jedoch nichts weiter. Obwohl sie die Ziffern selbst nicht sieht, kann sie sich vermutlich denken, was Sache ist.

In solchen Situationen ist es wirklich ätzend, eine Moiren-Tochter zu sein – eine Nachfahrin der antiken griechischen Schicksalsgöttinnen. Im Gespann meiner beiden Schwestern ist es meine Aufgabe, den Lebensfaden einer Person zu durchtrennen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Oder eher gesagt ist das meine Aufgabe gewesen, bevor meine jüngere Schwester Willow – die gerade ein Stück neben mir in ihr Handy vertieft ist – sich in einen Hades-Sohn verliebt hat. Von da an hat nämlich eins zum anderen geführt und Willow hat mir nichts, dir nichts unser gesamtes System umgeworfen. Warum auch nicht? Ich meine, was tut man nicht alles für die Liebe?

Durch Willows Rebellion wurde einer der zuvor wichtigsten Grundsätze im Umgang mit unseren Schicksalen abgeschafft. Bisher musste jede Generation das Schicksal ihrer Urahnen tragen und so die Vorherbestimmung der Blutlinien erfüllen. Unter diesen Umständen hätten Willow und Maverick nie zusammen sein dürfen, weil er ein Hades-Sohn ist und deshalb dazu bestimmt war, eine Nachkommin Persephones zu lieben – der Göttin, die sein Urahn geliebt hat.

Dass das nicht nur echt nervig, sondern darüber hinaus ziemlich unnötig ist, hat der Olymp – die höchste Instanz unter uns Göttlichen – endlich eingesehen und die Regeln angepasst.

Seit ungefähr drei Monaten sind wir deshalb frei von der Vorherbestimmung und können, zumindest im übertragenen Sinne, unser Schicksal selbst bestimmen.

Für uns Moiren-Töchter hat sich dadurch sogar eine weitere erhebliche Sache geändert: Wir müssen keine Schicksale mehr spinnen, wie es zuvor unsere Pflicht gewesen ist.

Wenn es nach mir gegangen wäre, hätte man uns statt dieser Aufgabe besser unsere Fähigkeit nehmen können, Dinge wahrzunehmen, die über das Irdische hinausgehen. Wie zum Beispiel die Zahlen, die mir genau sagen, in wie vielen Tagen das Leben eines jeden Menschen vorbei sein wird. Aber na ja, man kann nun mal nicht alles haben.

Ich zwinge mich in die Realität zurück und fange Sages Blick auf, der unverändert auf mir liegt. Ihre dunklen Augen funkeln wissend.

»Das Schlimmste ist, nichts daran ändern zu können«, murmele ich mit einem Seufzen.

Sage nickt. Zwar weiß sie nicht, wann die Zeit eines Menschen abläuft, dafür muss sie allerdings mit ansehen, wie es zu Ende geht. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was für Horrorszenarien sie jeden Tag ertragen muss. Nicht nur das Sterben fremder Menschen, sondern auch das derjenigen, die ihr am Herzen liegen. Ich unterdrücke ein Schaudern bei dem Gedanken daran, was ihr wohl mein Anblick verrät.

Wieder einmal bin ich echt froh über unsere Abmachung, nicht darüber zu sprechen, was wir bei der anderen erkennen. Wenigstens habe ich die Gewissheit, dass Sage noch einige Jahrzehnte bleiben, bis sie im hohen Alter sterben wird. Genau wie Willow.

Von uns dreien hat sie vermutlich die angenehmste Moiren-Sicht abbekommen, denn sie sieht nichts, was mit dem Tod zu tun hat, sondern die Schicksalsfäden, die alle Menschen miteinander verbinden. Wobei ich gut verstehen kann, dass ihr das ab und an ziemliche Kopfschmerzen bereitet.

Als ob sie bemerkt hätte, dass ich gerade an sie denke, schaut meine kleine Schwester in diesem Moment von ihrem Handy auf und betrachtet uns, wobei sie fragend beide Augenbrauen in die Höhe zieht. Ganz offensichtlich hat sie nicht mitbekommen, worüber wir gesprochen haben. Kein Wunder. Schon fast den ganzen Heimweg lang ist sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, mit ihrem Freund Maverick hin- und herzutexten – wenn das Netz hier unten das denn gerade zulässt.

Ich ziehe die Mundwinkel hoch. »Alles gut im Paradies?«, frage ich. »Oder sollte ich besser sagen in der Unterwelt?«

»Sehr witzig, Juniper.« Willow rollt mit den Augen, kann ihr Grinsen jedoch nicht unterdrücken. Sie wirft erneut einen Blick auf ihr Handy. Schlagartig verliert ihre kupferne Haut, die wir genau wie die schwarzen Locken alle gemeinsam haben, an Farbe. Sie beißt sich auf die Unterlippe und hat ihren gespielten Ärger über mich schon wieder vergessen. »Maverick will mich am Wochenende seinem Vater vorstellen. Bis jetzt war er immer arbeiten, wenn ich da war, aber am Samstag hat er sich extra freigenommen.«

»Na, dann wird das zwischen euch beiden ja ernst«, kommentiere ich, obwohl wir alle drei wissen, dass es das längst ist. Davon zeugt das Schicksalsverbundenen-Tattoo an Willows kleinem Finger nur allzu gut, denn das taucht erst auf, sobald zwei Göttliche vom Schicksal tiefgehend miteinander verbunden worden sind. Eine einfache jugendliche Schwärmerei, die spätestens nach ein paar Jahren wieder verfliegt, kann mit wahrer Schicksalsverbundenheit bei Weitem nicht mithalten.

»Er wird dich mögen.« Sage schenkt Willow ein warmes Lächeln. »Immerhin hast du seinen Söhnen die Freiheit geschenkt, selbst über ihr Leben zu bestimmen. Genau wie ihm und allen anderen Göttlichen.«

»Allerdings nicht absichtlich«, erwidert sie und verzieht den Mund.

Eigentlich wollte Willow nur ihren Kopf behalten und irgendwie der Strafe des Olymps entgehen. Denn die mächtigsten Nachfahren der olympischen Götter fanden es bis vor einer Weile überhaupt nicht witzig, wenn sich jemand der Vorherbestimmung widersetzt hat. Dabei ist das nicht mal Willows Absicht gewesen. Vor der ganzen Sache konnte sie Maverick gar nicht leiden und dass sie ausgerechnet ihre beiden Schicksale durch einen Liebesfaden miteinander verknüpft hat, war nur ein zufälliger Fehler.

Egal, warum Willow diesen Stein ins Rollen gebracht hat, das Ergebnis bleibt das gleiche: Wir Göttlichen sind nicht mehr im Schicksal unserer Vorfahren gefangen. Hades-Söhne müssen keine Persephone-Töchter mehr lieben, Herkules-Söhne keine zwölf Prüfungen mehr bestehen und so weiter und so fort. Indem Willow und Maverick für ihre Liebe Kopf und Kragen riskiert haben, haben sie unser aller Leben verändert.

»Vielleicht hasst sein Vater dich ja, weil du Maverick in Gefahr gebracht hast, und macht dir die Hölle heiß, sobald du einen Fuß über seine Schwelle setzt«, gebe ich mit einem unterdrückten Lachen zu bedenken und ernte sofort einen Ellenbogenhieb von Sage. Direkt in die Rippen.

»Aua«, beschwere ich mich und reibe mir über die Stelle, obwohl es gar nicht wirklich wehtut. »Das war doch nur ein Scherz.«

»Wer austeilt, muss auch einstecken können«, kontert Sage mit einem Grinsen.

»Jaja«, murmele ich. »Jetzt mal ehrlich: Ich bin mir sicher, dass er dich mögen wird. Vielleicht kannst du ja zur Bestechung ein paar Kekse backen, wenn es mit dem natürlichen Charme nicht ausreicht.«

Willow schmunzelt. »Falls Großtante Holly die nicht alle vorher aufisst …«

Unser Lachen wird von der blechernen U-Bahn-Durchsage unterbrochen, die die Haltestation in der Nähe unseres Zuhauses ankündigt. Sobald die Bahn holpernd am Gleis zum Stehen kommt, steigen wir aus und beginnen, uns unseren Weg nach oben zu erkämpfen, genau wie Dutzende andere Passagiere.

Ich vermeide es, über ihre Köpfe zu schauen, um ihre verbleibenden Tage nicht sehen zu müssen, kann jedoch nicht verhindern, dass ab und an fremde Blicke meinen streifen. Zum Glück sind nicht mehr so erschreckend niedrige Zahlen dabei wie bei dem Kerl vorhin. Soweit ich das erkennen kann, wird niemand hier innerhalb der nächsten Tage sterben. Immerhin etwas.

Als wir die unzähligen Stufen hinter uns gelassen haben und endlich die Rolltreppen vor uns liegen, werde ich auf eine Straßenmusikerin aufmerksam, die mit ihrer Gitarre rechts von uns steht und gerade eine Pop-Ballade in ihr Mikrofon singt. Ihre Stimme ist wunderschön, doch etwas anderes sorgt dafür, dass mein Blick an ihr hängen bleibt: Von ihr geht ein Vibrieren aus – das göttliche Vibrieren, das wir immer spüren, wenn wir auf einen anderen Nachfahren treffen. Sobald wir an der jungen Frau vorbeilaufen, hebt sie den Kopf in unsere Richtung und zwinkert uns zu. Garantiert spürt sie unsere Anwesenheit genauso wie wir ihre. Ich werfe ihr ein Lächeln zu, ehe ich mich hinter meinen Schwestern auf die Rolltreppe stelle.

»Musen-Tochter müsste man sein«, seufze ich.

Viele Göttliche haben spezielle Fähigkeiten, die im Erbe ihrer Urahnen begründet sind. Poseidon-Söhne sind zum Beispiel in der Lage, Wasser nach ihrem Willen zu bewegen, Zeus-Söhne können meist Elektrizität beeinflussen und Musen-Töchter haben eben ein besonderes künstlerisches Talent.

Im Gegensatz zu all diesen Begabungen kommen mir die Dinge, mit denen wir Moiren-Töchter uns herumschlagen müssen, umso mehr wie ein Fluch vor. Zwar schaffe ich es meistens, gar nicht erst so sehr darüber nachzudenken, was die Zahlen bedeuten, aber gerade wenn ich jemanden entdecke, dem nur noch wenig Zeit bleibt, ist das leichter gesagt als getan. So oder so – einen Vorteil hat diese Sicht auf jeden Fall nicht. Wenigstens sehe ich die Zahlen bei mir selbst nicht. Das würde mich wahnsinnig machen.

»Apropos«, holt Willow mich aus meinen Gedanken und passiert hinter Sage die Personenschranke. »Wie läuft’s eigentlich mit dem Gitarrelernen? Ich habe dich in den letzten Tagen gar nicht spielen gehört.«

Ich zucke mit den Schultern und folge ihr durch das Drehkreuz. »Irgendwie hat das nicht geklappt«, erkläre ich und denke an die Stunden zurück, in denen ich mich über das Instrument gebeugt und verzweifelt versucht habe, einen Ton aus den Saiten hervorzulocken, der nicht wie der Laut eines schwer verletzten Tiers klingt. Vergeblich. »Ich hab’s aufgegeben.«

»Du bist einfach nur zu ungeduldig.« Sage schnalzt mit der Zunge. »Beim ersten Anlauf kann nun mal nicht alles perfekt klappen. Das ist ganz normal.«

Ich brumme.

»Das ist dann wohl einer der Gründe dafür, dass dein erstes Makramee-Projekt so in die Hose gegangen ist«, kommentiert Willow mit einem Prusten, während wir durch den Ausgang des U-Bahnhofs ins Freie treten.

Lachend denke ich an den Schlüsselanhänger zurück, den Sage letzte Woche geknüpft hat und der kaum als solcher zu erkennen gewesen ist.

Sage schmunzelt. »Ganz genau«, erwidert sie. »Aber ich habe ja noch Zeit, um es zu lernen.«

Grinsend fange ich ihren Blick auf. Sie hat recht – über ihrem Kopf taucht die Zahl auf, die ich schon gewohnt bin. Vierundzwanzigtausend Tage und ein paar Zerquetschte. Sage wird irgendwann mit vierundachtzig sterben, bis dahin hat sie ihre Makramee-Technik mit Sicherheit optimiert. Wenn sie erst mal mit etwas angefangen hat, gibt sie so schnell nicht wieder auf.

»Keine Ahnung, wie du dir das freiwillig antun kannst«, bemerkt Willow und senkt ihre Stimme, als wir ganz vorne an einer Fußgängerampel halten. »Mich würde das zu sehr ans Schicksale-Spinnen erinnern.«

Ich nicke zustimmend. Willow und ich vermeiden alles, was auch nur im Entferntesten unseren ehemaligen Moiren-Tätigkeiten ähnelt. Sage ist von uns dreien jedoch schon immer die Pflichtbewussteste gewesen. In den ersten Wochen, nachdem meine jüngere Schwester uns von unserer Aufgabe befreit hatte, haben Willow und ich die unverhoffte Freizeit erst mal auf die beste Art und Weise genutzt: Wir haben all die Serien auf Netflix geschaut, für die wir sonst nie Zeit hatten. Schließlich haben wir in den letzten Jahren kaum Gelegenheit für wahre Entspannung gehabt, weil wir uns auf unsere Aufgaben vorbereiten und ihnen nachgehen mussten. Willows und meiner Meinung nach bestand da also einiges an Aufholbedarf. Sage hingegen ist vor plötzlicher Langeweile beinahe verrückt geworden, bis sie sich an den neuen Alltag gewöhnt hat. Seitdem ist sie glücklicherweise um einiges entspannter, als sie es zuvor mit der Moiren-Last auf ihren Schultern gewesen ist.

»Makramee-Knüpfen hat wirklich so gut wie nichts mit Spinnen zu tun«, erklärt sie jetzt. »Außerdem macht es Spaß und ist beruhigend.«

»Na, wenn du das sagst«, erwidert Willow, klingt jedoch alles andere als überzeugt.

Ich kichere.

Vor uns wechselt die Ampel auf Grün. Ich setze mich in Bewegung, werde aber im nächsten Moment von Sages Hand gestoppt, die sich ruckartig um meinen Unterarm gelegt hat. Ich habe gar keine andere Wahl, als ihrem Griff zu folgen und einige Schritte rückwärts zu stolpern.

»Sei doch vorsichtig!«, herrscht sie mich an, die Sorge nimmt ihrer Stimme allerdings die Schärfe. »Da kommt ein Bus.«

Ich schaue irritiert zur Seite. Tatsächlich rollt von rechts ein typisch roter Doppeldeckerbus an den Fußgängerüberweg heran, hält nun jedoch ein Stück entfernt davon – zu weit weg, um mir auf irgendeine Art und Weise gefährlich werden zu können.

»Dafür, dass du am besten wissen solltest, wie begrenzt die Lebenszeit ist, gehst du ganz schön leichtfertig mit deiner um«, tadelt Sage hinter mir.

»Jetzt übertreibst du«, erwidere ich.

Ich drehe mich zu ihr um und setze zu einem Grinsen an, aber meine Gesichtszüge entgleiten mir, als ihr Blick auf meinen trifft. Etwas in mir sackt mit solcher Wucht nach unten, dass ich mich zwingen muss nicht auf die Knie zu sinken. Ich blinzele, doch am Bild vor meinen Augen ändert sich nichts. Dort über Sages Scheitel, wo ich eben noch die beruhigenden vierundzwanzigtausend Tage erkennen konnte, steht plötzlich eine andere Zahl.

Einundzwanzig.

ZWEI

Einundzwanzig Tage. So wenig Zeit wird vergehen, bis meine Zwillingsschwester sterben wird. Meine Zwillingsschwester, die mir geduldig beigebracht hat Schleifen zu binden, als wir fünf waren und ich das Prinzip einfach nicht verstanden habe. Die sich immer wieder mit mir Zombiefilme anschaut, obwohl sie sie nicht mag. Die schlichtweg alles für mich tun würde.

Einundzwanzig. Die Zahl hat sich tief in meine Netzhaut eingebrannt, aber trotzdem bin ich auf dem Heimweg zusammengezuckt, sobald Sages Blick meinen gestreift hat. Eine Tatsache, die Willow bald bemerkt und mich deshalb aufgezogen hat, in dem Glauben, ich hätte eine plötzliche Bus-Phobie entwickelt. Ich wünschte wirklich, es wäre nur das.

Einundzwanzig Tage. Drei Wochen.

Bis heute ist mir nicht klar gewesen, dass eine Zahl jemanden verhöhnen kann. Und doch habe ich das Gefühl, von den beiden Ziffern förmlich ausgelacht zu werden, jedes Mal, wenn ich es auch nur für einen Sekundenbruchteil wage, den Kopf zu heben und Sage anzuschauen. Kein Wunder, dass ich vom Abendessen keinen einzigen Bissen herunterbekomme.

»Was ist denn mit dir los, Kindchen?« Großtante Holly beugt sich schräg über den Esstisch und wedelt mit ihrer Hand vor mir herum. »Du machst schon die ganze Zeit ein Gesicht, als hättest du einen Minotaurus gesehen. Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen, hm?«

Ich hebe den Kopf in ihre Richtung und zwinge mich zu einem Lächeln, bemerke jedoch selbst, wie bröckelig es ist. »Alles gut«, bringe ich hervor.

Die Skepsis lässt Großtante Hollys Falten tiefer werden. Über ihrem grauen Scheitel verkündet die Zahl mir sechshundertdreiundsiebzig Tage, die sie zu leben hat. Bisher bin ich immer davon ausgegangen, mich zuerst von ihr verabschieden zu müssen. Als ich an meinem sechzehnten Geburtstag meine Kräfte entwickelt habe, hat mich die Erkenntnis, dass Großtante Holly in knapp drei Jahren nicht mehr bei uns sein würde, besonders hart getroffen. Jetzt, mit siebzehn, ist der Gedanke zwar nach wie vor nicht leicht zu ertragen, doch ich habe aufgehört mir jeden Tag den Kopf darüber zu zerbrechen.

»Um diese Lüge zu erkennen, muss ich keine Aletheia-Tochter sein«, erwidert Großtante Holly in diesem Moment und taxiert mich. So intensiv, wie sie mich ansieht, könnte sie gerade genauso gut eine Nachfahrin der Wahrheitsgöttin sein, auf die sie anspielt. Doch selbst ohne magischen Blick durchschaut sie mich sofort. Sie kennt mich gut genug, um mir auch so anzumerken, dass etwas nicht stimmt. Schließlich ist Mum mit uns bei ihr eingezogen, als wir ganz klein waren. Seit ich denken kann, hat sie Mum dabei unterstützt, uns großzuziehen – und uns auf unser Erbe und den Umgang mit unseren Fähigkeiten vorzubereiten. Im Gegensatz zu Mum hat Großtante Holly genau wie wir Moiren-Kräfte, weiß also genau, wie schwierig das manchmal sein kann.

Mit skeptisch zusammengeschobenen Brauen deutet sie auf meinen Teller, auf dem Kartoffeln und Gemüse beinahe unangerührt daliegen. »Du isst ja nicht mal richtig.«

Jetzt liegen alle anderen Blicke ebenfalls auf mir.

Mum, die am Kopfende des Tisches sitzt, legt den Kopf schief und betrachtet mich forschend. Sie fährt sich mit der Hand durch ihr raspelkurzes Haar, das ebenso dunkel ist wie meines. »Was ist los?«

»Nichts«, krächze ich und zwinge mich, mir eine Gabel voll Gemüse in den Mund zu schieben. Natürlich ist es längst kalt. Igitt. Bemüht, nicht das Gesicht zu verziehen, kaue ich darauf herum und schlucke es herunter, wobei ich das Gefühl habe, beinahe am Kloß in meinem Hals zu ersticken. Doch mein Schauspiel scheint niemanden zu überzeugen. »Wirklich alles in Ordnung«, beteuere ich. »Mir geht’s nur nicht so gut … vielleicht habe ich mir eine Erkältung eingefangen.«

»Soll ich –«, hebt Mum an, aber ich falle ihr ins Wort.

»Nein.« Ich schüttele den Kopf. Darauf, dass Mum mich gleich in ihrer besten Kinderarztmanier untersucht, kann ich echt verzichten. Solange »krank vor Sorge« keine offizielle Diagnose ist, bin ich ja nicht tatsächlich krank. »Ich bin einfach etwas schlapp. Bestimmt ist morgen schon wieder alles besser.«

Mum nickt langsam und lächelt mir warm zu, ehe sie das Gespräch aufgreift, das sie gerade mit Willow über Mavericks Familie geführt hat. Die anderen lassen ebenfalls von mir ab, wobei Sage mich vorher besonders genau betrachtet. Im Laufe des Tages haben sich zahlreiche wellige Strähnen aus ihrem Zopf gelöst und umrahmen jetzt ihr Gesicht, was sie wild und lebendig aussehen lässt. Ich gebe mein Bestes, um nicht einmal mit der Wimper zucken, bis sie ebenfalls wegschaut.

Doch mir selbst kann ich nichts vormachen. Meine Worte haben einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge hinterlassen – morgen wird nicht alles wieder gut sein. Das hier ist nichts, wobei eine Nacht Auskurieren in irgendeiner Art und Weise helfen kann. Oder das sich mit einem Fingerschnippen lösen lässt.

Irgendetwas muss sich an Sages Schicksal verändert haben, das ihre Lebenszeit so drastisch verkürzt. Seitdem die Vorherbestimmung gelöst worden ist, ist mir das bei Fremden schon häufiger aufgefallen. Ab und zu habe ich mich mit Sage darüber unterhalten und sie hat mir erzählt, was zum früheren Tod der Menschen führen würde. Nur dass es dabei nie um ihr eigenes Leben ging. Ihre Todesursache kann Sage schließlich genauso wenig sehen wie ich meine Lebenszeit.

Zähneknirschend stochere ich in meiner Kartoffel herum. Ich ignoriere den Blick, den Mum mir spürbar zuwirft, während ich gegen die Tränen ankämpfe, die mir in die Augen steigen wollen. Und ich habe schon die Situation vor knapp drei Monaten für schlimm gehalten, als Willow der Patzer mit ihrem Liebesfaden passiert ist. Da hätte der Olymp sie zwar jederzeit einen Kopf kürzer machen können, ihre Lebenszeit ist jedoch wenigstens nie gesunken. Ich war mir also die ganze Zeit über sicher, dass ihr nicht viel passieren würde, was das hilflose Gefühl etwas besser gemacht hat.

Jetzt hingegen ist die Machtlosigkeit kaum zu ertragen. Alles in mir schreit danach, den anderen zu erzählen, was mich so aus der Bahn geworfen hat, doch das kann ich nicht. Vor allem nicht, solange Sage hier sitzt. Damit würde ich gegen die Abmachung verstoßen, uns nichts davon zu verraten, was wir bei der anderen sehen.

Ich denke an die Worte zurück, die ich heute zu Sage gesagt habe. Das Schlimmste ist, nichts daran ändern zu können.

Das ist eine Tatsache, die Mum und Großtante Holly uns eingebläut haben, sobald wir von unserem Erbe erfahren haben. Dass wir gar nicht erst versuchen sollen uns gegen das Schicksal zu wehren oder es in eine andere Richtung zu lenken. Das sei die Mühe nicht wert – wir können ohnehin nichts ausrichten. Wobei das nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen scheint, denn Willow hat das Schicksal ja auch irgendwie verändern können. Und wenn es einen Weg gibt, das Gleiche für Sage zu tun, werde ich ihn finden.

Ich zersteche die Kartoffel auf meinem Teller mit einer Wucht, die die Gabel auf dem Porzellan zum Klirren bringt. In mir regt sich das Bedürfnis, alles in Schutt und Asche zu legen. So lange auf etwas einzuschlagen, bis die Aussicht, Sage zu verlieren, weniger wehtut. Falls das überhaupt möglich ist. Ich bezweifele es.

Mit zusammengepressten Lippen starre ich auf meinen Teller. Ich kann nicht hinnehmen, dass meine Schwester in einundzwanzig Tagen stirbt. Ich werde etwas dagegen tun, egal, was es kostet.

***

Wenige Stunden später liegt unsere Wohnung dunkel und still da. Die anderen sind längst ins Bett gegangen und der Ruhe nach zu urteilen schlafen sie inzwischen tief und fest. Das einzige Geräusch, das an meine Ohren dringt, ist das sanfte Rauschen des nächtlichen Stadtlebens tief unter meinem Fenster.

Vorhin ist Mum kurz in mein Zimmer gekommen und hat sich vergewissert, dass bei mir alles okay ist.

Keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, ihr eine glaubwürdige Ausrede zu präsentieren. Ich kann ihr ja immerhin schlecht erzählen, dass ihre älteste Tochter bald sterben wird, ohne ihr den Boden unter den Füßen wegzureißen.

Von wegen, ich hätte nur einen schlechten Tag. Ich habe den miesesten Tag meines Lebens.

Seufzend vergrabe ich den Kopf in meinem weichen Kissen und ziehe die Decke in einer umständlichen Bewegung bis über meine Schulter. Doch nichts an dieser Gemütlichkeit bringt mich zur Ruhe. Ganz im Gegenteil. Hier, in der Stille meines Zimmers, ist die Sorge um Sage nur umso stärker und der Gedanke daran, was ich zu verlieren habe, lauter.

Gefühlt ist jede Ecke und jeder Winkel in diesem Raum vollgequetscht mit Erinnerungen. Die alten Fotos an den drei Schnüren über meinem Bett, die meine Familie und mich in den unterschiedlichsten Lebenslagen zeigen. Die Konzerttickets von Sages und meinen Lieblingsbands an der alten Pinnwand über meinem Schreibtisch – obwohl unsere Musikgeschmäcker nicht unterschiedlicher sein könnten, haben wir die andere auf jedes Konzert begleitet. Alles Zeugen davon, was für eine schöne Zeit wir bisher miteinander hatten. Und mit einem Mal Warnhinweise, dass diese Zeit bald vorbei sein wird, wenn ich es nicht verhindern kann.

Leise fluchend drehe ich mich um, schlage meine Decke zurück und schwinge die Beine über die Bettkante. Mit den Fingern taste ich nach dem Schalter meiner Nachttischlampe und mache sie an. Ich werde sowieso nicht schlafen können. Dann kann ich genauso gut direkt anfangen nach einer Rettung für Sage zu suchen. Ich vergrabe die Hände in meinen kurzen Locken und herrsche meinen Kopf innerlich an, gefälligst eine Lösung für mein Problem zu finden.

Ich wünschte, ich könnte einfach eine andere Moiren-Tochter um Rat bitten. Eine Atropos wie Sage – diejenige, die sieht, woran jemand sterben wird. Doch selbst wenn ich eine finden würde, würde mir das kaum etwas bringen. Denn während die Sicht der Moiren-Töchter bei ihren eigenen Schwestern über das Reale hinausgeht, sind wir bei anderen unserer Art genauso blind wie normale Menschen. Vermutlich, damit niemand in die Versuchung kommt, durch die Kombination der Moiren-Kräfte seinen eigenen Tod immer wieder hinauszuzögern – oder den eines geliebten Menschen.

Tja, Pech gehabt, liebe Regeln. Ich werde mich von euch nicht aufhalten lassen.

Ehe ich mir überhaupt bewusst bin, was ich tue, folge ich meinen Instinkten – direkt auf die Götter-Ebene. An den Ort jenseits von Raum und Zeit und allem Irdischen, an dem ich sonst mit Willow und Sage Schicksale gesponnen habe. Seitdem sich alles verändert hat, sind wir noch einige Male hier gewesen, um dem Schicksal dabei zuzusehen, wie es sich ganz von selbst spinnt. In letzter Zeit haben wir das allerdings so selten gemacht, dass ich mich jetzt erst einmal wieder an das Gefühl gewöhnen muss.

Denn während mein Bewusstsein zwar die Ebene gewechselt hat, sitzt mein Körper wie erstarrt in unserer Wohnung am Außenrand Londons. Ich kann nur hoffen, dass mir niemand unerwartet einen mitternächtlichen Besuch abstattet und wissen will, was ich um diese Uhrzeit auf der Götter-Ebene zu suchen habe. Genau genommen weiß ich das ja selbst nicht so recht.

Mit einem Seufzen streiche ich über den leichten Stoff meiner Toga, die zu meiner Götter-Ebenen-Gestalt gehört wie Yin zu Yang, und sehe mich um. Wie immer herrscht absolute Ruhe und alles ist in ein dämmriges Licht getaucht. Mich überläuft ein Schauer. Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals allein hier gewesen zu sein.

Doch auch wenn es sich irgendwie falsch anfühlt, darf ich mich nicht einfach so wieder in meinen Körper zurückziehen. Nicht ohne es versucht zu haben.

Ich atme tief durch und lasse meinen Blick über die Schicksalsfäden gleiten, die mich umgeben. In der Menschenwelt kann nur Willow sie sehen, aber hier in der Götter-Ebene sind sie für jede Moiren-Tochter zu erkennen: ein Gewirr aus Schnüren in den unterschiedlichsten Farben, den verschiedensten Emotionen – und ein Chaos, das mir im nächsten Moment klarmacht, wie dumm meine Hoffnung gewesen ist, auf der Götter-Ebene etwas am Schicksal meiner Schwester ändern zu können. Immerhin habe ich keine Ahnung, welche dieser Schicksalsfäden überhaupt zu Sage gehören, und selbst wenn ich das wüsste, würde mir das kaum weiterhelfen.

Als wir all die Schnüre noch selbst gesponnen haben, konnte ich das Schicksal in den Fasern fühlen, die ich Willow angereicht habe. Das hat allerdings schon immer nur für jene Fäden gegolten, an deren Entstehung ich selbst beteiligt gewesen bin – und damit nicht für den Faden, der das Etwas in sich trägt, das Sages Lebenszeit von einem Moment auf den anderen verkürzt hat.

Willkürlich greife ich nach einem der Lebensfäden in meiner Umgebung. Vor dem Ende der Vorherbestimmung bin ich im Gespann meiner Schwestern die Lachesis gewesen, die Zuteilerin. Diejenige, die einst für das Bestimmen der Länge eines Faden zuständig gewesen ist. Das muss doch zu etwas gut sein. Mit beiden Händen versuche ich die Fasern in die Länge zu ziehen, aber ich bleibe erfolglos. Obwohl ich all meine Kraft in meine Finger schicke, spannen die Muskeln meiner Götter-Ebenen-Gestalt sich nicht einmal an.

Probehalber wiederhole ich das Vorgehen bei einem anderen Faden. Das Ergebnis ist das gleiche – nämlich gar keins. Beinahe fühlt es sich so an, als würden all die Fäden, an denen ich jetzt zu ziehen versuche, mich auslachen.

Tränen der Verzweiflung steigen mir in die Augen. Auf der Götter-Ebene bin ich genauso machtlos wie in der echten Welt. Das Schicksal meint es eindeutig nicht gut mit seinen Töchtern.

DREI

Ich habe einen Plan. Na ja, eigentlich beschreibt eine lose Idee die wilden Ranken in meinem Kopf viel besser, doch das ist allemal besser als nichts. Vor allem, weil ich seit vorgestern hilflos mit ansehen musste, wie aus der Einundzwanzig über Sages Kopf erst eine Zwanzig und heute dann eine Neunzehn geworden ist. Höchste Zeit also, etwas zu unternehmen.

Ganz besonders deshalb, weil ich den gestrigen Tag schon tatenlos verstreichen lassen habe. Während ich gegrübelt und gegrübelt habe, wie ich Sages Leben retten kann, sind die Stunden einfach an mir vorbeigezogen. Genau wie der Unterricht gestern, den ich dazu genutzt habe, auf meinem Handy nach allen möglichen Begriffskombinationen zu googeln, die ansatzweise erfolgsversprechend klingen. »Tod verhindern griechische Mythologie«, »Leben verlängern Mythologie« und so weiter und so fort.

Aber dieser Ansatz hat sich als Sackgasse erwiesen. Immer wieder bin ich auf irgendwelche Sagen gestoßen, die überhaupt nichts mit dem zu tun haben, was ich suche. Das, was dem Ganzen am nächsten kam, war der Mythos rund um Orpheus und Eurydike, bei dem ein begabter Musiker seine tote Frau durch sein Leierspiel aus dem Hades zurückholt. Und das kommt für mich ja so was von nicht infrage. Erstens soll Sage den Hades gar nicht erst mit eigenen Augen sehen müssen. Zweitens sind meine Musikkünste bei Weitem zu schlecht, um sie überhaupt als Künste bezeichnen zu dürfen. Meine Gitarre steht immerhin nicht umsonst seit Tagen in der Ecke. Und drittens hat Maverick mal erwähnt, dass die Hades-Söhne heutzutage keine derartige Macht mehr über die Toten haben. Der Mächtigste unter ihnen übernimmt zwar die Hauptaufgabe ihres Urahns, nämlich das Herrschen über die Unterwelt, wer da allerdings rein- oder rauskommt, hat kein Hades-Sohn zu entscheiden.

Denn obwohl Nicht-Göttliche Hades häufig für den Todesgott halten, war er das nicht – den Job hatten andere. Nachdem ich die Google-Suche heute Nacht fortgesetzt und mein Gedächtnis aufgefrischt habe, weiß ich nun auch wieder, welche beiden das große Los gezogen hatten. Zum einen Thanatos, der Gott des sanften Todes, und zum anderen seine Schwester Ker, die Göttin des gewaltsamen Todes.

Was bedeutet, dass es auch zwei Blutlinien geben muss, die ihr Erbe bis heute weitertragen. Die vielleicht etwas am nahenden Tod ändern können. Zumindest besteht die Chance und die werde ich auf keinen Fall ungenutzt lassen – ich werde einen Todessohn oder eine Todestochter um Hilfe bitten.

Da gibt es nur ein Problem: Ich habe keine Ahnung von den Nachfahren der Todesgötter. Irgendwie haben Thanatos, Ker und ihre Erben in den Geschichten, die Mum und Großtante Holly uns erzählt haben, nie wirklich eine Rolle gespielt.

Und doch bin ich mir sicher, dass Großtante Holly mehr über sie weiß, als sie uns bisher verraten hat. Schließlich kennt sie gefühlt jedes Geheimnis unserer Welt.

An diese Hoffnung klammere ich mich jedenfalls, während ich im Türrahmen lehne und auf die Rückseite des Ohrensessels starre, in dem Großtante Holly wie so häufig sitzt. Warmes Sonnenlicht fällt durchs Fenster ins Wohnzimmer und erhellt einen Teil des Dreiersofas, das gegenüber vom Sessel auf der anderen Seite des niedrigen Tisches steht. Der einst dunkelgraue Stoff ist schon ziemlich ausgeblichen, genau wie der des kürzeren Sofas, das das Bild komplett macht. Normalerweise machen meine Schwestern und ich es uns immer auf der längeren Couch bequem, während Mum mit der kürzeren vorliebnimmt, aber jetzt ist niemand außer Großtante Holly und mir hier.

Mum schlägt sich wie so häufig freitagnachmittags mit dem Papierkram ihrer Praxis herum. Willow und Sage sind direkt nach der Schule zur Oxford Street gefahren, um Willow für ihr Treffen mit Mavericks Familie ein neues Outfit zu kaufen – ich habe mich wegen angeblicher Kopfschmerzen entschuldigt. Also die perfekte Gelegenheit, um mit Großtante Holly zu reden.

Die scheint meine Anwesenheit zu bemerken und sieht mich über ihre Schulter hinweg an. »Ah, Juniper«, begrüßt sie mich mit einem Lächeln und deutet auf das Dreiersofa. »Ich habe mich schon gefragt, wann du zu mir kommen würdest.«

Ich stoße ein freudloses Lachen aus, durchquere den Raum und lasse mich auf die weichen Polster der Couch fallen. Von hier aus kann ich die Familienfotos betrachten, die die Wand hinter dem Ohrensessel zieren. Ich reiße den Blick von all den glücklichen Momenten los und konzentriere mich stattdessen auf mein Gegenüber. »So offensichtlich?«

»Tja, dein ständiges Schielen in meine Richtung war kaum zu übersehen«, sagt sie zwinkernd und nippt an ihrem Earl Grey. Ihre Stimme klingt rauchiger denn je. »Also, was liegt dir auf dem Herzen, Kindchen?«

Ich seufze. »Einiges.«

Sie brummt wissend. »Und was am meisten?«

Dass meine Schwester bald sterben wird, schießt es mir durch den Kopf. Statt den Gedanken allerdings auszusprechen, probiere ich mich an der lösungsorientierten Variante.

»Mal angenommen, ich möchte jemanden retten, dessen Zeit bald abläuft«, beginne ich und mein Mund wird mit einem Mal ganz trocken. Von einer Sekunde auf die nächste sind meine Hände eiskalt und ich frage mich, was bei allen Göttern ich hier tue. Doch jetzt kann ich die Zeit genauso wenig zurückdrehen wie Sages Lebensuhr. Die Wahrheit ist raus und ich bin mir nicht mehr sicher, ob die Tatsache, dass ich nicht verrate, wer sterben wird, das Ganze besser oder schlechter macht. Vermutlich Letzteres.

Ich mustere Großtante Holly, die keine Miene verzieht. Vielleicht hat sie sich ja bereits denken können, um was es geht. Zwar sieht sie genau wie Willow den Tod eines Menschen auf keine Art und Weise kommen, aber sie weiß, dass ich es tue. Außerdem ist sie schon immer schlauer gewesen, als sie auf den ersten Blick wirken mag.

Ich räuspere mich, um dort anzusetzen, wo ich aufgehört habe. »Und ich würde jemanden bitten wollen, mir bei meinem Vorhaben zu helfen – einen Thanatos-Sohn oder eine Ker-Tochter, vielleicht. Meinst du, jemand wäre dazu in der Lage?«

Einen Moment lang trinkt Großtante Holly nur stumm ihren Tee und betrachtet mich.

Eventuell hätte ich sie besser nicht um Rat fragen sollen. Was, wenn sie den anderen davon erzählt und ich am Ende gezwungen bin allen von Sages nahendem Tod zu berichten?

Unruhig rutsche ich auf dem Sofa hin und her und warte. In dem Augenblick, in dem meine Nervosität mit mir durchgehen will, ergreift sie endlich das Wort.

»Der Totenkuss«, wispert sie und nickt andächtig, als würde das alles erklären.

»Der was?«, wiederhole ich perplex, denn das tut es natürlich nicht. Totenkuss … davon habe ich noch nie gehört.

»Sowohl Thanatos-Söhne als auch Ker-Töchter verfügen über diese Macht«, murmelt Großtante Holly und nippt bedächtig an ihrem Tee. »Sie können damit neue Lebenszeit schenken. Sogar schon vor dem eigentlichen Tod, habe ich gehört.«

Mein Herz macht einen aufgeregten Hüpfer. Das klingt beinahe zu gut, um wahr zu sein.

»Sie können neues Leben schenken?«, raune ich. »Und die Lebenszeit der Person, die diesen Kuss bekommt, verlängern?«

»Ganz genau«, bestätigt sie. »Das ist die göttliche Kraft, die Ker-Töchter und Thanatos-Söhne erben.«

»Und spielt es dabei eine Rolle, was für einen Tod die Person normalerweise sterben würde – einen grausamen oder einen sanften?«, hake ich nach. Allein bei der Frage bekomme ich eine Gänsehaut.

Großtante Holly wiegt den Kopf hin und her. »Das tut nichts zur Sache. Neue Lebenszeit ist neue Lebenszeit, unabhängig davon, durch was das vorherige Leben beendet werden würde und durch welches Todeskind sie geschenkt wird.«

»Also kann ich entweder einen Thanatos-Sohn oder eine Ker-Tochter bitten, der Person, der ich helfen möchte, den Totenkuss zu geben. Ohne zu wissen, was die Ursache des eigentlichen Todes wäre«, schlussfolgere ich.

Fast erwarte ich, dass Großtante Holly mir spätestens jetzt einen Strich durch die Rechnung macht. Was sie allerdings nicht tut. Sie schlürft nur an ihrem Tee und nickt dann langsam.

»Hast du eine Idee, wo ich einen von ihnen finden könnte? Einen Thanatos-Sohn oder eine Ker-Tochter?«

Sie überlegt einen Moment lang, ehe sie den Kopf neigt. »Wir werden von dem angezogen, was in unserem Blut liegt.«

Unweigerlich frage ich mich, was in meinem Blut liegt. Aktuell auf jeden Fall das dringende Bedürfnis, meine Schwester zu retten, doch im Normalfall? Keine Ahnung.

Ich verdränge den Gedanken mit einem leichten Kopfschütteln, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. »Und was liegt im Blut von Todeskindern?«, frage ich eher an mich selbst gewandt und muss den Schauer unterdrücken, der sich über meinen Rücken kämpfen will, als ich Großtante Hollys Begriff für die Nachfahren wiederhole. Todeskinder – wie gruselig. Kurz beiße ich mir auf die Unterlippe. »Sag jetzt bitte nicht der Tod.«

Die Art und Weise, wie Großtante Holly die Brauen hebt, ist Antwort genug.

»Na klasse«, murmele ich und denke an die all die Orte, auf denen der Tod wie eine Decke zu liegen scheint – und denen ich genau aus diesem Grund am liebsten nicht zu nah komme, solange sie sich irgendwie meiden lassen. Bestattungsinstitute und Friedhöfe, zum Beispiel. O Götter.

»An deiner Stelle würde ich es bei den Magnificent Seven versuchen«, rät Großtante Holly mir und lächelt beruhigend, als würde sie genau wissen, welche Horrorszenarien sich da gerade in meinem Kopf abspielen.

Ich nicke langsam. Was göttliche Dinge angeht, hat Großtante Holly meist einen guten Riecher. Die Magnificent Seven sind die sieben großen Friedhöfe Londons, die im neunzehnten Jahrhundert errichtet wurden und heute zahlreiche Touristen anlocken. Ich habe nie verstanden, warum man freiwillig über Friedhöfe spazieren sollte. Tja, sieht so aus, als würde ich ganz bald selbst zu den Leuten gehören, die genau das tun. So schnell wendet sich das Blatt.

»Du schaffst das schon«, bestärkt mich Großtante Holly.

»Das muss ich wohl.«

»Ich würde ja die vernünftige Großtante mimen und dir das verbieten, was auch immer du vorhast, aber ich denke, du würdest sowieso nicht auf mich hören.«

»Also?«

»Also bitte ich dich nur vorsichtig zu sein.« Ein Grinsen zuckt um ihre Mundwinkel, das jedoch schnell wieder verschwindet und einem Ausdruck von Sorge Platz macht.

»Das bin ich«, verspreche ich.

»Und sag Bescheid, wenn ich dir irgendwie helfen kann.«

Nickend stehe ich auf. »Danke, Großtante Holly. Das bleibt doch unter uns, oder?«

»Natürlich.«

»Danke«, wiederhole ich lächelnd und trete von einem Fuß auf den anderen. »Dann mache ich mich mal besser auf den Weg.«

Nickend nippt sie an ihrem Tee. »Ich denke, du hast keine Zeit zu verlieren.«

Ich gehe hinüber zur Wohnzimmertür und trete gerade in den Flur, als sie mich aufhält. »Juniper? Eins noch.«

Über meine Schulter hinweg schaue ich fragend zurück zum Ohrensessel.

Jetzt beugt sie sich mit ihrem Oberkörper zu mir herum. »Falls du in Erwägung ziehen solltest, so etwas für mich zu tun: Lass es bleiben«, bittet sie und lächelt sanft. »Das ist die Mühe nicht wert.«

Ich nicke, bringe jedoch kein Wort über meine Lippen.

Das scheint ihr Bestätigung genug zu sein. Ohne etwas zu sagen, wendet sie sich wieder von mir ab und schaut aus dem Fenster.

Einen Moment lang bleibe ich unentschlossen im Flur stehen, ehe ich mir einen Ruck gebe und in mein Zimmer laufe. Ich schnappe mir meine Jacke vom Standspiegel neben meinem Kleiderschrank und schiebe mein Handy in die Jackentasche. Anschließend greife ich meinen Rucksack samt Kopfhörern und verlasse mein Zimmer. In der Küche nehme ich mir sicherheitshalber eine Flasche Cola und eine Packung Cracker, die ich in den Rucksack stopfe, ehe ich ihn schultere.

»Bis später!«, rufe ich, als ich am Wohnzimmer vorbeikomme.

Großtante Holly dreht sich in ihrem Sessel um und wirft mir ein Lächeln zu. »Viel Erfolg. Sei vorsichtig.«

»Danke. Bin ich«, erwidere ich, wobei ich mich bemühe meiner Stimme trotz meines aufgeregt hämmernden Herzens einen ruhigen Klang zu verleihen. Dann verlasse ich die Wohnung, ehe sie es sich doch noch anders überlegen und mich aufhalten kann.

Während ich die Stufen des Treppenhauses hinuntersteige, stecke ich mir die Kopfhörer in die Ohren und verbinde sie mit meinem Handy. Wenig später dringt die melodisch-tiefe Stimme des Sängers meiner Lieblingsrockband an meine Ohren.

Einen Thanatos-Sohn oder eine Ker-Tochter also. Obwohl ich nach wie vor keinen festen Plan habe, habe ich jetzt wenigstens ein Ziel vor Augen: Einen Nachkommen des Todes finden und ihn bitten Sage den Totenkuss zu geben und so ihr Leben zu verlängern.

An diesem Gedanken halte ich mich fest, als ich die Haustür aufstoße und mich auf den Weg zum nächsten U-Bahnhof mache. Unterwegs hole ich mein Handy hervor und scrolle über die Stadtkarte. Sieben Friedhöfe. Irgendwie muss ich es schaffen, mich zu beeilen und dennoch genug Zeit auf jedem zu verbringen, um überhaupt auf ein Todeskind stoßen zu können. Ein Hoch auf das göttliche Vibrieren, das mir zumindest das Erkennen der Nachfahren erleichtern sollte.

Trotzdem habe ich keine Zeit zu verlieren. Wenn ich es geschickt anstelle, schaffe ich heute zwei Friedhöfe, bevor es dunkel wird. Vermutlich sollte ich zum Abendessen wieder zu Hause sein, um keinen Verdacht zu erregen.

Mit einem unterdrückten Seufzen steige ich die Treppen zur U-Bahn hinab und nehme die nächste, die mich zu meinem ersten Halt führen wird. Kensal Green Cemetery, dem ältesten der sieben Friedhöfe.

Als die Bahn wenig später an der richtigen Station ankommt, kämpfe ich mich zusammen mit einigen anderen zurück an die Londoner Oberfläche. Ich wende mich nach rechts und setze mich in Bewegung. Der Eingang des Friedhofs liegt nicht weit vom U-Bahnhof entfernt, weshalb ich schneller an meinem Ziel ankomme, als dem feigen Teil in mir lieb ist. Ich beiße die Zähne zusammen und hole tief Luft. Na, dann mal los.

Sobald ich den Kensal Green Cemetery betrete, bin ich von Grabsteinen umgeben. Einige der Gräber sind mit aufwendigen Gestecken und hübschen Blumen verziert, andere liegen schlicht und verlassen da, als hätte sich seit Jahrzehnten niemand mehr um sie gekümmert. Mich überläuft ein Schauer, während ich plötzlich wieder Großtante Hollys Stimme im Ohr habe.

Wir werden von dem angezogen, was in unserem Blut liegt.

Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand gerne hier ist. Aber na ja – andere Göttliche, andere Sitten oder so.

Mit einem unterdrückten Schnauben zwinge ich mich einen Fuß vor den anderen zu setzen. Vorbei an weiteren Grabsteinen, an dekorativen Statuen, aufwendig gestalteten Grabmälern und prunkvollen Mausoleen. Sobald ich andere Besucher erspähe, versuche ich in ihre Nähe zu kommen. Nicht so nah, dass mich jemand für eine Taschendiebin halten könnte, jedoch dicht genug, um gegebenenfalls das überirdische Vibrieren in der Luft spüren zu können, sollte es sich um einen Göttlichen handeln.

Aber mein göttliches Sonar schlägt nicht aus. Kein Nachfahre weit und breit. Nicht, während ich über die unzähligen Wege laufe, und auch nicht, als ich für eine Weile auf einer Bank sitze in der Hoffnung, meine Zielperson könnte zufällig an mir vorbeischlendern.

Seufzend setze ich mich irgendwann wieder in Bewegung und lasse die Bank hinter mir. Ein Stück entfernt hat sich eine Gruppe an einem Ort versammelt, der wie das Grab irgendeines Prominenten aussieht, und murmelt aufgeregt. So viel also zur letzten Ruhestätte.

Um keine Chance ungenutzt zu lassen, nähere ich mich der Menschentraube so weit, dass ich das erstickte Wimmern von einem der Fans hören kann, als der sich hinunterbeugt und einen Strauß Blumen auf das Grab legt. Vergeblich – kein Vibrieren in der Luft. Gar nichts.

Okay, nächster Versuch.

VIER

Das Eichhörnchen, das sich gerade eine Nuss aus meiner Hand nimmt, hebt erschrocken den Kopf und zuckt mit den Ohren, als ich ein tiefes Seufzen ausstoße. Einen Moment lang sieht es mich an, dann verzieht es sich mitsamt der Nuss hastig wieder zu seinen Artgenossen. Ich schaue ihm hinterher, ehe ich meinen Blick ziellos über den Highgate Cemetery gleiten lasse. Inzwischen treibt sich niemand außer mir mehr hier herum. Kein Wunder – schließlich neigt sich der Tag langsam dem Ende zu und die dunkelgrauen Wolken, die sich vor den heute ohnehin schon finsteren Himmel geschoben haben, versprechen nicht das beste Wetter.

Ich lehne mich zurück und versuche zu verarbeiten, dass meine Schwester sterben wird und ich auf den größten sieben Friedhöfen der Stadt niemanden gefunden habe, der ihr helfen kann. Und das, obwohl ich ziemlich ausführlich gesucht und nicht nur den ganzen Freitagnachmittag, sondern auch den kompletten Samstag auf Friedhöfen verbracht habe. Na gut, fast den gesamten Samstag. Heute Morgen hat Sage mich gefragt, ob wir zusammen Hausaufgaben machen wollen, und um mich ihr gegenüber wenigstens ansatzweise normal zu verhalten, habe ich murrend zugestimmt. Aus diesem Grund konnte ich erst viel später aufbrechen als geplant, unter dem Vorwand, mal ein wenig Zeit für mich zu brauchen.

Die hatte ich jetzt eindeutig genug. Deshalb hieve ich mich mit einem Seufzen von der Bank hoch, auf der ich die letzten zwanzig Minuten verbracht habe. Ich werfe die Verpackung des Sandwiches, das ich gegessen habe, in den Mülleimer neben der Bank und schultere meinen Rucksack. Dann mache ich mich auf den Weg Richtung Ausgang des Highgate Cemetery.

Links und rechts von mir ragen Eschen in die Höhe. Der Herbst hat ihren Baumkronen den ersten Anflug von Gold und Rot verpasst. Für einen Moment habe ich das Gefühl, im Gemälde irgendeines impressionistischen Malers gelandet zu sein. Mit meiner Kunstlederjacke und den Kopfhörern wäre ich da allerdings ziemlich fehl am Platz – und soweit ich weiß, schaut auf solchen Gemälden in der Regel niemand so grimmig drein wie ich jetzt.

Warum auch immer Großtante Holly auf den Gedanken gekommen ist, auf Friedhöfen nach Todeskindern zu suchen wäre eine gute Idee – es war die reinste Zeitverschwendung. Und ich werde einen Teufel tun und als Nächstes die Bestattungsinstitute der Stadt abklappern. Das ist eh von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Als ich wieder auf Londons Straßen trete, fasse ich den Entschluss, zu einem Orakel zu gehen. Nicht um zu fragen, wie ich Sage retten kann – dafür habe ich ja längst einen Plan –, sondern um zu erfahren, wo ich einen Thanatos-Sohn oder eine Ker-Tochter finde. Vielleicht werde ich ein, zwei Nächte brauchen, um die vagen Aussagen des Orakels zu entwirren, aber ich hoffe, das ist es wert.