Über den Bergen wohnt das Glück. Geschichten und Gedichte von Gipfeln und Tälern - Jan Strümpel - E-Book

Über den Bergen wohnt das Glück. Geschichten und Gedichte von Gipfeln und Tälern E-Book

Jan Strümpel

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Beschreibung

Berge sind Orte der Sehnsucht wie des Abenteuers. Seit die Menschen im Bann ihrer Gipfel stehen, dienen sie ihnen als Seelenspiegel und Erlebnisraum. Dieses Buch führt hoch hinauf in die Alpen und auf den Brocken, ins Riesengebirge und weit in die Welt zu Parnass, Pyrenäen und Popocatepetl. Mit authentischen, poetischen und heiteren Texten von Petrarca, Johann Wolfgang von Goethe, Heinrich Heine, Annette von Droste-Hülshoff, Karoline von Günderrode, Johanna Spyri, Mark Twain, Alphonse Daudet, Kurt Tucholsky, Urs Widmer und vielen anderen.

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Seitenzahl: 212

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Über den Bergen wohnt das Glück

Geschichten und Gedichte von Gipfeln und Tälern

Ausgewählt von Jan Strümpel

Anaconda

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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© 2023 by Anaconda Verlag, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagmotiv: shutterstock.com / Very_Very

Umschlaggestaltung: www.katjaholst.de

Satz und Layout: Achim Münster, Overath

ISBN 978-3-641-29255-3V001

www.anacondaverlag.de

Inhalt

Vorwort

Carl Busse– Über den Bergen

Wilhelm Blumenhagen– Auf den Bergen wohnt die Freiheit

Joseph Victor von Scheffel– Ausfahrt

Paula Dehmel– Spruch fürs Leben

Francesco Petrarca– Die Besteigung des Mont Ventoux

Johann Wolfgang Goethe– Am Fuß des Montblanc

Barthold Heinrich Brockes– Die Berge

Albrecht von Haller– Die Alpen

Karoline von Günderrode– Der Kaukasus

Annette von Droste-Hülshoff– Der Säntis

Rudolf Baumbach– Dir, mächt’ger Triglav

Wilhelm Waiblinger– Vesuv

Franz Grillparzer– Aus den Reisetagebüchern auf der Reise nach Italien (1819)

Ludwig Bechstein– Zwei Geschichten aus dem Deutschen Sagenbuch

Die übergossene Alm

König Watzmann

Heinrich Heine– Die Harzreise

George Sand– Ein Winter auf Mallorca

Adalbert Stifter– Bergkristall

Conrad Ferdinand Meyer– Das weiße Spitzchen

Conrad Ferdinand Meyer– Die Felswand

Ludwig Uhland– Des Knaben Berglied

Feodor Löwe– Auf dem Gipfel eines Berges

Karl Rudolf Hagenbach– Nach den Bergen

Anastasius Grün– Der treue Gefährte

Nikolaus Lenau– Die Sennin

Friedrich Theodor Vischer– Im Hochgebirg

Justinus Kerner– Alphorn

Karl Stieler– Bergfrühling

Josefine von Knorr– Der Alpensee

Adolf Pichler– Ararat

Maria Janitschek– Am Gipfel

Elisabeth (›Sisi‹) von Österreich– Gosaumühle

Alphonse Daudet– Tartarin in den Alpen

Mark Twain– Besteigung der Rigi-Kulm

Johanna Spyri– Heidis Lehr- und Wanderjahre

Friedrich Nietzsche– Menschliches, Allzumenschliches

Max Dauthendey– Das Parnassgebirge

Wilhelm Busch– Ferne Berge seh ich glühen!

Carl Spitzweg– Berg und Tal

Ferdinand Avenarius– Am Gletscher

Richard Dehmel– Ein Bergführer

Volkslied aus Kärnten– In die Berg bin i gern

Ludwig Fulda– Über den Brenner

Peter Altenberg– Dolomiten

Theodor Wundt– Ich und die Berge

Harry Graf Kessler– Besteigung des Popocatepetl, 14./15. November 1896

Oskar Loerke– Riesengebirgsreise 1909

Stefan Zweig– Herbstwinter in Meran

Ricarda Huch– Auf Bergeshöhe

Ada Christen– Auf den Bergen

Georg Trakl– Das Gewitter

Erich Mühsam– Ich will alleine über die Berge gehn

Alfred Mombert– Hier ist ein Gipfel, um drauf einzuschlafen

Christian Morgenstern– Einem Berge

Christian Morgenstern– Abend im Gebirge

Klabund– Davos

Alfred Lichtenstein– Landschaft in der Frühe

Joachim Ringelnatz– Ausflug nach Tirol

Ödön von Horváth– Drei Sportmärchen

Der große und der kleine Berg

Begegnung in der Wand

Die Beratung

Hugo Marti– Davoser Stundenbuch

Kurt Tucholsky– Ein Pyrenäenbuch

Ror Wolf– ruhe ruhe

Urs Widmer– Am Gotthard. Im Gotthard

Register

Copyright

Vorwort

In der Literatur erheben sich viele Berge, und zwar im Allgemeinen und im Besonderen. Mit Bergen im Allgemeinen verbindet sich oft eine Idee. In ihnen wohnt dann das Glück oder die Freiheit oder irgendein Ideal oder auch ein von der Zivilisation vermeintlich unverdorbener Menschenschlag. Darüber können selbst Dichter schreiben, die nie ein anständiges Gebirge zu Gesicht und unter ihre Füße bekommen haben. Und dann gibt es die Berge im Besonderen, die geografisch zu verorten sind. Sie dienen als Schauplatz für eine Geschichte, außerdem man kann sie bewandern oder besteigen, um hinterher von dieser Erfahrung zu berichten.

In diesem Auswahlband geht es hoch hinaus, wobei das je nach Intention und Kondition ganz Verschiedenes meinen kann, Montblanc genauso wie Brocken. Das Buch führt keineswegs nur in die Alpen und auf die höchsten Gipfel der Welt, sondern überall dorthin, wo Berge samt ihren Tälern einen Sehnsuchtsort, eine schöne Kulisse, eine sportliche Herausforderung oder ein persönliches Schicksal bilden. Bergsteiger wissen davon zu schreiben, diese Leute, die Gipfel »bezwingen«, möglichst als erster, und wenn das nicht mehr geht, dann auf einer speziellen neuen Route. Diese Art von Bergliteratur, die von Barth über Messner bis Whymper viele Regalmeter füllt, wurde hier ebenso am Wegesrand liegen gelassen wie das Feld wissenschaftlicher Forschungsreisen.

Die Texte dieser Anthologie sind vielmehr aus der Hand von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Sie sind auf Reisen gegangen oder entstammen selbst den Bergen. Ihnen geht es nicht darum, ihr physisches Limit auszureizen, sie haben meist keine Eile, lassen sich manchmal gern auf Tierrücken hinauftragen und genießen die herrliche Aussicht, die sich ihnen ganz oben bietet. Sie sind, kurz gesagt, voller Neugierde auf die Welt in ihrer gewellten, hoch aufgetürmten oder zerklüfteten Form.

So vielfältig sich Berge und Täler darstellen, so abwechslungsreich ist der literarische Zugriff in den hier versammelten Gedichten, Berichten und Geschichten: von hochkomisch bis tiefernst und von vornehm kultiviert bis inniglich ergriffen. Auszüge aus längeren Dichtungen und Erzählwerken werden bei Bedarf zum besseren Verständnis kurz verortet. Die Texte entstammen mehreren Jahrhunderten, sind immer auch ein Spiegel ihrer Zeit und damit Ausdruck dessen, was die Menschen, die über die Berge schrieben, in ihnen sahen.

Nun aber los, der Berg ruft.

Carl Busse

Über den Bergen

Über den Bergen, weit zu wandern,

Sagen die Leute, wohnt das Glück,

Ach und ich ging im Schwarme der andern,

Kam mit verweinten Augen zurück.

Über den Bergen, weit, weit drüben,

Sagen die Leute, wohnt das Glück …

Wilhelm Blumenhagen

Auf den Bergen wohnt die Freiheit

Auf den Bergen wohnt die Freiheit;

Auf den Bergen thront das Licht!

Menschenbrust wird leichter droben,

Was sie drückte, fühlt sie nicht.

Hin drum zu den blauen Höhen,

Wo die frischen Lüfte wehen;

Fern die Erdmisere da

Und der Sternenhimmel nah! –

Joseph Victor von Scheffel

Ausfahrt

Berggipfel erglühen,

Waldwipfel erblühen

Vom Lenzhauch geschwellt;

Zugvogel mit Singen

Erhebt seine Schwingen,

Ich fahr’ in die Welt.

Mir ist zum Geleite

In lichtgoldnem Kleide

Frau Sonne bestellt;

Sie wirft meinen Schatten

Auf blumige Matten,

Ich fahr’ in die Welt.

Mein Hutschmuck die Rose,

Mein Lager im Moose,

Der Himmel mein Zelt:

Mag lauern und trauern,

Wer will, hinter Mauern,

Ich fahr’ in die Welt!

Paula Dehmel

Spruch fürs Leben

Hinüber, hinein!

über Wipfel und Stein!

die Herzen zu baden

im Goldsonnenschein!

Auf schwierigen Pfaden

zu lichten Gnaden!

über Wipfel und Stein,

hinunter, hinein!

Francesco Petrarca

Die Besteigung des Mont Ventoux

In einem Brief an seinen Freund, den Mönch Dionigi da Borgo San Sepolcro, hält der Dichter Petrarca seine Eindrücke von der Besteigung des französischen Berges fest. Dieses Dokument, ­datiert auf den 26. April 1336, gilt weithin als die allererste ­Schilderung »zweckfreien« Bergwanderns um des Erlebnisses willen.

Den höchsten Berg unserer Gegend, der nicht unverdienterweise der windige genannt wird, habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennenzulernen.

Jener Berg, weit und breit sichtbar, stund mir fast allzeit vor Augen, allmählich ward mein Verlangen ungestüm, und ich schritt zur Ausführung, insbesondere nachdem ich tags vorher bei Lesung der römischen Geschichte im Livius auf jene Stelle gestoßen war, wo Philipp, der König von Makedonien, den Berg Hämus in Thessalien besteigt, von dessen Gipfel zwei Meere, das Adriatische und der Pontus Euxinus, sichtbar sein sollen: Ob dies nun richtig oder unrichtig ist, hab’ ich nicht in Erfahrung gebracht.

Da ich mir aber die Wahl eines Reisegefährten überlegte, schien kaum irgendeiner meiner Freunde allseitig passend dafür. Kurz und gut, endlich warb ich häusliche Hilfstruppen und eröffnete meinem jüngeren Bruder die Sache. Dem konnte nichts fröhlicher kommen; er wünschte sich Glück, zugleich Bruders und Freundes Stelle bei mir einzunehmen.

Am bestimmten Tag zogen wir von Hause ab und kamen gegen Abend nach Malaucène. Dieser Ort liegt an den Abhängen des Berges gegen Norden; dort verweilten wir einen Tag, und heute endlich bestiegen wir mit etlichen dienenden Leuten den Berg, nicht ohne große Schwierigkeit, denn er ist eine steile und kaum zugängliche Masse felsigen Terrains. Der Tag war lang, die Luft mild, die Gemüter waren entschlossen, die Körper stark und geübt im Marschieren; nur die Natur des Ortes schuf uns Hindernisse.

In den Schluchten des Gebirgs trafen wir einen alten Hirten, der versuchte mit vielen Worten, uns von der Besteigung abzubringen, und sagte, er sei vor schier fünfzig Jahren in demselben Drang jugendlichen Feuers auf die höchste Höhe emporgestiegen, habe aber nichts mit zurückgebracht als Reue und Mühsal, Leib und Gewand zerrissen von Steinen und Gedörn, und es sei niemals, weder vorher noch nachher, gehört worden, dass einer Ähnliches gewagt. Während er aber also plauderte, wuchs bei uns – wie ja der Jugend Sinn stets ungläubig ist für Warnungen – aus der Schwierigkeit das Verlangen.

Beim Hirten ließen wir zurück, was uns an Gewändern und Gerät lästig war, gürteten und schürzten uns nun lediglich für die Bergbesteigung und stiegen wohlgemut und hitzig empor. Aber – wie es zu gehen pflegt – auf mächtige Anstrengung folgt plötzliche Ermüdung. Wir machten also nicht weit von da auf einem Felsen halt; von dort rückten wir wiederum vorwärts, aber langsamer, und ich insbesondere fing schon an, den Gebirgspfad mit bescheidenerem Schritt zu beschreiten. Mein Bruder strebte auf einem abschüssigen Pfad mitten über die Joche des Berges zur Höhe empor; ich, als weicherer Steiger, wandte mich mehr den Schluchten zu. Da er mir nun zurief und den Weg richtiger bezeichnete, erwiderte ich ihm, ich hoffe, von der anderen Seite leichter emporzukommen, und scheue mich nicht vor dem Umweg, wenn er mich ebener führe. Dieser Vorwand sollte die Entschuldigung meiner Trägheit sein; aber während die andern schon hoch auf der Höhe stunden, irrte ich noch durch die Täler, ohne dass irgendwo ein sanfterer Aufweg sich auftat; nur mein Weg ward verlängert und die unnötige Arbeit erschwert. Indessen, da ich missmutig mich meines Irrtums ärgerte, beschloss ich, geradewegs die Höhe zu erstreben, erreichte auch wirklich müd und mit zitternden Knien meinen Bruder, der sich mit langem Ausruhen erquickt hatte.

Kurz, nicht ohne Lachen meines Bruders stieß mir solches während weniger Stunden drei oder mehr Mal zu. Solcherweise oft getäuscht, machte ich in einem Tale halt.

Den obersten der Gipfel heißen die Leute im Gebirg »das Söhnlein«, warum, weiß ich nicht, vielleicht des Gegensatzes halber, denn er schaut in Wahrheit eher wie der Vater aller benachbarten Berge aus. Auf seinem Scheitel streckt sich eine kleine Ebene, dort hielten wir ermüdet Rast.

Zuerst von ungewohntem Zug der Luft und dem freien Schauspiel ergriffen, stand ich wie ein Staunender – ich schaue zurück: da lagerten die Wolken zu meinen Füßen. Schon erschien mir minder fabelhaft der Athos und Olympus, da ich das, was ich von jenen gehört und gelesen hatte, an einem minder berühmten Berge erschaue.

Hernach wende ich den Blick nach der italienischen Seite, wohin sich ja am meisten die Seele neigt: starr und schneebedeckt und ganz in meiner Nähe erschienen mir die Alpen, durch welche einst jener wildeste Feind des römischen Namens sich einen Durchgang bahnte und, wenn der Sage zu glauben, mit Essig die Felsen sprengte – und doch sind sie ein Beträchtliches von hier entfernt. Ich seufzte, ich gestehe es, nach Italiens Himmel, der mehr meiner Seele als meinen Augen erschien, und eine unsägliche Sehnsucht, Freunde und Vaterland wiederzusehen, befiel mich – eine Sehnsucht, die ich eigentlich eine unmännliche Weichheit schelten sollte, aber auf großer Männer Zeugnis zur Entschuldigung stützen kann.

… Also beweinte ich meine Unvollkommenheit, bemitleidete die allgemeine Wandelbarkeit menschlicher Handlungen und hatte schier vergessen, warum ich heraufgekommen, bis ich einsah, dass noch andere Orte passender seien, sich mit Sorgen zu plagen, und bis ich das betrachtete, dessen Anblick zulieb ich heraufgestiegen. Denn schon war es Zeit, zurückzukehren, die Sonne neigte sich, der Schatten des Berges wuchs mächtig und gemahnte mich gleichsam, aufzuwachen. Da wandte ich mich rückwärts und schaute nach Westen.

Jener Grenzwall zwischen Frankreich und Spanien, die Gipfel der Pyrenäen, werden von dort aus nicht gesehen – nicht als ob ein fremder Gegenstand dazwischenstünde, sondern nur wegen der Unzulänglichkeit des menschlichen Auges. Zur Rechten aber waren die Berge der lyonischen Provinz, zur Linken der Meerbusen und die etliche Tagereisen entfernten Gewässer von Aigues-Mortes aufs Deutlichste sichtbar; die Rhone selbst strömte vor unsern Augen.

Wie ich nun dies im Einzelnen bewunderte und bald mich nach irdischen Dingen erkundigte, bald nach Vorbild des Leibes auch den Geist in höhere Sphären versetzen wollte, kam mir zu Sinn, das Buch der Bekenntnisse des Augustinus aufzuschlagen, um zu lesen, was mir entgegentreten würde.

Mein Bruder, erwartungsvoll, etwas von Augustinus zu vernehmen, stund mit gespannter Aufmerksamkeit – ich rufe Gott an und ihn selber, der bei mir war –, wie ich die Augen auf das Blatt senkte, stund geschrieben: Da gehen die Menschen, die Höhen der Berge zu bewundern und die Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis und der Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber.

Ich gestehe, dass ich sehr betroffen war, meinen etwas zu hören begierigen Bruder bittend, mir nicht beschwerlich zu fallen, schloss ich das Buch, ich zürnte mir selber, dass ich auch jetzt noch irdische Dinge bewundert hatte, die ich längst schon selbst von den Philosophen der Heiden lernen gekonnt, dass nichts wunderbar als der Geist und dass, wenn dieser groß, nichts anderes mehr groß erscheint. Dann aber, sattsam zufrieden, den Berg gesehen zu haben, wandte ich den inneren Blick in mich selber zurück.

Wie oft hab’ ich an jenem Tage talabwärts steigend und rückwärts gewendet den Gipfel des Berges betrachtet, aber seine Höhe schien mir kaum mehr die Höhe einer Stube, verglichen mit der Höhe menschlicher Kontemplation, wenn dieselbe nicht in den Schmutz irdischer Niedrigkeit getaucht ist.

Das auch fiel mir bei jedem Schritt ein: Wenn es uns nicht verdrießt, so viel Schweiß und Mühsal zu ertragen, um den Körper dem Himmel ein weniges näher zu bringen: welches Kreuz, welcher Stachel darf eine Seele schrecken, die sich Gott nähern will …!

… Unter solchen Erregungen des Herzens kam ich ohne ein Gefühl des steinigen Fußpfades wieder bei jener gastlichen Hütte des Hirten an; vor Tagesanbruch waren wir von dort aufgebrochen, in tiefer Nacht kehrten wir zurück, der Mond spendete uns seinen dankenswerten Schein auf den Marsch. Dieweil nun unsre Diener mit Herbeischaffung der Abendmahlzeit beschäftigt sind, habe ich mich in einen abgelegenen Teil des kleinen Hauses begeben, dieses eiligst und aus frischem Gedächtnis zu schreiben, damit nicht, wenn ich’s verschiebe, durch Änderung des Ortes auch die Gedanken ein ander Gewand erhalten und der Eindruck sich abschwäche.

Johann Wolfgang Goethe

Am Fuß des Montblanc

Von September 1779 bis Januar 1780 bereist Goethe die Schweiz und ihre Bergwelt samt Abstechern über die Landesgrenze. Seine Erlebnisse und Eindrücke schildert er in zahlreichen Briefen an seine enge Freundin Charlotte von Stein in Weimar.

[Chamonix,] den 5ten Nov. [1779] abends

Es ist immer eine Resolution als wie wenn man ins kalte Wasser soll, ehe ich die Feder nehmen mag, zu schreiben. Hier hätt’ ich nun gerade Lust, Sie auf die Beschreibung der Savoyischen Eisgebirge, die Bourit, ein passionierter Kletterer, herausgegeben hat, zu verweisen.

Erfrischt durch einige Gläser guten Wein und den Gedanken, dass diese Blätter eher als die Reisenden und Bourits Buch bei Ihnen ankommen werden, will ich mein Möglichstes tun. Das Tal Chamonix, in dem wir uns befinden, liegt sehr hoch in den Gebirgen, es ist etwa sechs bis sieben Stunden lang und geht ziemlich von Mittag gegen Mitternacht; der Charakter, der mir es vor andern auszeichnet, ist, dass es in seiner Mitte fast gar keine Fläche hat, sondern das Erdreich wie eine Mulde sich gleich von der Arve aus gegen die höchsten Gebirge anschmiegt. Der Montblanc und die Gebirge, die von ihm herabsteigen, die Eismassen, die diese ungeheuren Klüfte ausfüllen, machen die östliche Wand aus, an der die ganze Länge des Tals hin sieben Gletscher, einer größer als der andere, herunterkommen. Unsere Führer, die wir gedingt hatten, das Eismeer zu sehen, kamen beizeiten. Der eine ist ein rüstiger junger Bursche, der andere schon älter und sich klug dünkender, der mit allen gelehrten Fremden Verkehr gehabt hat, von der Beschaffenheit der Eisberge sehr wohl unterrichtet und ein sehr tüchtiger Mann ist. Er versicherte uns, dass seit achtundzwanzig Jahren, so lang führ’ er Fremde auf die Gebirge, er zum ersten Mal so spät im Jahr, nach Allerheiligen, jemand hinaufbringe, und doch versicherte er, dass wir alles ebenso gut wie im August sehen sollten. Wir stiegen, mit Speise und Wein gerüstet, den Montanvert hinan, wo uns der Anblick des Eismeers überraschen sollte. Ich würde es, um die Backen nicht so voll zu nehmen, eigentlich das Eistal oder den Eisstrom nennen. Denn die ungeheuren Massen von Eis dringen aus einem tiefen Tal, von oben anzusehn, in ziemlicher Ebene hervor. Grad hinten endigt ein spitzer Berg, wo von beiden Seiten Eisflüsse sich in den Hauptstrom ergießen. Es lag noch nicht der mindeste Schnee auf der zackigen Fläche, und die blauen Spalten glänzten gar schön hervor. Das Wetter fing nach und nach an sich zu überziehen, und ich sah wogige, graue Wolken, die Schnee anzudeuten schienen, wie ich sie niemals gesehn. In der Gegend, wo wir stunden, ist die kleine, von Steinen zusammengelegte Hütte für das Bedürfnis der Reisenden, zum Scherz das Schloss von Montanvert genannt. Monsieur Blaire, ein Engländer, der sich zu Genf aufhält, hat eine geräumigere an einem schicklicheren Ort, etwas weiter hinauf, erbauen lassen, wo man, am Feuer sitzend, zu einem Fenster hinaus das ganze Eistal übersehen kann. Die Gipfel der Felsen gegenüber und auch in die Tiefe des Tals hin sind sehr spitzig ausgezackt, es kommt daher, weil sie aus einer Gesteinsart zusammengesetzt sind, deren Schichten fast ganz perpendikular in die Erde einschießen; wittert eine leichter aus, so bleibt die andere spitz in die Luft stehen, solche Zacken werden Nadeln genannt, und die Aiguille du Dru ist eine solche hohe merkwürdige Spitze, gerade dem Montanvert gegenüber. Wir wollten nunmehr auch das Eismeer betreten und diese ungeheuren Massen auf sich selbst beschauen. Wir stiegen den Berg hinunter und machten einige hundert Schritte auf den wogigen Kristallklippen herum. Es ist ein ganz trefflicher Anblick, wenn man, auf dem Eise selbst stehend, den oberwärts sich herabdrängenden und durch seltsame Spalten geschiedenen Massen entgegensieht, doch wollt’ es uns nicht länger auf diesem schlüpfrigen Boden gefallen, wir waren weder mit Fußeisen noch mit beschlagenen Schuhen gerüstet, vielmehr waren unsere Absätze durch den langen Marsch abgerundet und geglättet, wir machten uns also wieder zu den Hütten hinauf und nach einigem Ausruhen zur Abreise fertig. Wir stiegen den Berg hinab und kamen an den Ort, wo der Eisstrom stufenweis bis hinunter ins Tal dringt, und traten in die Höhle, in der er sein Wasser ausgießt. Sie ist weit, tief, von dem schönsten Blau, und es steht sich sicherer im Grund als vorn an der Mündung, weil an ihr sich immer große Stücke Eis schmelzend ablösen. Wir nahmen unsern Weg nach dem Wirtshause zu, bei der Wohnung zweier Blondins vorbei: Kinder von zwölf bis vierzehn Jahren, die sehr weiße Haut, weiße, doch schroffe Haare, rote und bewegliche Augen wie die Kaninchen haben.

Die tiefe Nacht, die im Tale liegt, lädt mich zeitig zu Bette, und ich habe kaum noch so viel Munterkeit, Ihnen zu sagen, dass wir einen jungen zahmen Steinbock gesehen haben, der sich unter den Ziegen ausnimmt wie der natürliche Sohn von einem großen Herrn, dessen Erziehung in der Stille einer bürgerlichen Familie aufgetragen ist. Von unseren Diskursen geht’s nicht an, dass ich etwas aus der Reihe mitteile, an Graniten, Gestellsteinen, Lärchen und Zirbelbäumen finden Sie auch keine große Erbauung; doch sollen Sie ehestens merkwürdige Früchte von unserm Botanisieren zu sehen kriegen. Ich bilde mir ein, sehr schlaftrunken zu sein, und kann nicht eine Zeile weiter schreiben.

Chamonix den 6. Nov. früh

Zufrieden mit dem, was uns die Jahreszeit hier zu sehen erlaubte, sind wir reisefertig, noch heute ins Wallis durchzudringen. Das ganze Tal ist über und über bis an die Hälfte der Berge mit Nebel bedeckt, wir müssen erwarten, was Sonne und Wind zu unserm Vorteil tun werden. Unser Führer schlägt uns einen Weg über den Col de Balme vor. Ein hoher Berg, der an der nördlichen Seite des Tals gegen Wallis zu liegt und auf dem wir, wenn wir glücklich sind, das Tal Chamonix mit seinen meisten Merkwürdigkeiten noch auf einmal von seiner Höhe übersehen können. Indem ich dieses schreibe, geschieht an dem Himmel eine herrliche Erscheinung: die Nebel, die sich bewegen und die sich an einigen Orten brechen, lassen wie durch Tagelöcher den blauen Himmel sehen und die Gipfel der Berge, die oben, über unserer Dunstdecke, von der Morgensonne beschienen werden. Auch ohne die Hoffnung eines schönen Tags ist dieser Anblick dem Aug’ eine rechte Weide. Erst jetzt hat man einiges Maß für die Höhe der Berge. Erst in einer ziemlichen Höhe vom Tal auf streichen die Nebel an dem Berg hin, hohe Wolken steigen von da auf, und alsdann sieht man noch über ihnen die Gipfel der Berge in der Verklärung schimmern. Es wird Zeit! Ich nehme zugleich von diesem geliebten Tal und von Ihnen Abschied.

Martinach im Wallis den 6 Nov. abends

Glücklich sind wir herübergekommen, und so wäre auch dieses Abenteuer bestanden. Die Freude über unser gutes Schicksal wird mir noch eine halbe Stunde die Feder lebendig erhalten.

Unser Gepäck auf ein Maultier geladen, zogen wir gegen neune heute früh von Prieuré aus. Die Wolken wechselten, dass die Gipfel der Berge bald erschienen, bald verschwanden, bald die Sonne streifweis ins Tal dringen konnte, bald die Gegend wieder verdeckt wurde. Wir gingen das Tal hinauf, den Ausguss des Eistals vorbei, ferner den Glacier d’Argentière hin, der höchste von allen, dessen oberster Gipfel uns aber von Wolken bedeckt war. In der Gegend wurde Rat gehalten, ob wir den Stieg über den Col de Balme unternehmen und den Weg über Valorsine verlassen wollten. Der Anschein war nicht der vorteilhafteste, doch da hier nichts zu verlieren und viel zu gewinnen stund, traten wir unsern Weg keck gegen die dunkle Nebel- und Wolkenregion an. Als wir gegen den Glacier Dutour kamen, rissen sich die Wolken auseinander, und wir sahen auch diesen schönen Gletscher in völligem Lichte. Wir setzten uns nieder, tranken eine Flasche Wein aus und aßen etwas weniges. Wir stiegen nunmehr immer den Quellen der Arve, auf raueren Matten und schlecht berasten Gegenden, entgegen und kamen dem Nebelkreis immer näher, bis er uns endlich völlig aufnahm. Wir stiegen eine Weile geduldig fort, als es auf einmal, indem wir aufschritten, wieder über unsern Häuptern helle zu werden anfing. Wenig dauerte es, so traten wir aus den Wolken heraus, sahen sie in ihrer ganzen Last unter uns auf dem Tale liegen und konnten die Berge, die es rechts und links einschließen außer dem Gipfel des Montblanc, der mit Wolken bedeckt war, sehen, deuten und mit Namen nennen. Wir sahen einige Gletscher von ihren Höhen bis zu der Wolkentiefe herabsteigen, von andern sahen wir nur die Plätze, indem uns die Eismassen durch die Bergschründe verdeckt wurden. Über die ganze Wolkenfläche sahen wir, außer dem mittägigen Ende des Tales, ferne Berge im Sonnenschein. Was soll ich Ihnen die Namen von den Gipfeln, Spitzen, Nadeln, Eis- und Schneemassen vorerzählen, die Ihnen doch kein Bild weder vom Ganzen noch vom Einzelnen in die Seele bringen, merkwürdiger ist’s, wie die Geister der Luft sich unter uns zu streiten schienen. Kaum hatten wir eine Weile gestanden und uns an der großen Aussicht ergötzt, so schien eine feindselige Gärung in dem Nebel zu entstehen, der auf einmal aufwärtsstrich und uns aufs Neue einzuwickeln drohte. Wir stiegen stärker den Berg hinan, ihm nochmals zu entgehen, allein er überflügelte uns und rollte uns ein. Wir stiegen immer frisch aufwärts, und bald kam uns ein Gegenwind vom Berge selbst zu Hilfe, der durch den Sattel, der zwei Gipfel verbindet, hereinstrich und den Nebel wieder ins Tal zurücktrieb. Dieser wundersame Streit wiederholte sich öfters, und wir langten endlich glücklich auf dem Col de Balme an. Es war ein seltsamer, eigener Anblick, der höchste Himmel über den Gipfeln der Berge war überzogen, unter uns sahen wir durch den manchmal zerrissenen Nebel ins ganze Tal Chamonix, und zwischen diesen beiden Wolkenschichten waren die Gipfel der Berge alle sichtbar. Auf der Ostseite waren wir von schroffen Gebirgen eingeschlossen, auf der Abendseite sahen wir in ungeheure Täler, wo doch auf einigen Matten sich menschliche Wohnungen zeigten. Vorwärts lag uns das Wallistal, wo man mit einem Blick bis Martinach hinein sehen konnte. Von allen Seiten von Gebirgen umschlossen, die sich weiter gegen den Horizont immer zu vermehren und aufzutürmen schienen, so standen wir auf der Grenze von Savoyen und Wallis. Einige Contrebandiers kamen mit Mauleseln den Berg herauf und erschraken vor uns, da sie an dem Platz jetzt niemand vermuteten. Sie taten einen Schuss, als ob sie sagen wollten: »damit ihr seht, dass sie geladen sind« – und es ging einer voraus, um uns zu rekognoszieren. Da er unsern Führer erkannte und unsre harmlose Figuren sah, rückten die anderen auch näher, und wir zogen mit wechselseitigen Glückwünschen voneinander vorbei. Der Wind ging scharf, und es fing ein wenig an zu schneien. Nunmehr ging es durch einen sehr rauen und wilden Stieg abwärts, durch einen alten Fichtenwald, der sich auf Platten von Gestellstein eingewurzelt hatte. Vom Wind übereinander gerissen, verfaulten hier die Stämme mit ihren Wurzeln, und die zugleich losgebrochenen Felsen lagen schroff durcheinander. Endlich kamen wir ins Tal, wo der Trientfluss aus einem Gletscher entspringt, ließen das Dörfchen Trient ganz nahe rechts liegen und folgten dem Tale durch einen ziemlich unbequemen Weg, bis wir endlich gegen sechse hier in Martinach auf flachem Wallisboden angekommen sind, wo wir uns zu weiteren Unternehmungen ausruhen wollen.

Barthold Heinrich Brockes

Die Berge