Über die Jugend und andere Krankheiten - Klaus Farin - E-Book

Über die Jugend und andere Krankheiten E-Book

Klaus Farin

4,7

Beschreibung

Der Band enthält Vorträge, Kommentare und andere Beiträge des Gründers des Archiv der Jugendkulturen zu zentralen Themen seiner Arbeit wie der Mediendarstellung von "Jugend", Rechtsextremismus, Jugend(gewalt)kriminalität, Jugendkulturen & Drogen sowie eine Einführung in die Prinzipien und praktische Arbeit des Archiv der Jugendkulturen, dessen Motto nicht zufällig lautet: "Wer sich auf die Realität einlässt, muss die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben." "Mit einer gehörigen Portion Ironie und seiner erfrischend-provozierenden Art beleuchtet der Autor Themen wie die Mobile Arbeit, Jugendforschung, Jugendkulturen, Partizipation oder Rechtsextremismus. Allen Artikeln gemeinsam sind die Kritik an der Sensationslust der Medien und der Widerspruch zum oftmals so verzerrten Bild von 'der Jugend'. Klaus Farin spart jedoch nicht an konstruktiven Lösungsvorschlägen und plädiert für einen tatsächlichen, individuellen und ehrlichen Blick hinter die Kulissen bzw. Szenen. Sätze wie 'JugendarbeiterInnen sind keine Jugendkultur' oder 'Ohne Drogen keine Jugendkulturen' bringen so manche Tatsache auf den Punkt und regen, ob entrüstet oder zustimmend, zum Nachlesen und Weiterdenken an. Ob Fachkraft, StudentIn oder 'JugendfreundIn', dieses Buch macht einfach Spaß, liefert Argumente und macht Lust auf mehr - mehr Wissen, mehr Perspektiven und vor allem mehr Publikationen solcher Art." Andrea Gaede in: Corax

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Klaus Farin:

Über die Jugend und andere Krankheiten

Essays und Reden1994 – 2008

„Wer sich auf die Realität einlässt,muss die beruhigende Eindeutigkeit aufgeben.“

Der Autor

„Wer beim Internet-Buchversender stöbert,findet mehr Angebote zu Aquarienkundeals Jugendkultur. Zum Glück schwimmtin diesem vernachlässigten Bereichein dicker Fisch: Klaus Farin.“Westdeutsche Allgemeine Zeitung

Klaus Farin, geboren 1958 in Gelsenkirchen, gab bereits im Alter von 15 Jahren seine erste Zeitschrift in seinem Gelsenkirchener Gymnasium heraus, mit 18 war er der jüngste Volkshochschuldozent Deutschlands; sein erstes Buch veröffentlichte er mit 20 Jahren, das Vorwort schrieb Günter Wallraff.

1980 siedelte Farin, vor allem wegen der lebendigen Jugendszene, nach Berlin über. Der zusammen mit Eberhard Seidel verfasste Band Krieg in den Städten wurde aufgrund seines neuartigen Ansatzes, die Jugendlichen selbst zu Wort kommen zu lassen, zu einem „modernen Klassiker“ (Ralph Giordano) der Jugendsozialforschung. Aus dieser Arbeit heraus ergab sich eine längere Beschäftigung mit dem Themenkreis „Skinheads“, dem zahlreiche Publikationen zu anderen Jugendkulturen folgten. Die Gesamtauflage seiner Bücher liegt derzeit bei über 400.000 Exemplaren.

Keineswegs ist Farins Engagement auf seine publizistischen Aktivitäten beschränkt. So initiierte er 1997 das Archiv der Jugendkulturen. Sich der Kritik stellend, trägt er seine gewonnenen Erkenntnisse dorthin, wo sie notwendig und gefragt sind: in Betriebe, Schulen, Jugendzentren, Universitäten, Buchhandlungen, Klöster und Strafanstalten. Farin lebt und arbeitet heute als Leiter des Archiv der Jugendkulturen und Lektor in Berlin, daneben ist er auf Vortragsreisen in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs.

Bis heute hat Farin 29 Bücher verfasst, war Mitarbeiter und Herausgeber mehrerer Zeitschriften, drehte Filme und produzierte Radio-Hörspiele und -Features.

Weitere Informationen: www.klaus-farin.de;www.jugendkulturen.de

Kontakt: Archiv der Jugendkulturen e. V.Fidicinstraße 3, 10965 BerlinTel.: 030/612 03 318Fax: 030/691 30 16E-Mail: [email protected]

Originalausgabe© 2008 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, BerlinAlle Rechte vorbehalten

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de

Titelfoto: Boris GeilertSatz: Conny AgelDruck: werbeproduktion bucher

ISBN Print: 978-3-94021-342-6ISBN E-Book: 978-3-94021-396-9

Inhalt

Zum Geleit

Die am lautesten schreien, sind am wenigsten gefährdet. Die ‚Anti-Antifa‘ veröffentlicht eine „Fahndungsliste“ ihrer Gegner.

Zur Abwechslung mal Punks. Chaostage in Hannover

Terror der Idioten. Oder: Wie dubiose „Antifas“ ein antifaschistisches Skinheadfestival verhinderten.

„Mobile Jugendarbeit – zwischen professionellem Handeln und sozialer Feuerwehr?“

Zur Misere der deutschen Jugendforschung

Sind Jugendkulturen eigentlich Jungenkulturen? – Ein Gender orientierter Einblick in Jugendkulturen

„Mitwirkung und Partizipation – wollen Jugendliche das überhaupt?“

Jugendkulturen & Drogen

Kein Refugium für Couchpotatoes. Die ästhetische Praxis in Jugendkulturen

Das Archiv der Jugendkulturen. Porträt einer (leider) einmaligen Einrichtung

Die Jugend

Danksagung

Zum Geleit

Immer wieder geschieht es nach Vorträgen oder Diskussionsveranstaltungen, dass der eine oder die andere interessierte ZuhörerIn mit der heiklen Frage auf mich zukommt: Wo kann man das denn nachlesen, was Sie gerade erzählt haben …? Es wäre natürlich schön, wenn ich dann einfach dem Veranstalter mein zerknittertes Manuskript in die Hand drücken könnte: bitte 20-mal kopieren. Doch leider habe ich selten solch ein Manuskript bei meinen Vorträgen. Erstens gibt es sowieso nichts Langweiligeres als vom Blatt abgelesene Referate, und (Fort-)Bildung, die nicht spannend, aufregend, provozierend, unterhaltend daherkommt, verpufft wirkungslos; zweitens trage ich grundsätzlich nur vor, was ich im Kopf habe. Anfragen zu Themen, mit denen ich mich noch nicht so ausführlich befasst habe, dass ich schriftliche Gedächtnisstützen brauche, bescheide ich negativ, beschäftige mich zumeist dennoch weiter mit dem Thema, um dann vielleicht ein Jahr später bei der gleichen Anfrage zuzusagen …

Trotzdem habe ich immer wieder Vorträge von mir mitgeschnitten oder Beiträge für Kongressdokumentationen oder Zeitschriften verschriftlichen müssen. In diesem Büchlein, liebe Leserin und lieber Leser, finden Sie nun eine kleine Auswahl davon – zu den am häufigsten gefragten Themen – zusammengestellt, ergänzt um einige – wie ich finde: heute noch sehr aktuelle – Kommentare und eine abschließende Vorstellung des Archiv der Jugendkulturen, das in diesem Jahr sein zehnjähriges Jubiläum feiert. Möge es Ihnen hilfreich und anregend für die eigene Meinungsbildung sein und mir zukünftig einige Stunden zusätzlicher Freizeit verschaffen.

In diesem Sinne wünscht

viel Vergnügen

Klaus Farin, Berlin und St. Peter-Ording im Februar 2008

Die am lautesten schreien, sind am wenigsten gefährdet. Die ‚Anti-Antifa‘ veröffentlicht eine „Fahndungsliste“ ihrer Gegner.

Erstveröffentlicht in: die tageszeitung, 8. Januar 1994

Neulich in der U-Bahn, ein studentisches Pärchen. Sie: „Meinst du, wir steh’n auch da drin?“ Er: „Nee, wieso denn?“ Sie: „Wir haben doch diesen Appell zum Artikel 16 unterschrieben. Und bei der Versammlung neulich hab’ ich mich doch auch zu Wort gemeldet gegen die Faschos, und hinten drin saß dieser Skinhead …“ Er: „Den hab’ ich gar nicht gesehen. Aber wenn der das weitergemeldet hat …“

Da hat ein renommierter Bielefelder Jugendforscher Angst, sich öffentlich zum Thema Nazi-Rock“ zu äußern; da spielt ein verzweifelter Wortfighter gegen Rechts mit dem Gedanken, seine Lebensabschnittspartnerin zu verlassen, um sie nicht zu gefährden; da lässt ein Literaturkritiker, der vor Monaten einen antirassistischen Jugendroman euphorisch rezensierte, seine eintreffenden Buchpakete von der Kripo öffnen. Gute Freunde raten meiner Mitarbeiterin, doch unverzüglich den „gefährlichen Job“ in der Nähe meines Posteingangs zu kündigen. – Und der Berliner „Abendschau“-Reporter erkundigt sich vor Sendebeginn noch schnell in solidarischem Tonfall, wie’s denn so geht …

Da vergisst man mal, die Telefonrechnung zu begleichen, ist also zwangsläufig „im Augenblick nicht zu erreichen“, und schon basteln Kollegen an einem Artikel in der Gewissheit, man sei „sicherlich wegen der ‚Einblick-Sache‘ abgetaucht“. Kaum ein Tag verging in den letzten Wochen, an dem nicht irgendein Journalist oder sich sonst wie links fühlender Mensch mein Telefon belegte: „Du hast doch bestimmt diese Liste? Steh’ ich auch drin?“

Ich gestehe, ich habe das Ding bis heute nicht gelesen. Ein Belegexemplar habe ich nicht bekommen, und das bedeutet wohl, dass ich nicht darin stehe. Das tut weh (ein wenig eitel ist man ja doch), aber letztlich ist es schon okay. Irgendwann wurde man ja mal Journalist, um die Öffentlichkeit aufzurütteln, was natürlich nicht funktionierte, und blieb es dann trotzdem, als man merkte, dass man eigentlich doch zu faul war, sich richtig zu engagieren, und lieber voyeuristisch in der ersten Reihe sitzen blieb.

In der gesamten Republik gibt es nicht mehr als ein Dutzend JournalistInnen, die sich kontinuierlich mit der Neonazi-Szene befassen und in ihr/über sie recherchieren. Die haben sicherlich berechtigten Grund, sich angesichts der neuen (?) terroristischen Militanz ihrer Klientel Sorgen zu machen (waren Fahndungslisten bisher doch eigentlich das Privileg von links gegen rechts und nicht umgekehrt) – ebenso einige Dutzend SozialarbeiterInnen, PolizistInnen und aktive AntifaschistInnen vor allem aus der autonomen Antifa. Doch nichts für ungut: Wer jahrelang predigt: „Nazis sind Schweine“, kann sich doch wohl nicht ernsthaft wundern, wenn diese sich dann wirklich als Schweine entpuppen und nicht als lupenreine „Keine Gewalt!“-Demokraten. Wer sich politisch engagiert, schafft sich Feinde oder er macht was falsch; wer sich gegen militante Nazis engagiert, schafft sich eben militante Feinde. Engagement ohne Risiko gibt es nur bei der SPD.

Merkwürdigerweise machen sich jetzt massenhaft genau die Leute Sorgen um ihre körperliche Unversehrtheit, die es nicht verdient haben, von Nazis durch Aufnahme in eine Hassliste geadelt zu werden. Vielleicht hatte „Klasse gegen Klasse“-Heroe M. nicht ganz unrecht, als er neulich im „Franken“, durch den Genuss zahlreicher Weizenbiere redselig gestimmt, erklärte, warum ein paar Nazi-Briefbomben und Anti-Antifas gar nicht so schlecht seien – würde sich doch nun endlich die Spreu vom Weizen trennen: Die dekadenten Mitläufer, die mit ihrem wachsweichen Gewäsch nur den „aufrechten Kampf behinderten“, zögen sich nun zurück und überließen der wahren Working Class das Feld …

Die Hauptopfergruppen der rechten Gewalt sind nicht Promis und erst recht nicht PublizistInnen – also jene, die sich beruflich Sorgen um die Gesellschaft und nun auch um sich selber machen. JournalistInnen wurden während der Hassund Gewaltexplosion der letzten Jahre eher zufällig und nur ausnahmsweise attackiert, eher umworben als bedroht. Und das nicht nur, weil sie die Neonazi-Szene seitdem mit einigen hunderttausend Deutschen Mark Honorar gesponsert haben (diverse Fälle von bezahlten Interviews und für das Fernsehen nachgestellte „Action“ gegen Vergütung wurden bekannt), sondern auch, weil sie die Szene, die sie abbilden, damit bestätigen.

Die Opfer der Rechtsradikalen waren und sind bis heute in der Regel Menschen ohne Lobby und Namen: Farbige und andere „undeutsch“ Aussehende, Obdachlose, Drogenkranke … – es ist ein Bürger-Krieg gegen die sozial Schwachen. Doch die jammern nicht allabendlich in Talkshows über die Gefährdungen ihres Lebens – sie haben auch keinerlei Gelegenheit dazu.

Die Wahrscheinlichkeit, spontan von einem Auto überrollt oder schleichend dank jahrelangem Genuss von Berliner Luft in eine höhere Existenz transzendiert zu werden, scheint mir für unsereins immer noch ein wenig größer zu sein als die, von normalen Raubmördern oder durchgeknallten Nazis gemeuchelt zu werden. Wobei allerdings nur die letzte Todesart eine positive Würdigung im Antifa-Info gewährleistet.

Der Sinn von neonazistischen Hasslisten ist nicht in erster Linie der Versand von Briefbomben (dazu sind deutsche Neonazis eh zu blöd), sondern die Verbreitung von Angst davor. Angst vor möglichen Gewalttaten soll aktive Linke/AntifaschistInnen davon abhalten, sich weiter zumindest öffentlich zu engagieren. Mit ihrer offenbar eilig und schlampig und unter anderem aus alten Datenbänken zusammengestoppelten Einblick-Liste haben die Neonazis ihr Ziel erschreckend schnell erreicht: allerorten Weinerlichkeit, „Betroffenheit“, Paranoia, statt – und das wäre die einzig angemessene Reaktion – den Nazis trotzig den Mittelfinger zu zeigen und zu sagen: Jetzt erst recht!

Wer sich nun zitternd überlegt, sich in der nächsten Zeit doch lieber nicht mehr so aus dem Fenster zu hängen (oder sogar eine neue Wohnung zu beziehen, um gleich das Fenster zu wechseln), der soll das machen – aber bitte schamvoll schweigend und ohne öffentliches Gejammer.

Zur Abwechslung mal Punks. Chaostage in Hannover

Erstveröffentlicht in: die tageszeitung, 3. August 1994

„Was ist mit unserer Jugend los?“ fragen seit dem Wochenende wieder einmal sämtliche Medien der Republik. Nicht etwa die, die am besten qualifiziert wären, seriöse Antworten zu geben, etwa die in Hannover dabei gewesenen Punks und Skinheads, sondern – getreu dem Motto: Trau keinem unter 30 – lieber uns: die Experten. Die, die jederzeit zu allem kompatible Antworten und keine überflüssige Betroffenheit garantieren. Also die, gegen die die Randale in Hannover sich auch richtete. Die, die sich immer nur empören, wenn Gewalt sichtbar wird (dass Gewalt sichtbar wird). Durch besondere Originalität fallen wieder einmal die ordnungspolitischen Hardliner auf. Bundesgrenzschutz gegen Jugendliche, Festnahmen bereits vor der Tat, umfassende erkennungsdienstliche Behandlung. Genau das war ja der Anlass für die Chaos-Tage vor zehn Jahren gewesen.

Was all den nervösen Medienleuten, all den Lehrern und Politikerseelen am meisten Kopfzerbrechen bereitete, war interessanterweise nur ein Nebensatz in einer Agenturmeldung: Punks seien auch in eine private Wohnung eingestiegen, hätten dort randaliert und den Fernseher aus dem Fenster geworfen. Da kommt plötzlich auch bei progressiven Wellenreitern Betroffenheit auf. Klar, fanden wir früher auch gut, bei Udo Lindenberg. Aber da hatten wir ja selbst noch keinen Farbfernseher und nicht diese teure Videoanlage und … Punk, Gewalt gegen rechts, ist ja gerade noch akzeptabel. Aber gegen das Eigentum unbescholtener BürgerInnen vorzugehen, das ist ja nun nicht mehr politisch korrekt.

War Hannover der Auftakt zu einer neuen Bewegung gegen den rechten Terror? hoffen nun wenigstens die Gutmeinenden, die sich noch schwach erinnern, vor zehn Jahren gelernt zu haben, dass Punk ja was Progressives, Antikapitalistisches sei. Ja. Hannover war auch ein Ausdruck der Wut über die rechten Exzesse. Und über die Passivität der Mehrheitsgesellschaft. Nein, war es auch wieder nicht. Die meisten Punks sind nicht im klassischen Sinne links. Auf kontinuierliches politisches Engagement haben sie ebenso wenig Bock wie auf ständige militante Auseinandersetzungen mit Faschos und anderen. Punks sind gegen Staat, Marktwirtschaft und Spießer. Das schließt Nazis selbstverständlich ein. Aber eben auch die, die für ihr Mitmachen und Nichtstun längst Ausreden entwickelt haben.

Eine Gesellschaft, die es schafft, die sechs Kinder und Jugendlichen, die sich hierzulande täglich umzubringen versuchen, locker zu übersehen, hat keinerlei moralisches Recht, sich über randalierende und plündernde Jugendliche zu empören. Die große Mehrheit der Jugendlichen lehnt Gewalt und Gewalttäter jeglicher Couleur ohnehin ab. Die große Mehrheit, vor allem Mädchen, frisst ihre Aggressionen lieber in sich hinein. Randalierende Jugendliche sind da eine konstruktive Alternative – und so lange notwendig, wie diese Gesellschaft keine würdigen Antworten auf die Probleme von Jugendlichen zu geben weiß.

Terror der Idioten. Oder: Wie dubiose „Antifas“ ein antifaschistisches Skinheadfestival verhinderten.

Erstveröffentlicht in: Falter (Wien) 33/1994

Die alljährliche Sommerpause bringt schon seltsame Blüten hervor. Es ist die Stunde der Second-Class-Politiker, die zwar im Parlament ihre Stunden absitzen, aber immer im Schatten der Großkopferten bleiben. Während der Rest der Welt im wohlverdienten Urlaub weilt und die Medien verzweifelt nach Berichtswertem darben, entwickeln sie im Kämmerlein möglichst kuriose Ideen und bekommen so endlich auch ihre Schlagzeilen. In Deutschland heißt der Sommerkönig des Jahres zum Beispiel Heinrich Lummer. Dem Berliner Rechtsradikalen im CDU-Gewand war eine Broschüre der AIDS-Hilfe in die Händchen geraten, sofort ballte er sie zur Faust und forderte von seinem Kanzler, dieser Vereinigung von „Sodom und Gomorrha“ mit ihren „ekelerregenden Publikationen, in denen zu widerlichsten Sexualpraktiken – vorzugsweise gleichgeschlechtlich – animiert wird“, die Gelder zu streichen.

In Wien setzte sich eine „Antifa“-Gruppe mit grün-alternativer Postanschrift an die Spitze der Sommercharts. „Achtung“ Rechtsextreme Bands im Rockhaus!“ warnte sie in einem Flugblatt die aufgeklärte Jugend. „Unter dem Motto ‚Internationaler Punkmarathon‘ findet von Freitag, 26.8., bis zum Samstag, 27.8.1994, im Rockhaus ein Zwei-Tages-Fest statt, an dem sich auch rechtsradikale, neonazistische Bands beteiligen.“ Gemeint sind Bands wie Agent Bulldog aus Stockholm, Springtoifel und Boots & Braces aus Deutschland, die Panzerknacker aus Wien, Judge Dread, Crack und Another Man’s Poison aus Großbritannien. Davon ist zwar keine einzige rechtsextrem, dafür aber eine grün-alternativ, eine weitere Antifa-engagiert, zwei weisen in ihren Infos Veranstalter vorsorglich darauf hin, dass sie keine neonazistischen Symbole etc. auf ihren Konzerten dulden – und auf dem Werbe-Flyer zum Festival prangt über dem Slogan „Idiots Stay Home“ unübersehbar ein durchgestrichenes Hakenkreuz.

Doch warum soll man sich die schöne Sommerzeit durch schnöde Realitäten zerstören lassen, dachte sich wohl die „Antifa, c/o GAJ Favoriten“. Denn schließlich gibt es da ja ein Büchlein, in dem der wackere Antifa-Kämpfer alles findet, um die Sturmtruppen gegen „Rechtsrock“ in Bewegung zu setzen. Dass da neben Gutem auch viel Unsinn drinsteht, wissen die GAJler natürlich nicht, schließlich haben sie sich nie ernsthaft mit dem Thema befasst. So fallen auch die immerhin acht (!) von ihnen selbst formulierten Zeilen, die sich in ihrem Flugblatt finden, besonders originell aus: Da wird die Wiener Band Arbeiterfront kurzerhand zur „Vorläuferband“ der Panzerknacker erklärt, und der einst in der Arena geplatzte Auftritt von Type-O-Negative dem Rockhaus ins Programm geschoben.