Über die Schüchternheit - Martin Walser - E-Book

Über die Schüchternheit E-Book

Martin Walser

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Beschreibung

Martin Walser zitiert zum Thema Schüchternheit Zeugen und Zeugnisse aus der Literaturgeschichte: die schüchternen Autoren Franz Kafka, Robert Walser und Heinrich Seuse. Dieser Essay ist ein kleines Meisterwerk.

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Seitenzahl: 32

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

I

Ohne seine Schüchternheit wäre der Schüchterne verloren. Trotzdem ist der Schüchterne nicht damit einverstanden, dass er schüchtern ist.

Sagen wir, er ist eingeladen, er tritt ein, es sind schon andere Eingeladene da. Zu spät, denkt er. Zehn nach acht, das heißt jetzt, er muss auf die Leute zugehen. Lauter Plaudernde, die er, wenn er, wie es sich gehört, Guten Abend sagen will, mitten im Plaudern stört. Das werden sie ihm den ganzen Abend nicht mehr verzeihen. Trotzdem: hin zu allen und die Rechte ausgestreckt. Was er da jedesmal tun und sagen würde, wenn er nicht schüchtern wäre, erklärt wirklich, warum er darauf angewiesen ist, schüchtern zu sein. Am liebsten möchte er auf jede und jeden zugehen, nach allen Händen greifen und sie nicht mehr loslassen. Was für eine schöne, warme, trockene, weichhäutige und doch ganz feste Hand Sie haben, möchte er ausrufen oder flüstern; am liebsten ausrufen und flüstern. Wenn Sie einverstanden sind, möchte er sagen, lasse ich Ihre Hand den ganzen Abend nicht mehr los. Wir zwei könnten doch aussehen wie an den Händen zusammengewachsen, finden Sie nicht?

Er weiß, dass er so nicht reden kann. Aber weil er überhaupt nur so reden möchte, muss er froh sein, dass er schüchtern ist. Dass er so nie als der erscheinen wird, der er ist, weiß er. Aber dadurch, dass er nie als der auftritt, der er ist, empfindet er sich selber ziemlich grandios. Als grandioser Selbstunterdrücker erlebt er sich so deutlich, wie er sich durch keine der Handlungen, nach denen er sich sehnt, werden könnte. Ist ja auch klar: Durch nichts ist man so sehr bei sich selber, als wenn man etwas nicht tut, was man tun möchte. Sehnsucht ist also sein Lebensgefühl überhaupt. Schüchternheit, ein anderes Wort für Sehnsucht.

II

Es ist leicht, den Schüchternen für etwas zu gewinnen. Er lädt geradezu dazu ein, sich ihm gegenüber durchzusetzen. Er möchte nämlich beliebt sein. Das ist sein alles andere entscheidender Wesenszug. Er zweifelt an nichts so sehr wie an seiner Beliebtheit. Vielleicht ist er sogar zutiefst davon überzeugt, dass jemand wie er überhaupt nicht beliebt sein kann. Eben darum muss er alles tun, sich beliebt zu machen. Deswegen heißt in ihm das oberste Gesetz, nach dem er handelt: er muss es dem anderen recht machen. Dafür ist ihm nichts zu viel. Er hat ein feinstes Gespür für das, was ein anderer von ihm erwartet, von ihm will. Wenn er mitkriegt, dass der Gesprächspartner X über das politische Problem Y so und so denkt, wenn er erlebt, wie identisch Herr X mit seinen Meinungen über das politische Problem Y ist, baut sich in ihm sofort ein tolles Zustimmungspotential auf. Er spürt, wie unhöflich es wäre, einer Meinung, mit der Herr X sich geradezu existentialzellulär, also physisch-psychisch identifiziert, einer Meinung, in der Herr X förmlich aufgeht, einer solchen Meinung auch noch zu widersprechen. Also mobilisiert er instinktiv alles in sich, was dieser Meinung zustimmen kann. Ach was, er muss doch gar nichts mobilisieren, das Zustimmungspotential, das sich sofort in ihm aufgebaut hat, will sich doch endlich einfach entladen. Er hat ja in sich keine Meinung, an der er hängen würde. Meinungen rauschen durch ihn sowieso durch wie der Wind durch den Baum.