Des Lesers Selbstverständnis - Martin Walser - E-Book

Des Lesers Selbstverständnis E-Book

Martin Walser

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Beschreibung

Ein großartiges Plädoyer für ein erfahrungsorientiertes Lesen. Martin Walser versteht Lesen als schöpferisches Mittel des stetigen Sich-selbst-ver­stehen-Wollens. Er lehrt uns, dass Lesen eine Lebensart sein kann.

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Seitenzahl: 44

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Als ich, um meine Mutter nicht zu enttäuschen, .eine Dissertation schreiben sollte, blieb nichts anderes übrig, als über den Autor zu schreiben, der mich während meiner Studentenjahre gehindert hatte, andere Autoren wirklich zu lesen: Franz Kafka. Aber als ich über ihn etwas schreiben wollte, stellte sich heraus, dass ich ihn nicht verstanden hatte. Obwohl ich die drei Romane und die Erzählungen zwei-, drei-, viermal gelesen hatte, hätte ich nicht aufschreiben können, was die »Strafkolonie« bedeute. Die »Verwandlung« interpretieren, das hieß für mich damals, aussagen, ja beweisen, was ein Literaturwerk unter allen Umständen bedeutet. Man war erzogen worden zum Glauben, in einem Literaturwerk sei eine Bedeutung sozusagen verborgen. Die müsse man herausbringen. Inzwischen bin ich Adressat von Schülerpost und erfahre so, dass im Deutschunterricht Schülerinnen und Schüler darin geübt werden, die Bedeutung von Büchern zu entdecken, die ich geschrieben habe. Der Lehrer weiß offenbar die Bedeutung, darf sie aber den Schülern nicht sagen. Ich weiß, meinen die Schüler, die Bedeutung. Findige Schülerinnen oder Schüler rufen mich abends an oder schreiben mir und fragen: Wie haben Sie das und das gemeint? Stimmt es wirklich, wie der Lehrer sagt, dass der Name Klaus Buch ein sprechender Name ist, in dem sich die Bedeutung Klau’ das Buch verbirgt und so weiter. Ich antworte dann, dass es nach meiner Erfahrung im Umgang mit Literatur keine privilegierte Bedeutungsschöpfung gebe, dass vielmehr jede Leserin und jeder Leser ein Naturrecht auf die eigene Empfindung und Leseerfahrung habe. Lehrern gegenüber füge ich hinzu: Noten könne man ja nicht nur danach geben, wie nah der Schüler der vom Lehrer gehüteten Bedeutung komme, sondern auch danach, wie eine Schülerin und ein Schüler ihre eigene Leseerfahrung zu vermitteln imstande seien. Auch dass Schülerinnen und Schüler mit einem Text gar nichts anfangen können, sage ich dann dazu, sei darstellens- und begründenswert und trainiere mindestens so sehr wie das Suchen und Finden und Darstellen der offenbar ostereihaft versteckten Bedeutung.

Ich habe als Student die Erfahrung machen müssen, dass mein gewissermaßen naturwüchsiges Lesen nicht bedeutungsorientiert ist, ja für Bedeutungsfindung oder -Schöpfung nichts bringt. Ich habe Kafka nicht anders gelesen als Karl May. Ich kann überhaupt nicht auf zweierlei Art lesen. Die Sätze, die ich lese, leben davon, dass sie in mir beantwortet werden. Beantwortet durch Erfahrungen, die von diesen gelesenen Sätzen geweckt, mobilisiert, bewusst gemacht werden. Alles, was ich je erlebt, gesehen, gedacht, gefühlt, geliebt, gehasst, gefürchtet habe, kann da aufgerufen werden. Vorausgesetzt, ich kann mit dem Buch, das ich lese, etwas anfangen. Jeder Leser beantwortet jeden Satz, der da schwarzweiß und dimensionslos auf Papier steht, mit sich selber. Er inszeniert diesen Satz ganz von selber in seiner Vorstellung. Was da in einem vor sich geht, ist auch mit dem Traum vergleichbar. Lesend reproduziert man ja nicht einfach Gehabtes, Erfahrenes, sondern produziert aus eigenem Bedürfnis mit Hilfe eines Textes eine Welt, die es tatsächlich nicht gibt. Was uns in der wirklichen Welt fehlt, stattet uns als Leser aus, macht uns als Leser potent. Was uns fehlt, macht uns schöpferisch. Nicht das Zuvielhaben macht schöpferisch, sondern das Zuwenighaben, also der Mangel. Novalis: »Der Roman ist aus dem Mangel der Geschichte entstanden.« Novalis macht in seiner Passage über den Roman, der aus dem »Mangel der Geschichte« entstanden ist, keinen Unterschied zwischen Lesen und Schreiben, er fährt nämlich fort: »Er (der Roman) setzt für den Dichter und Leser divinatorischen, oder historischen Sinn und Lust voraus.« Dichter und Leser sind also gleich gesonnen. Wenn der Welt, in der man lebt, nicht ernsthaft etwas fehlte, würde man nicht lesen. Und wenn uns nichts fehlte, würden wir auch nicht schreiben. Man liest also aus den Gründen, aus denen man schreibt.

Wir können überlegen, was uns, als wir acht Jahre alt waren, fehlte und uns so zu Karl May-Lesern werden ließ. Es heißt, man verschlinge Karl May. Das ist ein unvollkommenes Bild. Man produziert die Not, die Gefahr, die Treue, den Verrat, die Gemeinheit, den Edelmut, die Rettung. Man produziert zu den Hufspuren, die schon ein bisschen abbröckeln, also älter als drei Tage sind, Angst und Hoffnung; man erlebt in sich das Anrecht auf Rettung aus der immerwährenden Gefahr. Ein Kind, das sich sicher fühlt, liest nicht Karl May. Nichts ist diesem Lesen so fremd wie die Frage nach der Bedeutung. Bei Kafka und Karl May. Es gibt aber die Frage, ob jemand ein Buch verstanden habe. Das klingt, als sei ein Buch etwas ganz Bestimmtes. Verstehe man es nicht als dieses ganz Bestimmte, habe man es falsch verstanden oder missverstanden. Ich glaube eher, dass es einem Buch gegenüber kein Missverständnis gibt, da jeder Leser, wenn er ein Buch liest, mit diesem Buch immer nur sich versteht, nicht das Buch. Das Buch ist, hat Proust gesagt, eine Art optisches Instrument, mit dessen Hilfe der Leser in seinem eigenen Leben lesen könne. Das halte ich für eine sehr zurückhaltende Beschreibung dessen, was beim Lesen passiert. Sogar das deutlich empfundene und erlebte Nichtverstehen eines Buches muss überhaupt nicht die Lese-Intensität mindern.