Über die Toten nur Gutes - Andreas Izquierdo - E-Book

Über die Toten nur Gutes E-Book

Andreas Izquierdo

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Beschreibung

Was kommt in Glücksburg an der Ostsee nach dem Tod? Eine Rede von Mads Madsen. Nicht immer leicht: Wenn einer stirbt, wird auch viel gelogen. Über die Toten nur Gutes, heißt es, aber wer waren sie wirklich? Für Mads oft ein Detektivspiel. Eines Nachts erreicht ihn eine geheimnisvolle Botschaft aus dem Jenseits: Sein alter Freund Patrick ist tot. Sein letzter Wunsch: eine Rede von Mads. Also begibt sich Mads, der seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Patrick hatte, auf die Spuren der Vergangenheit. Schnell stellt er fest: Patrick war alles andere als der nette Junge von nebenan. Warum musste er wirklich sterben? Bald findet sich Mads inmitten eines Netzes aus Geheimnissen und Lügen wieder, das nicht nur ihn, sondern auch die bedroht, die er am meisten liebt: seinen verschrobenen Vater Fridtjof, seinen frisch verliebten besten Freund, den Beerdigungsunternehmer Fiete, seine treue Malteserhündin Bobby. Und die Einzige, die ihm helfen könnte, die ewig schlecht gelaunte Hauptkommissarin Luisa Mills, hält ihn für einen Aluhutträger. Mads wird klar: Die nächste Rede, die er schreibt, ist seine eigene. Es sei denn, ihm gelingt ein letzter Trick. Band 1: Über die Toten nur Gutes Band 2: Niemals geht man so ganz (Herbst 2026)

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Was kommt in Glücksburg an der Ostsee nach dem Tod? Eine Rede von Mads Madsen. Doch wenn einer stirbt, wird auch viel gelogen.

Über die Toten nur Gutes, heißt es, aber wer waren sie wirklich? Für Mads oft ein Detektivspiel.

Eines Nachts erreicht ihn eine geheimnisvolle Botschaft aus dem Jenseits – sein alter Freund Patrick ist tot. Sein letzter Wunsch ist eine Rede von Mads. Also begibt sich Mads, der seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Patrick hatte, auf die Spuren der Vergangenheit und stellt fest: Patrick war alles andere als der nette Junge von nebenan.

Warum musste er wirklich sterben?

Schnell findet sich Mads inmitten eines Netzes aus Geheimnissen und Lügen wieder und sieht nicht nur sich selbst bedroht, sondern auch diejenigen, die ihm am meisten bedeuten: seinen eigensinnigen Vater Fridtjof, seinen frisch verliebten besten Freund, den Beerdigungsunternehmer Fiete, seine treue Malteserhündin Bobby. Und die Einzige, die ihm helfen könnte, die ewig schlecht gelaunte Hauptkommissarin Luisa Mills, hält ihn für einen Aluhutträger. Mads wird klar: Die nächste Rede, die er schreibt, ist seine eigene. Es sei denn, ihm gelingt ein letzter Trick.

© Niklas Berg

Andreas Izquierdo ist Schriftsteller und Drehbuchautor. Er veröffentlichte den preisgekrönten historischen Roman ›König von Albanien‹ (Neuausgabe DuMont 2024) und zahlreiche weitere Romane, u. a. den SPIEGEL Bestseller ›Der Club der Traumtänzer‹ (2014) und ›Fräulein Hedy träumt vom Fliegen‹ (2018). Zuletzt erschienen die ›Wege der Zeit‹-Trilogie, die die Bände ›Schatten der Welt‹ (2020), ›Revolution der Träume‹ (2021) und ›Labyrinth der Freiheit‹ (2022) umfasst, und ›Kein guter Mann‹ (2023).

ANDREASIZQUIERDO

ÜBER DIE TOTENNUR GUTES

Ein Trauerrednerermittelt

Der Abdruck des Zitats[1] erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Gabriel García Márquez, Leben, um davon zu erzählen

In der Übersetzung von Dagmar Ploetz

© 2002, Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Köln

E-Book 2025

© 2025 DuMont Buchverlag GmbH & Co. KG,

Amsterdamer Straße 192, 50735 Köln, [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Die Nutzung dieses Werks für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.

Umschlaggestaltung: Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Satz: Fagott, Ffm

E-Book Konvertierung: CPI books GmbH, Leck

ISBN E-Book 978-3-7558-1130-5

www.dumont-buchverlag.de

 

In memoriam

Lars

 

»Nicht, was wir gelebt haben, ist das Leben,

sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern,

um davon zu erzählen.«

Gabriel García Márquez[1]

1

In der Nacht vor der Trauerfeier schreckte Mads gegen zwei Uhr in der Früh aus dem Schlaf und hatte für einen verzagten Moment das Gefühl, dass seine Zeit ablief. Etwas hatte ihn im Traum berührt. Etwas, das einen langen Weg gegangen war, um ihn zu finden. Jetzt saß er mit klopfendem Herzen da und starrte bang in die Finsternis.

Das Haus war totenstill.

Er knipste das Bettlicht an und setzte die nackten Füße auf den Boden. Schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und blickte die Treppe hinab in ein schwarzes Erdgeschoss.

Unten fand er das Schlafzimmer seines Vaters geschlossen vor, die Wohnzimmertür stand ein wenig offen, sodass er einen kurzen Blick hineinwarf: Möbel duckten sich wie zwielichtige Gesellen in Halbschatten, die Luft aber roch vertraut.

In der Küche öffnete er den Kühlschrank, schloss ihn wieder, ohne etwas herausgenommen zu haben, und kehrte zur Treppe zurück. Schwaches Laternenlicht brach sich schimmernd im Milchglas der Haustür. Schatten tanzten darin: Wilde Böen bogen marionettenhaft Äste und Zweige. Er näherte sich der Tür, sicher, dass er sie vor dem Zubettgehen abgeschlossen hatte, und drückte die Klinke nach unten.

Zu seiner großen Überraschung sprang sie auf.

Eine stramme Brise fuhr ihm unter das T-Shirt. Hatte ihn das geweckt? Das unterschwellige Gefühl, dass etwas nicht stimmte? Der Wind pfiff kalt von der nahen See her, die Häuser lagen dunkel und verlassen da, am Himmel jagten sich Wolkenfetzen vor einem blassen Mond.

Da war ein Brief.

Eingeklemmt unter der Fußmatte.

Mads nahm ihn hoch, betrachtete ihn neugierig: weiß, unbeschriftet, unfrankiert. Verschlossen, aber mit dem Gewicht von Papierblättern darin. Er tat ein paar schnelle Schritte zur Straße, blickte nach beiden Seiten, entdeckte nichts als erloschene Fenster, geparkte Autos und stumme Laternenkegel. Kehrte zurück, schloss diesmal die Haustür doppelt ab, nahm in der Küche ein Messer und öffnete den Brief.

Zwei leere DIN-A4-Blätter.

Nichts sonst.

Eine Weile wiegte Mads die Blätter unschlüssig in den Händen: Was hatte das zu bedeuten? Dann aber warf er sie schulterzuckend in den Korb mit Altpapier, ging zurück ins Bett und schlief bald ein.

Im Haus war es wieder still.

Nur die große Küchenuhr über der Spüle tickte.

Dann blieb sie stehen.

EIN BRIEF

2

Am Morgen erwachte Mads mit der Erkenntnis, dass in der Nacht der Strom ausgefallen sein musste. Sein Handy baumelte wie ein Gehenkter am Ladekabel, und als es dann endlich wieder mit flatternden Lidern zu sich kam, wusste er, dass er zu spät zur Trauerfeier kommen würde.

Die Trauerfeier!

Stolpernd und fluchend versuchte er, sich Hose und Hemd gleichzeitig anzuziehen, hetzte hinaus zu seinem Auto, trat das Gaspedal durch und jagte unter den Blicken empörter Nachbarn durch die idyllische Collenburger Straße in Richtung Stadtschloss. Von Glücksburg bis Flensburg war es nicht weit, gerade mal zehn Kilometer, aber er war jetzt schon zu spät, und wenn der Tod eines hasste, dann Verspätungen: Er verzieh weder Staus noch Stromausfälle, weder Pannen noch Streiks und schon gar nicht Bummelei.

Eine Trauerfeier verlangte nicht nur aus Gründen des Respekts Pünktlichkeit, sondern auch, weil sie im großstädtischen Sterbebetrieb nach dreißig Minuten vorbei zu sein hatte. Dann schon rollte die nächste Beerdigung heran, wälzte der nächste Trauerstrom über den Friedhof, wartete der nächste Anwärter ungeduldig darauf, die letzte Ruhe zu finden.

Es hätte also für Mads kaum schlechter laufen können. Als er endlich in den Trauerraum des Bestattungsinstituts Amelung eintrat, sortierte er noch hektisch sein Haar, steckte einen Zipfel seines weißen Hemdes in die schwarze Hose und atmete dann einmal tief ein. Vor ihm stand kerzenbeleuchtet auf einem Katafalk der offene Sarg des Mannes, dem heute seine Rede galt.

Zu seinem Glück war die Trauergemeinde sehr klein, was die Zahl derer eingrenzte, die wütend auf ihn sein würden. Nur die erste Reihe war besetzt. Rechts vom Mittelgang die Tochter des Toten: Famke, Anfang vierzig, im eleganten Zweiteiler, ihre drei hübschen Kinder, zwei blonde Mädchen und ein gescheitelter kleiner Junge, neben sich. Auf dem Stuhl ganz außen saß eine kleine weiße Malteserhündin, die sich gerade zu ihm umdrehte und freundlich bellte. Unangemessen, fand Mads, wenn auch nicht so unangemessen, wie den Verstorbenen, dessen weiße Nasenspitze wie der Masttopp eines Geisterschiffs aus dem Sarg ragte, warten zu lassen.

Auf der linken Seite saßen zwei Männer, etwas älter als die Frau, in ebenso eleganten wie teuren Anzügen. Der eine, Robert, Famkes Mann, tippte ungeduldig mit dem Fuß und starrte vorgebeugt auf den Boden, der andere, Krischan, war mit seinem Handy beschäftigt, das er gerade aus seinem Sakko genestelt hatte. Krischan war Arzt, wahrscheinlich in Bereitschaft. Seine Sorge galt den Lebenden, nicht den Toten.

Links in der Ecke des ansonsten schmucklosen Trauerraumes stand diskret ein junger Mann im hellgrauen Anzug mit Einstecktuch, weißem Hemd und himmelblauer Seidenkrawatte, der Bestatteruniform der Amelungs. Er war Ende zwanzig, wie Mads, hatte die Hände vor dem Hosenbund gefaltet und nickte ihm freundlich zu. Friedrich Amelung, von allen nur Fiete genannt, war der Sohn von Alva Amelung, der unumschränkten Herrin des Instituts.

Gemessenen Schrittes trat Mads schließlich an den Sarg, wandte sich halb den Hinterbliebenen, halb dem Mann im Sarg zu und verneigte sich knapp. Die Erwachsenen sahen verärgert aus, selbst der Mann im Sarg – trotz der geschlossenen Lider.

»Liebe Famke, lieber Krischan, liebe Angehörige und Freunde, wir sind gekommen, um uns von Fridtjof zu verabschieden, dessen Leben nach dreiundsiebzig Jahren zu Ende gegangen ist …«

Das Handy tönte, Krischan warf einen Kontrollblick darauf und steckte es wieder in den Anzug. Robert tippte immer noch nervös mit dem Fuß, während seine Frau Krischan und ihn gleichermaßen wütend anstarrte.

Nervös räusperte sich Mads und bereute, die Rede nicht aufgeschrieben zu haben. Ein wenig eitel, ein wenig fahrlässig, wollte er beweisen, was für ein talentierter Redner er war, denn nur die freie Rede war die wahre Rede. So wie Platon einst erfolgreich seine Stimme gegen die tobende Brandung eines aufgepeitschten Meeres erhoben hatte, so wollte er jene Worte finden, um die aufgewühlten Emotionen seines Publikums zu bändigen.

Er blätterte in seinem Gedächtnis nach den Seiten, die er mit Notizen gefüllt hatte. Biografische Daten waren bindend wie die Gebote auf den Steintafeln von Sinai. Niemand konnte sich auf seine Trauer konzentrieren, wenn er eine Tote Alessa statt Alina nannte, niemand akzeptierte, wenn der Verblichene in seiner Rede am falschen Tag, Monat oder Jahr geboren wurde, niemand hatte Verständnis dafür, wenn der Dahingeschiedene versehentlich vom berühmten thüringischen Weimar Schillers oder Goethes ins weitaus weniger berühmte hessische Weimar des Bembels und Ebbelwois verpflanzt wurde. Selbst Kürzel wollten gesichert sein, denn wer wollte schon eine Uschi in die Grube fahren sehen, wenn die Betroffene zeit ihres Lebens auf Ursula bestanden hatte?

»Liebe Famke, lieber Krischan, euer Vater folgt nun seiner geliebten Ehefrau Stine, eurer Mutter. So erfüllt sich sein größter Wunsch: wieder bei ihr zu sein. Wieder eins mit ihr zu sein. Der Tod ist zwar das Ende des Lebens, aber auch der Beginn der Ewigkeit, und das kann, ja das sollte euch, Famke und Krischan, Trost sein, denn euer Vater ging mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Er lässt euch zurück, aber er findet nach einem erfüllten Leben wieder, was er und ihr vor zwanzig Jahren auf so tragische Weise verloren habt.«

Famke sah skeptisch aus, was Mads irritierte, weil er seine Worte recht ansprechend fand. Ein wenig pathetisch vielleicht, aber das war im Angesicht des Todes kaum zu vermeiden. Krischan dagegen schien gar nicht zugehört zu haben, denn er starrte schon wieder auf das Handydisplay und wischte eine Nachricht beiseite. Der Dritte im Bunde, Robert, tippte weiterhin nervös mit dem Fuß auf den Boden.

»Springen wir zusammen zurück zu dem Tag, an dem sich Fridtjof und Stine kennenlernten. Es ist der 15. Mai 1977, Glücksburg blüht unter einem blauen Himmel. Stine, das wilde Blumenmädchen, ist begeisterte Pferdeliebhaberin und hilft jeden Tag in einem Reitstall. Fridtjof, der flotte Versicherungsvertreter, kommt gerade von der Arbeit, als er sieht, wie Stines Pferd, ein rassiger Schimmel, plötzlich mit ihr durchgeht. Mutig stellt er sich in den Weg, wirft sich der Stute um den Hals, wird von ihr mitgerissen, aber er hält sie fest. Er lässt nicht los, sondern zwingt das Tier zur Aufgabe. Dann hilft er Stine abzusteigen – die beiden sehen sich an. Und jung, wie sie waren, verrückt, wie sie waren, küssen sie sich und wissen, dass sie von nun an für immer zusammenbleiben wollen.«

Famke starrte ihn erstaunt an, Krischan grinste blöde. Robert hatte aufgehört zu tippeln. Offenbar hatte Mads endlich ihre Aufmerksamkeit. Nur der Mann im Sarg sah immer noch verärgert aus.

»Lassen wir dieses Bild auf uns wirken und hören ein Stück, das Fridtjof immer viel bedeutet hat.«

Er nickte Fiete zu, der bei der kleinen Stereoanlage auf Play drückte. Jede seiner Trauerreden ließ Mads von drei Musikstücken untermalen, die den Hinterbliebenen die Möglichkeit geben sollten, sich nicht nur in Worten, sondern auch in Melodien an einen geliebten Menschen zu erinnern. Schon schmetterte die klare, schöne Stimme von Udo Jürgens: »Merci, merci, merci, für die Stunden, Cherie, Cherie …«

Zu viel für den Mann im Sarg – er fuhr erbost in die Höhe: »Nein! Nein! Nein!«

Irritiert wandte sich Mads zu dem im Sarg sitzenden Fridtjof um, während Udo unbeirrt weitersang.

»Aber Papa!«, rief Mads und gab Fiete das Zeichen, die Musik abzuschalten.

»Udo Jürgens?«, wetterte Fridtjof. »Udo Jürgens?«

»Was denn? Du liebst Udo Jürgens«, verteidigte sich Mads. »Und das Lied passt perfekt.«

»Aber doch nicht zu meiner Trauerfeier!«, schimpfte Fridtjof.

»Natürlich zu deiner Trauerfeier«,x beharrte Mads. »Und es wäre schön, wenn du nicht jede Probe ruinieren würdest!«

»Es wäre schön, wenn ich mich darauf verlassen könnte, dass du dich an die Fakten hältst!«

»Tu ich doch!«

Fridtjof schüttelte energisch den Kopf: »Tust du nicht! Deine Mutter und ich haben damals ganz andere Sachen gehört. Und es geht um damals.«

Mittlerweile waren die anderen aufgestanden und an den Sarg getreten. Auch Fiete hatte seinen Platz an der Stereoanlage verlassen.

»Was habt ihr denn damals gehört?«, fragte Mads.

Sie sahen ihn nun alle neugierig an, was Fridtjof augenscheinlich unangenehm war.

»Deep Purple«, antwortete er schließlich etwas verlegen.

»Du?«, fragte Mads verwundert zurück und sah, dass Krischan und Famke mühsam ein Lachen unterdrückten.

»Ja, ich«, ranzte Fridtjof zurück. »Könnt euch euer blödes Grinsen ruhig verkneifen. Stine hat die gemocht, also hab ich die auch gemocht.«

»Du magst Udo. Deep Purple hast du nie gehört«, korrigierte Mads.

»Natürlich habe ich die gehört.«

»Ah ja? Nenn mir einen Song!«, beharrte Mads.

Fridtjof zögerte.

Dann fauchte er: »Hier ist einer, ihr größter Hit! Er heißt: Leck mich am Arsch!«

Krischan nickte. »Kenn ich. Wird auch heute noch gern gespielt.«

Fridtjof wandte sich Krischan zu: »So, der Herr Chefarzt hat also auch ’ne Meinung. Wie schön! Aber das ist meine Beerdigung, klar?«

»Du wirst nicht beerdigt«, gab Krischan zurück.

»Ich werde beerdigt, wann ich will!«, schrie Fridtjof.

»Ich kann zu einer Trauerfeier nicht Deep Purple spielen. Das geht doch nicht«, verteidigte sich Mads.

»Warum nicht?«, fragte Krischan trocken. »Passt ziemlich gut zur Chuck-Norris-Einlage mit dem Gaul.«

Famke lachte, aber nur kurz, weil Fridtjof sie wütend anfunkelte.

Dann wandte er sich wieder seinem Jüngsten zu: »Und verdammt noch mal, Mads! Es war eine Schecke, kein Schimmel!«

»Ich finde, jetzt wirst du kleinlich«, sprang Famke ihrem kleinen Bruder zur Seite.

»Auf die Details kommt es an, klar? So eine Trauerfeier findet nur einmal statt.«

»Schön wär’s«, maulte Krischan.

Sein Handy piepte.

Fridtjof starrte ihn wütend an. »Geh ruhig ran. Ich meine, ich warte einfach mit meinem Tod, bist du fertig telefoniert hast.«

»Du stirbst nicht«, sagte Krischan ruhig.

»Was machst du überhaupt hier? Bist doch sonst auch nie da! Weihnachten, Ostern, Geburtstag …«

»Ich rette Leben, Vater. Tut mir leid, dass sich das nicht immer mit deinem Kalender vereinbaren lässt.«

»Aber zu meiner Beerdigung, da kommst du!«

»Du wirst nicht beerdigt.«

»Pah! Du würdest mich am liebsten kopfüber in ein Bohrloch stecken, wenn’s mal so weit ist.«

Einen Moment musterte Krischan seinen Vater kühl. Dann wandte er sich Fiete zu und fragte: »Ginge das?«

Fiete schüttelte langsam und mit gepressten Lippen den Kopf.

Robert flüsterte Famke zu: »Sind wir durch? Ich müsste dringend …«

»Na toll«, schnauzte Fridtjof. »Nicht mal dreißig Minuten hast du für deinen toten Schwiegervater. Wer ist dir wichtiger? Ich oder deine Verbrecher?«

»Das sind Mandanten. Außerdem sind es schon fünfundvierzig Minuten.«

»Richtig, der Herr Trauerredner hatte ja offensichtlich Besseres zu tun, als pünktlich anzufangen!«

Mads räusperte sich. »Ich hab keinen Parkplatz gefunden.« Das klang besser als »verschlafen«.

»Und da dachtest du, den Alten lass ich mal schön in der Kiste liegen.«

Mads warf einen Blick in den Sarg und sagte: »Der sieht doch ganz bequem aus.«

»Bequem?«, schimpfte Fridtjof. »Da liegt man ja auf einem Kartoffelhaufen bequemer!«

»Wie bitte?«, rief Fiete empört. »Das ist unser Topmodell!«

Fridtjof schüttelte den Kopf. »Dann sei froh, dass deine anderen Kunden schon tot sind, wenn die hier reinkommen.«

Krischan nickte Mads zu. »Ich muss los.«

Robert eilte Krischan nach. »Warte, ich komme mit.«

»Ja, ja, haut nur ab! Kaum ist man tot, schon sind alle weg.«

»Du bist nicht tot«, korrigierte Famke.

Fridtjof schnaubte verächtlich und streckte Fiete und Mads die Hände entgegen: »Hopp!«

Umständlich halfen die beiden ihm aus dem schwankenden Sarg, bevor er über den Katafalk auf den Boden sprang. Dann marschierte er hinaus, zeternd und mit den Armen fuchtelnd.

»Und ich schmink mich noch! Damit’s echt aussieht! Scheiße!«

Die Tür fiel krachend ins Schloss. Er war draußen.

Famke lächelte Mads aufmunternd an. »Schöne Rede. Die Chuck-Norris-Nummer würde ich entschärfen. Aber sonst …« Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange: »Hab dich lieb.«

»Hab dich auch lieb.«

Sie nahm ihre Kinder an die Hände und ging Richtung Tür.

Die Malteserhündin sprang von ihrem Sitz und stellte sich an Mads Beinen auf.

»Dir hat’s auch gefallen, oder, Bobby?«, fragte Mads.

Bobby hechelte fröhlich, was Mads als Bestätigung deutete.

Fiete klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter. »Keine Bange! Wenn der Tag kommt, versiegele ich den Sarg.«

3

Stine hatte den schönsten Platz auf dem Glücksburger Friedhof, auf einer kleinen Anhöhe unter einer Trauerbuche, die ihre geisterhaft knorrigen Arme schützend über die Gräber hielt. Als Fridtjof das Grab vor zwanzig Jahren gepachtet hatte, meldete er es gleich als Familienruhestätte an, in die er einzufahren gedachte, wenn der Tag einmal gekommen wäre. Wobei er schon dreimal der festen Überzeugung gewesen war, dass sein letztes Stündchen bald schlagen würde.

Immer mal wieder bot er das Grab seinen Kindern an, wobei Famke, vor allem aber Krischan der Perspektive, die Ewigkeit mit ihrem nörgelnden Vater zu verbringen, überaus kritisch gegenüberstanden. Mads fand zumindest die Lage mit Blick über den Glücksburger Gottesacker verlockend. Die Vorstellung, dass Fridtjof an seinen Sarg klopfte, weil er nicht schlafen konnte, weniger. Gänzlich abgeneigt war er aber nicht.

Dass Stine hier ihre letzte Ruhe gefunden hatte, war natürlich nicht dem Zufall zu verdanken, sondern einzig und allein Fridtjofs Beharrlichkeit. Die Sperrzeit der Grabstelle war zum Zeitpunkt ihres Todes noch nicht abgelaufen, wenige Wochen fehlten. Der städtische Angestellte der Friedhofsverwaltung hatte freundlich, aber bestimmt auf die Vorschriften gepocht, Fridtjof ihm daraufhin tagelang das Leben schwer gemacht. Als Mads bat, den armen Mann doch endlich in Ruhe zu lassen, entgegnete Fridtjof, dass er auf gar keinen Fall zulassen werde, dass Stine neben der »Stripperin« zu liegen käme. Damit meinte er in bemerkenswerter Verkennung ihrer Lebensleistung Beate Uhse, die drei Jahre zuvor auf dem Friedhof beerdigt worden war. In unmittelbarer Nachbarschaft zu der einzigen Prominenten auf dem Glücksburger Totenacker war seit Wochen eine Grabstelle frei. Doch Fridtjof lag dem bedauernswerten Amtmann derart in den Ohren, dass dieser die Grabstelle auf dem Hügel schließlich doch freigab und anschließend sogleich in den Urlaub fuhr.

Eine halbe Stunde nach der gescheiterten Trauerfeier standen Fridtjof und Mads wieder vereint unter der Buche. Es war warm für Anfang April und der Baum voller grüner Triebe. Auf Stines tadellos gepflegtem Grab lagen frische Blumen.

Mads betrachtete seinen Vater aus dem Augenwinkel: Wie hatte der Mann, der einst riesig, kraftstrotzend und unbezwingbar gewesen war, zu so einem dürren Männlein zusammenfallen können? Er war jetzt einen halben Kopf kleiner als Mads, das schüttere weiße Haar auf seinem Kopf flatterte in der milden Frühlingsbrise.

»Sind wirklich schon zwanzig Jahren vergangen?«, fragte Fridtjof bedrückt und schubste einen Käfer, der gewagt hatte, die Grabfassung zu betreten, mit dem Fuß zurück ins Gras. »Eben war sie doch noch da.«

Mads schwieg.

»Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denke«, sagte Fridtjof wehmütig. »Ich wache morgens mit ihr auf und schlafe abends mit ihr ein.«

Er blickte seinen Sohn an, der zustimmend nickte. Manche Abschiede waren nur der Beginn langer, stiller Gespräche.

»Denkst du auch manchmal an sie?«, fragte er.

»Ich war acht, als sie gestorben ist«, antwortete Mads ausweichend.

»Siehst du! Deswegen ist es so wichtig, dass meine Trauerrede beim nächsten Mal gut wird! Nicht nur für mich. Auch für dich. Und deine Geschwister! Das letzte Wort gehört nicht dem Tod, sondern den Lebenden.«

Eine Weile standen sie noch da, dann wandten sie sich ab und schlenderten dem Ausgang zu.

»Was macht das Geschäft?«, fragte Fridtjof.

»Ganz gut.«

»Gestorben wird immer, was?«

Mads lächelte, aber Fridtjof schüttelte den Kopf.

»Ich verstehe nicht, warum du so etwas Deprimierendes wie Trauerredner machst. Dir stand doch die ganze Welt offen.«

»Es ist nicht deprimierend.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Fridtjof sarkastisch. »Jeden Tag Kirmes.«

Mads seufzte.

»Warum ergreifst du nicht einen anständigen Beruf?«, fuhr Fridtjof fort.

»Trauerredner ist ein anständiger Beruf«, erklärte Mads.

»Quatsch!«, wetterte Fridtjof. »Arzt ist ein anständiger Beruf. Oder Anwalt. Oder Architektin. Wie Famke.«

Mads ging nicht darauf ein. »Und was ist mir dir? Dauernd glaubst du, dass du demnächst stirbst.«

»Nicht dauernd«, verteidigte sich Fridtjof.

»Das war jetzt schon die dritte Rede. Und keine hat dir gefallen.«

»Das mit dem Pferd hat mir gefallen. Das war nicht schlecht!«

»Das war nicht schlecht? Du bist fast aus dem Sarg gesprungen!«

»Das war wegen Udo, nicht wegen dem Pferd.«

Mads winkte ab.

Sie gingen schweigend weiter, aber nach ein paar Metern blieb Fridtjof plötzlich mit einem leuchtenden Ausdruck in seinem Gesicht stehen.

»Warum gehst du nicht zum Radio?«

»Zum Radio?«

»Ja, zum Radio! Du hast eine schöne Stimme. Du gehst zum Radio und wirst Moderator. Radiomoderator ist ein anständiger Beruf!«

»Ich will aber nicht zum Radio.«

»Stell dich mal da vor! Die werden deine Schuhe lieben!«

Sie blickten beide auf Mads’ Three-Tone-Derbys, elegante Budapester, die er gerne zu Anzügen im Stil der Dreißiger- und Vierzigerjahre trug.

»Überhaupt bist du immer sehr schick angezogen!«, lobte Fridtjof.

»Das sieht man im Radio nicht«, antwortete Mads.

»Das hört man aber«, behauptete Fridtjof. »Einen Mann im Anzug kann man immer heraushören.«

»Ich geh nicht zum Radio, okay?«

»Soll ich dich vielleicht begleiten? Ist es das?«

Mads runzelte die Stirn. »Wohin?«

»Zum Radio.«

Vor Mads’ geistigem Auge blitzte eine Szene auf, in der Fridtjof einem Personalchef erst einen Locher an den Kopf warf, um ihn anschließend durch die Flure zu jagen, weil er seinen Sohn nicht hatte einstellen wollen.

»Nein danke.«

Sie hatten das Friedhofstor fast erreicht, vor dem Mads sein Auto geparkt hatte. Genau genommen war es Fridtjofs Auto, der sich aber immer gern von seinem Sohn kutschieren ließ. So hatte er einen Chauffeur, und das Auto wurde bewegt. Win-win, fand Fridtjof.

An diesem Morgen hatte Fridtjof mit Bobby selbstverständlich bei Famke übernachtet, weil er nicht neben Mads als lebende Leiche auf dem Beifahrersitz zu den Amelungs hatte fahren wollen. Alles sollte so echt wie möglich sein, er wollte einen richtigen Härtetest für den Fall der Fälle.

Plötzlich war da ein helles Kinderlachen.

Irritiert wandte sich Mads um und sah einen kleinen Jungen hinter einen großen Grabstein springen.

»Was ist?«, fragte Fridtjof, der ebenfalls stehen geblieben und Mads’ Blick gefolgt war.

»Da ist …« Mads zögerte.

Versteckte sich der Kleine vor ihm? Friedhöfe waren keine Spielplätze. Kinder hatten hier nichts zu suchen, und wenn, dann an den Händen ihrer Eltern oder Großeltern.

Mads ging ein paar Schritte zurück, erreichte den großen Grabstein und spähte umher: Da war niemand. Wo war der Junge hin? Er konnte unmöglich weggelaufen sein, ohne dass Mads ihn gesehen hätte.

»Was ist?«, fragte Fridtjof wieder.

Mads schüttelte den Kopf. »Nichts. Ich dachte nur … Ach, nichts.«

Dieser Junge!, dachte Mads. Eine Schimäre – aber so echt! Was ihn besonders irritierte, war nicht, dass er offenbar neuerdings mitten am Tag halluzinierte, sondern dass er diesen Jungen schon mal gesehen hatte.

Er kannte ihn, aber er wusste nicht, woher.

4

Später, als der Tag bereits sein Licht an den hereinbrechenden Abend verlor, fuhr Mads nach Hause, bepackt mit ein paar Einkäufen für das Wochenende. Sein Vater und er bewohnten einen schmucken Backsteinbau mit weißen Fenstern, runden Oberlichtern, wild rankendem Fassadenwein und einer großen gemauerten Dachgaube, die das Gebäude praktisch teilte, sodass es aussah, als wüchse mitten aus einem Langhaus ein zweites, schmales mit einem Spitzgiebel. Der kleine Vorgarten war von einem wellenartigen Lattenzaun eingerahmt.

Schon im Hauseingang begrüßte ihn freudig Bobby, die an seinen Beinen hochsprang, weil sie von ihm getragen werden wollte. Im Wohnzimmer hörte er nicht nur die tremolierende Stimme von Udo Jürgens, sondern auch das windschiefe Gejaule seines Vaters, der lautstark die sehnsüchtige Wirkung griechischen Weins besang. So viel also zu Deep Purple.

Mads verstaute die Einkäufe in der Küche und stieg dann mit Bobby auf dem Arm in den ersten Stock, in seine geräumige Einzimmerwohnung mit angeschlossenem Bad. Er fingerte eine Vinylplatte aus seiner großen Swing- und Jazz-Sammlung, legte sie auf, ließ den Plattenarm vorsichtig sinken und wartete auf die ersten Töne, während die Nadel leise knisterte. Im nächsten Moment trieb Benny Goodmans Musik durch den Raum und flog Sekunden später mit seinen Gedanken zum Fenster hinaus, zurück zum Friedhof und zu dem Jungen mit dem geringelten T-Shirt, den verwuschelten braunen Haaren und den dünnen Beinen. Er fragte sich, warum ihm dieser Junge so bekannt vorgekommen war. Fragte sich, ob er einem Déjà-vu aufgesessen war. Fragte sich, warum dieses Kinderlachen etwas in ihm in Schwingung gebracht hatte. Er lag auf dem Bett, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, dachte nach und schlief darüber ein.

Mitten in der Nacht erwachte er aus einem aufwühlenden Traum. Was ihm im Schlaf durch den Kopf gespukt war, wusste er nicht mehr, aber es schien, als ob sich Geräusche von außen in sein Unterbewusstsein geschlichen hätten. Er lauschte angestrengt, ob sich hinter der vorgeblichen Stille nicht noch etwas anderes verbarg, als ein leises Poltern ihn aufschrecken und aus dem Bett springen ließ.

Auf spitzen Zehen schlich er nach unten. Er nahm Geräusche aus der Küche wahr, warf einen Blick durch die offene Tür, hielt inne.

Am Herd sah er seinen Vater stehen.

Im Schlafanzug. Schlafwandelnd.

Mads trat an ihn heran und berührte ihn an der Schulter. Sein Vater drehte sich um, blickte ihn an mit Augen, die nicht fanden, was sie suchten, und nicht wussten, wo sie waren.

»Komm!«, flüsterte Mads.

Er zog Fridtjof am Arm zurück in dessen Schlafzimmer, wo sich sein Vater auf die Bettkante setzte und ihn weiter ansah, ohne ihn zu erkennen.

»Stine?«, fragte er leise.

»Mama schläft«, sagte Mads.

Fridtjof blickte zu Boden. »Das ist gut.«

»Schlaf jetzt auch«, flüsterte Mads.

Sein Vater nickte und legte sich ins Bett.

Mads deckte ihn zu und drehte sich gerade zur Tür, als er ihn murmeln hörte: »Stine? Bist du da?«

Mads setzte sich wieder aufs Bett und nahm seine Hand. Es schien seinen Vater zu beruhigen. Seine Augen schlossen sich, auch wenn sein Gesicht nach wie vor keinen Frieden zeigte. Er streichelte seinen Arm, bis Fridtjof wieder hinabsank in einen tiefen Schlaf und sich seine Züge endlich entspannten.

Der Vollmond trieb seinen Vater oft aus seinen Träumen hinaus in die Einsamkeit seiner Wünsche. Unentwegt spürte er seiner Frau nach, unentwegt war er auf dem Weg zu ihr. Und doch dazu verurteilt, sie niemals zu finden.

Für Mads lag ihr Tod so weit zurück, dass er nicht mehr wusste, wie ihre Stimme geklungen oder ihre Haut gerochen hatte. Oder ob sie Links- oder Rechtshänderin gewesen war. Alles verbarg sich wie hinter einem Schleier gelebten Lebens: schmerzhaft nah und unendlich fern. Erinnerungen waren die Schatten, in denen die Toten weiterlebten. Doch warum waren seine so tief? So undurchdringlich? Warum erinnerte er sich nicht, obwohl das der Kern seines Berufes war?

Fridtjof dagegen war seit zwanzig Jahren im fensterlosen Turm seiner Sehnsüchte gefangen, behangen mit den schillerndsten Souvenirs seiner Liebe zu seiner verstorbenen Frau.

Mads richtete seinem Vater noch einmal das Kopfkissen und schlich zurück in den Flur.

Ein Brummen schreckte ihn auf, gerade als er hochgehen wollte.

Auf dem Tischchen neben der Haustür flammte das Display seines Handys auf. Grünes Licht strahlte giftig gegen die Decke. Das Telefon lag dort zusammen mit seinem Portemonnaie und den Schlüsseln. Offensichtlich hatte er alles nach seinen Einkäufen dort abgelegt und vergessen. Mads nahm es in die Hand, sah die kleine rote Eins auf dem Icon für Textnachrichten.

Öffnete die Mitteilung.

Eine unbekannte Nummer.

Und darunter nur ein einziges Wort:

Schnapp!

5

Gegen sieben Uhr in der Früh klingelte sein Handy, das jetzt wieder auf dem Nachttisch lag. Schlaftrunken nahm er den Anruf an. »Ja?«

Fiete war am anderen Ende der Leitung. »Bist du wach?«

»Nein«, antwortete Mads müde.

»Komm bitte.«

Er hatte es beiläufig gesagt, ohne jede Betonung, aber Mads war von einer Sekunde auf die nächste alarmiert.

»Was ist passiert?«, fragte er erschrocken.

»Patrick ist tot.«

Mads fuhr hoch. Bobby sprang erschrocken vom Bett. Diesen Namen hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr gehört.

»Was?«

»Komm einfach«, antwortete Fiete und legte auf.

Wie viele andere Unternehmen der Region war auch das Beerdigungsinstitut Amelung mit hanseatischer Zurückhaltung in eine Wohngegend eingebunden, sodass man es leicht übersehen konnte zwischen all den Einfamilienhäusern des Stadtteils Engelsby im Osten Flensburgs.

Die Amelungs waren alteingesessene Bestatter, ein Familienbetrieb in fünfter Generation. Angesiedelt in einem schönen, verwinkelten Altbau, in dessen Hinterhof die Garage für die zwei Leichenwagen und ein ziemlich großer, aber geschmackvoller Neubau versteckt lagen. Dort war der zweckmäßige Teil der Geschäftsräume untergebracht: die Kühlkammer, der Aufbahrungsraum, ein Abschiedsraum, das Lager mit angeschlossener Tischlerei, der Ausstellungsbereich mit Särgen, Urnen und Gebinden und der Thanatoraum, in dem die Verstorbenen hergerichtet oder wiederhergestellt wurden, wenn eine offene Aufbahrung oder eine Überführung in ein anderes Land gewünscht waren. Mads mochte diesen Raum mit den gruseligen Stahltischen und Apparaturen nicht, allein der Geruch: der gleiche kalte Hauch des Todes, wie er ihn auch verspürt hatte, als er mal für einen Auftrag der Rechtsmedizin in Kiel einen Besuch abstatten musste.

Vorne im Altbau befanden sich die Empfangs- und Besprechungsräume sowie ein Großraumbüro, über das Fietes Mutter Alva herrschte. Sie war eine große, schöne Frau in den Fünfzigern, der die Zeit offensichtlich nichts anhaben konnte. Eine Erscheinung, für gewöhnlich in grauem Hosenanzug, weißer Bluse und hellblauem Seidenschal. Man konnte nicht anders, als sie zu bewundern.

Fast immer an ihrer Seite: der stille Herr Barnardy, ein hochgeschossener, dünner Mann, der in Alvas Alter sein musste, aber aussah, als wäre er über siebzig. Volles, etwas krauses graues Haar, ein kantiger Schädel und ein enormer Bartwuchs. Er sprach so gut wie nie, erledigte seine Aufgaben gewissenhaft und hatte das Talent, wie aus dem Nichts aufzutauchen und genauso leise wieder zu verschwinden. Ein Gespenst, das Alva vollkommen ergeben war. Woher der stille Herr Barnardy gekommen war, wusste niemand. Vor fast dreißig Jahren hatte er im Institut angefangen und war seitdem nicht mehr wegzudenken. Hatte er Freunde? Ein Leben außerhalb des Instituts? Leidenschaften? Er war allen ein Rätsel.

Anfangs hatte Alva in den oberen beiden Stockwerken gewohnt, dann aber dem stillen Herrn Barnardy die Dachwohnung und Fiete die mittlere Etage überlassen, und war selbst in eine großzügige Eigentumswohnung nahe der See gezogen. Das mittlere Stockwerk stand inzwischen leer, nachdem Fiete vor drei Jahren in eine Wohnung in der Flensburger Innenstadt gewechselt war, die ebenfalls Alva gehörte.

Als Mads ins Großraumbüro des Instituts trat, fand er dort alle Angestellten in ruhiger, konzentrierter Arbeit vor, entweder telefonierend oder am Computer tippend. Fischgrätenparkett, hohe Decken, Stuck und blütenweiße Wände zierten den Raum. Die Schreibtische waren antik, die Bürostühle modern. Alva hatte eine Wand durchbrechen lassen, sodass sie selbst im hintersten Teil des Großraumbüros saß. Der stille Herr Barnardy stand neben seiner Chefin und beugte sich mit ihr über einen Stapel Papiere.

Mads winkte ihr zu, was sie mit einem freundlichen Nicken beantwortete. Dann trat er an Fietes Schreibtisch, der gerade mit einer Kundin am Telefon sprach. Es war eine Kunst, Mitgefühl auszudrücken, ohne salbungsvoll zu klingen. Den Schmerz aufzunehmen, ohne die Natürlichkeit in der Stimme zu verlieren. Verbindlich zu sein und doch die Distanz zu halten.

Mads wartete geduldig, bis Fiete aufgelegt hatte, und fragte dann: »Was ist passiert?«

»Die Polizei hat uns heute Nacht zu einem Verkehrsunfall mit Todesfolge dazugerufen. Auf der Holnisser Noorstraße. Wir haben den Toten abgeholt und in die Rechtsmedizin nach Kiel gefahren.«

»In die Rechtsmedizin? Warum?«, fragte Mads.

»Fahrerflucht. Keine Bremsspuren. Die Polizei geht davon aus, dass der Mann absichtlich überfahren wurde.«

»Und es ist wirklich Patrick Schulze?«

»Laut seinen Papieren: ja.«

Mads setzte sich zu ihm an den Schreibtisch.

Fiete fragte: »Hattet ihr noch Kontakt? Seit damals?«

»Nein.«

»Und plötzlich taucht er hier wieder auf. Nach all den Jahren.«

»Seltsame Sache, das«, sagte Mads.

Vor etwa zwanzig Jahren war Patrick, nachdem sie etwa ein Jahr lang unzertrennliche Freunde gewesen waren, aus Mads’ Leben verschwunden. Später hatte Mads Fiete öfter von Patrick erzählt, aber mit den Jahren verblasste Patrick wie die Kreidezeichnung eines Straßenkünstlers. Neue Bilder ersetzten alte, neues Leben vergangenes, bis die Erinnerung an ihn weggewaschen worden war.

»Was ist mit der Beerdigung?«, fragte Mads.

»Wir kümmern uns drum«, antwortete Fiete.

»Wer hat euch beauftragt? Seine Mutter?«

Fiete nickte und reichte ihm einen Post-it-Zettel mit ihrer Adresse. »Ja. Sie lebt in Flensburg.«

Mads las die Adresse eines Seniorenheims, während im Büro mit gedämpften Stimmen telefoniert wurde. Alva ließ sich weiterhin von Herrn Barnardy Vordrucke reichen, die sie in den Computer übertrug.

Fiete beugte sich ein wenig vor und flüsterte verschwörerisch: »Hast du eigentlich meine Nachricht gestern gelesen?«

Mads zückte sein Handy, hielt es Fiete hin und fragte: »Du meinst die hier?«

Eine WhatsApp war auf dem Display zu sehen, von Fiete verschickt. Sie lautete: 

Fiete grinste blöd. »Mein Date.«

»Dreimal Herzaugen?«

»Sie ist was ganz Besonderes. So verrückt. So ver… ver…«

»Verheiratet?«, half Mads.

Fiete zog verärgert die Augenbrauen zusammen. »Nein! Sie ist nicht verheiratet. Verwegen. Ich meinte verwegen.«

»Weiß deine Mutter schon von ihr?«, fragte Mads.

Das kühlte die Begeisterung ab.

Fiete sah zu seiner Mutter und dem stillen Herrn Barnardy, die von ihren Papieren aufgeblickt hatten und ihm jetzt misstrauische Blicke zuwarfen.

Fiete stand auf, schloss sein graues Jackett. »Gehen wir lieber in den Besprechungsraum.«

Sie verließen das Großraumbüro, traten in den Flur und setzten sich in einen von zwei Besprechungsräumen auf der gegenüberliegenden Seite, in dem ein großer antiker Tisch stand, darauf eine Silberschale, eine Karaffe Wasser, Gläser und Kleenex in einem hübsch gemusterten Behälter.

»Also – wie war euer Date?«, fragte Mads.

Fiete strahlte. »Laura ist so … so … anders!«

»Du bist ja verknallt!«

»Und wie.«

»Und sie hat kein Problem mit deinem Beruf?«

»Im Gegenteil. Sie findet das superinteressant.«

Mads runzelte die Stirn. »Sie ist aber keine verrückte Gothic-Braut, die nachts auf dem Friedhof tote Katzen herumschleudert?«

Fiete sah ihn sauer an. »Nein, sie ist ganz zauberhaft.« Er blickte an Mads vorbei zu Tür, als fürchtete er, seine Mutter könnte jeden Moment eintreten. Dann flüsterte er: »Sie ist echt toll!«

Mads flüsterte zurück: »Wirklich?«

»Ja, es ist so aufregend mit ihr«, flüsterte Fiete.

»Warum flüstern wir eigentlich?«, erkundigte sich Mads.

Fiete blickte erneut zur Tür, dann sagte er mit normaler Stimme: »Sie hat mich auf ihrem Motorrad mitgenommen. Sie fährt wie eine Irre. Ich wäre fast gestorben vor Angst, aber ich wollte nicht, dass es aufhört!«

Mads sah ihn erstaunt an. »Du beerdigst solche Typen jeden Tag, Fiete.«

»Ja, ich weiß, aber ich schwöre dir – in diesen Momenten lebst du derart intensiv! Vor allem, wenn du stürzt …«

Mads riss die Augen auf. »Ihr hattet einen Unfall?«

Fiete flüsterte wieder: »Ist nichts passiert. Außer hier …«

Er hob die rechte Schulter ein wenig an und verzog dann das Gesicht. »Ordentlich blau. Aber weißt du was? Als es passiert ist, habe ich überhaupt nichts gemerkt. Es war spektakulär! Sie ist verrückt, und ich bin es auch. Nach ihr!«

Mads nickte. »Es ist nur eine Frage der Zeit, wer dich zuerst umbringt – Laura oder deine Mutter.«

»Sie darf davon nichts erfahren. Du weißt ja, am liebsten wäre es ihr, ich heirate nächste Woche, gründe eine Familie und übernehme das Institut. Ganz seriös.«

»Willst du sie ihr vorstellen?«, fragte Mads.

»Ich weiß nicht. Ich will sie nicht aufregen. Sie gibt gern die Eiskönigin, aber ich weiß, dass sie sich ständig Sorgen um mich macht. Also, bitte – kein Wort zu ihr!«

Mads hob die Finger zum Schwur. »Ich werde schweigen wie ein Grab.«

»Ja, ja, sehr witzig. Willst du Laura mal kennenlernen? Du wirst begeistert von ihr sein!«

»Gern.«

Fiete rieb sich zufrieden die Hände: »Alles klar, bei Gelegenheit arrangiere ich was.«

6

Der Tod war oft nicht nur das Ende eines Lebens, sondern auch der Beginn eines Überlebens. Die Endgültigkeit eines verloschenen Lichts konnte Menschen in eine endlose Nacht stürzen, sie blind, taub und stumm machen. Viele wollten den Verstorbenen folgen, mit ihnen tauschen oder wenigstens die Zeit zurückdrehen, aber um was sie auch baten: Es blieb unerfüllt. Besonders schlimm war es, wenn Kinder starben oder der Schock eines Unfalls Türen für immer verschloss.

Dann begann für die Hinterbliebenen das Überleben.

Aber selbst wenn der Tod erwartet worden war, wenn jemand nach langer, schwerer Krankheit gestorben war, konnten ungelöste Konflikte hochspülen, die der Verstorbene hatte beherrschen oder verheimlichen können, solange er am Leben war. Geheimnisse, die Wahrheiten einrissen, die jahrzehntelang als Lüge aufgebaut worden waren. Nicht der Tod machte Angst, sondern das, was er offenlegte.

Dabei konnten die Reaktionen auf ein Ableben sehr unterschiedlich sein: laut, leise, emotional oder kühl. Zuweilen auch völlig unangemessen, weil Qual die Sinne vernebeln konnte wie ein starkes Medikament. Für Mads war jede Reaktion die richtige, er urteilte nicht, sondern war einfach nur da und ließ den Menschen Raum. Ob sie gebildet oder ungebildet waren, schön oder hässlich, ob sie in luxuriösen Villen oder in prekären Mietwohnungen lebten: Am Ende spielten Erfolg oder Misserfolg keine Rolle, weil der Tod der große Gleichmacher war. Er nahm die einen mit sich und erinnerte die anderen daran, dass es zu spät war, um Worte für Ungesagtes zu finden.

Wie hatte Patricks Mutter auf den Tod ihres einzigen Kindes reagiert? Das Kind, das sie zwar ersehnt, dann aber doch unverhofft geboren hatte, weil sie mit Mitte vierzig nicht mehr darauf zu hoffen gewagt hatte? Sie musste jetzt Mitte siebzig sein, aber seit wann waren die beiden wieder hier? Wann waren sie zurückgekehrt, nachdem sie damals über Nacht verschwunden waren? Was war in der Zwischenzeit geschehen?

So viele Fragen.

Am Nachmittag hatte Mads ein Trauergespräch. Der Verblichene war nach einem langen Leben eines natürlichen Todes gestorben. Eine Frau in ihren Sechzigern öffnete ihm und bot Mads Kaffee aus einer Silberkanne und einen Platz an einem Mahagonitisch an.

Mads schlug einen Notizblock auf, zog einen schönen Füllfederhalter aus dem Jackett und war im Begriff, seine erste Frage zum Verstorbenen zu stellen, als sie ihr Handy zückte und sagte: »Ich habe hier etwas für Sie!«

Sie machte ein paar Wischbewegungen mit dem Zeigefinger und hielt ihm den Bildschirm hin. Mads sah einen älteren, distinguiert wirkenden Mann, offensichtlich ihr Vater, auf einem Stuhl sitzen, die Beine lässig übereinandergeschlagen, die Hände ruhten in seinem Schoß. Offensichtlich befand er sich in seinem Büro, in das von draußen gedämpftes Licht fiel.

Im nächsten Moment begann der Film seines Lebens. Mit ruhiger, klarer Stimme grüßte der Mann und wies jovial darauf hin, dass er es bedauerte, den Zuschauenden nicht mehr persönlich kennenlernen zu können, um mit der rhetorischen Frage anzuschließen, ob dieser vielleicht Lust habe, ihn nun kennenzulernen?

Dann führte seine Stimme als Voiceover durch eine Reihe von Bildern, die seine sämtlichen Verdienste aufzeigten. Er war Vorstand eines großen Unternehmens gewesen. Hatte die Firma gerettet, als es ihr schlecht ging. War in Aufsichtsräte berufen worden. Hatte Ministerpräsidenten, Minister und sogar die Kanzlerin getroffen. War zu einem Empfang des Bundespräsidenten eingeladen worden. Hatte viele Länder bereist, um neue Märkte zu erschließen. Hatte die Ehrendoktorwürde einer renommierten Universität verliehen bekommen. Hatte dieses prächtige Haus gebaut und sowieso ein Faible für alles Schöne. Am Ende verabschiedete er sich mit der vagen Hoffnung, dass man sich ja vielleicht doch noch mal wiederträfe.

Das Bild gefror.

Ein professionell produzierter Film, der alles Private unterschlug. Mads hatte nicht mal etwas über die Familie des Toten erfahren. Über niemanden, nicht einmal über die Tochter, die ihm immer noch das Display vors Gesicht hielt.

»Und Ihre Mutter?«

Sie legte das Handy auf den Tisch. »Ist vor Jahren gestorben. Mein Vater hat ihr einen wunderschönen Grabstein aus italienischem Marmor anfertigen lassen.«

»Haben Sie Geschwister?«, fragte Mads.

Sie schwieg.

»Keine?«

»Nein«, antwortete sie.

Sie log – Mads spürte es. Aber er kannte die Familienverhältnisse nicht, wusste nur, dass es keine Geschwister gab, die vorhatten, an der Beerdigung teilzunehmen. Der Tod des Vaters hatte die Parteien offenkundig nicht befriedet, die Fronten nicht aufgelöst. Jeder hatte seine Seite gewählt.

Und überlebte.

Sie sagte: »Ich habe mit dem Bestattungsinstitut Amelung vereinbart, dass wir einen QR-Code, der zu diesem Film führt, auf dem Grabstein hinterlegen. So kann jeder, der an seinem Grab vorbeikommt, meinen Vater kennenlernen.«

Es klang beinahe trotzig.

Mads nickte. Es gab seit einiger Zeit die Möglichkeit, Grabstellen interaktiver zu gestalten. Hierzulande wurde davon kaum Gebrauch gemacht, möglicherweise weil der Tod als zu Furcht einflößend empfunden wurde, als dass man ihn mit so etwas herausfordern wollte. Aber in anderen Teilen der Welt wurde bereits experimentiert. Auch mit künstlicher Intelligenz, die irgendwann sogar Gespräche zwischen Lebenden und Toten möglich machen würde.

Da Mads den Film weder lobte noch verurteilte, er schlicht keine Meinung dazu hatte, wandte sie sich ein wenig verlegen ab und starrte schweigend aus dem Fenster in den traumschönen Garten. Irgendwann drehte sie sich um und sagte leise: »Tja.«

Mads nahm es als Zeichen, ihr seinen Fragebogen zuzuschieben, und versprach, den Vater in der Trauerrede nach ihren Wünschen auferstehen zu lassen. Sie wollte den Bogen direkt ausfüllen und bat ihn, einen Moment zu warten. Während sie kurze Stichpunkte notierte, dachte Mads an die anderen Hinterbliebenen. Er hätte gerne deren Version gehört, aber sie bezahlte die Beerdigung, sie entschied.