Über mir der Himmel - Jandy Nelson - E-Book

Über mir der Himmel E-Book

Jandy Nelson

0,0
8,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine überwältigende Liebe, ein unerträglicher Verlust, eine
Achterbahnfahrt der Gefühle


Siebzehn Jahre hat Lennie glücklich im Schatten ihrer strahlenden Schwester gelebt, siebzehn Jahre haben die beiden ihre Kleider, ihre Gedanken, ihr Lachen geteilt. Doch jetzt ist Bailey tot und Lennie in einem Haus der Trauer, wo niemand rein- oder rauskommt. Es ist, als hätte jemand den Himmel ausgeknipst. Bis Lennie sich verliebt – zum ersten Mal in ihrem Leben und gleich in zwei Jungen: Joes magisches Lächeln wird nur noch von seinem musikalischen Talent übertroffen; Toby ist stiller Cowboy, mutiger Skater – und Baileys große Liebe. Für Lennie sind sie wie Sonne und Mond; einer stößt ein Fenster in ihrem Herzen auf und lässt das Licht herein, bei dem anderen hat ihr Schmerz ein Zuhause ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 468

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
 
Widmung
 
Teil eins
I. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
 
Teil zwei
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
 
Epilog
Danksagung
Copyright
Für meine Mutter
Teil eins
I. Kapitel
GRAMA SORGT SICH um mich. Und das nicht nur, weil meine Schwester Bailey vor vier Wochen gestorben ist, meine Mutter sich sechzehn Jahre lang nicht bei mir gemeldet hat oder gar, weil ich plötzlich nur noch an Sex denke. Nein, sie ist besorgt, weil eine ihrer Topfblumen Flecken hat.
Den größten Teil meiner siebzehn Jahre war Grama unerschütterlich der Überzeugung, ebendiese Topfblume, ein eher unscheinbares Gewächs, sei Spiegel meines gefühlsmäßigen, seelischen und körperlichen Wohlbefindens. Und in diesem Glauben bin ich aufgewachsen.
Schräg gegenüber von mir, in der anderen Ecke des Raumes, beugt sich Grama – in voller Länge von ein Meter achtzig und geblümtem Kleid – sorgenvoll über die schwarz gefleckten Blätter.
»Dieses Mal wird es vielleicht nicht besser? Was willst du damit sagen?«, fragt sie Onkel Big, den Baumpfleger, residierenden Oberkiffer und irren Wissenschaftler obendrein. Zu jedem Thema weiß er etwas, doch über Pflanzen weiß er alles.
Auf jeden anderen mag es seltsam wirken, völlig abgedreht womöglich, dass Grama bei dieser Frage mich anstarrt … auf Onkel Big aber nicht, denn der starrt mich auch an.
»Dieses Mal ist der Zustand sehr ernst.« Bigs Stimme dröhnt wie von einer Bühne oder Kanzel, seine Worte sind schwergewichtig, sogar Reich mir mal das Salz klingt aus seinem Munde wie die Verkündung der Zehn Gebote.
Verstört legt Grama die Hand ans Gesicht und ich kritzele weiter mein Gedicht auf den Rand von Sturmhöhe. Ich hab mich in die Sofaecke gekauert. Ich hab keine Lust zu reden, könnte meinen Mund genauso gut zur Aufbewahrung von Büroklammern nutzen.
»Aber früher hat diese Pflanze sich immer wieder erholt, Big, damals zum Beispiel, als Lennie sich den Arm gebrochen hat.«
»Da hatten die Blätter weiße Flecken.«
»Oder erst letzten Herbst, als sie das Probespiel für die erste Klarinette hatte, aber doch wieder an der zweiten bleiben musste.«
»Braune Flecken.«
»Oder als …«
»Dieses Mal ist es anders.«
Ich schaue auf. Sie beäugen mich noch immer, ein hochgewachsenes Duett aus Trauer und Besorgnis.
Grama ist der Gartenguru von Clover. Sie hat den außergewöhnlichsten Blumengarten in Nordkalifornien. Ihre Rosen explodieren in Farben, die ein ganzes Jahr Sonnenuntergänge in den Schatten stellen, der Duft ist berauschend, schon wenn man ihn einatmet, so will es die Legende, ist es möglich, sich auf der Stelle zu verlieben. Aber Gramas berühmtem grünen Daumen zum Trotz scheint diese Pflanze der Flugbahn meines Lebens zu folgen, völlig losgelöst von Gramas Bemühungen oder der eigenen pflanzlichen Vernunft.
Ich lege Buch und Stift auf den Tisch. Grama rückt ganz nah an die Pflanze heran, flüstert ihr von der Bedeutung des joie de vivre zu, stapft dann rüber zum Sofa und setzt sich neben mich. Und Big kommt dazu, der seine enorme Gestalt neben Grama plumpsen lässt. Wir drei, jeder mit dem gleichen ungebärdigen schwarzen Haar auf dem Kopf, bleiben so sitzen, starren auf gar nichts und der Nachmittag vergeht.
Das sind wir, seit meine Schwester Bailey vor einem Monat mit einer tödlichen Arrhythmie zusammengebrochen ist, bei einer Probe von Romeo und Julia
2. Kapitel
(Gefunden auf dem Pfad zum Rain River, auf Lollipapier geschrieben)
MEIN ERSTER TAG zurück in der Schule beginnt erwartungsgemäß, die Pausenhalle teilt sich wie das Rote Meer, als ich reinkomme, Gespräche werden gedämpft, Augen werden feucht vor nervösem Mitgefühl und alle starren mich an, als würde ich Baileys toten Körper in den Armen halten. Vermutlich tu ich das auch. Ihr Tod haftet mir an, ich spüre ihn und alle sehen ihn mit bloßen Augen wie einen dicken schwarzen Mantel, in den ich mich an einem schönen Frühlingstag gehüllt habe. Was ich allerdings nicht erwartet habe, ist ein noch nie da gewesener Aufruhr wegen so eines neuen Jungen, Joe Fontaine, der während meiner vierwöchigen Abwesenheit zu uns gekommen ist. Überall, wo ich hingehe, dasselbe:
»Hast du ihn schon gesehen?«
»Er sieht aus wie ein Zigeuner.«
»Wie ein Rockstar.«
»Ein Pirat.«
»Ich hab gehört, er spielt in einer Band namens Dive.«
»Er ist ein Musikgenie.«
»Irgendwer hat gesagt, dass er früher in Paris gelebt hat.«
»Dass er Straßenmusik gemacht hat.«
»Hast du ihn schon gesehen?«
Ich hab ihn gesehen, denn als ich meinen Platz im Orchester wieder einnehmen will, den, den ich schon seit einem Jahr belege, sitzt er drauf. Selbst vom Kummer benommen wandert mein Blick von den schwarzen Stiefeln aufwärts über die Meilen von mit Jeansstoff bedeckten Beinen und über den endlosen Torso, bis sie schließlich an einem so lebhaft wirkenden Gesicht hängen bleiben, dass ich mich fragen muss, ob ich möglicherweise ein Gespräch zwischen ihm und meinem Notenständer unterbrochen habe.
»Hi«, sagt er und springt auf. Er ist baumlang. »Du musst Lennon sein.« Er deutet auf meinen Namen auf dem Stuhl. »Ich hab gehört von … Es tut mir leid.« Mir fällt auf, wie er seine Klarinette hält, nicht wie eine Kostbarkeit, sondern mit festem Griff um den Hals, wie ein Schwert.
»Danke«, sage ich und jeder verfügbare Quadratzentimeter seines Gesichts erstrahlt von seinem Lächeln. Wow! Ist der von einem Windstoß aus einer anderen Welt in unsere Schule geweht worden? Der Typ sieht auf eine kürbislaternenartige Weise unverfroren glücklich aus. Nichts könnte fremdartiger anmuten in dem mürrischen Gehabe, das die meisten von uns zur Perfektion zu treiben versuchen. Er hat massenhaft in alle Richtungen wippende, wuschelige braune Locken und Wimpern, so lang und dick wie Spinnenbeine. Wenn er blinzelt, scheint er einen mit seinen strahlend grünen Augen anzuplinkern. Sein Gesicht ist offener als ein offenes Buch, eigentlich hat es etwas von einer Wand voller Graffiti. Mir fällt auf, dass ich mit dem Finger wow auf meinen Schenkel schreibe und ich beschließe, lieber den Mund aufzumachen, damit wir diesen spontanen Anstarrwettbewerb abbrechen können.
»Alle sagen Lennie zu mir«, sage ich. Nicht so originell, aber besser als uuah, was die Alternative gewesen wäre, und es erfüllt seinen Zweck. Eine Sekunde lang guckt er auf seine Füße und ich formiere mich neu für Runde zwei.
»Übrigens hab ich schon überlegt, ob das wohl Lennon nach John sein könnte?« Wieder hält er meinen Blick fest – es ist nicht auszuschließen, dass ich gleich ohnmächtig werde. Oder in Flammen aufgehe.
Ich nicke. »Mom war Hippie.« Wir befinden uns schließlich im nördlichen Nordkalifornien – dem äußersten Vorposten des Freaktums. In der elften Klasse allein gibt es ein Mädchen namens Electricity, einen Jungen namens Magic Bus und zahllose Blumen. Tulip, Begonia und Poppy – alles Namen, die Eltern in Geburtsurkunden eintragen ließen. Tulip ist eine Zweitonnenwalze von Kerl, er wäre der Star unseres Footballteams, wenn wir denn so eine Schule mit Footballteam wären. Sind wir aber nicht. Wir sind so eine Schule mit freiwilliger Morgenmeditation in der Turnhalle.
»Jaja«, sagt Joe. »Meine Mom auch und mein Dad und die Tanten, Onkel, Brüder und Cousinen … Willkommen in der Fontaine-Kommune.«
Ich lache laut. »Ich weiß Bescheid.«
Aber Moment mal – sollte ich wirklich so leicht lachen können? Und sollte es sich so gut anfühlen? Wie das Eintauchen in kühles Flusswasser.
Ob uns jemand beobachtet hat? Ich drehe mich um, Sarah kommt gerade herein, besser gesagt, sie explodiert in den Musikraum. Seit der Beerdigung habe ich sie kaum gesehen und ein Schuldgefühl durchzuckt mich.
»Lenniiieeee!« Sie schießt auf uns zu in schönster Zum-Cowgirl-mutierter-Goth-Gestalt: eng anliegendes schwarzes Jahrgangskleid, Shitkicker Cowboystiefel, blondes Haar so schwarz gefärbt, dass es blau aussieht, und als Krönung des Ganzen ein riesiger Cowboyhut. Ich registriere die halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der sie sich nähert, und überlege noch, ob sie wohl tatsächlich vorhaben könnte, mir in die Arme zu springen, bevor sie es versucht und wir beide in Joe hineinschlittern, der es irgendwie schafft, sein Gleichgewicht und unseres zu halten, sodass wir nicht alle miteinander aus dem Fenster fliegen.
Das ist Sarah in gedämpfter Stimmung.
»Gute Arbeit«, flüstere ich ihr ins Ohr, während sie mich umarmt wie ein Bär, obwohl sie gebaut ist wie ein Vogel. »So haut man den neuen Prachtjungen von den Socken.« Sie prustet los und es ist ein wunderbares wie verstörendes Gefühl für mich, jemanden im Arm zu halten, den es vor Lachen und nicht vor Kummer schüttelt.
Sarah ist die begeisterungsfähigste Zynikerin auf diesem Planeten. Sie würde die perfekte Cheerleaderin abgeben, wenn sie nicht so angewidert wäre von der Vorstellung des Schulgemeinschaftsgeists. Wie ich ist sie Literaturfanatikerin, doch sie liest dunkler, in der zehnten Klasse hat sie Sartre gelesen – Der Ekel -, da hat sie auch angefangen Schwarz zu tragen (sogar am Strand), Zigaretten zu rauchen (obwohl sie aussieht wie das gesündeste Mädchen auf weiter Flur) und sich mit ihrer Existenzkrise verrückt zu machen (sogar wenn sie bis in die frühen Morgenstunden abfeierte).
»Lennie, willkommen zurück, meine Liebe«, sagt jemand anders. Mr James, den ich im Stillen Yoda nenne, sowohl aufgrund der äußeren Erscheinung als auch wegen der inneren musikalischen Qualitäten, hat sich am Klavier hingestellt und schaut mit dem gleichen Ausdruck abgrundtiefer Traurigkeit zu mir hinüber, mit dem ich von Erwachsenen in letzter Zeit immer angesehen werde. Ich hab mich dran gewöhnt. »Uns allen tut es so sehr leid.«
»Danke«, sage ich zum hundertsten Mal an diesem Tag. Sarah und Joe sehen mich auch beide an, Sarah mit Sorge, Joe mit einem Grinsen, das von Küste zu Küste der USA reicht. Ob der wohl alle so ansieht? Hat er vielleicht eine Schraube locker? Egal, was es auch sein mag oder was er auch haben mag, es ist ansteckend. Ehe ich weiß, wie mir geschieht, gehe ich bei seinem Von-Küste-zu-Küste-Grinsen mit und erhöhe noch um Puerto Rico bis Hawaii. Ich muss aussehen wie die Lustige Witwe. Tss. Und damit nicht genug, jetzt überlege ich auch noch, wie es wohl sein mag, ihn zu küssen, ihn so richtig zu küssen – uh-oh. Das ist ein Problem, ein völlig neues, überhaupt nicht Lennie-gemäßes Problem, das sich zum ersten Mal (warum, verdammte Scheiße?!) auf der Beerdigung bemerkbar machte: Ich versank in Finsternis und plötzlich fingen all diese Typen im Raum an zu leuchten. Freunde von Bailey, vom Job oder vom College, die meisten kannte ich nicht, kamen zu mir und sprachen mir ihr Beileid aus. Ob es nun an meiner Ähnlichkeit mit Bailey lag oder ob sie Mitleid mit mir hatten, ich weiß es nicht, jedenfalls ertappte ich später einige von ihnen dabei, wie sie mich auf so eine hitzige, dringliche Art anschauten. Und ich stellte fest, dass ich ihr Starren auf die gleiche Weise erwiderte, so als wäre ich eine ganz andere; und die Dinge dachte, an die ich vorher kaum gedacht hatte, Dinge, die ich mich schämte, in einer Kirche zu denken und erst recht bei der Beerdigung meiner Schwester.
Dieser vor mir strahlende Junge scheint in einer Klasse für sich zu strahlen. Er muss aus einem sehr freundlichen Teil der Milchstraße stammen, denke ich, während ich versuche, das durchgeknallte Lächeln auf meinem Gesicht herunterzufahren. Doch dann kann ich nicht an mich halten und sage zu Sarah: »Der sieht aus wie Heathcliff.« Mir ist nämlich gerade aufgegangen, dass das den Nagel auf den Kopf trifft, na ja, vielleicht mal abgesehen von der Sache mit dem glücklichen Lächeln – aber plötzlich wird mir der Teppich unter den Füßen weggezogen und ich knalle auf den kalten, harten Beton des Lebens, denn mir fällt wieder ein, dass ich nach der Schule nicht nach Hause rennen und Bailey von einem neuen Jungen im Orchester erzählen kann.
Meine Schwester stirbt immer und immer wieder, den ganzen Tag lang.
»Len?« Sarah berührt mich an der Schulter. »Geht’s?«
Ich nicke und mit meiner Willenskraft zwinge ich den außer Kontrolle geratenen Zug des Kummers, der auf mich zurasen wollte, zu verschwinden.
Hinter uns stimmt jemand die Titelmelodie von »Der Weiße Hai« an. Ich dreh mich um, Rachel Brazile gleitet auf uns zu. »Sehr witzig«, meckert sie den Saxophonisten Luke Jacobus an, der für diese Einlage verantwortlich ist. Er ist nur eines von vielen Orchester-Opfern, die Rachel in ihrem Fahrwasser zurückgelassen hat. Einer von den Jungs, die sich davon haben blenden lassen, dass all dieser hochnäsige Horror in einen spektakulären Körper gestopft ist, um dann noch weiter von großen Rehaugen und Rapunzelhaaren getäuscht zu werden. Sarah und ich sind überzeugt davon, dass Gott ironisch drauf war, als er sie erschaffen hat.
»Wie ich sehe, hast du den Maestro bereits kennen gelernt«, sagt sie zu mir. Ganz beiläufig berührt sie Joes Rücken, als sie auf ihren Platz rutscht – den der ersten Klarinette -, auf dem eigentlich ich sitzen sollte.
Sie öffnet ihren Kasten und fängt an, ihr Instrument zusammenzubauen. »Joe hat am Konservatorium in Fronce Unterricht genommen. Hat er dir das erzählt?« Natürlich kann sie nicht Frankreich sagen wie normale Sterbliche. Ich spüre, wie sich Sarahs Nackenhaare aufstellen. Sie hat null Toleranz für Rachel, seit die die erste Position an sich gerissen hat. Aber Sarah weiß nicht, was wirklich vorgefallen ist – niemand weiß das.
Rachel schraubt an der Blattschraube ihres Mundstücks, als ob sie die Klarinette erwürgen wollte. »Joe war in deiner Abwesenheit eine fabelhafte Zweite«, sagt sie und zieht das Wort fabelhaft von hier bis zum Eiffelturm.
Ich speie kein Feuer wie: »Schön, dass alles nach deinen Wünschen gelaufen ist, Rachel.« Ich sage kein Wort, wünsche mir nur, ich könnte mich ganz klein zusammenrollen und wegkullern.
Sarah hingegen sieht aus, als wünschte sie sich ungehinderten Zugriff auf eine Streitaxt.
Inzwischen ist im Raum ein Durcheinander von willkürlichen Tönen und Tonleitern losgebrochen. »Seht zu, dass ihr fertig werdet mit dem Stimmen, wir fangen heute pünktlich an«, ruft Mr James vom Klavier her. »Und nehmt eure Bleistifte zur Hand, ich habe Änderungen am Arrangement vorgenommen.«
»Dann geh ich mal lieber und schlag auf was«, sagt Sarah, wirft Rachel einen angewiderten Blick zu und zieht mit hoher Nase ab, um auf ihre Pauke zu schlagen.
Rachel zuckt die Achseln, lächelt Joe an – nein, sie lächelt nicht, sie zwinkert: o Scheiße. »Na, ist doch wahr«, sagt sie zu ihm. »Du warst – ich meine, du bist – fabelhaft.«
»Ach was.« Er bückt sich und packt seine Klarinette ein. »Ich bin ein Stümper, hab nur den Stuhl warm gehalten. Jetzt kann ich wieder dahin zurück, wo ich hingehöre.« Er zeigt mit seiner Klarinette zu den Hörnern.
»Du bist nur bescheiden«, sagt Rachel und wirft die Märchenlocken über die Stuhllehne. »Du hast so viele Farben auf deiner Tonpalette.«
Ich sehe Joe an und erwarte angesichts dieser schwachsinnigen Äußerung, irgendwelche Anzeichen eines innerlichen Stöhnens ausmachen zu können, sehe aber Anzeichen von etwas ganz anderem. Er schenkt auch Rachel ein Lächeln von geografischer Weite. Mein Hals wird ganz heiß.
»Weißt du, ich werde dich vermissen«, sagt sie schmollend.
»Wir sehen uns wieder«, antwortet Joe und erweitert sein Repertoire noch um einen Augenaufschlag. »Nächste Stunde, in Geschichte.«
Ich bin wie in der Versenkung verschwunden, was eigentlich gut ist, denn plötzlich hab ich nicht die geringste Ahnung, was ich mit meinem Gesicht, meinem Körper oder dem zerschmetterten Herz anfangen soll. Ich setze mich auf meinen Platz und stelle fest, dass dieser grinsende, wimpernklimpernde Idiot aus Fronce kein bisschen so aussieht wie Heathcliff. Hab mich geirrt.
Ich mache meinen Klarinettenkasten auf, nehme mein Blatt in den Mund, um es anzufeuchten, beiße es aber stattdessen entzwei.
3. Kapitel
DER REST DES TAGES zieht vorüber wie hinter einer Nebelwand. Vor dem letzten Klingeln schleiche ich mich hinaus und tauche in die Wälder ab. Für den Heimweg will ich nicht die Straße nehmen, will nicht riskieren, irgendjemanden aus der Schule zu treffen, schon gar nicht Sarah, die mir mitgeteilt hat, dass sie, während ich mich versteckt habe, Bücher über Verlust und Trauer gelesen hat und nach Meinung sämtlicher Experten sei es nun Zeit für mich, über das zu reden, was ich durchmache. Aber sie und die Experten – und Grama übrigens auch – kapieren es nicht. Ich kann nicht. Ich brauche ein neues Alphabet, eins, das aus fallender Bewegung besteht, aus Kontinentalverschiebungen, aus tiefer, alles verschlingender Dunkelheit.
Auf meinem Weg durch die Redwood-Bäume saugen meine Schuhe den Regen von Tagen auf. Warum, frage ich mich, geben Hinterbliebene sich überhaupt mit Trauerkleidung ab, wo der Schmerz selbst doch so eine unverkennbare Garderobe bereitstellt? Der Einzige, der heute nichts an mir bemerkt hat – abgesehen von Rachel, die nicht zählt -, war der Neue. Er wird mich immer nur als diese neue, schwesterlose Person kennen.
Ich sehe ein Stück Papier auf dem Boden liegen, das trocken genug ist, um darauf zu schreiben, also setze ich mich auf einen Stein, ziehe den Stift heraus, den ich jetzt immer in der hinteren Hosentasche trage, und kritzele aus der Erinnerung ein Gespräch hin, das Bailey und ich mal hatten. Ich falte den Zettel und vergrabe ihn in der feuchten Erde.
Als ich schließlich aus dem Wald heraus auf die Straße zu unserem Haus trete, überkommt mich Erleichterung. Ich will zu Hause sein, wo Bailey am lebendigsten ist, wo ich sie immer noch sehen kann, wie sie sich aus dem Fenster lehnt, wie ihr das wilde schwarze Haar ums Gesicht weht, wenn sie sagt: »Kommschon, Len, wir gehen runter an den Fluss – und das pronto.«
»He, du.« Tobys Stimme erschreckt mich. Der Junge, mit dem Bailey seit zwei Jahren zusammen war, ist teils Cowboy, teils Skater, ganz Liebessklave meiner Schwester – und in letzter Zeit total von der Bildfläche verschwunden, trotz Gramas vieler Einladungen. »Wir müssen wirklich versuchen, ihn zu erreichen«, sagt sie immer wieder.
Er liegt auf dem Rücken in Gramas Garten, Lucy und Ethel, die rötlichen Hunde der Nachbarn, haben sich schlafend neben ihm ausgestreckt. Im Frühling ist das ein ganz normales Bild. Wenn die Engelstrompeten und der Flieder blühen, hat Gramas Garten etwas absolut Einschläferndes. Nach ein paar Augenblicken inmitten der Blüten finden sich sogar die Energiegeladensten auf dem Rücken liegend beim Wolkenzählen wieder.
»Ich … äh … jäte ein bisschen Unkraut für Grama«, sagt er. Offenbar ist ihm seine Rückenlage peinlich.
»Ja, so was passiert selbst den Besten von uns.« Bei dieser Surfertolle und dem breiten, sonnig-sommersprossigen Gesicht kann die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Löwe kaum größer sein. Als Bailey und ich ihm zum ersten Mal begegneten, waren wir straßenlesend unterwegs (in unserer Familie sind wir alle Straßenleser, die paar Leute, die in unserer Straße wohnen, wissen das und schleichen in ihren Autos nach Hause, es könnte schließlich sein, dass einer von uns ganz besonders entrückt draußen herumstrolcht.) Ich hab Sturmhöhe gelesen wie üblich und sie las Bittersüße Schokolade, ihr Lieblingsbuch, als ein großartiges kastanienbraunes Pferd Richtung Reitweg an uns vorbeitrabte. Schönes Pferd, dachte ich und wandte mich wieder Cathy und Heathcliff zu, doch wenige Sekunden später musste ich noch mal aufschauen, denn ich hörte, wie Baileys Buch dumpf auf dem Boden aufschlug.
Sie war nicht mehr an meiner Seite, sondern ein paar Schritte hinter mir stehen geblieben.
»Was hast du?«, fragte ich, als ich meiner plötzlich lobotomisierte Schwester gewahr wurde.
»Hast du diesen Typen gesehen, Len?«
»Welchen Typen?«
»Gott, was ist bloß los mit dir, diesen tollen Typen auf dem Pferd. Es ist, als wäre er meinem Roman entsprungen oder so. Nicht zu fassen, dass du ihn nicht gesehen hast, Lennie.« Ihre Verzweiflung über mein allgemeines Desinteresse an Jungs war ebenso tief wie meine Verzweiflung über ihr allzu spezielles Interesse an ihnen. »Er hat sich umgedreht, nachdem er an uns vorbeigeritten ist, und er hat mich angelächelt – der sah vielleicht gut aus … so wie dieser Revolutionär in diesem Buch.« Sie hob ihr Buch auf und wischte den Dreck vom Einband. »Du weißt schon, der, der Gertrudis auf sein Pferd zieht und sie in einem Anfall von Leidenschaft entführt -«
»Ist ja gut, Bailey.« Ich drehte mich wieder um, las weiter und erreichte schließlich unsere Veranda, wo ich in einen Sessel sank und mich prompt in der rasenden Leidenschaft dieser beiden Menschen auf den englischen Mooren verlor. Am liebsten war mir die Liebe zwischen zwei Buchdeckeln und nicht im Herzen meiner Schwester, wo sie dazu führte, dass Bailey mich monatelang nicht beachtete. Trotzdem schaute ich immer wieder zu ihr hinüber, wie sie am Reitweg auf einem Felsen posierte und so offensichtlich vorgab zu lesen, dass ich nicht glauben konnte, dass sie wirklich Schauspielerin war. Dort blieb sie stundenlang sitzen und wartete auf die Rückkehr ihres Revolutionärs. Der kehrte auch zurück, doch als es endlich so weit war, kam er aus der anderen Richtung und hatte sein Pferd irgendwo gegen ein Skateboard eingetauscht. Es stellte sich heraus, dass er nicht einem Roman entsprungen war, sondern der Clover High, wie wir anderen auch, aber er hing mit den Rancherkids und den Skatern herum, und da Bailey ausschließlich Theaterdiva war, hatten sich ihre Wege bis zu jenem Tag nie gekreuzt. Zu diesem Zeitpunkt spielte es allerdings schon keine Rolle mehr, woher er kam und worauf er sich fortbewegte, denn das Bild von ihm als galoppierender Reiter hatte sich tief in Baileys Psyche eingebrannt und ihr das rationale Denkvermögen geraubt.
Eigentlich bin ich nie Mitglied des Toby-Shaw-Fanklubs gewesen. Weder diese Cowboysache, noch dass er es fertigbrachte, auf seinem Skateboard von einem 180°-Ollie zu einem Fakie-Feeble-Grind überzuleiten, konnten aufwiegen, dass er Bailey dauerhaft in einen Liebeszombie verwandelt hatte.
Das war das eine und dazu kam noch, dass er mich so beachtenswert fand wie eine Ofenkartoffel.
»Alles okay mit dir, Len?«, fragt er aus seiner liegenden Position heraus und holt mich wieder in die Gegenwart zurück.
Aus irgendeinem Grund sage ich die Wahrheit. Ich schüttele den Kopf, hin und her, von Unglauben zu Verzweiflung … und wieder zurück.
Er setzt sich auf. »Ich weiß«, sagt er und ich sehe an diesem verlassenen Ausdruck in seinem Gesicht, dass es wahr ist. Ich will ihm danken, weil er mich nicht zwingt, ein Wort zu sagen, aber mich trotzdem versteht, doch ich schweige weiter, während die Sonne wie mit einer Kanne über unsere wirren Köpfe Hitze und Licht ausgießt.
Er klopft auf das Gras, ich soll mich zu ihm setzen. Irgendwie will ich, bin jedoch zögerlich. Wir waren eigentlich nie ohne Bailey zusammen.
Ich mache eine Kopfbewegung Richtung Haus. »Ich muss nach oben.«
Das ist wahr. Ich möchte zurück ins Allerheiligste, mit vollem Namen: das innerste Kürbisallerheiligste, vor Kurzem von mir so benannt, nachdem Bailey mich davon überzeugt hatte, dass die Wände unseres Zimmers einfach orange sein mussten, ein brüllend unbescheidenes Orange zudem, das seither das Tragen von Sonnenbrillen in unserem Zimmer erforderlich gemacht hatte. Ehe ich diesen Morgen zur Schule gegangen bin, habe ich die Tür bewusst geschlossen und mir gewünscht, eine Barrikade gegen Grama und ihre Pappkartons errichten zu können. Ich will das Allerheiligste so behalten, wie es ist, und das heißt, es soll genau so bleiben, wie es war. Anscheinend glaubt Grama, das bedeutet, ich hab nicht mehr alle Äste in der Krone, gramamesisch für durchgeknallt.
»Kleine Wicke.« Sie kommt in einem grelllila Kleid mit Gänseblümchenmuster auf die Veranda. In der Hand hält sie einen Pinsel. Zum ersten Mal seit Baileys Tod sehe ich sie wieder mit einem Pinsel. »Wie war dein erster Tag?«
Ich geh zu ihr rüber, atme ihren vertrauten Duft ein, Patchouli, Farbe, Gartenerde.
»War gut«, sage ich.
Sie mustert mein Gesicht genau, so wie sie es tut, wenn sie sich anschickt, es zu zeichnen. Zwischen uns tickt das Schweigen, so wie immer in letzter Zeit. Ich spüre ihre Frustration, spüre, wie sie wünscht, sie könnte mich schütteln wie ein Buch, wie sie hofft, die Wörter würden alle einfach aus mir herausfallen.
»Im Orchester ist ein neuer Junge.«
»Ach, tatsächlich? Was spielt er?«
»Anscheinend alles.« Ehe ich in der Mittagspause in die Wälder geflüchtet bin, hab ich ihn mit Rachel über den Hof gehen sehen, eine Gitarre schwenkend.
»Lennie, ich hab mir gedacht … es wäre vielleicht jetzt gut für dich, ein echter Trost …« Uh-oh. Ich weiß, worauf das hinausläuft. »Ich meine, als du bei Marguerite Unterricht hattest, konnte ich dir dieses Instrument nicht aus der Hand reißen -«
»Die Dinge ändern sich«, unterbreche ich sie. Dieses Gespräch kann ich jetzt nicht führen. Nicht schon wieder. Ich versuche, an ihr vorbei nach drinnen zu gehen. Ich will einfach nur in Baileys Wandschrank sitzen, an ihre Kleider gedrückt, in dem Duft von Lagerfeuern am Fluss, von Kokossonnenöl, Rosenparfüm – und ihr.
»Hör mal«, sagt sie leise und richtet mit ihrer freien Hand meinen Kragen. »Ich hab Toby zum Essen eingeladen. Er hat offensichtlich nicht mehr alle Äste in der Krone. Geh und leiste ihm Gesellschaft, hilf ihm beim Jäten oder sonst was.«
Wahrscheinlich hat sie zu ihm etwas ganz Ähnliches über mich gesagt, um ihn dazu zu bringen, endlich rüberzukommen, geht mir auf. Würg.
Und dann, ohne weitere Umstände, tupft sie den Pinsel auf meine Nase.
»Grama!« Aber das rufe ich schon ihrem Rücken zu, denn sie ist auf dem Weg zurück ins Haus. Mit der Hand versuche ich, die grüne Farbe abzuwischen. Bailey und ich haben einen großen Teil unseres Lebens so verbracht, ständig wurden wir von Gramas kühnem grünen Pinsel attackiert. Immer nur grün übrigens. Gramas Gemälde bedecken jede Wand im Haus vom Boden bis zur Decke, sie sind hinter Sofas und Stühlen gestapelt, unter Tischen, in Schränken und jedes einzelne zeugt von ihrer unvergänglichen Hingabe zur Farbe Grün. Sie hat jede Nuance von Limonen- bis Waldgrün und benutzt sie in erster Linie, um ein einziges Motiv zu malen: gertenschlanke Frauen, die halb nach Meerjungfrau, halb nach Marsianerinnen aussehen. »Das sind meine Damen«, hat sie Bailey und mir immer erzählt. »Sie sind halb hier, halb da.«
Ihrer Anweisung folgend lasse ich Klarinettenkasten und Tasche fallen, pflanze mich zwischen einem trägen Toby und den schlafenden Hunden ins warme Gras und helfe »jäten«.
Toby nickt gleichgültig in seinem Blumenkoma. Ich bin eine grünnasige Ofenkartoffel. Toll.
Ich mache mich zur Schildkröte, ziehe die Knie an die Brust und lege den Kopf in die Spalte dazwischen. Mein Blick wandert vom Blauregen, der sich über das Spalier ergießt, zu den Narzissen, die in mehreren Gruppen tratschend im Wind stehen, und es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass der Frühling heute seinen Regenmantel abgestreift hat und einfach angeberisch herumstolziert – mir wird ganz übel davon, es ist, als habe die Welt schon vergessen, was uns passiert ist.
»Ich werde ihre Sachen nicht in Kartons packen«, sage ich, ohne nachzudenken. »Niemals.«
Toby rollt sich auf die Seite, er schützt sein Gesicht mit der Hand vor der Sonne, damit er mich sehen kann, und zu meiner Überraschung sagt er: »Natürlich nicht.«
Ich nicke und er nickt zurück, dann lasse ich mich ins Gras fallen und verschränke die Arme über dem Kopf, damit er nicht sieht, dass ich darunter heimlich ein wenig lächele.
Dann nehme ich meine Umgebung erst wieder wahr, als die Sonne sich hinter einen Berg verzogen hat, und dieser Berg ist Onkel Big, der über uns aufragt. Toby und ich müssen beide eingeschlafen sein.
»Ich fühle mich wie Glinda die Gute Hexe«, sagt Big, »als sie in dem vor Oz gelegenen Mohnfeld auf Dorothy, die Vogelscheuche und zwei Totos herunterschaut.« Ein paar narkotisierende Frühlingsblüten können es nicht mit Bigs Trompetenstimme aufnehmen. »Also, wenn ihr nicht aufwacht, werde ich es wohl auf euch schneien lassen müssen.« Ich grinse benommen zu ihm hoch, sein enormer Schnauzbart sitzt angriffslustig über seiner Oberlippe wie die Große Schrägheitserklärung. An Stelle einer Aktentasche trägt er eine rote Kühltasche bei sich.
»Wie geht die Verteilungsarbeit voran?«, frage ich und tippe mit dem Fuß auf die Kühltasche. Wir haben Schinkenprobleme. Nach der Beerdigung war in Clover offenbar die Losung ausgegeben worden, bei uns zu Haus mit einem Schinken vorbeizuschauen. Schinken waren überall, sie füllten den Kühlschrank, die Gefriertruhe, sie lagen nebeneinander aufgereiht auf den Küchenschränken, hockten in der Spüle und im kalten Backofen. Onkel Big ging an die Tür, wenn die Leute vorbeikamen, um uns ihr Beileid auszusprechen. Ein übers andere Mal konnten Grama und ich seine dröhnende Stimme hören: »O, ein Schinken, wie aufmerksam, danke, kommt doch herein.« Im Laufe der Tage wurde Bigs Reaktion auf die Schinken immer dramatischer – damit wir auch etwas davon hatten. Jedes Mal wenn er ausrief »Ein Schinken!«, sahen Grama und ich uns in die Augen und mussten ein unangemessenes Gekicher unterdrücken.
Jetzt ist es Bigs Mission, dafür zu sorgen, dass auch jeder im Umkreis von 20 Meilen sein tägliches Schinkenbrot bekommt.
Er stellt die Kühltasche auf den Boden ab und reicht mir die Hand, um mir aufzuhelfen. »Möglicherweise wird dies in wenigen Tagen ein schinkenloses Haus sein.«
Als ich stehe, küsst Big meinen Kopf, dann zieht er Toby hoch. Als der steht, nimmt Big ihn in die Arme, und ich beobachte, wie Toby, der selber ziemlich groß ist, in der gewaltigen Umarmung verschwindet. »Wie hältst du dich denn so, Cowboy?«
»Nicht so gut«, gibt er zu.
Big lässt ihn los, behält eine Hand auf seiner Schulter und legt die andere auf meine. Er schaut von Toby zu mir. »Wir kommen nicht drum rum, wir müssen da durch … das gilt für jeden von uns.« Das sagt er wie Moses, also nicken wir beide, als hätte man uns eine große Weisheit anvertraut. »Und dir holen wir jetzt mal ein bisschen Terpentin.« Er zwinkert mir zu. Big ist ein großer Zwinkerer – seine fünf Ehen beweisen das. Nachdem er von seiner geliebten fünften Frau verlassen worden war, hatte Grama darauf bestanden, dass er zu uns zog. Sie sagte: »Euer armer Onkel wird noch verhungern, wenn er noch länger in diesem liebeskranken Zustand verbleibt. Ein trauerndes Herz vergiftet jedes Rezept.«
Das hat sich als wahr erwiesen, zumindest was Grama angeht. Alles, was sie jetzt kocht, schmeckt wie Asche.
Toby und ich folgen Big ins Haus, wo er vor dem Bild seiner Schwester stehen bleibt, meiner verschwundenen Mutter: Paige Walker. Ehe sie vor sechzehn Jahren weggegangen ist, hat Grama ein Porträt von ihr gemalt, das nie vollendet, aber dennoch aufgehängt wurde. Es schwebt über dem Kaminsims im Wohnzimmer, eine halbe Mutter mit langem grünen Haar, das wie Wasser ein unvollendetes Gesicht umspielt.
Grama hat uns immer erzählt, unsere Mutter würde zurückkommen. »Sie kommt wieder«, hat sie immer gesagt, so als wäre Mom Eier kaufen gegangen oder zum Schwimmen an den Fluss. Grama hat das so oft und mit solcher Überzeugung gesagt, dass wir es, ehe wir es besser wussten, lange Zeit nicht infrage gestellt haben. Wir haben nur sehr viel Zeit damit verbracht, auf das Klingeln des Telefons oder der Türklingel zu warten und auf das Eintreffen der Post.
Ich tippe mit meiner Hand ganz sachte an Bigs, der die Halbmutter anstarrt wie jemand, der in ein leises, schwermütiges Gespräch vertieft ist. Er seufzt, legt mir einen Arm und Toby den anderen um und wir trotten alle in die Küche wie ein dreiköpfiger, sechsbeiniger, zehn Tonnen schwerer Trauersack.
Das Abendessen ist – wie nicht anders zu erwarten – ein Schinken-und-Asche-Eintopf, den wir kaum anrühren.
Danach liegen Toby und ich auf dem Fußboden im Wohnzimmer herum, hören Baileys Musik, schauen uns zahllose Fotoalben an und lassen uns mehr oder weniger das Herz in tausend Stücke sprengen.
Ich muss ihn von der anderen Seite des Zimmers her immer wieder heimlich anschauen. Ich sehe beinahe vor mir, wie Bailey um ihn herumstolziert und ihm von hinten die Arme um den Hals schlingt, so wie es ihre Angewohnheit war. Dann hat sie ihm ekelerregend peinliche Sachen ins Ohr geflüstert und er hatte sie auch geneckt und beide haben sie immer so getan, als wäre ich gar nicht da.
»Ich kann Bailey spüren«, sage ich schließlich, das Gefühl ihrer Anwesenheit ist überwältigend. »In diesem Zimmer, bei uns.«
Überrascht schaut er von dem Album auf seinem Schoß auf. »Ich auch. Das denke ich schon die ganze Zeit.«
»Das ist so schön«, sage ich, Erleichterung bricht mit diesen Worten aus mir hervor.
Er lächelt und kneift dabei die Augen zusammen, als würde ihn die Sonne blenden. »Das ist es, Len.« Ich erinnere mich, dass Bailey mir mal erzählt hat, mit Menschen würde Toby nicht besonders viel reden, aber auf der Ranch könne er verschreckte Pferde mit ein paar Worten zur Ruhe bringen. Wie der heilige Franziskus, hab ich zu ihr gesagt, und ich glaube fest daran – das leise Murmeln seiner Stimme ist beruhigend wie Wellen, die bei Nacht an den Strand schwappen.
Ich widme mich wieder den Fotos von Bailey als Wendy in der Peter-Pan-Aufführung der Grundschule von Clover. Keiner von uns erwähnt es noch mal, aber das tröstliche Gefühl von Baileys Nähe verlässt mich den Rest des Abends nicht.
Später stehen Toby und ich vorm Garten und verabschieden uns. Der schwindelerregende, betrunken machende Duft der Rosen umfängt uns.
»War toll, was mit dir zu machen, Lennie, mir geht’s besser.«
»Mir auch«, sage ich und pflücke eine Lavendelblüte. »Viel besser, echt.« Ich sage das leise zum Rosenbusch, denn ich bin mir nicht sicher, ob ich will, dass er es hört, aber als ich wieder in sein Gesicht gucke, ist es lieb, seine Löwenzüge wirken weniger ausgewachsen, eher löwenbabyartig.
»Ja«, sagt er und schaut mich an. Seine dunklen Augen glänzen und sind traurig. Er hebt den Arm und eine Sekunde lang denke ich, er will mein Gesicht mit der Hand berühren, aber er fährt sich nur mit den Fingern durch sein Sonnenhaar.
In Zeitlupe gehen wir die paar verbleibenden Schritte bis zur Straße. Sobald wir da angekommen sind, tauchen Lucy und Ethel aus dem Nichts auf und klettern an Toby hoch, der auf die Knie gegangen ist, um ihnen auf Wiedersehen zu sagen. Mit einer Hand hält er das Skateboard, mit der anderen zaust und streichelt er die Hunde, denen er Unverständliches ins Fell flüstert.
»Du bist wirklich der heilige Franziskus, was?« Ich hab was übrig für die Heiligen – für die Wunder, nicht für die Kasteiungen.
»Das wird behauptet.« Ein mildes Lächeln streift über die Weiten seines Gesichts und landet in seinen Augen. »Hauptsächlich von deiner Schwester.« Für den Bruchteil einer Sekunde will ich ihm sagen, dass ich es war, die das gesagt hat, nicht Bailey.
Er beendet sein Abschiednehmen und steht wieder auf. Dann lässt er das Skateboard auf den Boden fallen und stellt den Fuß drauf. Er steigt nicht auf. Ein paar Jahre vergehen.
»Ich geh jetzt mal«, sagt er und geht nicht.
»Mmm«, sage ich. Noch ein paar Jahre ziehen ins Land.
Bevor er endlich auf sein Brett springt, umarmt er mich und wir halten uns unter dem traurigen, sternenlosen Himmel so fest, dass es mir einen Moment lang so vorkommt, als gäbe es hier nur ein gebrochenes Herz, nicht zwei.
Aber dann spüre ich plötzlich etwas Hartes an der Hüfte, ihn, das. Verdammte Scheiße noch mal! Schnell weiche ich zurück, sage tschüss und renne wieder ins Haus.
4. Kapitel
FOLGENDES GESCHIEHT nach Joe Fontaines erstem Trompetensolo im Orchester: Als Erste bin ich hin, ohnmächtig sinke ich gegen Rachel, die Cassidy Rosenthal anstößt, die auf Zachary Quittner kippt, der auf Sarah fällt, die gegen Luke Jacobus taumelt … bis wir alle in einem benommenen Haufen auf dem Boden liegen. Dann hebt sich das Dach, die Wände stürzen ein, und mit einem Blick aus dem Fenster stelle ich fest, dass sich nicht weit von uns eine Gruppe Mammutbäume entwurzelt hat, über den Hof kommt und auf den Musikraum zuhält, eine Bande riesiger hölzerner Männer klatscht die Zweige aneinander. Zu guter Letzt tritt der Rain River über seine Ufer und windet sich nach links und nach rechts, bis er dann den Weg in den Musiksaal der Clover High findet, wo er uns alle davonträgt – so gut ist er.
Wir musikalisch Normalsterbliche hingegen müssen uns erst berappeln, um das Stück zu beenden, das tun wir auch, doch als wir am Ende der Probe unsere Instrumente einpacken, ist es im Saal still wie in einer leeren Kirche.
Schließlich erlangt Mr James, der Joe angestarrt hat, als wäre er ein Pfau, die Sprache wieder und sagt: »So, so. Um es mal mit euren Worten zu sagen: schöne Scheiße.« Alle lachen. Ich drehe mich um, denn ich will sehen, wie Sarah es fand. Unter einer riesigen Rastamütze ist nur so gerade eben ein Auge zu erkennen. Oberhammergeil lese ich von ihren Lippen ab. Ich schaue rüber zu Joe. Er wischt seine Trompete ab und er ist rot geworden, ob wegen der Reaktion oder wegen des Spielens weiß ich nicht genau. Er schaut hoch, fängt meinen Blick und hebt dann erwartungsvoll die Augenbrauen, beinahe so, als wolle er mir zu verstehen geben, dass der Sturm, der da eben aus seiner Trompete gekommen ist, für mich war. Aber warum sollte das so sein? Und warum erwische ich ihn immer wieder dabei, wie er mich beim Spielen beobachtet? Das ist kein Interesse, also, damit will ich sagen, nicht so ein Interesse, das merke ich. Er beobachtet mich wie ein Forschungsobjekt, intensiv, so wie Marguerite im Unterricht, wenn sie zu ergründen versuchte, was in aller Welt ich falsch machte.
»Daran brauchst du nicht mal zu denken«, sagt Rachel, als ich mich wieder umdrehe. »Auf diesem Trompeter steht mein Name. Abgesehen davon ist der eine Nummer zu groß für dich, Lennie. Denn wann hast du denn das letzte Mal einen Freund gehabt? Ach so, ja, nie.«
Ich denke daran, ihr die Haare in Brand zu stecken.
Ich denke an mittelalterliche Foltergeräte: insbesondere das Streckbrett.
Ich denke daran, ihr zu erzählen, was letztes Jahr im Herbst beim Vorspiel für die erste Klarinette tatsächlich passiert ist.
Stattdessen ignoriere ich sie, wie ich sie das ganz Jahr ignoriert habe, wische meine Klarinette ab und wünsche, ich hätte tatsächlich nur Joe Fontaine im Kopf und nicht das, was mit Toby vorgefallen ist. Wenn ich dieses Gefühl wieder wachrufe, wie er sich an mich presst, rasen jedes Mal Schauer durch meinen Körper. Das ist ganz bestimmt nicht die angemessene Reaktion auf den Steifen vom Freund deiner Schwester! Und was noch schlimmer ist, in meiner ganz privaten Gedankenwelt mache ich mich nicht wie im wirklichen Leben von ihm los, sondern bleibe bei ihm, umschlungen von seinen Armen unter dem ruhigen Himmel – und mir wird heiß vor Scham.
Ich klappe meinen Klarinettenkasten zu und wünsche mir, mit diesen Gedanken an Toby ebenso verfahren zu können. Ich schaue mich um – die anderen Blechbläser haben sich um Joe geschart, als ob der Zauber ansteckend wäre. Seit dem ersten Tag nach meiner Rückkehr habe ich kein Wort mit ihm gewechselt. Mit jemand anderem in der Schule eigentlich auch nicht. Nicht mal mit Sarah.
Mr James klatscht in die Hände, um sich die Aufmerksamkeit des Orchesters zu verschaffen. Mit seiner aufgeregten, knarzigen Stimme redet er über die Proben des Sommerorchesters, denn in knapp einer Woche ist die Schule zu Ende. »Für diejenigen, die hier sind: Wir werden proben, im Juli fangen wir an. Wer kommt, wird mitbestimmen, was wir spielen. Ich denke da an Jazz« – er schnippt mit den Fingern wie ein Flamencotänzer – »vielleicht ein bisschen heißen spanischen Jazz, aber ich bin offen für Vorschläge.«
Er hebt die Arme wie ein Prediger vor der Gemeinde. »Findet den Rhythmus, meine Freunde, und haltet ihn.« Damit beendet er jede Probe. Doch nach einer Weile klatscht er noch einmal in die Hände. »Hätte ich fast vergessen: Diejenigen, die vorhaben, nächstes Jahr für die All-State vorzuspielen, mögen bitte die Hand heben.« O nein. Ich lasse meinen Bleistift fallen und bücke mich, um eine eventuelle Blick-Kollision mit Mr James zu vermeiden. Als ich nach meiner sorgfältigen Inspektion des Fußbodens wieder auftauche, vibriert mein Telefon in der Hosentasche. Ich drehe mich zu Sarah um, deren sichtbares Auge aus der Höhle zu treten scheint. Heimlich hole ich mein Handy hervor und lese ihre SMS.
Warum hast du nicht die Hand gehoben???
Beim Solo musste ich an dich denken – an diesen Tag!
Kommst du rüber heut Abend??? Ich gebe ihr Zeichen: Kann nicht.
Sie nimmt einen ihrer Schlagstöcke und mimt eindrucksvoll, dass sie ihn sich mit beiden Händen in den Bauch rammt. Ich weiß, dass hinter dem Harakiri die Wunde immer größer wird, doch ich weiß nicht, was ich dagegen machen soll. Zum ersten Mal in unserem Leben bin ich an einem Ort, den sie nicht finden kann, und ich hab keine Karte für sie.
Schnell packe ich meine Sachen zusammen, damit ich ihr aus dem Weg gehen kann, was leicht ist, weil Luke Jacobus sie in eine Ecke getrieben hat, und dabei überfällt mich die Erinnerung an den Tag, den sie erwähnt hat. Das war am Anfang unseres ersten Oberstufenjahres, wir hatten beide die Aufnahmeprüfung ins Orchester geschafft. Mr James, besonders frustriert über uns alle, war auf einen Stuhl gesprungen und hatte gebrüllt: »Was ist denn bloß los mit euch, Leute? Ihr denkt, ihr seid Musiker? Ihr müsst euren Arsch in den Wind halten!« Dann hatte er gesagt: »Kommt, mir nach. Diejenigen, die das können, nehmen ihre Instrumente mit.«
Im Gänsemarsch verließen wir den Musiksaal, liefen den Pfad zum Wald hinunter, wo der Fluss rauschte und röhrte. Wir blieben alle am Ufer stehen, während er auf einen Felsen kletterte, um uns eine Ansprache zu halten.
»So, nun hört, lernt und dann spielt, spielt einfach nur. Macht Krach. Macht irgendwas. Macht Musiiiiiiiiik.« Dann fing er an, den Fluss zu dirigieren, den Wind, die Vögel in den Bäumen wie ein absoluter Vollidiot. Nachdem wir unseren hysterischen Anfall hinter uns hatten und uns wieder beruhigten, fing von denen, die Instrumente mitgebracht hatten, einer nach dem anderen an zu spielen. Unglaublich, ich war eine der Ersten, und nach einer Weile vermischten sich Fluss, Wind und Vögel mit Klarinetten, Flöten und Oboen zu einem gloriosen kakofonischen Getümmel und Mr James leitete seine Aufmerksamkeit vom Wald wieder auf uns um, sein Körper wiegte sich, seine Arme fuchtelten nach links und rechts und er sagte: »Das ist es, das ist es. Das ist es!«
Und das war es.
Nachdem wir wieder in den Musiksaal zurückgegangen waren, kam Mr James zu mir und gab mir die Visitenkarte von Marguerite St. Denis. »Ruf sie an«, sagte er. »Sofort.«
Ich denke an Joes virtuosen Auftritt heute und spüre es in meinen Fingern. Ich balle sie zu einer Faust. Was immer es war, was immer diese Sache war, die Mr James uns an diesem Tag im Wald entdecken lassen wollte, ob Hemmungslosigkeit oder Leidenschaft, Innovation oder einfach Mut, Joe hat es.
5. Kapitel
(Gefunden auf einem Pappbecher am Ufer des Rain River)
ICH WEISS, ER IST ES, und wünschte, ich wüsste es nicht. Würde ich doch an irgendwen, nur nicht gleich an Toby denken, wenn ich das Ping eines Kieselsteins an der Fensterscheibe höre. Ich sitze in Baileys Wandschrank, schreibe ein Gedicht an die Wand und versuche, die Panik im Zaum zu halten, die in meinem Körper herumsaust wie ein gefangener Komet.
Ich ziehe Baileys Bluse aus, die ich über meine gezogen habe, packe den Türknauf und katapultiere mich wieder zurück ins Allerheiligste. Auf dem Weg zum Fenster drücken sich meine nackten Füße in die drei im Raum verteilten, platt getretenen blauen Läufer, Stücke vom Himmelsblau, die Bailey und ich jahrelang in halsbrecherischen Tanzwettbewerben in Grund und Boden gestampft haben, wenn wir einander an Albernheit zu übertreffen versuchten, ohne dabei selber eine Miene zu verziehen. Ich hab immer verloren, denn Bailey verfügte über Waffen wie das Frettchengesicht, welches in Kombination mit ihren meisterhaften Monkey Moves absolut tödlich war. Wenn sie diese Nummer abzog (was mehr Beherrschung abverlangte, als ich je aufbringen konnte), war ich zum Scheitern verurteilt und endete unweigerlich als hilfloses Häuflein Hysterie auf dem Boden.
Ich lehne mich über die Fensterbank und sehe, wie nicht anders erwartet, Toby unter einem fast vollen Mond. Die Meuterei in meinem Inneren habe ich nicht erfolgreich unterdrücken können. Ich atme tief durch, dann gehe ich nach unten und öffne die Tür.
»Hey, was ist los?«, sage ich. »Alle schlafen.« Meine Stimme krächzt, unbenutzt, mir könnten Fledermäuse aus dem Mund fliegen. Ich betrachte ihn eingehend unter der Verandalampe. In seinem Gesicht rast der Kummer. Als würde ich in einen Spiegel gucken.
»Ich dachte, wir könnten vielleicht ein bisschen rumhängen«, sagt er. Und in meinem Kopf hör ich nur: Latte, Latte, Erektion, Steifer, Hammer, Ständer, Latte, Latte, Latte – »Ich muss dir was erzählen, Len, weiß nicht, wem ich’s sonst erzählen soll.« Das Dringliche in seiner Stimme rast durch mich hindurch wie ein Schaudern. Die rote Warnleuchte über seinem Kopf könnte nicht greller aufblitzen, aber ich kann trotzdem nicht Nein sagen, will es nicht.
»Treten Sie ein, Sir.«
Er berührt meinen Arm im Vorbeigehen auf eine freundliche, brüderliche Art, die mich entspannt. Vielleicht kriegen Jungs ja immerzu Steife, aus keinem besonderen Grund – ich hab ja null Ahnung vom Latten-Abc. Bis jetzt hab ich nur drei Jungs geküsst, bin also total unerfahren mit real existierenden Jungs, allerdings Expertin, wenn es um die in Büchern geht, besonders Heathcliff, der keine Erektionen kriegt – Moment mal, wenn ich so darüber nachdenke … dann muss er andauernd welche kriegen mit Cathy auf den Mooren. Heathcliff muss doch ein total ausgetickter Ständertyp sein.
Ich mache die Tür hinter Toby zu und bedeute ihm, still zu sein, während er mir die Treppe hinauf zum Allerheiligsten folgt, das schallisoliert ist, um den Rest des Hauses vor Jahren jaulender Klarinettentöne zu schützen. Grama würde einen Infarkt kriegen, wenn sie wüsste, dass er mich vor einem Schultag gegen zwei Uhr nachts besucht. Egal, welche Nacht, Lennie. Das hat sie ganz bestimmt nicht im Sinn gehabt, als sie ihn erreichen wollte.
Sobald die Tür des Allerheiligsten geschlossen ist, lege ich die Indie-Selbstmordmusik auf, die ich in letzter Zeit immer höre, und setze mich neben Toby auf den Boden, mit unseren Rücken an der Wand, die Beine sind ausgestreckt. Schweigend lehnen wir da wie zwei Steinplatten. Mehrere Jahrhunderte gehen ins Land.
Als ich es nicht mehr aushalte, mache ich einen Witz: »Möglicherweise hast du dieses Ding mit dem starken, stillen Typen doch zu weit getrieben.«
»O, sorry.« Verlegen schüttelt er den Kopf. »Ich merk nicht mal mehr, dass ich es tu.«
»Was tust?«
»Nicht reden …«
»Echt. Was denkst du denn, was du tust?«
Er legt den Kopf zur Seite, lächelt schief und anbetungswürdig. »Ich wollte auf Eiche machen, so wie die da unten im Garten.«
Ich lache. »Dann war das sehr gut, du bringst die perfekte Eichenimitation.«
»Danke … glaub, ich hab Bailey verrückt gemacht mit meinem Schweigen.«
»Neenee, sie mochte das, hat sie mir erzählt. Weniger Anlässe, nicht einer Meinung zu sein … plus mehr Bühnenzeit für sie.«
»Stimmt.« Er schweigt eine Weile, dann sagt er mit einer Stimme, die zittrig ist vor Gefühlen: »Wir waren so verschieden.«
»Ja«, sage ich leise. Diametrale Gegensätze, Toby immer heiter und ruhig (wenn nicht zu Pferd oder zu Brett), während Bailey alles auf einmal machte: gehen, reden, denken, lachen, feiern – und zwar mit Lichtgeschwindigkeit und mit dem entsprechenden Leuchten.
»Du erinnerst mich an sie …«, sagt er.
Ich will herausplatzen: Was? Du hast dich immer so verhalten, als wäre ich eine Ofenkartoffel! Aber stattdessen sage ich: »Kann nicht sein, ich hab nicht diese Strahlkraft.«
»Du hast jede Menge … ich hab da ernsthafte Defizite«, sagt er und klingt ganz erstaunlich nach Kartoffel.
»Für sie nicht«, sage ich. Sein Blick erwärmt sich – und das bringt mich um. Wo bleiben wir nur mit all dieser Liebe?
Ungläubig schüttelt er den Kopf. »Ich hab Glück gehabt. Dieses Schokoladenbuch …«
Das Bild fällt mich an: Bailey, wie sie vom Stein springt, an dem Tag, an dem sie sich begegnet sind, als Toby auf seinem Brett zurückkam. »Ich wusste, du würdest zurückkommen!«, hatte sie gerufen und das Buch in die Luft geworfen. »Genau wie in dieser Geschichte. Ich hab es gewusst!«
Ich habe das Gefühl, in Tobys Kopf läuft derselbe Tag noch einmal ab, denn unsere höfliche Ungezwungenheit ist kreischend zum Stillstand gekommen – all diese Vergangenheitsformen in unseren Sätzen türmen sich plötzlich auf, als wollten sie uns erdrücken.
Ich sehe die Verzweiflung über sein Gesicht kriechen, so wie sie vermutlich auch über meines kriecht.
Ich schaue mich um in unserem Zimmer, das jubilierende Orange, das wir über das schlafmützige Blau geklatscht haben, das wir jahrelang hatten. Bailey hatte gesagt: »Wenn das nicht unser Leben ändert, dann weiß ich auch nicht, was es tun wird. Dies, Lennie, ist die Farbe Außergewöhnlich.« Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, ich möchte nicht, dass unser Leben sich ändert, und ich habe nicht verstanden, warum sie das wollte. Ich erinnere mich noch, wie ich dachte, dass ich das Blau immer gemocht hatte.
Ich seufze. »Ich bin echt froh, dass du aufgetaucht bist, Toby. Ich hatte mich in Baileys Schrank versteckt und mich stundenlang zum Wahnsinn getrieben.«
»Gut. Dass du froh bist, mein ich, ich wusste nicht, ob ich dich nerven sollte, aber ich konnte auch nicht schlafen … hab so irre Sachen auf dem Brett gemacht, dass ich mich hätte umbringen können, dann bin ich hier gelandet und hab eine Stunde unter dem Pflaumenbaum gesessen und versucht zu entscheiden …«
Das volle Timbre von Tobys Stimme lenkt meine Aufmerksamkeit plötzlich auf die andere Stimme im Raum, der Sänger, der aus dem Lautsprecher grölt, klingt bestenfalls wie jemand, dem es gerade an die Gurgel geht. Ich stehe auf, um etwas Melodischeres aufzulegen, als ich mich dann wieder hinsetze, vertraue ich ihm an: »In der Schule kapiert es niemand, nicht wirklich, nicht mal Sarah.«
Er legt den Kopf an die Wand. »Weiß nicht, ob es möglich ist, so was zu verstehen, wenn man nicht drinsteckt wie wir. Ich hatte keine Ahnung …«
»Ich auch nicht«, sage ich und mit einem Mal will ich Toby drücken, weil ich so erleichtert bin, dass ich heute Nacht nicht mehr so allein drinstecken muss.
Er schaut auf seine Hände runter, seine Stirn ist gefurcht, als würde er darum ringen, wie er etwas ausdrücken soll. Ich warte.
Und warte.
Ich warte hier immer noch. Wie hat Bailey diese Funkstille durchgestanden?
Als er aufschaut, ist sein Gesicht voller Mitgefühl, ganz Löwenjunges. Die Worte sprudeln aus ihm hervor, eins aufs andere. »Dass Schwestern sich so nahestehen können, hab ich gar nicht gewusst … Es muss furchtbar für dich sein, Lennie. Es tut mir so leid. Immerzu denke ich daran, wie es ohne sie für dich sein mag.«
»Danke«, flüstere ich. Und ich meine es auch so und ganz plötzlich will ich ihn berühren, mit meiner Hand über seine Hand streichen, die nur ein paar Zentimeter von mir entfernt auf seinem Schenkel liegt.
Ich schaue schnell zu ihm rüber, er sitzt so dicht neben mir, dass ich sein Shampoo rieche, und ein verstörender, entsetzlicher Gedanke setzt sich in mir fest: Er sieht wirklich gut aus, erschreckend gut. Wie kann es sein, dass ich das nie bemerkt habe?
Das kann ich beantworten: Er ist Baileys Freund, Lennie. Was ist eigentlich los mit dir?
Liebe Gedanken, schreibe ich mit dem Finger auf meine Jeans, benehmt euch.
Tut mir leid, flüstere ich Bailey in meinem Kopf zu, ich wollte nicht auf diese Art an Toby denken. Und ich versichere ihr, dass es nicht wieder vorkommen wird.
Aber er ist der Einzige, der es versteht, füge ich hinzu. O Scheiße.
Nach einer wortlosen Weile holt er eine Flasche Tequila aus der Jackentasche und schraubt sie auf.
»Willst du was?«, fragt er. Na toll, das wird helfen.
»Klar.« Ich trinke äußerst selten, aber vielleicht wird es helfen, vielleicht wird es mir diesen Wahnsinn austreiben. Ich greife nach der Flasche und unsere Finger berühren sich dabei einen Augenblick zu lang, als ich sie nehme. Das bilde ich mir nur ein, beschließe ich, setze die Flasche an die Lippen, nehme einen kräftigen Schluck und spucke alles ganz entzückend wieder über uns aus. »Igitt, ist das widerlich.« Mit dem Ärmel wische ich mir über den Mund. »Puh.«
Er lacht, streckt die Arme aus und zeigt mir, wie ich ihn zugerichtet habe. »Ist gewöhnungsbedürftig.«
»Sorry«, sage ich. »Wusste gar nicht, dass das so eklig ist.«
Als Antwort prostet er mit der Flasche in die Luft und nimmt dann einen Schluck. Ich bin fest entschlossen, es noch einmal zu versuchen, ohne im hohen Bogen auszuspucken. Ich greife nach der Flasche, setze sie an die Lippen und lasse die Flüssigkeit meine Kehle hinunterbrennen, danach nehme ich gleich noch einen Schluck, einen größeren.
»Sachte«, sagt Toby und zieht mir die Flasche weg. »Ich muss dir was erzählen, Len.«
»Okay.« Ich genieße die Wärme, die über mich gekommen ist.
»Ich hatte Bailey gefragt, ob sie mich heiratet …« Das sagt er so schnell, dass ich es nicht gleich mitkriege. Er schaut mich an und versucht meine Reaktion darauf einzuschätzen. Die ist: Was zum Geier soll das, verdammt noch mal!
»Dich heiraten? Ist das ein Witz?« Sicher nicht die Reaktion, die er sich gewünscht hat, aber ich bin wie vom Schlag gerührt, er könnte mir ebenso gut eröffnet haben, er plane eine Karriere als Feuerschlucker. Die beiden waren erst neunzehn und Bailey hatte eine tief verwurzelte Ehephobie.
»Was hat sie gesagt?« Ich fürchte mich vor der Antwort.
»Sie hat Ja gesagt.« Das sagt er mit ebenso viel Hoffnung wie Hoffnungslosigkeit, die Verheißung lebt noch in ihm. Sie hat Ja gesagt. Ich nehme den Tequila, kippe, schmecke nichts und spüre auch das Brennen nicht. Mich verblüfft, dass Bailey das gewollt hat, es verletzt mich, dass sie es gewollt hat, es verletzt mich tief, dass sie es mir nie erzählt hat. Ich muss wissen, was sie gedacht hat, und kann nicht fassen, dass ich sie nicht fragen kann. Nie mehr. Ich schaue Toby an, sehe die Ernsthaftigkeit in seinen Augen, die wie ein weiches kleines Tier ist.
»Es tut mir leid, Toby.« Ich versuche, meine Ungläubigkeit und meine verletzten Gefühle zu deckeln, komme dann aber doch nicht dagegen an. »Ich weiß nicht, warum sie mir das nicht erzählt hat.«
»Wir wollten es euch allen in der Woche darauf erzählen. Ich hatte nur gebeten …« Wie er dieses wir benutzt, das große wir, das waren immer Bailey und ich gewesen, nicht Bailey und Toby. Plötzlich fühle ich mich von einer Zukunft ausgeschlossen, die nicht mal stattfinden wird.
»Aber was sollte aus ihrer Schauspielerei werden?«, sage ich statt: Und was sollte aus mir werden?
»Sie hat gespielt …«
»Jaja, aber …« Ich sehe ihn an. »Du weißt, was ich meine.« Und dann sehe ich an seinem Gesichtsausdruck, dass er überhaupt nicht weiß, was ich meine. Klar, manche Mädchen träumen von Hochzeiten, aber Bailey hat von der Juilliard geträumt, der Juillard School in New York City. Ich hab mir mal im Netz die Leitlinie von denen angesehen: Eine künstlerische Ausbildung von größtem Format für begabte Musiker, Tänzer und Schauspieler aus aller Welt zu bieten, sodass sie ihr volles Potenzial als Künstler, Leitende und Weltbürger entfalten können.
Schon wahr, nach der Ablehnung hat sie sich im letzten Herbst an der Clover-State-Uni immatrikuliert und in keinem anderen College beworben, aber ich war mir sicher gewesen, dass sie es noch einmal versuchen würde. Denn, mal ehrlich, wie könnte sie das nicht tun? Das war ihr Traum.
Wir lassen das Thema fallen. Der Wind ist stärker geworden und fängt an, im Haus zu klappern. Ich spüre, wie mich Kälte packt und ziehe mir eine Wolldecke vom Schaukelstuhl, die ich mir über die Beine lege. Nach dem Tequila fühlt es sich an, als ob ich zu nichts zerschmelze, das will ich auch, ich will verschwinden. Ich hab das dringende Verlangen, die ganze orange Wand vollzuschreiben. Ich brauche ein Alphabet von aus Büchern herausgerissenen Enden, von aus Uhren gerupften Zeigern, von kalten Steinen, von Schuhen, in denen nur der Wind allein steckt. Ich lasse den Kopf auf Tobys Schulter fallen. »Wir sind die traurigsten Menschen der Welt.«
»Jap«, sagt er und drückt einen Augenblick lang mein Knie. Ich ignoriere die Schauer, die mich durchlaufen.