Über uns das Tosen des Sturms - Janine Ukena - E-Book

Über uns das Tosen des Sturms E-Book

Janine Ukena

0,0
12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Alle Geheimnisse haben ihren Preis. Manche kosten das Herz. Im dritten mitreißenden und romantischen New-Adult-Roman in Janine Ukenas Sylt-Suspense-Trilogie muss sich die junge Anwältin Jette auf einen Deal mit dem charismatischen Joshua einlassen, der sie vor große berufliche und emotionale Herausforderungen stellt  …  Als Jette in einer angesehenen Anwaltskanzlei auf Sylt anfängt, wird ihr der Fall des neuen Mandaten Joshua Winter zugeteilt – auf dessen ausdrücklichen Wunsch. Jette ahnt sofort, dass Joshua nun den Preis für einen Gefallen einfordern wird, um den sie ihn vor Jahren bitten musste. Joshua steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten. Er braucht Jettes Unterstützung als Anwältin, doch er verfolgt noch eine ganz eigene Agenda, die er niemandem anvertraut. Während Jette um die Kontrolle in ihrem ersten großen Fall ringt, verfängt sich Joshua immer tiefer in den Fallstricken seines eigenen Plans. Je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Vertrauen und Verrat. Für Jette steht nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihr Herz auf dem Spiel. Und Joshua muss sich fragen, ob er endlich bereit ist, das Richtige zu tun, auch wenn es ihn alles kosten könnte … New-Adult-Suspense voller großer Emotionen und dramatischer Wendungen auf der wunderschönen Insel Sylt. Mit den Tropes: forced proximity, dark secret, found family und she hates him but he is obsessed with her. Die Sylt-Suspense-Trilogie umfasst folgende Bände: - Band 1: Vor uns das Rauschen des Meeres - Band 2: Zwischen uns das Flüstern der Wellen - Band 3: Über uns das Tosen des Sturms

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 460

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Janine Ukena

Über uns das Tosen des Sturms

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Alle Geheimnisse haben ihren Preis. Manche kosten das Herz.

Als Jette in einer angesehenen Anwaltskanzlei auf Sylt anfängt, wird ihr der Fall des neuen Mandaten Joshua Winter zugeteilt – auf dessen ausdrücklichen Wunsch. Jette ahnt sofort, dass Joshua nun den Preis für einen Gefallen einfordern wird, um den sie ihn vor Jahren bitten musste.

Joshua steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten. Er braucht Jettes Unterstützung als Anwältin, doch er verfolgt noch eine ganz eigene Agenda, die er niemandem anvertraut.

Während Jette um die Kontrolle in ihrem ersten großen Fall ringt, verfängt sich Joshua immer tiefer in den Fallstricken seines eigenen Plans. Je mehr Zeit die beiden miteinander verbringen, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen Vertrauen und Verrat. Für Jette steht nicht nur ihre Karriere, sondern auch ihr Herz auf dem Spiel. Und Joshua muss sich fragen, ob er endlich bereit ist, das Richtige zu tun, auch wenn es ihn alles kosten könnte …

Band 3 der mitreißenden Sylt-Suspense-Trilogie, auch unabhängig lesbar.

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Motto

Playlist

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

Zeitungsartikel

45. Kapitel

Epilog

Danksagung

»There is peace even in the storm.«

 

Vincent van Gogh

Playlist

Pazifik – Provinz

Alleine – Berq

Alaska (Robin Skit) – Provinz

Red Flag – Cloudy June

Mir geht es gut – Levin Liam, Miksu/Macloud

sleep at night – Cat Burns

Liebe verloren – Schmyt

The Prophecy – Taylor Swift

Fata Morgana – Nina Chuba

Träumen – Berq

The Greatest – Billie Eilish

Die Erde dreht sich (ohne mich) – ENNIO

6/10 – Dodie

Pirouetten – Berq

1000 Nächte – Provinz

House of Cards – Alexander Stewart

The Man – Taylor Swift

Fühlst du gar nichts? – ENNIO, Nina Chuba

People Watching – Conan Gray

It’ll Be Okay – Shawn Mendes

Green Light – Lorde

Waiting Game – BANKS

Shadows – Sabrina Carpenter

To Each His Own – Talos

Kiss Me – Ed Sheeran

Fine Line – Harry Styles

Tau mich auf – Zartmann

Prolog

Es war einmal ein Mädchen, das aus Geschichten gewoben war, und ein Junge, der aus Geheimnissen bestand.

Das Mädchen aus Geschichten wollte gesehen werden. Ihr größter Wunsch war es, dass ihre Worte Gehör fanden und ihre Träume verstanden wurden. Sie war eine Meisterin darin, die Welt um sich mit Fantasie zu erfüllen, doch diese Fantasien behielt sie stets für sich. Mit einem Lächeln auf den Lippen verbarg sie, dass sie lieber in ihren Träumen schwebte, als die Aufgaben zu bewältigen, die ihr auferlegt worden waren. Dieses Lächeln war ihre Rüstung, mit der sie immer sorglos erschien. Und sie spielte ihre Rolle so überzeugend, dass jeder ihr glaubte.

Der Junge aus Geheimnissen wollte verschwinden. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als in der Anonymität unterzutauchen. Seine Welt bestand aus Schatten und verschlossenen Türen. Sicherheit und Ruhe waren seine größten Sehnsüchte, doch stattdessen fand er sich in einem Labyrinth aus Schweigen und Geheimnissen wieder. Seine Gefühle verbarg er hinter einem Netz aus Lügen und einem Panzer aus Härte, als gäbe es sein schlagendes Herz nicht. Und auch er spielte seine Rolle so perfekt, dass niemand daran zweifelte.

Das Mädchen und der Junge begegneten sich oft, doch erst jetzt lernten sie einander wirklich kennen. Und vielleicht wollten sie nicht wahrhaben, dass sie mehr gemeinsam hatten, als ihnen lieb war. Das Mädchen lächelte, der Junge log. Doch beide durchschauten einander. Und genau das war der Anfang der Katastrophe.

1. Kapitel

Jette

Das Lächeln, das ich wie eine Rüstung trage, kann die Wahrheit nicht verbergen. Wer genauer hinsehen würde, könnte die Angst erkennen, die unter meiner Oberfläche brodelt. Doch die meisten Menschen sehen nicht genau hin. Heute ist das mein Vorteil. Dieser Tag ist zu wichtig, um ihn von irrationaler Panik bestimmen zu lassen. Vielleicht klingt es dramatisch, aber ich habe das Gefühl, dass heute der erste Tag vom Rest meines Lebens sein könnte. Ich weiß, das wirkt wie der Beginn eines Teeniedramas, das man genervt ausschaltet.

Zwischen dem Staatsexamen, einem zerrissenen Weihnachtsfest und all den unausgesprochenen Worten hat der Winter die Insel in Eis gehüllt. Die letzten Monate rauschten an mir vorbei wie ein Film im Schnelldurchlauf: die Scheidung meiner Eltern, mein Abschluss an der Uni in Hamburg, der Umzug zurück nach Sylt. Und auf einmal ist der Winter vorbei, auf der Insel wird es immer wärmer, und ich habe keine Ahnung, wo die Zeit geblieben ist. Jetzt stehe ich mit meinem Auto eine Ewigkeit auf dem Parkplatz der Kanzlei und versuche mich innerlich darauf vorzubereiten, was mich heute erwarten wird. Die angestauten Gefühle, die sich in mir ausbreiten, schlucke ich hinunter. Mein Blick fällt auf mein Handy.

Nick

Das Gericht verhandelt heute den Fall zwischen Nick Rilk und seiner brillanten Schwester Jette Rilk, die er viel zu lange nicht gesehen hat. Er müsste ihr unbedingt sagen: Es tut mir leid.

Obwohl wir Zwillinge sind, scheinen wir uns in entgegengesetzte Richtungen zu entwickeln. Manchmal frage ich mich, ob wir uns je wieder so nah sein können wie früher. Wie vor der Scheidung unserer Eltern. Mein Blick bleibt an der kleinen Uhr oben rechts auf dem Display hängen: 07:35. Definitiv zu früh für eine existenzielle Krise. Ich tippe schnell eine Nachricht, um mich abzulenken.

Ich

Du könntest mir seelischen Beistand leisten und mich heute von der Kanzlei abholen.

Insgeheim hoffe ich, dass er mit Papa spricht. Die beiden haben seit meiner Abschlussfeier im März kein Wort mehr miteinander gewechselt. Jetzt ist es Mai. Ich war schon immer ein Harmoniemensch und hasse diese unangenehme Stille zwischen ihnen. Es fühlt sich fast wie Verrat an, dass ich bei Papa geblieben bin, während Nick sich auf Mamas Seite gestellt hat.

Ich habe mich für Papa entschieden, weil er immer mein Held war – auch wenn er es nicht verdient hat. Weil ich immer seine Anerkennung wollte und sie jetzt endlich habe. Und weil Mama seit der Scheidung so tut, als würde es ihn oder die Zeit davor nicht mehr geben. Keine einzige Antwort hat sie auf meine unzähligen Fragen. Ich weiß nicht, ob ich ihr das verzeihen kann.

Mein Handy vibriert. Wahrscheinlich klebt Nick mal wieder am Bildschirm und swipt sich durch sämtliche Dating-Apps.

Nick

Ich weiß, was du versuchst.

Ich

Du bist eben doch der Schlaue von uns beiden.

Es ist das erste Mal, dass wir nicht auf derselben Seite stehen: ich bei Papa, er bei Mama. Ironischerweise hat Papa immer Nick als seinen Nachfolger in der Kanzlei gesehen. Jetzt bin ich es, mit der er sich zufriedengibt. Die Kanzlei ist nicht irgendeine Kanzlei. Sie gehört zu den renommiertesten auf Sylt – ein Familienunternehmen seit Generationen.

Ich habe alles getan, um zu beweisen, dass ich mehr bin als »Papas kleines Mädchen«. Freizeit geopfert, Nerven strapaziert, mein Examen mit Bestnote bestanden. Alles, um ernst genommen zu werden. Jetzt bin ich hier, und doch fühlt es sich an, als würde ich in ein Leben schlüpfen, das nie für mich bestimmt war.

Die drei kleinen Punkte auf dem Bildschirm tauchen auf, verschwinden, tauchen wieder auf.

Nick

Schlau genug, um zu wissen, dass das eine Falle ist, aber dumm genug, dir den Gefallen zu tun.

Erleichterung durchströmt mich. Wenn er auf Sylt ist, ist er wahrscheinlich bei Mama und hilft ihr, unsere Dinge in Kartons zu packen. Etwas, wofür ich die altbewährte »Ich muss arbeiten«-Ausrede genutzt habe. Fast überkommt mich ein schlechtes Gewissen, aber dann erinnere ich mich daran, wie schnell Mama mit allem abgeschlossen hat. Wie oft sie in den letzten Monaten gesagt hat, dass das Haus zu groß, zu leer und voller Erinnerungen ist. Dass es Zeit für etwas Neues wird. Und auch wenn das Haus noch nicht verkauft ist – in ihrem Kopf ist sie längst woanders. Irgendwie kann ich es verstehen, aber … es tut trotzdem weh.

Nick scheint das kaum etwas auszumachen. Er hat immer seinen eigenen Weg gefunden. Mit unzähligen Nebenjobs finanziert er sein Leben und ist trotzdem zufrieden. Es ist fast bewundernswert, wie wenig er braucht, um glücklich zu sein. Während er die Welt bereist, vergrabe ich mich in Büchern und träume mich in fremde Welten, weil die echte mir oft zu viel ist. Wir haben uns immer ergänzt, als würde seine Gelassenheit meine Rastlosigkeit ausgleichen. Doch seit der Scheidung hat diese Balance nicht mehr gehalten.

Ich

17 Uhr? Hab dich lieb.

Nick

Hab dich mehr lieb. Du wirst das heute großartig machen!

Er war immer mein größter Unterstützer. Umso trauriger ist es, dass diese unsichtbare Distanz zwischen uns gewachsen ist. Vielleicht ist das heute nicht nur mein Neustart. Vielleicht gibt es auch eine Chance, dass wir als Familie wieder zueinanderfinden. Nun führt mich der Weg ausgerechnet zur Kanzlei meines Vaters, zu einem Leben, das sich noch immer ein wenig anfühlt wie ein fremdes Kleidungsstück. Aber was nicht passt, wird passend gemacht.

2. Kapitel

Joshua

Der rote Faden, der sich durch mein Leben zieht, besteht aus unzähligen kleinen Lügen. Schon als Kind habe ich damit angefangen und nie aufgehört. Meine Eltern sind Gegenstand der ersten Lüge, die ich bewusst anderen erzählte, statt mich der Realität zu stellen.

Meine Mutter – die missverstandene Wissenschaftlerin, deren Exzentrik ein Zeichen ihrer Genialität war. Mein Vater – der gescheiterte Musiker, der nicht nur dem Alkohol verfallen war, sondern ein Künstler, der das Pech hatte, nicht verstanden zu werden. Diese Geschichten erzählte ich nicht nur anderen, sondern auch mir selbst.

In Wahrheit war meine Mutter zwar brillant, aber manisch-depressiv. Mein Vater hatte dem Alkohol längst den Vorrang vor allem anderen gegeben. Als ich geboren wurde, waren sie jung und überfordert und hatten keine Ahnung, wie sie mit mir oder meinen Problemen umgehen sollten. Trotzdem gaben sie ihr Bestes – das verstehe ich heute.

Ich lernte schnell, was wichtig war, um zu überleben. Mit sechs konnte ich bereits kochen, damit Mama ihre Medikamente mit einer Mahlzeit einnahm. Lebensmittel stahl ich, weil ich wusste, dass die Mahnungen sich unter der Küchenspüle stapelten, während Papa das letzte Geld vertrank. Ich kannte die Orte, an denen er sich versteckte, und lernte früh, an welchen Tagen ich besser nicht mit ihm sprach.

Das Haus, vor dem ich jetzt stehe, ist ein Ort voller Kindheitserinnerungen, die mich noch heute in Albträumen verfolgen. Ein Ort der waghalsigen Träume. Träume, die nie erfüllt wurden.

Meine Eltern waren Träumer – ich dagegen wurde Realist. Träume zahlten keine Rechnungen. Träume brachten einen nicht voran. Träume machten nur traurig, wenn sie zerbrachen. Und in meiner Familie zerbrachen sie immer. Mit einem Plastikbeutel voller alter Klamotten und zerfledderter Kinderbücher zog ich schließlich von dieser Insel fort, um zu studieren. Was als Flucht begann, wurde schnell zu einer Gratwanderung zwischen Überleben und Absturz. Informatik wurde meine Rettung – erst an der Uni, dann nachts vor flackernden Bildschirmen, wenn ich mich in Systeme einloggte, die nicht für mich gedacht waren. Erst kleine Hacks, um an digitale Bücher zu kommen, dann größere – Daten, Zugänge, Geld. Und das Hacking wurde zu mehr als einem Hobby; es war meine Überlebensstrategie.

Doch die Uni brachte eine neue Art von Einsamkeit mit sich. Nicht, weil ich allein war, sondern weil ich merkte, wie wenig ich dorthin gehörte. Als wäre ich ein Eindringling in einem Leben, das nie für mich bestimmt war. Zwischen Seminarräumen und WG-Partys fühlte ich mich wie ein falscher Code in einem fehlerfreien System – als würde jederzeit auffliegen können, dass ich nicht wirklich dazugehöre. Alle anderen schienen zu wissen, wie man träumt, wie man unbeschwert ist, wie man das hier verdient. Ich wollte es auch, wirklich. Aber je mehr ich versuchte, ein Teil davon zu sein, desto mehr verstand ich, dass ich es nie sein würde. Ich manipulierte Prüfungen und hackte mich in Systeme. Bis ich zu weit ging. Der Rauswurf aus der Uni war die unausweichliche Konsequenz, also kam ich zurück – nur um zu merken, dass diese Insel nie mein Ort war. Danach nahm ich den Job bei Lukas an in der Hoffnung, mich von allem hier auf Sylt loszusagen und neu anzufangen. Doch jetzt stehe ich wieder hier, an genau dem Punkt, von dem ich dachte, ich hätte ihn hinter mir gelassen.

Als ich jetzt durch die Tür des alten Hauses trete, schlägt mir der Geruch von abgestandener Luft entgegen, vermischt mit einer Note, die mich an feuchten Keller erinnert. Aber in meinem Kopf riecht es nach Essig. Nach meiner Kindheit. Nach allem, was ich versucht habe zu vergessen.

Der kleine Flur ist düster; die Wände haben über die Jahre an Farbe verloren. Die Tapeten rollen sich an den Rändern ab, als wären sie zu müde, sich weiter festzuhalten.

»Das ist Vergangenheit«, murmele ich mir zu, während ich die Fenster öffne. Frische Luft strömt herein, und ich atme einmal tief durch, um mich wieder zu beruhigen. Die Aussicht lässt mich kurz innehalten.

Der Wind hat die Wolken wie zerfledderte Wattebäusche über den Himmel verteilt. In der Ferne ragt der Leuchtturm von List in die Höhe, sein roter Turm ein stummer Wächter über den endlosen Dünen, die sich wie Wellen aus Sand durch die Landschaft ziehen. Als Kind habe ich oft nachts auf das Licht des Turms geschaut, das die Dunkelheit durchbrochen hat. Ein kleiner Teil von mir dachte wohl, dass es mich auch beschützen könnte. Lautlos lache ich auf, weil ich nichts weiter als ein naives Kind war, und doch hält auch jetzt der Anblick etwas … Heimat für mich bereit.

Ich habe das Haus gemieden. Doch jetzt, nach meinem Rauswurf aus der Uni, bin ich hier … mit einem Auftrag. Diese Insel, dieses Haus, ich hasse alles daran. Aber ironischerweise ist es jetzt das Einzige, was ich noch habe. Meine Oma hat es mir überlassen, weil sie wusste, meine Eltern würden es ruinieren. Außerdem wohnen beide schon lange nicht mehr hier … Na ja, jedenfalls denke ich das. Mama ist in der Klinik, Papa ist … wer weiß wo auf dieser Welt und ruiniert die Leben anderer Personen.

Die Vorstellung, alles niederzureißen und mit frischer Farbe zu überdecken, ist verlockend.

Mein Handy klingelt, als wüsste es, dass ich jetzt eine Ablenkung gebrauchen kann, aber der Name auf dem Display sorgt für ein unangenehmes Ziehen in meinem Magen.

»Hey!«, sage ich eine Spur zu laut. »Ich mache mich sofort auf den Weg«, ergänze ich, ohne dass der Anrufer sprechen muss.

»Wie schön, ich wollte nur sicherstellen, dass du es nicht wieder vermasselst.« Lukas’ Stimme trägt den gleichen höhnischen Unterton wie immer. Seine Worte sind so honigsüß wie Gift, und meine Finger um das Telefon verkrampfen sich.

»Mach dir keine Sorgen, ich habe alles im Griff«, erwidere ich, bemüht, ruhig zu bleiben.

»Wirklich?« Seine Stimme hat jetzt einen harten, kalten Klang. »Weil es beim letzten Mal so wunderbar gelaufen ist, nicht wahr?«

Ich balle die Hand zur Faust und zwinge mich, nicht zu antworten. Jeder Satz könnte ihn nur dazu bringen, noch wütender zu werden, und das kann ich mir gerade einfach nicht erlauben.

»Ich weiß, was ich tue.« Meine Stimme bleibt fest, auch wenn sich mein Magen erneut zusammenzieht.

Ein lang gezogenes, spöttisches Lachen hallt aus dem Hörer. »Weißt du, Joshua, ich bin mir da nicht so sicher. Du bist ein kluger Kopf, keine Frage. Aber du machst Fehler, wenn’s darauf ankommt. Und glaub mir, diesmal kannst du dir keinen Fehler leisten.«

Ein kluger Kopf.

Würde ein kluger Kopf sich auf so einen Menschen wie ihn einlassen? Nein. Aber mir bleibt schließlich keine Wahl.

Mein Herz schlägt schneller, doch ich bleibe immer noch ruhig. Mittlerweile hätte ich dafür einen Orden verdient.

»Es wird keine Fehler geben.«

»Das hoffe ich für dich.« Sein Tonfall ist jetzt fast beiläufig, aber ich kenne Lukas gut genug, um die Drohung zu hören, die hinter seinen Worten liegt. »Denn wenn doch, tja … wem würde man wohl mehr glauben?«

Mir garantiert nicht, platzt es fast aus mir heraus. Genau das bringt mich ja immer in exakt solche Situationen.

Er schweigt für einen Moment, als ob er auf eine Reaktion wartete.

»Sind wir jetzt fertig? Ich sollte nicht zu spät kommen, oder?«, bringe ich irgendwie hervor, ohne lauter zu werden. »Ich schaffe das, aber ein wenig Vertrauen solltest du schon haben.«

Lukas seufzt. »Ich mag es, wenn du so entschlossen klingst.«

»Ich werde den Job erledigen.« Meine Worte sind knapp und präzise. »Mach dir keine Sorgen, ich habe alles unter Kontrolle.«

»Das hoffe ich. Vor allem für dich. Denk dran, es gibt kein Zurück mehr.« Und damit legt er auf, ohne sich zu verabschieden.

Lukas ist der Grund, warum ich jetzt zurück bin. Aber der Name, der in meinem Kopf widerhallt, ist ein anderer. Jette Rilk.

Sie ist einer der Hauptgründe, dass ich mir keinen Fehler erlauben darf.

3. Kapitel

Jette

Ich stehe immer noch vor dem alten Backsteingebäude der Kanzlei. Die Fassade ist so makellos, dass sie beinahe einschüchternd wirkt. Hohe Fenster blicken wie Augenpaare auf mich herab, und der geschwungene goldene Schriftzug über dem Eingang – »Rilk & Partner« – lässt mich kurz innehalten. Er wirkt wie ein Symbol für das Erbe, das ich tragen werde, obwohl es nie für mich bestimmt war.

Ich atme tief ein, lasse die salzige Inselluft meine Lungenflügel füllen und zähle innerlich bis drei. »Ich kann das schaffen«, murmele ich mir zu, während ich die Tasche über meine Schulter ziehe. Mein Blick fällt auf die spiegelnden Fensterscheiben des Gebäudes. Der graue Bleistiftrock sitzt perfekt, die weiße Bluse makellos, und die Haare, die ich sorgfältig mit einer schlichten Klammer zurückgesteckt habe, verleihen mir eine Professionalität, die ich vielleicht nicht ganz so fühle, wie ich sie ausstrahle. Fake it ’till you make it, oder?

Es kommt mir beinahe so vor, als wäre ein Monat in der Kanzlei vergangen … Aber eigentlich arbeite ich erst seit einer Woche offiziell hier. Heute ist der Tag, an dem ich meinen ersten Mandanten übernehmen soll, und Papa hat mir noch nicht verraten, wer es sein wird. Vermutlich damit er es sich in letzter Sekunde noch anders überlegen kann, wenn er es mir doch nicht zutraut. Ich bin unfassbar nervös, weil ich nicht einschätzen kann, was auf mich zukommt.

Tief in mir weiß ich, dass meine Angst unberechtigt ist, aber das macht sie in diesem Moment nicht weniger real.

Mit festen Schritten gehe ich die steinernen Stufen hinauf. Die schwere Holztür knarzt, als ich sie aufdrücke. Es ist, als wolle sie mir sagen: Jeder Schritt hier ist ein Schritt in eine neue Verantwortung. Aber wir sind hier nicht bei Alice im Wunderland. Der Duft von poliertem Holz und Papier umfängt mich. Er ist unverändert, vertraut.

Als Kind habe ich mit Nick oft auf dem glänzenden Marmorboden gespielt, auch wenn wir immer Ärger für unser zu lautes Lachen bekommen haben.

Jetzt hallt statt meines Lachens das Klacken meiner Absätze bei jedem Schritt durch die Eingangshalle.

Sarah, die Empfangsdame, sitzt noch immer dort, wie in jeder meiner Kindheitserinnerungen. Die Zeit hat nur ihre Haare silbern gefärbt, doch ihr freundliches Lächeln ist geblieben.

»Wie schön, dich zu sehen«, sagt sie herzlich, hebt den Kopf und lächelt mich an. Ihre Augen funkeln warm, doch ihre nächsten Worte lassen mich innerlich erstarren. »Dein Vater wartet bereits auf dich.« Der kleine Nachdruck in ihrer Stimme sagt mir, was ich längst weiß: Er ist nicht gut gelaunt.

Ich seufze, streiche mir nervös den Rock glatt und versuche, locker zu wirken. »Alles wie immer, oder?«

»Aber heute ist ein besonderer Tag.« Sarah lehnt sich ein wenig nach vorne, als wolle sie mir Mut zusprechen.

Langsam nicke ich. »Kaum zu glauben.«

Bislang durfte ich nur die Zuarbeiten erledigen: Akten sortieren, recherchieren, Zusammenfassungen schreiben. Trotz meines hervorragenden Abschlusses hat mein Vater jeden einzelnen Fall entweder selbst übernommen oder einem seiner beiden Partner, Lars und Frederick, überlassen.

Bis jetzt.

»Hat er dir irgendwas gesagt?«, frage ich Sarah hoffnungsvoll und presse meine Aktentasche etwas fester an mich.

Doch sie schüttelt bedauernd den Kopf. »Leider nicht, aber mach dir keine Sorgen. Du wirst das hervorragend machen, das weiß ich ganz genau.«

Aufregung pocht in meiner Brust. »Ich hab’s wirklich geschafft, oder?« Die Worte klingen fast wie eine Frage an mich selbst, und für einen Moment spüre ich das Gewicht meiner Zweifel.

Ich zwinge mich, nicht weiter darüber nachzudenken. Dieser Tag ist zu wichtig, um ihn mir von meiner eigenen Unsicherheit kaputtmachen zu lassen. Ich laufe den Flur entlang, den ich in- und auswendig kenne, und drücke auf die Taste des Fahrstuhls. Während ich warte, halte ich die Aktentasche so fest, als könnte sie mir Halt geben, bevor ich zwischen Vergangenheit und Zukunft verloren gehe.

Das metallene Ping des Fahrstuhls reißt mich aus meinen Gedanken.

Als sich die Türen öffnen und ich eintrete, sehe ich mich in der spiegelnden Oberfläche des Fahrstuhls. Das Lächeln, das ich trage, wirkt ruhig und kontrolliert. Heute ist der Tag, an dem ich es mir und ihm beweisen werde. Doch das Lächeln vergeht mir in der Sekunde, als ich sehe, wer auf den Fahrstuhl zukommt.

Joshua.

J O S H U A.

Mein Herz setzt aus, und ich starre ihn an, als wäre er bloß eine Fata Morgana, die sich gleich wieder in Luft auflöst. Tausend Fragen wirbeln in meinem Kopf herum.

 

Was zum Teufel macht er hier? Ruiniert er mir den Tag … oder mein ganzes Leben? Warum sieht er so verdammt gut aus? Wird er mein Geheimnis für sich behalten? Warum habe ich vor all den Jahren diesen Fehler gemacht, ihm zu vertrauen?

 

Egal, wie oft ich blinzle, Joshua löst sich nicht in Luft auf. Ganz im Gegenteil – er kommt mit einem verdammt charmanten Lächeln auf mich zu. Natürlich tue ich sofort so, als hätte ich ihn nicht gesehen. Unauffällig beuge ich mich nach vorne, um die Taste zu drücken, die die Türen zugehen lässt. Doch in der Sekunde, in der die Türen schließen wollen, hält Joshua seinen Arm dazwischen.

Ich bereue es sofort, den Fahrstuhl genommen zu haben. Treppen wären eindeutig die bessere Wahl gewesen – zumindest wäre ich dann Joshua nicht auf so kleinem Raum ausgeliefert. Er steigt ein, ganz lässig, als wäre es der natürlichste Zufall der Welt.

Er steht da wie eine verdammte Versuchung in Schwarz. Das leicht zerzauste Haar, dunkler als die Nacht, gerade wuschelig genug, um so auszusehen, als hätte er sich keine Mühe gegeben – und doch perfekt. Und dann diese Augen. Blau, intensiv, gefährlich. Eine Farbe, die einen festhält, wenn man zu lange hinsieht. Und das tue ich.

Sein Hemd  ist  hochgekrempelt, als wäre ihm selbst das zu viel. Dazu eine Anzughose, perfekt sitzend, als wäre sie für ihn gemacht. Seine Arme sind tätowiert, Linien und Muster, die früher nicht da waren. Erinnerungen, die er sich unter die Haut hat stechen lassen, irgendwo da draußen, als er von der Insel verschwunden ist. Während des Studiums. Oder was auch immer er getan hat.

Sein Gesicht ist scharf geschnitten, markant, mit genau der richtigen Mischung aus Härte und etwas, das mir viel zu vertraut vorkommt. Die kleine Narbe an seiner Stirn, ein Überbleibsel aus einer Zeit, die sich anfühlt wie ein anderes Leben. Und dann diese Grübchen – kaum sichtbar, aber da, wenn er lächelt. So wie jetzt. Weil er merkt, dass ich ihn ansehe. Eine Sekunde zu lang. So wie immer.

Mein Herz setzt wieder aus. Es ist nicht so, dass wir uns nicht schon öfter über den Weg gelaufen sind, aber bisher hatten sich diese Begegnungen auf ein höfliches Nicken beschränkt. Die Kanzlei meines Vaters ist der letzte Ort, an dem ich ihn erwartet hätte.

»Hey, Jette.« Seine Stimme ist freundlich, fast zu locker, mit einem leichten Unterton, der mich völlig aus der Fassung bringt.

Ganz selbstverständlich drückt er die Taste für den dritten Stock – genau die Etage, in der sich sowohl mein Büro als auch das meines Vaters befinden. Ich merke, wie ich unwillkürlich an meinem Outfit herunterschaue. Alles perfekt. Zumindest äußerlich. Innerlich? Eine Katastrophe.

»Hey.« Ich nicke ihm knapp zu, doch es gelingt mir nicht, die Röte zu unterdrücken, die an meinem Hals hinaufkriecht. Cool bleiben, ermahne ich mich. Es ist nur Joshua.

Er hängt mit drin, er wird nichts ausplaudern. Hoffe ich. Aber im Gegensatz zu mir hat er vielleicht nichts mehr zu verlieren – wenn er schon hier auftaucht.

Er schenkt mir ein Lächeln, das mehr verspricht, als es vermutlich halten wird – und ich weiß, dass ich auf keinen Fall darauf hereinfallen darf. Nicht schon wieder.

Keine Ahnung, wie ich darauf reagieren soll, also sage ich das Erste, was mir einfällt: »Was machst du hier?«

Joshua lehnt sich lässig gegen die Wand des Fahrstuhls, so als hätte er alle Zeit der Welt. »Ist das nicht offensichtlich?« Seine Augen finden meine im Spiegel.

Blaugrün, wie das Meer kurz nach einem Sturm. Sie treffen mich direkt – und ich hasse, wie sie gleichzeitig in mir den Drang auslösen, wegzusehen und nie wieder wegzuschauen.

Wie lange dauert diese Fahrt nach oben noch? Hitze kriecht mir in die Wangen.

»Nein«, antworte ich knapp – und auch ein bisschen zu spät. Meine Verwirrung ist wahrscheinlich viel zu deutlich zu hören.

Er beugt sich leicht zu mir herüber, und mein Körper reagiert, bevor mein Verstand es tut. Meine Muskeln spannen sich an, meine Finger umklammern den Trageriemen meiner Tasche, als könnte er mich davor bewahren, völlig den Verstand zu verlieren.

»Ich bin hier, um dich zu sehen.«

Oh.

Oh, verdammt, das wird nicht gut enden.

»Um mich zu sehen?« Fragend blicke ich ihn an, und mein Herz hämmert längst einen völlig anderen Rhythmus.

»Genau.« Sein Ton ist ruhig. Viel zu ruhig.

Und vielleicht ist es genau das, was mich so irritiert. Nicht die Worte, nicht seine Nähe – sondern die Art, wie er mich ansieht. Fast als würde er auf etwas warten. Auf eine Reaktion, auf einen Moment des Zögerns. Vielleicht auch darauf, dass ich meine Ruhe verliere. Es wirkt provozierend.

Bevor ich etwas entgegnen kann, öffnet sich die Fahrstuhltür mit einem Ping!.

Und direkt davor steht mein Vater. Natürlich.

Sein Blick gleitet über mich, dann über Joshua. Wahrscheinlich hat Sarah ihn längst informiert, dass ich unterwegs bin. Mein Vater weiß immer über alles Bescheid.

»Wie schön, dass ihr direkt zusammen gekommen seid.« Seine Stimme ist ruhig, aber mit dem üblichen kontrollierten Unterton.

Er ignoriert mich völlig und streckt stattdessen Joshua die Hand entgegen. Joshua, der zu meinem völligen Unverständnis keinen Moment zögert, ergreift sie und dreht sich dann noch einmal zu mir um. Als wollte er meine Reaktion sehen oder mich provozieren. Erneut. Ich hasse ihn.

Was zum Teufel spielt er hier für ein Spiel? Und warum verliere ich es?

»Willkommen«, sagt mein Vater zu ihm, bevor er sich endlich mir zuwendet. Dann beugt er sich vor und drückt mir einen Kuss auf die Wange. Das macht er immer nur in der Öffentlichkeit. Vor Mandanten. Um zu betonen, dass dies eine traditionsreiche familiengeführte Kanzlei ist. Diese Art an ihm hat mir schon immer Unbehagen bereitet.

Jetzt gerade verstehe ich nicht, was das alles soll. Mein Vater, der Joshua früher als »ungeeignet« oder als »verlorene Zeit« abgetan hat, als ich ihm in der siebten Klasse Nachhilfe gegeben habe, steht jetzt hier und gibt sich so, als hätte er nie ein schlechtes Wort über ihn verloren. Seine Professionalität stand schon immer über allem anderen. Und dass Joshua ein Mandant ist, ist offensichtlich, auch wenn ich es nicht wahrhaben will.

Natürlich weiß mein Vater nicht, dass diese Situation verdammt kompliziert ist. Dass Joshua ganz eigene Pläne verfolgen muss, wenn er hier auftaucht. Dass dieser Moment gerade ein absoluter Albtraum für mich ist.

»Ihr könnt im Konferenzraum warten«, sagt mein Vater schließlich, seine Miene so undurchdringlich wie immer. »Ich wollte sowieso mit euch beiden sprechen. Das spart Zeit.«

»Mit uns beiden?« Meine Stimme klingt schriller, als ich es wollte. Ich hasse es, wenn mir das passiert – vor allem vor meinem Vater.

Er nickt knapp. »Ja, mit euch beiden.« Was zur Hölle bedeutet das jetzt wieder? Doch bevor ich etwas sagen kann, verkündet er beiläufig: »Joshua wird ab sofort von unserer Kanzlei vertreten.«

Obwohl ich mir das schon gedacht hatte, beschleunigt sich mein Herzschlag noch mehr, dabei hätte ich nicht für möglich gehalten, dass das überhaupt geht.

»Ich hole nur kurz die Akten, dann besprechen wir alles Weitere«, sagt mein Vater nun und lässt uns stehen.

Wortlos nicke ich, obwohl alles in mir danach schreit, Antworten zu verlangen. Was will Joshua hier? Hat er meinem Vater irgendwas verraten?

Joshua hat seit dem Handschlag mit meinem Vater kein einziges Wort gesagt. Er steht einfach da, vollkommen ruhig, gelassen und so, als wäre das hier komplett normal.

Im Konferenzraum angekommen, setze ich mich mit möglichst ruhiger Miene hin, während Joshua mir gegenüber Platz nimmt. Sein Blick ist wachsam, aber entspannt. Ich hingegen kann keinen klaren Gedanken fassen.

»Was wird das hier?«, frage ich schließlich, unfähig, die Spannung länger auszuhalten.

»Was genau?« Seine Stimme klingt so unverschämt unschuldig, dass ich ihm am liebsten etwas an den Kopf werfen würde. Mein Blick schweift durch den Raum auf der Suche nach einer potenziellen Waffe – ein Heftordner, ein Glas, irgendetwas.

»Du tauchst hier auf und … wirst von uns vertreten?«

»Nicht von euch. Von dir.« Seine Antwort kommt ohne Zögern, und seine Augen lassen keinen Zweifel daran, dass er genau weiß, was er sagt. »Ich habe extra nach dir verlangt, Jette.«

Er spricht meinen Namen mit so viel Bedacht aus, und es sollte mir nicht gefallen. Wirklich nicht. Nichts an dieser Situation ist gut. Aber in diesem Moment, als er meinen Namen sagt, scheint die Welt um mich herum stillzustehen.

Ich spüre, wie mir die Luft wegbleibt, während er unbeirrt weiterspricht. »Du bist mir noch etwas schuldig, und ich bin hier, um dich daran zu erinnern.«

Drei Gedanken schießen mir durch den Kopf.

Erstens: Ich bin erschreckend gut darin, Dinge zu verdrängen.

Zweitens: Der größte Fehler meiner Vergangenheit ist keine abgeschlossene Akte – er lebt und atmet und sitzt direkt vor mir.

Und drittens: Joshua hat dieses Spiel schon gewonnen, bevor ich überhaupt verstehe, worum es eigentlich geht.

4. Kapitel

Jette

Einige Sekunden kann ich meinen Blick nicht von meinem Notizblock heben, auf dem ich eigentlich nur wild herumkritzle. Der Stift kratzt leise über das Papier, aber die Worte sind sinnlos – Striche, die nichts bedeuten, außer dass ich meine Hände beschäftigt halten will. In der Hoffnung, dass sich das alles als ein ganz großer Scherz entpuppt. Denn … das muss es sein, oder?

Der Konferenzraum ist kühl und funktional eingerichtet, mit grauen Wänden, einem langen Glastisch, der die Kälte des Raumes noch verstärkt, und minimalistischen schwarzen Stühlen, die das Bild der Effizienz abrunden. Die einzigen Farbtupfer sind die Aktenmappen, die in einem ordentlichen Stapel auf dem Tisch liegen, und die rote Tasse, die ich am liebsten werfen würde, nur um die Spannung zu brechen.

»Du bist hier, um mich zu verraten«, sage ich schließlich und versuche möglichst ruhig zu klingen, obwohl das Zittern in meiner Stimme mich sicherlich verrät.

»Nein.« Seine Antwort kommt sofort, fast zu schnell, um ehrlich zu wirken. »Das ist nicht der Grund.«

Wut brodelt in mir, heiß und unangenehm. »Aber warum bist du dann hier, Joshua?«

Er lehnt sich leicht vor. »Das werde ich dir alles noch erklären.«

Ich lache trocken auf. »Wie wäre es mit jetzt? Denn wenn mein Vater gleich durch diese Tür kommt, könnte ich ihm sagen, dass hieraus«, ich deute zwischen ihm und mir hin und her, »nichts wird.«

Sein Blick bleibt gelassen, und doch glitzern seine Augen auf eine Art, die mich nervös macht. Diese Blaugrüntöne haben immer so viel mehr gesagt, als mir lieb war. Joshua wusste schon früher, wie er mich aus dem Gleichgewicht bringt. Ich hasse dieses Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, und genau darauf scheint er abzuzielen.

»Er hat dir meinen Fall anvertraut.«

»Das spielt keine Rolle«, sage ich, obwohl es genau das tut. Natürlich tut es das. Wie sollte ich meinem Vater das alles erklären?

Sorry, Papa, aber ich kann diesen Fall nicht übernehmen. Warum? Ach so, ich habe es dir nicht erzählt, aber den Einstufungstest, auf dessen Ergebnis du so stolz warst? Tja, da hat mir Joshua ein wenig geholfen. Das war alles nicht ganz legal, aber hey: Immerhin bin ich auf die Uni gekommen, die du für mich ausgesucht hast, oder? Meine Karriere begann mit einer Lüge. Und außerdem kann ich mir selbst nicht trauen, wenn Joshua mir so nahe ist. All diese Worte schlucke ich hinunter.

Joshua seufzt. »Es spielt keine Rolle? Wir wissen beide, dass das nicht stimmt. Das hat sich nicht geändert, oder?« Seine Stimme schneidet durch meine Gedanken wie ein Messer. »Du willst ihn immer noch beeindrucken. Dafür ist dieser Fall perfekt.«

Die Worte treffen einen Nerv. Einen, den ich tief zu vergraben versucht habe.

»Das ist doch nicht der Grund, warum du mich angefragt hast, oder? Du verschweigst mir etwas.«

Unsere Blicke treffen sich, und ich weiß: Ich habe recht. Er sagt mir nicht die ganze Wahrheit, und in meinem Kopf blinken plötzlich lauter rote Flaggen.

»Ich werde dir alles sagen, was du wissen musst. Du wirst diesen Fall gewinnen, und dann sind wir beide glücklich.«

»Ich kenne dich doch gar nicht richtig.« Nicht mehr, jedenfalls.

»Das stimmt nicht.«

Seine Worte sind so leise, dass ich sie kaum höre, aber sie treffen mich umso härter. Natürlich kenne ich ihn – oder zumindest eine Version von ihm. Die Version, als er noch ein kleiner Junge war. Und die Version, die er mir gezeigt hat, als ich ihn brauchte. Zu einer Zeit, in der ich verzweifelt genug war, ihn um Hilfe zu bitten, obwohl ich tief in mir wusste, dass das ein Fehler war.

»Was willst du denn über mich wissen?«, fragt er plötzlich.

Diesmal bin ich es, die sich zurücklehnt. Ich sollte nicht darauf eingehen. Je mehr ich über ihn erfahre, über die Person, die er in den vergangenen Jahren geworden ist, desto komplizierter könnte alles werden. Ich habe Joshua so gut aus meinen Gedanken verbannt, nachdem alles passiert ist …

Es darf nicht so aussehen, als würde mich sein Auftauchen aus der Fassung bringen – auch wenn genau das passiert.

»Alles«, sage ich schließlich. Möglichst locker. »Ich will alles wissen.« Ein entspannter Einstieg, um die Spannung zu entschärfen. Aber ich weiß, dass das hier keine entspannte Situation ist. Dieses Gespräch könnte alles ruinieren. Vielleicht sogar mein ganzes Leben.

Fast bin ich wütend, dass gerade er mein erster Fall sein soll. Ist das die Ironie des Schicksals? Schlechtes Karma? Was habe ich gemacht, um das zu verdienen?

Ich hatte es mir so oft vorgestellt, wie ich meinen ersten Fall alleine bearbeite. Wie ich glänze. Wie ich meinem Vater endlich zeigen kann, dass ich nicht nur in seiner Kanzlei arbeite, sondern dass ich hierhergehöre.

Und jetzt? Jetzt kann ich es kaum erwarten, dass dieser Fall vorbei ist, nur damit ich Joshua so schnell wie möglich wieder loswerde. Das heißt, wenn wir das hier wirklich machen sollten …

Eine seiner Augenbrauen schießt in die Höhe, und ein amüsiertes Lächeln breitet sich auf seinen Lippen aus. »Ich weiß nicht, ob wir so viel Zeit haben, bis dein Vater zurückkommt.«

Ich seufze genervt und warte trotzdem ab. Es vergehen einige Atemzüge, bis er den stillen Kampf aufgibt und anfängt, Fakten herunterzuzählen.

»Du weißt, dass ich nicht hier geboren wurde. Meine Familie ist damals von Freiburg nach Sylt gezogen – Berge gegen Meer. Ich war sechs. Meine Lieblingssüßigkeit sind Skittles, und ich hasse Schokolade. Ich bin grottenschlecht darin, Dinge zu Ende zu bringen, die ich anfange – außer, sie haben mit Zahlen zu tun. Darin bin ich gut, genauso wie alles, was mit Computern zu tun hat. Aber das weißt du ja …« Abwartend sieht er mich an und grinst dabei.

»Meine Lieblingsfarbe ist Dunkelgrün, und mein liebster Wochentag ist Mittwoch«, fährt Joshua fort. »Ich werde das alte Haus meiner Oma am Leuchtturm renovieren … also das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und weiß jetzt schon, dass ich fürs Handwerken genauso untalentiert bin wie fürs Kochen.«

Seine Stimme ist ruhig, fast beiläufig, aber da ist dieser unterschwellige Humor, der mich zwingt zuzuhören. »Ich habe kein Instagram, aber ich verschwende Stunden auf TikTok – meistens bei Aufräum-Videos. Ich liebe alte Musik und Bücher, die mich ablenken. Sternzeichen Löwe, falls du damit was anfangen willst. Oh, und ich habe mich echt darauf gefreut, dich heute zu sehen.«

Joshua hält inne und sieht mich an. Sein Blick ist unerwartet ernst, so als wolle er etwas in mir erkennen, das ich selbst nicht sehen kann. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen. Er führt harmlosen Small Talk, als ob irgendwas an ihm harmlos wäre. Ganz im Gegenteil.

Was verschweigt er mir?

»War das alles?«, frage ich schließlich, obwohl ich nicht sicher bin, ob ich wirklich mehr wissen will. Eigentlich will ich gar nichts von ihm wissen, und doch habe ich jede Information wie ein Schwamm aufgesaugt. Der klassische Joshua-Effekt, wie Nick damals schon scherzte. Schon damals während der Schulzeit fand ich ihn faszinierend, weil einfach nichts an ihm zusammengepasst hat. Wie ein Puzzle aus tausend verschiedenen Teilen, die irgendwie passend gemacht wurden.

Er grinst breit, und allein dieser Anblick treibt meinen Blutdruck in die Höhe. »Wenn du mehr erfahren willst, solltest du mit mir ausgehen.«

»Mit dir ausgehen?« Ich ziehe eine Augenbraue hoch. »Wer sagt so was denn noch? Wie alt bist du noch mal?«

Natürlich weiß ich, dass er fünfundzwanzig ist. Genauso alt wie ich.

»War das ein Nein?«, fragt er, und sein Grinsen wird nur breiter.

»Nein, ich …«

»Also ein Ja.«

»Spinnst du?« Ich schüttle ungläubig den Kopf, aber mein Herz schlägt schneller, als es sollte.

Es ist absolut bescheuert, diesen Gedanken überhaupt zuzulassen. Die Jette von früher hätte sich, ganz vielleicht, nichts sehnlicher gewünscht. Aber diese Zeit ist vorbei. Oder das sollte sie jedenfalls sein.

Doch irgendetwas in mir rebelliert. Ich verschränke die Arme vor der Brust und starre ihn an. »Weißt du, bevor du mich hier in Verlegenheit bringst, sollten wir vielleicht erst mal über etwas anderes reden.«

Er lehnt sich leicht gegen den Tisch, und seine Augen glitzern vor Neugier. »Okay, ich höre.«

»Wie wäre es damit: Warum hast du damals meinen Abiball ruiniert?« Die Worte kommen schneller und schärfer, als ich geplant hatte, aber ich kann nicht anders.

Er wirkt überrascht, aber nur für einen kurzen Moment. Dann setzt er ein unschuldiges Gesicht auf. »Ruiniert? So schlimm war das doch gar nicht.«

»Nicht so schlimm?! Ich war im Komitee, Joshua. Wochenlang habe ich mit meinem Team geplant, organisiert und vorbereitet, damit der Abend perfekt wird. Und was machst du? Du und deine Freunde habt den ganzen Abend ins Chaos gestürzt!«

Er hebt die Hände in einer abwehrenden Geste. »Hey, das war nicht meine Absicht. Außerdem war es doch irgendwie … unvergesslich, oder?«

»Unvergesslich aus den falschen Gründen!« Meine Stimme ist lauter, als sie sein sollte. Ich atme tief durch, versuche, den Kloß in meiner Kehle hinunterzuschlucken. »Ihr habt den DJ bestochen, die Bowle manipuliert. Und dann … dann hast du nicht einmal mit mir darüber geredet!«

Und dann war unsere Freundschaft vorbei. Dass mir das wehgetan hat, würde ich aber niemals zugeben.

Joshua weicht meinem Blick aus, fährt sich mit einer Hand durch die dunklen Haare. Ein deutliches Zeichen, dass er nervös wird. »Okay, hör zu … das war scheiße von mir.«

Überrascht sehe ich ihn an. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe – vielleicht ein halbherziges Schulterzucken, eine dieser typischen Joshua-Antworten, die alles ins Lächerliche ziehen. Aber keine Entschuldigung.

Sein Blick trifft meinen wieder. Diesmal ernst. Ohne dieses selbstgefällige Joshua-Grinsen, das er so oft aufsetzt. »Ich hätte damals anders handeln sollen. Ich war jung und dumm, und ich habe nicht darüber nachgedacht, wie wichtig dir das war. Ich habe nur daran gedacht, wie sehr ich dazugehören wollte und …« Er bricht ab, presst die Lippen aufeinander. Als hätte er mehr gesagt, als er wollte.

Seine Finger wandern zu den Ringen, drehen sie, spielen damit, als könnte das irgendetwas von dem Chaos in ihm ordnen. Ein nervöser Tick. Unbewusst. Und viel zu vertraut. Instinktiv zähle ich sie – sieben Stück. Schmale Silberringe, einige glatt und makellos, andere mit feinen Einkerbungen oder dezenten Mustern.

Wenigstens das hat sich nicht geändert. Wenigstens hier kann ich ihn noch durchschauen.

Und das trifft mich. Weil ich mich erinnere. Daran, dass er immer so war – ein Junge, der es niemals zugeben würde, aber er sehnte sich nach Zugehörigkeit.

»Du hast nicht nur den DJ bestochen«, sage ich jetzt leiser. »Du hast dafür gesorgt, dass der ganze Abend ein Witz wurde. Dass niemand getanzt hat, weil die Musik plötzlich irgendein verzerrter Elektromix war. Dass die Bowle so stark war, dass die halbe Stufe sich übergeben hat. Dass es Streit gab, weil irgendwer die Lichter manipuliert hat und am Ende die halbe Technik ausgefallen ist.«

Ich merke, wie mein Atem schneller geht. Wie die Wut, die ich so lange weggeschoben habe, plötzlich wieder an die Oberfläche drängt. »Und du hast mich allein gelassen.«

Mein Hals schnürt sich zu. Das ist es, was mir wirklich wehgetan hat. Nicht die Party. Sondern dass er mich allein gelassen hat und danach nichts mehr so war wie zuvor.

Ich dachte, du wärst anders, Joshua.

Fehlanzeige.

»Jette, es tut mir wirklich leid …« Seine Stimme ist rau, ein Hauch von Reue darin.

Und das Schlimmste? Ich glaube ihm. Ich glaube, dass es ihm leidtut. Joshua hat nie wirklich über Konsequenzen nachgedacht. Jedenfalls habe ich mir das immer eingeredet. Vielleicht ist genau das der Grund, warum er jetzt vor mir sitzt. Aber mit einer Entschuldigung ist es nicht so einfach getan. Sie kann nicht reparieren, was kaputtgegangen ist.

Seufzend lehne ich mich zurück. »Ist ein bisschen spät, oder? Das hilft jetzt auch nicht mehr wirklich.«

»Vielleicht nicht«, gibt er zu. »Aber ich wollte, dass du es weißt.«

Für einen Moment hängt eine seltsame Stille zwischen uns, dann öffnet sich plötzlich die Tür, und mein Vater betritt den Raum.

»Jette, bist du bereit?« Seine Stimme legt einen Schalter in mir um. Ab jetzt ist keine Zeit mehr für Gefühle aus der Vergangenheit.

»Ja«, sage ich und richte mich auf.

»Jette, Herr Winter«, begrüßt er uns erneut geschäftsmäßig.

Ich hasse es, dass er mich vor Joshua »Jette« nennt, als sei ich ein kleines Kind. Es zerstört meine Professionalität, die ich mir mühsam aufgebaut habe.

Joshua hingegen bleibt völlig ungerührt. »Jette wollte gerade entscheiden, ob sie mich vertreten möchte.«

»Das wird Jette nicht allein entscheiden«, erwidert mein Vater knapp.

»Jette ist übrigens auch noch im Raum«, werfe ich ein, der schnippische Tonfall verrät, wie genervt ich bin.

Mein Vater ignoriert meinen Kommentar, während Joshua mich ansieht – weniger lächelnd, aber mit derselben Intensität wie zuvor. »Wenn Ihre Tochter mich vertreten würde, wäre das eine Ehre.«

Mein Vater nickt und lächelt – etwas, das er selten tut. »Das wird sie«, sagt er mit einer Selbstverständlichkeit, die mir die Luft abschnürt.

Ich sehe Joshua an, der leicht schmunzelt. »Ich würde es gerne von ihr selbst hören.«

»Ach ja?« Ich verschränke die Arme vor der Brust und ziehe eine Augenbraue hoch. »Mir bleibt wohl keine Wahl.«

Joshua lehnt sich leicht vor, seine Stimme wird leiser: »Du wirst sehen, dass ich die beste Wahl bin, die du je hattest.«

Mein Vater klatscht in die Hände, als wäre die Entscheidung bereits gefallen. »Gut. Ich stelle den Mandatsvertrag fertig.«

»Das sollte ich machen, oder?«, bremse ich meinen Vater aus. »Und vorher würde ich sowieso noch in Ruhe mit Herrn Winter sprechen. Es gibt noch einige Details zu klären.« Herr Winter. Ich fühle mich wie in einem Theaterstück, und gerade verlangt es mir einiges ab, in meiner Rolle zu bleiben.

Überrascht sieht mein Vater mich an, dann wendet er sich Joshua zu. »Herr Winter, würden Sie bitte draußen warten? Ich muss kurz mit meiner Tochter sprechen.«

Joshua nickt, mustert mich mit einem letzten vielsagenden Blick – dieses halb amüsierte, halb herausfordernde Lächeln – und verlässt den Raum. Die Tür schließt sich leise hinter ihm, und die Atmosphäre im Büro kippt schlagartig.

»Wie geht es Ben eigentlich?« Mein Vater lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, die Arme vor der Brust verschränkt, und mustert mich mit einem Blick, der schwer einzuordnen ist.

Natürlich. Es musste ja kommen. Warum will er gerade jetzt darüber reden? Hat er die Spannung zwischen Joshua und mir gespürt? Oder will er mich einfach nur daran erinnern, dass jemand wie er nicht zu mir passt? Vielleicht glaubt er, dass meine Zurückhaltung gegenüber Joshua irgendwas mit Ben zu tun hat.

»Keine Ahnung«, sage ich knapp, meine Stimme so neutral wie möglich.

Seine Augenbrauen heben sich, ein Zeichen seiner Unzufriedenheit. »Keine Ahnung? Jette, so spricht man nicht über jemanden wie Ben. Er ist ein Mann mit Prinzipien, jemand, der dich ernst genommen hat. Vielleicht mehr, als du es selbst tust.«

Ich spüre, wie meine Finger automatisch nach der Kette an meinem Hals tasten – nur um ins Leere zu greifen. Sie ist weg. So wie er. Seit drei Monaten trage ich die Kette nicht mehr, die er mir damals geschenkt hat. Aber die Gewohnheit, nach ihr zu greifen, bleibt. Alte Gewohnheiten lassen sich wohl nicht so leicht ablegen wie ein Schmuckstück.

»Ben war … ein guter Mensch«, entgegne ich schließlich, wobei ich den Worten eine leichte Schärfe verleihe, um das Gespräch abzuwürgen. »Aber ich habe dir schon einmal gesagt, dass das mit uns nicht … gepasst hat.«

Mein Vater ignoriert das. Natürlich tut er das. Für ihn war Ben der perfekte Schwiegersohn. »Er hatte eine solide Zukunft vor sich. Klarheit. Ziele. Alles, was man sich wünscht.«

Ich schnaube, mehr aus Verzweiflung als aus Trotz. »Vielleicht. Aber was bringt das alles, wenn man trotzdem unglücklich ist?«

Er runzelt die Stirn, aber bevor er etwas sagen kann, rede ich weiter. Ich kann es nicht stoppen. Die Worte fließen einfach. »Ben war … die Bodenständigkeit in Person. Wahrscheinlich war es das, was ihn so perfekt gemacht hat – für dich, Papa. Aber ich?« Ich schüttle den Kopf, spüre, wie eine bittere Erinnerung aufsteigt. »Ich war nicht perfekt für ihn. Ich war nicht genug, und das zwischen uns war nicht genug.«

Es war fast so, als wären seine Überheblichkeit und meine Unsicherheit ineinander verwoben. Sie ergänzten sich perfekt … aber sie haben mich Stück für Stück ausradiert.

Ich schlucke, zwinge mich, ihn anzusehen. »Ich musste gehen, bevor ich mich völlig verloren hätte.«

Mein Vater sagt eine Weile nichts, doch sein Blick spricht Bände. Enttäuschung. Zweifel. Weil ich seine Erwartungen wieder einmal nicht erfüllt habe.

»Wenn du das sagst«, murmelt er schließlich, ohne es so zu meinen. »Ich wollte mich nur erkundigen, Jette. Kein Grund, so schnippisch zu werden.«

Er lässt die Bemerkung im Raum hängen, bevor er eine Akte auf dem Tisch vor sich aufschlägt. Dann reicht er sie mir, sein Blick geschäftsmäßig und distanziert, als wäre das, was gerade gesagt wurde, bereits irrelevant.

»Ich erwarte besonders heute absolute Professionalität.«

Ich nicke, doch die Worte treffen mich wie ein Schlag in die Magengrube. Das Gewicht seiner Erwartungen fühlt sich vertraut und doch zu viel an.

»Natürlich, Papa.«

Seine Augen verengen sich leicht, als wolle er abschätzen, ob ich das ernst meine. Dann wirft er wieder einen Blick auf die Akte, die er vor sich liegen hat. Er klappt sie zu und schiebt sie über den Tisch in meine Richtung.

»Kümmere dich erst mal um diesen Fall«, sagt er. »Danach können wir über größere Aufgaben sprechen. Der Mandant hat sich ausdrücklich dich gewünscht, also enttäusch ihn nicht – oder mich. Der Fall ist einfach, also perfekt für dich.«

Ich lasse die Akte geschlossen vor mir liegen, halte seinen Blick. »Ich werde mein Bestes geben«, sage ich mit einem Lächeln, das sich aufgesetzt und falsch anfühlt. Doch was soll ich sonst tun? Bevor ich ein People Pleaser war, war ich schon ein Parent Pleaser. Ich wurde dazu erzogen, meine eigenen Bedürfnisse zu ignorieren, um für Frieden zu sorgen – auch wenn dieser Frieden nur ein einseitiger Deal war. Das erkenne ich jetzt immer mehr.

Mein Vater lehnt sich zurück, zufrieden, und ich halte die Fassade aufrecht. Innerlich bin ich in Aufruhr, doch gleichzeitig weiß ich, dass ich diese Gelegenheit nutzen werde. Und ich werde mir diese Chance, meinem Vater zu zeigen, wozu ich fähig bin, nicht von Joshua verderben lassen.

Er denkt vielleicht, er hat die Oberhand.

Aber das wird nicht so bleiben.

***

Kann man von zu viel hinuntergeschluckten Gefühlen eigentlich ein Magengeschwür bekommen? Diese Wut ist nichts Neues – ich kenne sie, seit ich alt genug bin, um zu verstehen, dass nichts, was ich tat, jemals gut genug sein würde.

Mit der Akte in der Hand verlasse ich den Raum. Kaum fällt die Tür hinter mir ins Schloss, atme ich tief durch. Doch das hilft wenig. Der Druck in meiner Brust bleibt bestehen, als hätte sich die Last der Verantwortung in meinem Inneren eingenistet.

Ich blättere durch die Unterlagen, während ich den Gang hinunterlaufe. Meine Augen scannen die Fakten, halb aus Pflichtgefühl, halb aus Neugier. Ich muss wissen, was mich erwartet. Oder vielleicht will ich einfach wissen, was Joshua diesmal angestellt haben könnte. Die Vorarbeit hat Papa längst geleistet, sonst hätte dieses Gespräch gar nicht stattgefunden. Er hat den Fall heimlich schon angenommen – nur um ihn dann mir zuzuteilen. Oder … um ihn mir zu geben, weil Joshua es so wollte.

Laut Anklageschrift soll Joshua während seines letzten Projekts vertrauliche Daten aus dem internen Firmennetzwerk extrahiert und an einen Drittanbieter weitergeleitet haben – ein klarer Fall von Vertragsbruch und Datenschutzverletzung.

Oder auch nicht. Je weiter ich in den Unterlagen blättere, desto weniger überzeugend wirken die Vorwürfe. Es gibt keine direkten Beweise, keine konkreten Hinweise, die eindeutig auf ihn deuten. Die angebliche »Datenmanipulation«, auf die sich der Kläger, Lukas Eisenberg, stützt, könnte genauso gut ein Systemfehler gewesen sein. Mit der Akte unter dem Arm laufe ich den Flur entlang, mein Handy in der anderen Hand. Ich tippe eine schnelle Notiz in die App – keine eindeutigen Beweise, Systemfehler möglich? –, während meine Schritte über den Boden hallen. Ich kenne Joshua. Ich weiß besser als jeder andere, dass er dazu in der Lage wäre. Wenn man den Gerüchten glaubt, ist er von der Uni geflogen, weil er Klausuren manipuliert oder verkauft hat. Laut den Daten stimmt es, dass er ohne Abschluss die Uni verlassen hat. Allerdings gibt es auch hier hundert Versionen von der eigentlichen Wahrheit, die ich noch herausfinden muss. Sofort mache ich mir eine Notiz, die Gründe für seine Exmatrikulation zu überprüfen. Vielleicht kann uns das vor Gericht zum Verhängnis werden, denn Datenmanipulation und eine daraus erfolgte Exmatrikulation lässt uns schon einmal ganz schlecht dastehen. Er hat ein untrügliches Talent dafür, in Schwierigkeiten zu geraten. Das wusste ich damals genauso gut, wie ich es heute weiß. Und trotzdem habe ich mich damals auf ihn eingelassen.

Damals dachte ich, ich hätte keine Wahl. Joshua bot mir die Fragen und Antworten für den Eignungstest an der Uni in Hamburg an, und ich griff zu, obwohl ich genau wusste, dass es nicht ganz legal war. Lernen musste ich trotzdem, nur eben … anders. Das Gefühl, nicht gut genug zu sein, fraß mich mit jedem Tag, mit dem die Prüfung näher rückte, mehr und mehr auf. Mein Vater hatte mich in den Monaten davor immer wieder daran erinnert, wie viel von diesem Test abhing – von meinem Erfolg. Er war ebenfalls auf dieser Privatuniversität gewesen, es durfte nicht irgendeine Uni sein, es musste diese sein. Alles andere hätte er nicht akzeptiert.

Ich fühlte mich gefangen zwischen seinen Erwartungen und meiner Angst zu versagen. Und Joshua? Joshua war plötzlich da, mit einem Angebot, das sich wie eine Abkürzung anfühlte, wie die Rettung, die ich so dringend brauchte. Vielleicht hätte ich mich dagegen wehren sollen. Aber in diesem Moment, unter diesem Druck, erschien er mir wie die einzige Lösung.

Seitdem tue ich alles, um diesen Fehler wiedergutzumachen. Ich lerne, ich arbeite härter, als es irgendjemand von mir verlangt. Mein Privatleben opfere ich Stück für Stück auf dem Altar meiner Reue. Doch es reicht nicht. Denn jetzt holt mich alles, was ich so verzweifelt verdrängen wollte, ein.

Vielleicht habe ich das verdient. Vielleicht ist das der Preis, den ich zahlen muss. Ich habe damals nicht an die Konsequenzen gedacht. Nur an die Angst. An den Druck. Und jetzt … jetzt halte ich seine Akte in den Händen und frage mich, ob ich jemals genug lernen, genug arbeiten kann, um diesen einen Fehler ungeschehen zu machen.

Es war ein einmaliger Fehler, rede ich mir ein. Und Joshua ist nicht dumm genug, mich zu verraten. Oder?

Als ich den Fahrstuhl erreiche, sehe ich ihn sofort. Dass er so entspannt wirkt, als wäre nichts, bringt mein ohnehin schon angespanntes Nervenkostüm zum Zittern. Lässig sitzt er auf einem der Stühle davor und unterhält sich mit meinem Bruder Nick, der auf sein Handy guckt.

Natürlich. Ich hatte meinen Bruder gebeten, mich hier zu treffen. Nur dachte ich, dass er mich abholen würde, wenn ich Feierabend habe. Vielleicht hat er sich spontan dazu entschieden, schon zur Mittagspause vorbeizukommen.

»Wir sehen uns am Wochenende auf der Party, oder?«, fragt Nick, während er seine Krawatte zurechtrückt. Die Tatsache, dass er sich extra für seinen Besuch in der Kanzlei und für unseren Vater schick angezogen hat, ist ein gutes Zeichen. Das bedeutet, dass er sich Mühe gibt. Ich wünsche mir so sehr, dass das Gespräch zwischen beiden gut verläuft und endlich wieder etwas Harmonie eintritt.

Nick ist immer nett zu allen. Der Sonnenschein-Golden-Retriever, wie unsere Freundin Sophie ihn nennt, und es passt perfekt. In diesem Moment geht mir seine Leichtigkeit aber gewaltig auf die Nerven, denn ich weiß genau, dass er Joshua eigentlich nicht mag. Früher hat er mich oft davon abhalten wollen, die Nachhilfe mit Joshua weiterzumachen oder mich gar in seiner Nähe aufzuhalten. Aus Angst, Joshua könnte mein Herz brechen. Absoluter Quatsch. Aber jetzt tut er so, als wären sie gute alte Freunde.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. »Welche Party?« Ich bemühe mich, locker zu klingen.

»Die traurigsten Worte unserer Sprache, Schwesterherz. Gut, dass du mich hast.« Nick grinst breit und zieht mich in eine Umarmung. Für einen kurzen Moment ist alles in Ordnung. Doch die Realität holt mich schnell wieder ein, als mein Blick auf Joshua fällt.

»Welche Party, Nick? Und wer kommt überhaupt alles?«

Mein Bruder sieht mich an, als hätte ich gerade etwas völlig Absurdes gesagt, und schüttelt dann grinsend den Kopf. »Jette, es ist das Sommer-Opening. Die Frage ist nicht, wer kommt, sondern wer nicht. Die ganze Insel wird da sein.«

Oh. Stimmt. Das Sommer-Opening. Der Abend, an dem gefühlt halb Sylt auf den Beinen ist, um die neue Saison einzuläuten. Wie konnte ich das vergessen? Vielleicht, weil es sich anfühlt, als wäre das letzte erst ein paar Wochen her – und nicht ein ganzes Jahr. Unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht.

»Ich hoffe, wir sehen uns dort«, mischt sich Joshua ein. Seine Stimme klingt amüsiert, aber da schwingt etwas mit, das mich nervös macht.

»Aber werden unsere Freunde auch da sein? Haben die nicht alle super viel zu tun?«, wende ich mich an Nick, ohne auf Joshuas Kommentar einzugehen.



Tausende von E-Books und Hörbücher

Ihre Zahl wächst ständig und Sie haben eine Fixpreisgarantie.