Überleben - Tsitsi Dangarembga - E-Book

Überleben E-Book

Tsitsi Dangarembga

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Beschreibung

Tambudzai lebt arbeitslos in einem heruntergekommenen Hostel in der Innenstadt von Harare und macht sich Sorgen um ihre Zukunft. Bei jedem Versuch, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, wird sie mit neuen Demütigungen konfrontiert. Der schmerzhafte Kontrast zwischen der Zukunft, die sie sich ausgemalt und für die sie hart gearbeitet hatte, und ihrer aussichtslosen (Alltags-)Realität, führt sie in die Verzweiflung und an einen Wendepunkt. Als sie schließlich einen vielversprechenden Job angeboten bekommt, ahnt sie noch nicht, dass dieser sie letztlich um die Würde ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft bringen wird … Tsitsi Dangarembga geht in diesem spannenden und psychologisch aufgeladenen Roman der Frage nach, was es heißt, in einer postkolonialen Gesellschaft als Schwarze gebildete Frau zu Überleben – in einem Land, das jede Hoffnung verloren hat und politisch wie wirtschaftlich am Boden liegt. "Wenn du willst, dass das Leiden endet, dann musst du handeln." Tsitsi Dangarembga

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Über dieses Buch

Tambudzai lebt arbeitslos in einem heruntergekommenen Hostel in der Innenstadt von Harare und macht sich Sorgen um ihre Zukunft. Bei jedem Versuch, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen, wird sie mit neuen Demütigungen konfrontiert. Der schmerzhafte Kontrast zwischen der Zukunft, die sie sich ausgemalt und für die sie hart gearbeitet hatte, und ihrer aussichtslosen (Alltags-)Realität, führt sie in die Verzweiflung und an einen Wendepunkt.

Als sie schließlich einen vielversprechenden Job angeboten bekommt, ahnt sie noch nicht, dass dieser sie letztlich um die Würde ihrer Familie und ihrer Gemeinschaft bringen wird …

»Der Roman beschreibt inwiefern ›race‹, Geschlecht, Gesellschaftsschicht und Alter in Simbabwe eine Rolle spielen und wie überwältigend diese Kräfte auch auf die optimistischsten und ambitioniertesten Frauen einwirken.« Vanity Fair

Über die Autorin

Tsitsi Dangarembga ist als Autorin, Filmemacherin und Dramatikerin eine der wichtigsten Künstler*innen in Simbabwe. Sie setzt sich intensiv für die Förderung filmschaffender Frauen auf dem afrikanischen Kontinent ein und engagiert sich seit vielen Jahren als Aktivistin für femi-nistische Anliegen und politische Veränderung. 1988 erschien ihr Debüt-Roman »Nervous Conditions« (dt. Aufbrechen) als erster Teil einer autobiografisch geprägten Trilogie. Er wurde 1989 mit dem Commonwealth Writers’ Prize ausgezeichnet und 2018 von der BBC in die Liste der 100 wichtigsten Bücher aufgenommen, die die Welt geprägt haben. 2006 erschien der zweite Teil, »The Book of Not« (auf Deutsch ab 2022 bei Orlanda). 2018 folgte »This Mournable Body« (dt. Über-leben), der 2020 für die Shortlist des Booker Prize nominiert wurde. 2021 erhielt Tsitsi Dangarembga neben dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels auch den PEN Pinter Prize sowie den PEN International Award for Freedom of Expression.

Der Roman wurde übersetzt von Anette Grube. Sie studierte Kommunikationswissenschaften und Amerikanistik und ist die Übersetzerin von u.a. Chimamanda Ngozi Adichie, Kate Atkinson, Yiyun Li, Sigrid Nunez, Arundhati Roy, Vikram Seth und Madeleine Thien.

Tsitsi DangarembgaÜberlebenRoman

Aus dem Englischen vonAnette Grube

Tsitsi Dangarembga

Überleben

Roman

Dieses Buch ist meinen Kindern gewidmet:Tonderai, Chadamoyo und Masimba

»Es bleibt immer etwas übrig, das man lieben kann.«Lorraine Hansberry, A Raisin in the Sun

Inhalt

Teil 1 Abwärts

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil 2 In der Schwebe

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil 3 Aufwärts

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Dank

Personenregister

Glossar

Teil 1

Abwärts

1. Kapitel

Im Spiegel ist ein Fisch. Der Spiegel hängt über dem Waschbecken in der Ecke des Wohnheimzimmers. Der Wasserhahn, nur kaltes Wasser in den Zimmern, tropft. Du liegst noch im Bett, drehst dich auf den Rücken und starrst an die Zimmerdecke. Du merkst, dass dein Arm eingeschlafen ist, und bewegst ihn mit der guten Hand vor und zurück, bis Schmerz in einem Blitz aus Nadeln explodiert. Es ist der Tag des Vorstellungsgesprächs. Du solltest aufstehen. Du hebst den Kopf und lässt ihn zurück aufs Kissen fallen. Schließlich aber stehst du vor dem Waschbecken.

Dort starrt dich der Fisch aus violetten Augenhöhlen an, das Maul ist geöffnet, die Wangen hängen herunter, als lastete das Gewicht monströser Schuppen darauf. Du kannst dich nicht ansehen. Der tropfende Hahn ärgert dich, deswegen drehst du ihn erst fest zu, bevor du ihn wieder aufdrehst. Eine verdrehte Handlung. Dein Magen hebt sich vor träger Befriedigung.

»Los-los-los!«

Eine Frau klopft an deine Tür.

»Tambudzai«, sagt sie. »Kommst du?«

Es ist eine deiner Mitbewohnerinnen, Gertrude.

Schritte entfernen sich. Du stellst dir vor, dass sie seufzt, zumindest ein bisschen betrübt ist, weil du nicht geantwortet hast.

»Isabel«, ruft die Frau jetzt und wendet ihre Aufmerksamkeit einer anderen Mitbewohnerin zu.

»Ja, Gertrude«, antwortet Isabel.

Ein Knall sagt dir, dass du nicht aufgepasst hast. Dein Ellbogen ist beim Zähneputzen gegen den Spiegel gestoßen. Oder? Du bist nicht sicher. Du hast es nicht gespürt. Genauer gesagt, du kannst dir keine definitiven Schlussfolgerungen leisten, weil Gewissheit dich für schuldig erklärt. Du bemühst dich, die Regeln des Wohnheims zu befolgen, doch sie lachen dich nur aus. Mrs. May, die Heimleiterin, hat dich des Öfteren daran erinnert, dass du die Altersregel brichst. Jetzt ist der Spiegel wieder einmal von dem verbogenen Nagel an der Wand gerutscht und ins Waschbecken gefallen mit dem Ergebnis, dass er einen weiteren Sprung hat. Wenn er noch einmal fällt, werden alle Teile aus dem Rahmen springen. Du hebst ihn vorsichtig an, damit die einzelnen Teile an ihrem Platz bleiben, und überlegst dir eine Entschuldigung für die Heimleiterin.

»Also, was jetzt, was hast du damit gemacht?«, wird Mrs. May wissen wollen. »Du weißt doch, dass du dich an die Vereinbarungen halten sollst.«

Die Heimleiterin kämpft für dich, sagt sie. Sie erzählt dir oft, dass sich die Verwaltung beschwert. Nicht über dich als solche, sondern über dein Alter, sagt sie. Der Stadtrat wird die Genehmigung für das Wohnheim widerrufen, wenn er herausfindet, dass so altertümliche Frauen hier wohnen, Frauen, die die Altersgrenze um einiges überschritten haben, um noch im Twiss Hostel unterkommen zu dürfen.

Du hasst die Schlampen von der Verwaltung.

Ein Dreieck fällt aus dem Spiegel auf deinen Fuß, dann gleitet es auf den Boden und hinterlässt einen dunkelroten Fleck. Der Betonboden ist so graugrün wie ein schmutziger See. Du rechnest damit, dass auch die restlichen Fragmente herausfallen, aber sie halten.

Draußen im Flur versichern sich Gertrude und Isabel gegenseitig, dass sie lange und gut geschlafen haben. Mehrere andere Bewohnerinnen gesellen sich zu ihnen, und ihr endloses Geplapper beginnt.

Der Boden im Flur glänzt, obwohl er aus Zement ist und nicht aus Kuhdung. Du hast Broschüren in der Werbeagentur verfasst, aus der du vor vielen Monaten rausspaziert bist. In den Touristenbroschüren hast du geschrieben, dass die Dorfbewohnerinnen in deinem Land ihre Böden aus Kuhfladen so oft abreiben, bis sie glänzen wie Zementböden. Die Broschüren haben gelogen. In deiner Erinnerung glänzt nichts. Die Böden deiner Mutter haben nie geglänzt. Nichts hat geglitzert oder gefunkelt.

Du schlurfst vom Waschbecken zum Kleiderschrank und öffnest ihn. Der Fisch bläht sich im ölig weißen Anstrich der hölzernen Schrankverkleidung zu einem Flusspferd auf. Du wendest dich ab, weil du den schwerfälligen Schatten nicht sehen willst, der dein Spiegelbild ist.

Hinten im Schrank findest du den für ein Vorstellungsgespräch geeigneten Rock, den du erstanden hast, als du das Geld hattest, um eine Annäherung an die doppelseitigen Modeaufnahmen zu kaufen, die du in Zeitschriften eingehend studiert hast. Den Bleistiftrock mit dem dazu passenden Oberteil hast du geliebt. Sich jetzt hineinzuzwängen ist ein heftiger Angriff auf den Dickhäuter. Der Reißverschluss beißt mit heimtückischen Zähnen in deine Haut. Heimleiterin May hat dieses Vorstellungsgespräch organisiert, für das du dich jetzt anziehst. Es ist mit einer weißen Frau, die in Borrowdale lebt. Du bist besorgt, dass Blut deinen Rock fleckt. Doch es gerinnt rasch, wie die rote Linie auf deinem Fuß.

Gertrude und Konsorten poltern den Flur entlang. Du wartest, bis das Geplapper der jungen Frauen, die zum Frühstück gehen, verstummt ist, bevor du auf den Flur hinaustrittst.

»Ihr Leute! Ja, du«, murmelt die Putzfrau gerade laut genug, dass du es hören kannst. »Immer macht ihr noch mehr Dreck, bevor der Boden trocken ist.« Sie weicht dir aus, und der Eimer stößt gegen die Wand. Schmutziger Schaum schwappt heraus.

»Hat dir mein Eimer was getan?«, zischt sie leise deinem Rücken zu.

»Guten Morgen, Mrs. May«, rufst du.

Die Heimleiterin steht am Empfang in der Eingangshalle, rosa und gepudert; sie sieht aus wie ein großer flauschiger Kokon.

»Guten Morgen, Tahmbuudzahiie«, erwidert sie und blickt von dem Kreuzworträtsel im Zimbabwe Clarion auf, der vor ihr auf dem Schreibtisch liegt.

Sie lächelt, als du sagst: »Wie geht es Ihnen heute Morgen, Frau Heimleiterin? Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen. Und danke für alles.«

»Heute ist der große Tag, nicht wahr?«, sagt sie, ihre gute Laune steigert sich bei dem Gedanken an ein Leben, in dem sie wegen dir nicht mehr mit der Verwaltung würde streiten müssen. »Na dann, viel Glück! Denk dran, Mabel Riley an mich zu erinnern«, sagt sie. »Ich habe sie seit der Schule nicht mehr richtig gesehen, und dann haben wir beide geheiratet und waren mit unseren Familien beschäftigt. Grüße sie vielmals von mir. Ich habe mit ihrer Tochter gesprochen, und sie war ganz sicher, dass euch wegen des Häuschens was einfallen wird.«

Du zuckst vor der Begeisterung der Heimleiterin zurück. Sie neigt sich vor, hält den Glanz in deinen Augen für Wertschätzung. Du spürst ihn, aber du bist selbst nicht sicher, was dieser Glanz bedeutet, ob er echt ist oder etwas, das du herausforderst.

»Es wird bestimmt sehr gut gehen«, flüstert Heimleiterin May. »Mabs Riley war eine wunderbare Schülersprecherin. Ich war noch ganz jung, aber sie war absolut wunderbar.«

Puder rieselt von den bebenden Wangen.

»Danke, Mrs. May«, murmelst du.

Der »Gestern, heute und morgen«-Busch im Garten des Wohnheims pulsiert violett, weiß und zartlila. Bienen fliegen träge durch die Luft, um ihre Saugrüssel in die Spritzer aus Hell, Heller, am Hellsten zu schieben.

Du hältst mitten im Schritt neben dem Gebüsch inne, um einen waghalsigen, aber vom Glück begünstigten Käfer zu schonen. Dahinter wütet die Hibiskushecke scharlachrot. Jahre zuvor, du willst dich nicht erinnern, wie viele Jahre, hast du in die sandigen Mulden dieser dickbäuchigen Käfer geblasen, lachend und unbeschwert pustend. Als das Insekt frei dalag, hast du Ameisen in das Loch geworfen und zugesehen, wie die kleinen Gladiatoren kämpften und in den Kiefern ihres Peinigers umkamen.

Du betrittst die Herbert Chitepo Avenue. Die Straßenkinder halten dich für eine Dame und betteln um milde Gaben.

»Tambu! Tambu!«, ruft eine Stimme.

Du kennst die Stimme. Du wünschst, du hättest den Käfer zertreten.

Gertrude wankt auf ihren Stilettos zu dir, Isabel im Schlepptau.

»Wir haben denselben Weg«, sagt Gertrude, die sich selbst Gertie nennt. »Jetzt haben wir Gelegenheit, guten Morgen zu sagen und endlich herauszufinden, wie du geschlafen hast. Isabel und ich wollen zu Sam Levy’s.«

»Guten Morgen«, murmelst du, hältst Distanz.

Sie nehmen dich in die Zange wie zwei Polizistinnen. Ihr federnder Gang irritiert dich.

»Ach, das wusste ich nicht«, sagt Isabel eilig, als ob für sie dem Sprechen kein Gedanke vorausgehen muss. Das gestattet dir ein gewisses Amüsement, und du lächelst. Die junge Frau fühlt sich ermutigt.

»Du willst auch zu Sam Levy’s. Du liebst die Sonderangebote, genau wie wir. Ich wusste gar nicht, dass alte Leute sich für Mode interessieren.«

Die Brüste der Mädchen ragen nach vorn, als sie die Schultern nach hinten drücken, um das meiste aus ihrem Busen herauszuholen.

»Ich will nicht zu Sam Levy’s«, sagst du. Sie schauen an dir vorbei, blicken prüfend zu den Autos auf der Straße und den Männern mittleren Alters, die sie fahren.

»Meine Tante wohnt dort«, erklärst du. »Ich fahre zu ihrem Haus in Borrowdale.«

Die jungen Frauen wenden dir wieder ihre Aufmerksamkeit zu.

»Borrowdale«, sagt Gertrude. Du weißt nicht, ob sie staunt, weil du eine Tante hast, oder weil eine Verwandte von dir in Borrowdale lebt. Zum ersten Mal zufrieden an diesem Morgen, erlaubst du dir ein Lächeln, das bis zu den Augen reicht.

»Was ist daran erstaunlich?« Isabel zuckt die Achseln. Sie zieht den roten BH-Träger hoch, der an ihrem Arm heruntergerutscht ist. »Mein babamunini, der Bruder meines Vaters, hatte ein Haus dort. Aber er hat es verloren, weil er nicht dafür zahlen konnte. Sie haben gesagt, dass es wegen der Zinsen ist oder so. Deswegen ist er nach Mosambik gegangen, mit Diamanten, glaube ich.« Sie zieht die Nase hoch. »Jetzt sitzt er dort im Gefängnis. Nur solche Leute gehen nach Borrowdale. Alte!«

»Wer ist diese Verwandte, Tambudzai?«, fragt Gertrude.

»Ich meine nicht dich, Sisi Tambu«, unterbricht Isabel. »Ich meine wirklich alte Leute.«

An der Ecke Borrowdale Road und Seventh Street stehen die Leute bis an den Bordstein.

»Vabereki, vabereki«, ruft ein junger Mann aus der verbeulten Tür eines Kombi.

Das Fahrzeug schwingt zum Bordstein. Alle ziehen Arme, Beine und Köpfe ein. Du weichst mit der Menge zurück. Einen Augenblick später drängst du mit allen anderen nach vorn, stößt mit den Ellbogen aggressiv so viele Personen wie möglich aus dem Weg. Doch es ist falscher Alarm.

»Eltern, wir nehmen euch nicht mit«, schreit der jugendliche Kombi-Schaffner grinsend. »Wir sind voll. Habt ihr verstanden? Voll.«

Der Fahrer grinst. Krähen flattern im Zickzack aus den Flamboyant-Bäumen an der Straße und fliehen krächzend vor der Rußwolke, die der Bauch des Kombis ausrülpst.

Bald darauf schlurfen alle wieder nach vorn. Blech und Gummi kreischen, als der Fahrer eines anderen Minibusses auf die Bremse tritt. Räder stoßen gegen den Bordstein. Junge Männer kämpfen sich mit den Ellbogen nach vorn und springen auf. Du duckst dich unter Armen durch und zwängst dich an Körpern vorbei.

»Eltern, einsteigen. Einsteigen, einsteigen, Eltern!«, ruft der neue Schaffner.

Er schirmt mit seinem Körper ein halbes Dutzend Schulkinder ab, die im Fußraum über dem Motor sitzen. Du drängst dich an ihm vorbei, dein Bein streift seine Genitalien, du schämst dich für die Berührung. Er grinst.

»Au, mai! Meine Mutter!«, kreischt ein kleines Mädchen.

Du bist ihr auf die Zehen gestiegen mit deinen zweifarbigen Lady-Di-Pumps, richtige europäische Lederschuhe, ein Geschenk, das du vor ein paar Jahren von deiner Cousine bekommen hast, die im Ausland studiert hat.

Tränen sickern aus den Augen des Kindes. Als sich das Mädchen vorbeugt, um ihren Zeh zu massieren, stößt sie mit dem Kopf gegen den Hintern des Schaffners.

»Ha, ihr Leute, vana hwindi«, sagt deine Mitbewohnerin Gertrude affektiert. Sie steht mit einem Fuß auf dem Trittbrett des Kombis. Ihre Stimme ist weich und zuversichtlich.

»Das sind doch kleine Kinder. Warst du nie ein Kind? Wir nennen sie Sprösslinge, aber unsere Kinder sind nicht wie die von Bäumen«, sagt sie in dem gleichen matten Tonfall.

»Wenn du dich um Kinder kümmern willst, dann von mir aus, aber nicht hier. Willst du, dass wir zu spät kommen?«, ruft ein Mann hinten im Bus.

»Hat sie was zu jemandem von euch gesagt?«, fragt Isabel, die nach dir eingestiegen ist.

Beleidigte Fahrgäste murren über deine Begleiterinnen.

»Mädchen, die nicht wissen, wovon sie reden.«

»Junge Leute, die keine Ahnung von nichts haben. Sie wissen nicht, dass Gott ihnen einen Kopf zum Denken und Mundhalten gegeben hat.«

Froh, dich auf einen Sitz gezwängt zu haben, sagst du erst einmal nichts.

»Vielleicht bitten unsere jungen Frauen um etwas«, sagt der Mann hinten. »Bitten, dass man ihnen etwas beibringt. Und wenn sie nicht aufpassen, wird es ihnen jemand beibringen, und sie werden es lernen müssen.«

»Diese Kinder sollten ihre Füße einziehen«, sagst du kurz darauf. Denn du gehörst zu dieser Masse, die im Kombi ist.

Isabel sagt nichts mehr und findet einen Sitz. Gertrude hört auch auf, sich für die Kinder einzusetzen, und zieht sich hoch. Sie tätschelt den Kopf des kleinen Mädchens, als sie sich auf den letzten freien Platz gegenüber dem Schaffner setzt.

»Sie ist die Beste«, sagt der Schuljunge, der neben dem Mädchen sitzt, zu Gertrude. »Sie wird beim Sportfest laufen. Wenn ihr nichts wehtut, gewinnen wir immer.«

Er senkt enttäuscht den Kopf.

Alles ist unbequem. Es sind zu viele Personen im Kombi, zu eng gedrängt. Der Motor kocht unter den Hintern der Kinder. Der Geruch nach heißem Öl schwebt in der Luft. Schweiß rinnt aus deinen Achselhöhlen.

Kurz darauf sammelt der Schaffner Geld ein und ruft die Haltestellen aus: »Tongogara Avenue. Luftwaffe. Die Roboter.«

»Wechselgeld«, fleht eine Frau in der Churchill Avenue. »Ich habe dir einen Dollar gegeben.« Sie hat eine Brust wie eine Matratze, ist die Sorte Frau, die anzumachen sich nicht einmal Männer trauen.

»Fünfzig Cents«, bittet die Frau und schaut den jungen Schaffner an. Sie gehört zu denen, die über die Scherze des jungen Manns gelacht haben.

Der Junge blickt sie finster an. »Woher soll ich Wechselgeld nehmen, Mutter?«

»Ist denn niemand mit fünfzig Cent im Wagen?«, sagt die Frau, als sie aussteigt. »Ich kann meine fünfzig Cent nicht dalassen.« Doch der Schaffner hat gegen das Dach geschlagen, und der Kombi fährt an. Die Frau verschwindet in einer Explosion von schwarzen Abgasen.

»Ah-ah! Hat sie nicht gehört, dass es kein Wechselgeld gibt?«, sagt der Mann hinten. Sein Mund ist ein amüsierter Sichelmond.

Deine Mitbewohnerinnen steigen bei den Borrowdale-Geschäften aus.

Du fährst weiter bis Borrowdale-Polizei und gehst zwischen der BP- und der Total-Tankstelle durch. Neben der Straße ziehst du deine Lady Dis aus. Du holst deine schwarzen Bata-Turnschuhe heraus und steckst die Pumps in die Tasche.

Dir graut davor, dass dich die Leute in diesem feinen Viertel in Stoffschuhen sehen, vor allem weil du ein viel besseres Paar Schuhe in der Tasche trägst. Deswegen bist du erleichtert, als du vor 9 Walsh Road ankommst, wo die Witwe Riley wohnt, ohne Bekannten zu begegnen. Du setzt dich auf das Abflussrohr neben dem Zaun, um deine Füße wieder in die Pumps zu zwängen.

Zuerst siehst du nur Lippen und bist zu Tode erschrocken. Die geschwollenen Füße in die Lady Dis gequetscht, springst du auf. Die Lippen sind entlang gelber Zähne zu einem Knurren arrangiert. Sie gehören einem kleinen struppigen Terrier.

»Wau! Wau!«, kläfft der Hund, außer sich aufgrund deiner Anwesenheit.

»Wer bist du?« Eine hohe Stimme zittert sich durch die Morgenluft. »Ndiwe ani?«, wiederholt die Frau. Sie benutzt den Singular, die vertrauliche Form, um dich anzusprechen. Da eine Person, die etwas wert ist, mit der Höflichkeitsform angesprochen wird, ist sich die Frau mit dem Hund einig, was deinen Wert betrifft.

»Denk bloß nicht daran, dich zu rühren oder näher zu kommen«, warnt sie. »Wenn er dich zu fassen kriegt, wird er dich fressen, wirklich. Bleib dort!«

Ihre Worte treiben den Schwanz des Hundes in die Höhe. Er galoppiert neben dem Zaun hin und her. Seine Schnauze ist mit Schaum gesprenkelt. Seine Zunge hängt heraus, und zwischendurch rast er davon und umkreist die Sprecherin, die sich vom Haus nähert.

Gut im Fleisch, eiförmig, tritt die Frau hinter einer Kaktusfeige hervor. Sie watschelt den mit Ziegelsteinen ausgelegten Pfad entlang.

»Bleib, wo du bist, wie ich gesagt habe«, sagt sie.

Sie öffnet die Bänder ihrer baumwollenen Dienstmädchenschürze und zurrt sie fest, als sie sich dir nähert. Der Terrier fixiert sie mit dem einen Auge, dich mit dem anderen, und begnügt sich mit einem gutturalen Knurren.

»Was willst du?«, fragt die Frau und sieht dich durch den Zaun an.

»Frag die Gärtnerjungen in den Straßen hier«, fährt sie fort, ohne dir eine Antwort zu erlauben. »Wenn du sie fragst, wirst du merken, dass ich es nicht schlecht mit dir meine. Ich warne dich zu deinem eigenen Besten. Wenn du die Gärtnerjungen fragst, wirst du herausfinden, wie vielen dieses kleine Tier ein Stück herausgerissen hat.«

Sie mustert dich weiterhin. Du schaust sie nicht an. Ihr Auftreten ist so imposant, dass du wieder zu dem Mädchen vom Land geworden bist, das vor einem Mambo oder Dorfvorsteher steht.

Die Frau ist dank deines Schweigens besänftigt.

»Sogar mich hat er gebissen, nga, einfach so, als wollte er mich fressen«, sagt sie freundlicher.

»Also, was willst du? Madam Mbuya Riley, sie hat gesagt, dass jemand kommt. Hat dich Großmutter Rileys Tochter geschickt?«

Du nickst, deine Stimmung hebt sich.

»Die Witwe versteht sich nicht mit ihrer Tochter«, sagt die Frau. »Die Madam Tochter Edie lügt die ganze Zeit. Wir kommen zurecht, Madam Mbuya Riley und ich. Ich bin es, die hier arbeitet, und wir brauchen niemand.«

Du nimmst die kleine Anzeige aus der Tasche, die Mrs. May dir gegeben hat.

»Ich bin für ein Vorstellungsgespräch gekommen«, erklärst du. »Ich habe eine Empfehlung.«

»Aber es gibt hier keine Arbeit«, sagt die Frau. Ein Funke Misstrauen blitzt in ihren Augen auf. »Es findet kein Vorstellungsgespräch statt. Versuch es am Ende der Straße. Sie suchen jemand für den Gemüseanbau. Kartoffeln, vielleicht Süßkartoffeln. Und auf der anderen Straßenseite hat jemand eine Hühnerfarm.«

Jetzt bist du an der Reihe, dich aufzuregen. »Für so eine Arbeit bin ich nicht gekommen. Ich habe einen Termin«, sagst du langsam.

»Wozu ein Vorstellungsgespräch?« Die Frau grinst. »Da geht es um Arbeit, oder? Mit Lügen kommst du hier nicht rein.«

Der Hund knurrt.

»Wenn du nur weitergehen würdest«, sagt die Frau. »Der Hund ist verrückt. Jeder Hund, den Madam Mbuya Riley seit dem Krieg gehabt hat, war so. Und Mbuya Riley im Haus ist genauso wie der Hund, wenn nicht verrückter. Also, geh weiter!«

Die Schlangen, von denen dir deine Großmutter erzählt hat, als du klein warst und sie die Dinge gefragt hast, die du deine Mutter nicht fragen konntest, die Schlangen, die deinen Bauch festhalten, öffnen bei der Erwähnung des Kriegs ihre Kiefer. Der Inhalt deines Bauchs gleitet nach unten, als hätten die Schlangen alles losgelassen, als sie die Kiefer öffneten. Dein Bauch löst sich in Wasser auf. Du stehst da und hast keine Kraft mehr.

Ein Loch öffnet sich im Netz der Efeuranken, die das Haus am Ende des Wegs strangulieren. Die Frau, die mit dir spricht, macht einen Schritt nach vorn. Sie packt das Zaungeländer. Angst strömt aus ihr, so stark wie der Geist eines Vorfahren.

Witwe Riley, die Frau, die du treffen sollst, nähert sich. Ihr Rücken ist bucklig. Knochen und Haut sind morsch, spröde und durchscheinend wie Muscheln. Sie wankt über den unebenen Ziegelweg.

Der Hund kläfft und rennt zu seinem Frauchen.

»Also was soll ich der Madam sagen?«, flüstert die Frau vor dir. Sie spricht jetzt vertraulich wie zu einer Freundin.

»Schau! Jetzt glaubt sie, dass du eine Verwandte bist. Von mir. Das dürfen wir nicht, überhaupt nicht, nicht einmal, wenn wir freihaben. Und jetzt ist der schlechteste Zeitpunkt, weil ich erst am Wochenende freihabe.«

»Ein Gespräch. Für eine Unterkunft«, flüsterst du. »Wo ich wohnen kann.« Du bist so verzweifelt, dass deine Stimme hoch in deine Kehle steigt.

»Sie wird weinen«, zischt die Haushaltshilfe von Mbuya Riley. »Sie wird behaupten, dass ich meine Verwandten anschleppe, damit sie sie umbringen. Wenn ihre Tochter kommt, reden sie so. So ist es seit dem Krieg. Das ist das Einzige, wo sie sich einig sind.«

»Es gibt ein Häuschen«, sagst du. »Die Heimleiterin hat gesagt, dass sie was vereinbart hat. Es ist nicht teuer.«

»Hörst du nicht, was ich sage?«, fährt Mbuya Rileys Dienstmädchen fort. »Es ist unmöglich, wenn sie weint. Ich muss sie füttern, oder sie macht den Mund zu und isst nichts. Wie ein Baby! Geh jetzt.«

Der Hund kläfft am Ende des Wegs. Die gebrechliche alte Frau sinkt zu Boden. Ihr Kopf mit seinem Heiligenschein aus weichem weißem Haar liegt auf dem Pflaster wie eine riesige Pusteblume. Sie streckt dir und der Frau in Uniform den Arm entgegen.

»Da!«, beschwert sich das Dienstmädchen. »Jetzt muss ich mich vorbeugen und sie tragen, obwohl mein eigener Rücken am Brechen ist.«

Sie hastet den Weg entlang, wirft dir über die Schulter Vorwürfe zu.

»Geh weg von der Nummer 9. Denn wenn du nicht gehst, mache ich das Tor auf, und wenn du diesen hier abschütteln kannst, wird es auch nichts nützen, weil ich dann den Großen rauslasse.«

Die Frau beugt sich zu ihrer Herrin hinunter. Der kleine Terrier wimmert, leckt den Arm der Witwe.

2. Kapitel

Der Mann wendet sich vom Fenster ab, um mit dir zu sprechen.

»Oh, Vater, ich wollte dich nicht stören.«

Du hast die ledernen Lady Dis anbehalten, als du vom Haus der Witwe Riley wegmarschiert bist. Du bist schnell gegangen, ohne zu wissen, warum Geschwindigkeit wesentlich war. Der Asphalt war heiß. Deine Füße sind geschwollen und voller Blasen. Im Kombi, der dich zum Wohnheim zurückfährt, ziehst du die Lady Dis aus. Du suchst nach deinen Turnschuhen. Du stößt den Mann neben dir mehrmals an, einmal peinlich nah an seiner Leistengegend.

»Du musst warten«, sagt er. »Es ist besser, still zu sitzen, egal, was los ist. Wie alle anderen.«

»Diese Schuhe«, sagst du, während du schräg dasitzt. »Sie sind europäisch. Nicht wie unsere hier. Sie dehnen sich nicht so. Ich hätte was Einheimisches anziehen sollen, als ich aus meinem Haus gegangen bin.«

Es ist die Antwort, die er verdient. Er lehnt Kopf und Schulter ans Fenster. Er ist kein Mann mehr, denkst du: Er ist schon kaputt.

»Wo du herkommst, gehört das dir?«, fragt der Mann. In seiner Stimme bebt ein neues Interesse, das er zu verbergen sucht.

»Ja«, lügst du.

»Die Grundstücke dort«, sagt er. »Wenn man an einem Ende steht, kann man das andere Ende nicht sehen. Nicht jeder kann so was finden.«

Du lächelst zustimmend.

»Hast du eine Gärtnerei?«, fragt er.

»Ja«, antwortest du und nickst bestimmt.

»Das ist gut.« Der Mann seufzt. »Seit die Regierung den Leuten Land gibt, wo wir geglaubt haben, dass nur Europäer sein dürfen.«

»Es hat meiner Tante gehört«, sagst du. »Sie hat es von ihrem Arbeitgeber bekommen. Er ist nach Australien gegangen.«

Der Mann legt die Hände in den Schoß und sieht sie an. »Was baust du an?«, fragt er.

»Dahlien«, sagst du stolz. »Ich bin die Einzige, die das kann. Sie konnte den Laden nicht managen, meine Tante, die Sache braucht Köpfchen und man muss den Leuten sagen, was sie tun sollen«, fügst du hinzu. »Da hat unsere Familie gesagt, Tambudzai, du hast studiert, du übernimmst das Grundstück, bevor sie einen Schlaganfall oder so was hat, bevor sie hingeht, wo niemand ihr folgen kann.«

»Ah, Gartenbau«, sagt dein Begleiter. Seine Stimme klingt wehmütig vor Bewunderung, die er jetzt behaglich zur Schau stellt. »Eines Tages werde ich das auch machen«, verspricht er in einem kleinen Aufwallen von Energie. »Obst für mich. Die Leute müssen immer was im Magen haben, und wenn du ihnen den Magen füllst, füllst du auch deinen.«

»Gelbe«, fügst du ein. »Und Rosen. Die sogenannten Teerosen.«

»Oh-ho!« Dein Begleiter nickt. »Ich habe mal in einer Gärtnerei gearbeitet. Dort gab es Teerosen. Ich habe sie eingesprüht.«

»Blau«, sagst du. »Meine Rosen sind blau.«

»Blau«, wiederholt der Mann. Seine Energie verpufft wieder. Er sackt gegen das Fenster. »Solche Rosen! Habe ich nie gesehen.«

»Schweden«, sagst du. Du bist erleichtert, dass du eine Tatsache in den Unsinn einflechten kannst, den du auftischst. Du hast in der Werbeagentur einen ruhmreichen Augenblick erlebt, als du eine Kampagne für eine schwedische Firma entwickelt hast, die landwirtschaftliche Maschinen herstellt. »Ich habe eine Menge Kunden in Schweden. Für Gelb und Blau. Das sind die Farben des Landes. Ich schicke sie mit dem Flugzeug hin«, endest du und stellst dir vor, es würde eines Tages wahr werden.

»Ich könnte als Gärtner arbeiten«, sagt der Mann. »Hast du noch einen Platz für jemanden?«

»Ah, ich werde an dich denken«, sagst du. »Aber dieser Tage sind es schon zu viele.«

»Wenn nur dieser El Niño nicht wäre.« Der Mann seufzt. »Das Wasser und der Wind lassen uns nichts mehr zum Leben, den meisten von uns.«

Dein Begleiter bittet um einen Stift. Er kritzelt die Telefonnummer seines Nachbarn auf einen alten Kassenzettel, den er aus der Tasche zieht. Du nimmst den Zettel.

»Pano! Armadale!«, sagt er.

»Hier! Armadale«, leitet der Schaffner an den Fahrer weiter.

Der Mann steigt mit hochgezogenen Schultern aus und geht davon.

Du lässt den Zettel unter den Sitz fallen. Leute steigen ein. Du rutschst auf den Sitz des Möchtegerngärtners und lehnst dich ans Fenster. Der Kombi hält an der Ecke des Wohnheims. Er darf dich weiterfahren.

Der Marktplatz ist die Endstation des Kombis. Auf dem Boden zwischen den Ständen liegen Bananenschalen und fettige Pommesschachteln. Plastiktüten blähen sich wie die Bäuche von Säufern. Orangenschalen kringeln sich auf dem gerissenen Asphalt.

Ein Straßenjunge saugt an einer Tüte wie an der Brustwarze einer Mutter. Ein zweiter Junge greift nach der Tüte. Der erste sinkt auf den Boden und bleibt auf dem bröckelnden Pflaster liegen. Der Ärmel seiner Jacke ist ein ausgefranster Lumpen. Er flattert in der Gosse. Unter dem Stoff bilden benutzte Kondome und Zigarettenkippen kleine Dämme in dickflüssigen Pfützen aus holzkohleschwarzem Wasser.

Eine Reihe Kombis steht geparkt. Deiner schwingt sich zu einem triumphierenden Halt. Die Fenster scheiden Süßkartoffelschalen und Verpackungen von Süßigkeiten aus. Männer und Frauen maulen zornig und zerstreuen sich. Als die Fahrgäste zum Ausgang drängen, bemerkt eine Frau: »Haben sie uns nicht kommen sehen? Warum sind sie stehen geblieben? Warum sind sie nicht aus dem Weg gegangen?«

Die, die anstehen, um auszusteigen, neigen sich vor. Die Leute, die in der Schlange warten, um einzusteigen, beginnen zu streiten.

Der Schaffner fragt, wohin du willst. Du zuckst die Achseln, und er erinnert dich: »Helensville.«

Du kicherst lautlos. Da du gebildet bist, weißt du, dass der Außenbezirk Helensvale heißt. Helen’s Valley.

»Helensville«, sagt der Schaffner, ohne sich die Ungeduld anmerken zu lassen, die er empfinden muss. »Wir fahren dahin zurück.«

Er springt hinaus, um die Fahrgäste anzuschreien: »Eltern! Wer immer mitfahren will, ich sage euch, steigt ein. Nur wer mitfährt, fährt.«

Du rutschst auf den Sitz neben der offenen Tür des Fahrzeugs. Überlegst es dir anders und rutschst zurück auf den Platz am Fenster. Du überlegst es dir noch einmal anders und setzt dich in die Mitte; halb hier, halb dort, wo es keine Notwendigkeit gibt, etwas zu entscheiden oder zu handeln.

Ein paar Fahrgäste steigen ein.

»Der fährt zu den Geschäften und zum Polizeirevier«, ruft der Schaffner.

Eine Frau dreht sich um und zischt einen Mann an, dass er sich nicht an sie drücken soll. Der Mann lacht.

Ein weiterer Kombi kommt an, spuckt Rauch. Alle prusten, und als sich der Dunst verzogen hat, gafft ihr alle zu einer jungen Frau, die sich zwischen den Ständen mit Obst und Gemüse einen Weg zu den Kombis bahnt.

Trotz des Unrats und der Risse im Asphalt bewegt sie sich elegant auf himmelhohen High Heels. Jeden Teil ihres Körpers, der nach vorn oder hinten geschoben werden kann, schiebt sie nach vorn oder hinten – Lippen, Hüften, Brüste, Po –, mit allergrößter Wirkung. Ihre Hände laufen in spitzen schwarzen und goldenen Nägeln aus. Sie hat mehrere Einkaufstüten in der Hand, die »NEON« und andere Namen von Boutiquen in riesigen zackigen Buchstaben schreien. Sie schwingt die Tüten so lässig wie ihren Körper.

Du gaffst wie alle anderen, Wiedererkennen dämmert. Die junge Frau stolziert zu einem Kombi. Fasha-fasha geht sie, einfach so, alle ihre Teile bewegen sich mit der Selbstsicherheit einer Frau, die weiß, dass sie schön ist. Die Menge rührt sich, gruppiert sich neu. Männer innerhalb und außerhalb der Kombis atmen laut aus. Fenster beschlagen. Du rührst dich auch. Der Atem bleibt dir in der Kehle stecken, als du die Frau endlich identifizierst. Es ist deine Mitbewohnerin Gertrude.

Sie fasst nach dem eisernen Gestell eines Sitzes in einem Kombi, um sich hineinzuziehen. Geübt schwingt sie die Taschen hinter den Po, um ungewollte Anblicke zu verhindern. Als ihr Griff abgleitet, packt sie das billige Material, mit dem der Sitz bezogen ist. Es reißt und spuckt Schaumgummi aus, als sie nach hinten taumelt.

»Knie! Knie!«, ruft eine heisere Stimme deiner Mitbewohnerin zu. »Halt die Knie geschlossen.«

Wieherndes Gelächter.

»Da ist ein kleiner Fisch. Er wird gleich sein Maulloch zeigen, so wie er es macht, wenn er auf dem Trockenen ist«, ruft ein Mann.

Gertrude tut so, als würde sie nicht ihr Kleid hinunterziehen, als sie auf dem Boden landet. Doch unter ihren Einkaufstaschen zerrt sie auf Teufel komm raus daran. In der anderen Hand hält sie eine Faustvoll Polsterfüllung, als würde sie ihr Sicherheit geben.

Die Menge wogt und zappelt, summt und brummt vor Vergnügen. Diese Heiterkeit verströmt Energie. Sie treibt dich vom Sitz und hinaus ins Gedränge. Die Menge lacht schallend. Du auch. Und während du lachst, wächst und wächst du, bis du glaubst, dass du größer bist, als du bist, und das ist großartig.

Die Frau reibt sich den Arm und verlagert vor Unbehagen das Gewicht von einem Bein aufs andere.

»He, Fahrer«, ruft ein Mann. »Benutz deine Augen und schau, was sie deinem Fahrzeug antut.«

Der Mann klopft an die Windschutzscheibe und schlägt sich mit übertriebener Empörung die Hände seitlich an den Kopf. Du lachst mit all den anderen über diese Vorführung.

»Weitergehen, mhani, weitergehen. Die sind ein Problem«, schreit eine junge Frau in Rot und Grün, dem Gewand einer apostolischen Sekte. »Ein Problem«, wiederholt die junge Frau und drängt sich an allen vorbei zu einem Kombi.

»Ein Problem! Ein Problem!«

Die Menge greift die Idee auf und spuckt sie tief aus dem Bauch heraus aus. Es ist wie die Erleichterung, die Erbrechen verschafft, wenn herausläuft, was sich aufgestaut hat. Die Menge schiebt sich in ihrer unerwarteten neuen Freiheit vorwärts.

»Macht jemand die Oberschenkel für sie auf«, sagt ein Mann. »Macht es für sie, wenn sie es nicht tut.«

Die Menge greift den neuen Refrain auf. Du schleuderst ihn Gertrude zu und hinaus auf den Markt: »Aufmachen! Aufmachen!«

Ein Straßenkind hebt einen Maiskolben aus dem Abfall in der Gosse auf. Der Kolben schneidet durch die Luft wie eine Sichel. Befriedigung breitet sich in allen Bäuchen aus, als das Geschoss an Gertrudes Kopf vorbeifliegt und Strähnen ihrer einhundert Prozent brasilianischen Haarverlängerungen mitnimmt.

Gertrude stürzt nach vorn und findet Halt an der Kombi-Stufe. Ohne einen Gedanken an die Länge ihres Rocks schiebt sie sich vorwärts.

Alle lachen, und der Kombi-Fahrer grinst: »Was ist los mit dir? Seit wann dürfen Nackte in ein Fahrzeug steigen?«

Eine Gruppe Arbeiter in der Nähe lehnt lässig an einem Baugerüst und rückt die Helme zurecht, schaut zu. Sie lachen ohne Bedrohung und ohne Freude, ohne Hass, ohne Verlangen. Das Kichern sagt, dass tief aus ihnen alles entspringen kann.

Die eine Stimme, die aus vielen besteht, stößt ein Heulen der Vorfreude aus.

Der Lärm stachelt den Wunsch des Fahrers an, mehr sehen zu wollen.

»Weg da, weg da! Mein Wagen will fahren«, ruft er der Frau aus deinem Wohnheim zu. »Mit anständigen Leuten! Wie kann er das jetzt, wo er gepackt voll ist mit nackten Frauen?«

Spannung spritzt aus dir und aus der Menge. Dein Lachen hängt über deinem Kopf. Dort oben, wo es niemandem mehr gehört, knallt und knistert es wie ein Gewitter.

»Ja!«, prahlt der Fahrer. Er mustert Gertrude. »Wer hat dir gesagt, dass mein Kombi ein Schlafzimmer ist?«

Die Leute brüllen jetzt etwas über die Löcher in ihrem Frauenkörper. Sie stellen eine Liste zusammen, welche Gegenstände dort eingeführt wurden oder werden sollen, spekulieren über die Dimensionen dieser Hohlräume bei den weiblichen Verwandten ihrer Geisel. Eine schrille Stimme erklärt, dass deine Mitbewohnerin Blut vergeudet, weil sie Schande über den Freiheitskampf bringt, in dem die Kinder der Leute kämpften und fielen.

Der Straßenjunge beugt sich wieder in die Gosse. Sonnenlicht blitzt auf der Flasche auf, die er wirft.

»Für wen hält sie sich? Geben wir’s ihr«, grölt der unterernährte Junge.

Die Flugbahn der Flasche übt eine magnetische Kraft aus. Die Kraft hebt dich hoch. Du triumphierst. Du erreichst den Scheitelpunkt des Geschosses wie den Gipfel eines Berges. Die Menge auf dem Marktplatz steigt stöhnend auf mit dir an diesen hohen Ort. Es ist ein Wunder, das alle zusammengebracht hat.

Deine Mitbewohnerin schaut rasch nach rechts und links. Sie will verzweifelt entkommen.

Die Arbeiter schlendern zu Gertrude. Die Männer, die hinter Frauen stehen, massieren verstohlen ihren Hosenladen, als die Bauarbeiter vorbeigehen. Hunger rührt sich, wabert wie Nebel über allem. Du hältst deine Tasche vor die Brust, um die Lady Dis nicht zu verlieren.

Du wogst mit der Menge zu deiner Mitbewohnerin. Sie tritt mit ihren schönen Beinen um sich und müht sich, in den Kombi zu steigen. Der Schaffner breitet Arme und Beine zu den vier Ecken der Tür aus, um es zu verhindern. Der Fahrer beißt nervös die Kiefer zusammen und entspannt sie wieder. Wenn randaliert werden soll, dann außerhalb seines Fahrzeugs.

»Helft mir!«, schreit Gertrude. »Ich bitte euch, bitte, hilft mir jemand!«

»Wir helfen dir doch, he«, grölt eine Frau.

Ein Bauarbeiter geht zu Gertrude. Er streckt den Arm und reißt ihr den Rock von den Hüften. Die verzweifelte junge Frau taumelt, schwebt einen ewigen Augenblick im offenen Mund des Kombis. Alle seufzen irritiert, als sie die Arme um den Schaffner schlingt.

Der Mann windet sich. Er will sie abschütteln, traut sich jedoch nicht, den Griff um den Türrahmen zu lockern für den Fall, dass die Menge vorwärtsstürmt.

Hände heben Gertrude vom Trittbrett des Kombi. Sie werfen sie zu Boden, wo sie geschockt zusammensackt. Die Menge holt zur Vorbereitung tief Luft. Der Anblick deiner schönen Mitbewohnerin erfüllt dich mit einer Leere, die wehtut. Du weichst nicht zurück, wie ein Gedanke in deinem Kopf es wünscht. Stattdessen gehorchst du dem anderen Gedanken, drängst nach vorn. Du willst die Form des Schmerzes sehen, seine Arterien und Venen nachfahren, das Muster der Kapillaren aus dem Körper reißen. Die Menschenmenge bewegt sich vorwärts. Du nimmst einen Stein. Du hältst ihn in der Hand. Dein Arm hebt sich in Zeitlupe.

Wieder stöhnt die Menge. Jetzt ist es ein Stöhnen der Enttäuschung. Ein Mann steht neben Gertrude und wirft eine ausgefranste Jeansjacke über ihren Hintern. Es ist der Fahrer eines anderen Kombis. Die Sonne blitzt auf seinen Zähnen und auf seiner Sonnenbrille auf. Er wendet sich mit verständnisvoller Miene der Menge zu. Gertrude blickt zu ihm auf. Ihre Augen sind groß und viel zu weiß. Sie scheint es zu fühlen, und schaut weg.

»Tambu«, flüstert sie und greift dich heraus.

Ihr Mund ist eine Grube. Sie zieht dich hinein. Du willst nicht, dass sie dich begräbt. Du senkst den Blick, gehst aber nicht weg, weil du einerseits von der Menge festgehalten wirst. Und wenn du in die Einsamkeit zurückkehrst, wirst du andererseits in dich selbst zurückfallen, wo es keinen Ort gibt, an dem du dich verstecken kannst.

»Hilf mir«, fleht Gertrude.

Noch immer lächelnd flüstert der junge Fahrer Gertrude etwas zu. Er zieht sein T-Shirt aus und benutzt es als Vorhang. Gertrude hebt die Teile ihres Rocks aus dem Schmutz und bindet sie sich um den Körper. Sie zieht die Jacke an und schließt sie über der Brust.

Die Menge ist wieder wütend, diesmal wegen der Sanftheit des Geschehens. Der Straßenjunge wirft eine Cola-Dose. Sie trifft den jungen Mann am Rücken und rollt davon, doch der junge Mann scheint es nicht zu spüren. Er streckt Gertrude die Hand hin.

»Junger Mann, kannst du keine Anständige finden? So wohlgeraten, wie du bist, ja, du kannst eine finden«, kreischt eine Frau wie ein unheilbringender Geist.

»Oder lass deine Huren zu Hause«, sagt ein Bauarbeiter.

»Und sorg dafür, dass sie die Leute nicht aufhält, die nichts sehen wollen, die nur hinfahren wollen, wo sie hinwollen«, murrt ein Mann.

»Ja, ich werde es ihr sagen. Ich werde dafür sorgen, dass sie alles hört.« Der junge Mann lächelt, hält die Hand deiner Mitbewohnerin in seiner.

»Sisi, du hast sie doch gehört, oder?«, sagt er zu ihr.

Als Gertrude zitternd dasteht, den Kopf gesenkt, und nicht antwortet, ruft ein Bauarbeiter mit vor Abscheu lauter Stimme: »Jetzt, wo du anständig bist, warum steigst du nicht ein?«

Gram geht in Gertrudes Gesicht auf. Ein anderer Straßenjunge wirft eine Plastikflasche in einer halbherzigen Geste auf den Kombi, als Gertrude hineinwankt.

»Iwe! Weißt du, wessen Kombi das ist? Wenn ich dich erwische!«, brüllt der Fahrer den Jungen an.

Der Junge rennt davon, seine Zähne schimmern, er hält die Ösen, die von seinen zerrissenen Shorts hängen, von seinen Knien fort. Der Stein rollt aus deiner Hand.

3. Kapitel

An diesem Abend ist es so, als hätte das Wohnheim die Arme fester gegen dich verschränkt. Du spürst es sofort, kaum hast du den Speisesaal betreten und siehst Gertrude. Sie sitzt am Tisch ihrer Gruppe, wo die jungen Frauen über die neusten Lippenstifte sprechen und darum wetteifern, wer von ihnen die von ihrem Freund am meisten Geliebte oder am schlimmsten Misshandelte ist. Du setzt dich nie an ihren Tisch.

Gertrudes Gesicht ist wie eine der Relieflandkarten, die du im Erdkundeunterricht in der Schule studiert hast. Anhöhen und Flussbetten sind aus klaffenden Wunden und blauen Flecken modelliert, den Abdrücken von Füßen, manche nackt, andere beschuht, wieder andere gestiefelt. Das abendliche Licht tropft Schatten auf ihre Haut, erhöht Schwellungen und vertieft Platzwunden.

Isabel fährt mit dem Fingerrücken über Gertrudes Wange, vorsichtig, mit solcher Sanftheit, dass sie bestimmt nur die Härchen auf der Haut der anderen Frau berührt. Gertrude zuckt zusammen und packt Isabels Handgelenk; sogar diese leichte Berührung ist zu viel. Sie sitzen eine Weile Hand in Hand da. Die fünf vergessen blassgelbe Vanillesoße auf dunkelbraunem Pudding in den Schalen vor ihnen.

Deine Leute sagen: Man verliert nicht den Appetit, nur weil jemand anders Probleme hat. Deswegen willst du dich rasch zum Essen setzen. Du steuerst auf die weißen Mädchen zu, die weiter in der Mitte sitzen, näher an den Tischen mit dem Buffet. Sie plaudern. Sie löffeln Instantsoße auf Scheiben Rinderbraten und gekochte Kartoffeln. Deine Mitbewohnerin und ihre Freundinnen recken dir die Kinne entgegen, als du vorbeigehst, legen die Köpfe zur Seite, als wären sie eine einzige Frau.

Als du mehrere Schritte entfernt bist, wenden sie sich einander zu. Sie saugen in einem lauten Zischen Luft zwischen den Zähnen ein.

Fünf.

Das denkst du.

Gegen einen Markt. Fünf. Gegen eine Stadt, ein Land. Einen Planeten. Frauen. Fünf. Was glauben sie, dass sie erreichen können? Sie können zischen, so viel sie wollen.

Zehn Augen starren dich an, als du mit einem voll beladenen Tablett erneut an ihnen vorbeigehst. Du sitzt allein, wendest ihnen das Profil zu, um zu beweisen, dass ihre Blicke dir nichts anhaben können. Als sie gehen, machst du dich noch einmal auf den Weg zum Buffet, vorsätzlich langsam. Du lädst dir mehr Fleisch und Kartoffeln auf den Teller und eine weitere doppelte Portion Nachtisch. Du kommst am leeren Tisch deiner Mitbewohnerinnen vorbei. Dort, wo Gertrude den Arm abgelegt hatte, ist Blut verschmiert.

Kauen und schlucken; kauen und schlucken. Das tust du, bis die Glocke das Ende des Abendessens einläutet. Kellner in khakifarbenen Overalls bedecken Wärmebehälter. Sie stapeln Teller aufeinander und räumen sie ab. Ein junger Mann steht Wache neben der Eingangstür, um letzte Esser hinauszulassen und zu spät Gekommene am Eintreten zu hindern. Du lächelst ihn kurz an und bewegst dann zwischen den Zähnen ein Stück Knorpel mit der Zunge hin und her.

»Manheru! Guten Abend, guten Abend, Tante.« Er nickt respektvoll und hält dir die Tür weit auf.

»Grüße deine Familie. Alle zu Hause«, sagst du und wünschst ihm einen schönen Abend.

Das Lächeln des Jugendlichen wird breiter, als er verspricht, die Grüße auszurichten.

Du gehst leise durchs Foyer, um Mrs. May nicht zu stören. Du seufzt vor Erleichterung, als ihr Kopf über das Kreuzworträtsel geneigt bleibt.

»Ist es das, was du tust«, sagst du und bleibst vor deinem Zimmer stehen.

Du machst dir nicht die Mühe, deine Stimme zu einem Fragezeichen zu heben. Warum solltest du irgendwo ein Fragezeichen anbringen? So viele Dinge sind heute passiert, und niemand hat dich irgendetwas gefragt. Außerdem weißt du: Du wolltest nicht tun, was du auf dem Markt getan hast. Du wolltest nicht, dass all das passiert, auch sonst wollte es keiner. Niemand wollte es. Es hat einfach so stattgefunden, wie ein Augenblick des Wahnsinns.

»Jetzt stehst du also da, um mir aufzulauern«, sagst du zu Isabel.

Sie wartet im Schatten einer Säule auf dich. Deine Lippen öffnen sich in einer Parodie eines Lächelns. Du freust dich, dass die junge Frau etwas von dir will. Es gibt dir zwei Arten von Macht. Die erste beruht auf ihrem Wunsch. Du kannst über eine Frau, die etwas will, lachen, während du zusiehst, wie sie hierhin und dorthin läuft, um es zu bekommen. Die andere Macht, die sich aus der ersten ergibt, ist dein Recht, ihr den Wunsch zu verwehren.

»Wir könnten dich melden«, sagt Isabel mit leiser zittriger Stimme. »Sie hat solche Schmerzen. Sie stöhnt! Das ist nicht nichts. Du musst für das Taxi zahlen. Wir bringen sie ins Krankenhaus.«

Ein Stück entfernt im Flur öffnet Gertrude ihre Tür. Sie ruft Isabel zu, es sein zu lassen.

»Wenn was passiert, wenn ihre Verwandten Fragen stellen, wirst du viel mehr zahlen müssen. Entschädigung«, droht Isabel.

»Ist schon in Ordnung. Lass sie, Bella. Rachel hat mir ein Panadol gegeben«, sagt Gertrude.

»Hm-hm!«, schnaubst du und nimmst deinen Zimmerschlüssel aus der Tasche. »Was ist los mit dir? Verschwinde! Warum stehst du hier herum, als gäbe es was zu besprechen? Wer behauptet, dass ich verantwortlich bin?«

Am nächsten Tag entschuldigst du dich bei Mrs. May dafür, dass du das Vorstellungsgespräch mit Witwe Riley vermasselt hast. Du bittest sie, dir jeden Tag den Clarion aufzuheben, damit du in den Kleinanzeigen nach einem Zimmer suchen kannst.

Die Heimleiterin ist einverstanden. Sie schiebt die zusammengerollte Zeitung jeden Abend in eine Ecke der Rezeption. Du holst sie sofort, damit keine andere Bewohnerin sie nimmt.

»Großes Zimmer bei gottesfürchtiger Witwe.«

Die Anzeige springt dir ein paar Tage später in die Augen.

»In einem großen, attraktiven, gepflegten Haus. Für bescheidenen, alleinstehenden, gottesfürchtigen, jungen Herrn.«

Du schlägst Gott einen Handel hinsichtlich deines Geschlechts vor und nennst es Gebet.

Während du in der Telefonzelle die angegebene Nummer wählst, fügst du die Tatsache, dass du arbeitslos bist, und die Zahl der Jahrzehnte, die du auf Erden wandelst, deinem Gebet hinzu.

»Ich habe Verwandte, die wie Sie sprechen«, sagt die Witwe nach ein paar Minuten. Damit fragt sie dich, woher du kommst.

»Aus den Bergen«, sagst du. »Manicaland. Mutare.« Es ist die Wahrheit, und dieses eine Mal scheint die Wahrheit die richtige Antwort zu sein.

Am Tag der Vorstellung gehst du zu dem Haus und rüttelst am Tor. Es dauert lange, bis die Witwe kommt. Als Erstes fällt dir ihre Stimme auf.

»Mwakanaka! Mwakanaka, Mambo Jesu! Du bist gütig, du bist gütig, König Jesus«, brüllt ein grimmiger Alt.

Die Sonne blitzt dich von scheinbar einer Million Zähnen an. Sie sind zu groß und zu spitz. Du lächelst, unterdrückst den Instinkt zu flüchten. Die Witwe zieht das Tor auf und winkt dich hinein.

»Guten Tag! Ich bin so froh, so froh, so froh, dass Ihnen mein Haus gefällt«, erklärt deine potenzielle Vermieterin.

Ihr Blick schweift am Ende des Händeschüttelns zu deinen nackten Fingern. Du verschränkst sie hinter deinem Rücken und wünschst, du wärst so vorausschauend gewesen und hättest dir auf dem Markt einen falschen Ehering gekauft.

Die Frau neigt sich vor, um den Riegel des großen gusseisernen Tors zurück in den Boden zu schieben. Es ist die zweite Anstrengung innerhalb weniger Minuten. Als sie sich wieder aufrichtet, bricht Schweiß auf ihrer Nase aus und rinnt unter der grün-lila Kopfbedeckung im nigerianischen Stil hervor. Sie fächelt sich Kühlung zu. Eine Herde Nashörner trampelt auf einem breiten goldenen Band um ihren Zeigefinger. Daneben, auf ihrem Mittelfinger, glitzert ein sperriger Smaragd. Zwei Eheringe erheben sich groß, aber matt auf dem Ringfinger der anderen Hand. Dreck verkrustet die Ritzen in ihren Schmuckstücken. Sie müssten gereinigt werden.

»Ja, es ist so wunderbar, dass Sie angerufen haben und jetzt da sind«, sagt die Witwe. Sie segelt den Weg entlang. »Am Telefon muss ich vorsichtig mit den Leuten reden, und ich muss wissen, woher sie kommen. Heutzutage kann man nichts glauben, was irgendjemand sagt.«

Sie bewegt sich langsam auf zerbrechlich wirkenden spitzen Sandalen, die Mode diktiert vom Nollywood-Fernsehen. Du merkst, dass du Gefahr läufst, sie zu überholen. Du passt deine Geschwindigkeit an und bleibst einen halben Schritt hinter ihr.

»Sie haben es doch gehört, nicht wahr, wir leben in der Endzeit«, bemerkt deine potenzielle Vermieterin. »Alle großen Propheten sagen es. Ja, die Zeit ist gekommen, denn jetzt, wo wir diese schrecklichen Tage erleben, bekommt man etwas, wenn man etwas gibt? Nie. Man verliert alles. Man hat nichts mehr, wenn man etwas gegeben hat.«

Du öffnest den Mund und schließt ihn wieder, weil du erleichtert begriffen hast, dass deine Antwort bedeutungslos ist.

»Und ich, obwohl ich die Witwe meines Mannes bin«, plappert die Frau weiter, »Sie können sich nicht vorstellen, was die Leute, die herkommen, alles erzählen. Dass sie arbeiten wollen oder einen Platz zum Wohnen. Nur damit sie herausfinden können, was ich habe, und dann machen sie einen Plan, es zu stehlen. Diese Leute benutzen die Intelligenz, die Gott ihnen gegeben hat, nicht dazu, das Bisschen, das VaManyanga mir gelassen hat, zu vermehren, sondern es zu vermindern. Ich versuche es zu vermehren, größer zu machen, so wie in der Bibel steht, dass es sein muss, wenn der Mann geht. Aber die, sie wollen, dass alles, was ich habe, kleiner wird.«

Jetzt atmest du flach. Du schluckst Speichel, der plötzlich bitter schmeckt. Dir wird klar, dass du Angst vor ihr hast. Du weißt nicht, warum. Du lachst lautlos über dich selbst, weil du dieser Furcht nachgibst.

»Aber Sie haben gesagt, dass Sie seit einer Weile in Harare leben«, drängt sie weiter. »Miss Sigauke, ich wollte am Telefon nicht nachfragen. Egal, wie viele Dinge die Weißen uns gebracht haben, manche Dinge kann man nicht einfach so sagen. Aber jetzt sind Sie ja da, das ist gut. Sagen Sie, arbeiten Sie?«

Du bist überzeugt, dass irgendetwas dich verraten hat. Und zwar trotz der Lady Dis, die dir deine Cousine geschickt hat, erneut kombiniert mit dem Rock und dem dazu passenden Oberteil aus deiner Vergangenheit, die du auch für dieses Vorstellungsgespräch trägst.

»Arbeiten? Natürlich, ja. Ich bin nicht eine von denen, die nur herumsitzen. Ich bin ein Arbeitstier, ein echtes«, antwortest du nach einem winzigen Zögern. »Arbeit kenne ich, seitdem ich ein Kind war.«

»Das ist gut«, sagt die Witwe.

»Als Kind auf den Feldern, dann habe ich unterrichtet – zeitweise. Aber jetzt habe ich einen Job bei der Werbeagentur Steers, D’Arcy und MacPedius. Sie kennen sie. ›Unten im Honey Valley, wo das beste frische Essen wächst.‹ Der Spruch ist von mir. Ganz Simbabwe kennt ihn.«

Du summst den Jingle des ehemaligen Klienten und fragst dich, wer jetzt Texte für ihn schreibt.

»Oh, gehen Sie dorthin?«, ruft deine potenzielle Vermieterin, die die Melodie nach einem Augenblick des Nachdenkens erkannt hat.

»Ich bin zwischen dem Unterrichten und etwas Besserem«, versicherst du ihr, da klar ist, dass sie etwas Derartiges hören will.

»Eine große Firma! Was werden Sie dort tun?«, fragt die Witwe. »Werden Sie singen?«

Du biegst die Kante in deiner Stimme gerade. »Die Worte«, erklärst du.

»Oh, Sie singen die Worte! Wie ich. In der Kirche, ich bin eine der Besten im Team der Lobpreisleiter.«

Als ihr euch dem Haus nähert, befragt dich die Witwe zu deiner Moral: Bist du standesamtlich oder nach sonstigem Recht verheiratet oder hast du vor zu heiraten? Hast du männliche Freunde oder einen, der dich hier besuchen will? Das ist nicht erlaubt. Denn im Gegensatz zu dem, was du von den Nachbarn hören wirst, führt sie kein Bordell.

Du murmelst, dass du nicht oft in die Kirche gehst, sondern lieber allein betest.

Witwe Manyanga erwidert, dass sie eine Gebetskriegerin ist und zählt die Litanei der Leute auf, die sie geheilt hat, der Wunder, die sie gewirkt hat. Du gehst die angeschlagenen Stufen hinauf, durch eine rostige Sicherheitstür in eine düstere Veranda.

»Willkommen, Miss Sigauke«, sagt die Witwe und hält die innere Tür auf. »Sie sind in das Haus einer gottesfürchtigen Familie gekommen.

Sehen Sie die da?« Sie neigt den Kopf zur angrenzenden Wand. Gegen den blasenwerfenden Anstrich ist eine Reihe Schreibtische geschoben. Auf jedem steht ein Telefon.

»Das«, setzt die Witwe an. Sie bleibt stehen, stützt eine Hand auf einen Schreibtisch und hebt ein in sich verschlungenes Kabel vom Boden auf. »Das ist die Ernte der Offenbarung.«

Staub kriecht dir in die Nase. Du niest und entschuldigst dich für deine Allergie.

»Es war nicht meine Offenbarung«, fuhr die Witwe fort. »Sie kam zu VaManyanga. Meinem Mann. Dem Verstorbenen. Doch sie kam zu ihm, als ich mit ihm betete. Wegen mir hatte er diese Offenbarung.«

Du nickst, während du dich umsiehst, und schaffst es, anerkennend dreinzublicken, da die Umstände der Witwe zwar zweifelhaft, aber den deinigen um vieles vorzuziehen sind.

»Die Telefone, die Sie sehen«, sagt Mrs. Manyanga, »sind eins der vielen Dinge, an denen mein Mann gearbeitet hat, als er mich verließ. VaManyanga war nicht wie andere Männer, nie! Er hat es für die Universitätsstudentinnen getan, denn nachdem er die Offenbarung hatte, dass er etwas für jemanden tun muss, wusste er nicht, was er für wen tun soll. Und da habe ich beschlossen, ihm zu helfen. Ich habe gesagt: VaManyanga, es gibt immer mehr Studentinnen, weil die Regierung die jungen Leute ausbildet. Die Sache, die du tun musst, ist das nicht etwas, das wir für sie tun können? Ja, ich war es. Ich habe es gesagt!«

Du stehst in einem düsteren stickigen Flur, während deine Begleiterin an einem Schlüsselring von der Größe eines kleinen Tambourines, den sie aus den Falten ihres westafrikanischen Gewands nimmt, nach dem richtigen Schlüssel sucht.

Der erste Schlüssel passt.

»Keine Sorge«, sagt sie. »Machen Sie sich wegen nichts Sorgen. Alle Türen sind perfekt. VaManyanga wollte es so. Alles perfekt. Das wollte er.«

Nach kurzer Suche steckt sie einen weiteren Schlüssel in ein Schloss. Es schnappt hörbar. Die schwere Teakholztür schwingt auf.

»Ich danke Gott«, verkündet deine potenzielle Vermieterin und geht voran. Im Raum bleibt sie stehen, um sich zu orientieren. Das Wohnzimmer war seit Langem verschlossen. Die Luft ist muffig.

»Ja, das tue ich, ich danke Gott«, erklärt sie, »für das Geschenk eines perfekten Ehemannes.«

Der Raum ist vollgestopft mit Krempel wie ein Trödelladen: hier und da Tische und Tischchen im Tonga-, kapholländischen, Pionier- und kolonialen Schlafwagen-Stil, sowie ein paar der Sorte, wie man sie bei Straßenhändlern und Flechtern kaufen kann; und darauf alle möglichen Figürchen. Schwere Sessel und Sofas und Polsterhocker aus Kudufell füllen den restlichen Platz. Deine potenzielle Vermieterin stützt sich mit einer Hand auf einer Stuhllehne ab, als sie sich weiterschiebt.

Sie bedeutet dir, dich in einen Sessel zu setzen. Bei Kontakt entweicht dem Sitz eine Staubwolke.

»Ja, es war jedem, der über den korrekten Sinn verfügt, auf göttliche Anweisung zu hören, klar, Miss Sigauke, dass etwas für unsere jungen Leute an der Universität getan werden muss. Wie viele von ihnen haben ein Auto? Die meisten haben keins. Ist es nicht so, dass die meisten leiden? Ist das nicht so, wie es ist?«

Die Witwe setzt sich auf ein Sofa. Du neigst dich zu ihr; jetzt hat sie deine ganze Aufmerksamkeit. Leiden! Derjenigen, die keine Kinder mehr, aber auch noch nicht alt sind: Die Witwe hat dein eigenes Dilemma definiert. Es ist beruhigend und gleichzeitig beklemmend, dass jemand, den du nicht kennst, deine Lage unter die Lupe nimmt, hin und her wendet und seziert.

»Ja, Miss Sigauke, sehen Sie«, sagt die Witwe, ermutigt von deinem Interesse. »Schauen Sie sich an. Sie haben einen Abschluss.« Damit kehrt sie zu den Studentinnen zurück, fordert dich auf, sie auf eine christliche Weise zu betrachten. »Denken Sie an diese armen jungen Leute. Bei unseren kirchlichen Frauentreffen bricht es uns das Herz, wenn wir hören, wie viele dieser Mädchen an der Universität heutzutage gleich nachgeben. Zu Ihrer Zeit war das bestimmt nicht so.«

Du nickst. Du glaubst, dass du noch immer Jungfrau bist, obwohl es ein paar Vorfälle gab, bei denen du nicht sicher bist: Zählt es, wenn du, überwältigt von den Umständen, ein Tampon eingeführt hast, um sicherzugehen, dass du nicht schwanger wirst?

»Aber jetzt«, fährt die Witwe leidenschaftlich fort, »legen sich die jungen Mädchen auf diesen Colleges die ganze Zeit hin, mit jedem. Und weil die Universität, wo die Mädchen sind, gleich da drüben ist, habe ich zu VaManyanga gesagt, als er seine Offenbarung hatte, ich werde wie eine Mutter für diese notleidenden Studentinnen sein. Ich habe gesagt, ja, ich werde sie gut behandeln.«

Im Lauf des Gesprächs erfährst du, dass VaManyanga, der damals viele andere Geschäftsinteressen verfolgte, nur behutsam auf die Offenbarung hin zu handeln gedachte. Mai Manyanga andererseits, die erst ein paar Monate zuvor von der Chefsekretärin zur Ehefrau aufgestiegen war, wollte keine Sekunde verlieren. In ihrer überbordenden Begeisterung ließ sie sofort ganz hinten auf dem zwei Hektar großen Grundstück ein Betonfundament legen. Ein Stück Wellblech, an eine kurze Stange genagelt, stand noch im Garten und verkündete, dass diese Betonplatte »VaManyangas Dorf für Studentinnen« werden sollte. Als Termitengift in das Fundament des Wohnheims gegossen wurde, startete Mai Manyanga das Payphone-Projekt, damit die zukünftigen Bewohnerinnen frei kommunizieren konnten, die Investition, die jetzt verheddert die Veranda einnahm.

»Ah, die armen Studentinnen.« Deine potenzielle Vermieterin schüttelt den Kopf und starrt in ihre Erinnerungen.

»Was für ein schrecklicher Schlag für sie! Sie ahnten nicht, dass ihnen mein Mann einfach so genommen würde! Als es überhaupt kein Problem gab. Keins. Mit irgendwas. Wir wollten die Studentinnen aufnehmen. Frauen wie Sie hätten profitiert, Miss Sigauke. Und sie wären sicher gewesen. VaManyanga ist nie hier oder da rumgerannt mit etwas, das sich hinlegt! Nein, das hat VaManyanga nicht getan, nicht wie andere Männer, wir hätten die Studentinnen problemlos aufnehmen können.«

Deine Handflächen sind feucht. Du willst unbedingt, dass das Vorstellungsgespräch entweder richtig anfängt oder vorbei ist. Du schwitzt unter den Achseln in dem engen Kostüm, doch gleichzeitig möchtest du, dass die Witwe weiterredet, den Augenblick der Entscheidung, ob du ihren Ansprüchen genügst oder nicht, weiter und weiter in die Zukunft schiebt.

»Ah, ja, Sie haben sie erkannt«, kräht Mai Manyanga.

Um nicht rundheraus leugnen zu müssen, weichst du aus: »Es ist ein wunderschönes Foto.«

Das Foto, zu dem du zufällig geblickt hast, ist großspurig in der Mitte der Glasvitrine der Witwe platziert. Um es herum stehen mit Wasser, Schneeflocken und Modellen von Türmen aus diversen europäischen Städten gefüllte Halbkugeln.

»Sehen Sie es? Die Ähnlichkeit? Sie müssen es sehen«, sagt die Witwe. Sie fächelt sich mit ihrer beringten Hand Kühlung zu. »Ich bin sicher, Sie sehen, wer sie sind.«