Uhren gibt es nicht mehr - André Heller - E-Book

Uhren gibt es nicht mehr E-Book

André Heller

0,0

Beschreibung

Worauf kommt es an im Leben? 102 Jahre alt ist Elisabeth Heller, und langsam, so sagt sie in den Gesprächen, die sie mit ihrem Sohn André in den vergangenen Monaten geführt hat, geht es ans Verabschieden. „Innerlich sieht man sich noch jung und freut sich auf den nächsten Tag“, sagt die alte Dame, die geboren wurde, als der Erste Weltkrieg ausbrach, und die mit gerade 19 den Süßwarenfabrikanten Stephan Heller heiratete. Ein anderes Mal wünscht sie sich, „dass das Körperwerkl in Gottesnamen auslaufen soll“ und erzählt dann munter über einen Selbstmordversuch aus Liebe und über Lehár am Klavier in Bad Ischl. Ein kleines Buch von großer Weisheit, würdevoll, poetisch, komisch. Und das Dokument einer späten Liebe und großen Offenheit zwischen Mutter und Sohn.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 65

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Worauf kommt es an im Leben? Was ist wichtig, was weniger? 102 Jahre alt ist Elisabeth Heller, und langsam, so sagt sie in den Gesprächen, die sie mit ihrem Sohn André geführt hat, geht es ans Verabschieden. »Innerlich sieht man sich noch jung und klettert auf Berge und segelt über den Wolfgangsee, freut sich auf den nächsten Tag«, sagt die alte Dame, die geboren wurde, als der Erste Weltkrieg ausbrach und mit gerade 19 den damals doppelt so alten Süßwarenfabrikanten Stephan Heller heiratete. Ein anderes Mal wünscht sie sich, »dass das Körperwerkl in Gottesnamen auslaufen soll« und erzählt dann munter über einen Selbstmordversuch aus Liebe – »das Blödeste überhaupt« – und über Franz Lehár am Klavier in Bad Ischl.

Ein kleines Buch von großer Weisheit, würdevoll, poetisch, komisch. Und das Dokument einer späten Liebe und großen Offenheit zwischen Mutter und Sohn.

Zsolnay E-Book

André Heller

Uhren gibt es nicht mehr

Gespräche mit meiner Mutter in ihrem 102. Lebensjahr

Paul Zsolnay Verlag

Für meinen Bruder Fritz und all seine und meine Kinder und Kindeskinder

»Da kommt noch etwas Wichtiges«

Meine Mutter ist die tapferste Person, die ich jemals so genau kennenlernen durfte. Noch vor zwei Jahrzehnten hätte ich eine solche Behauptung nicht niedergeschrieben. Mindestens fünfzig Jahre erlebte ich sie, neben sehr viel Qualitätsvollem und Schönheitsgeladenem, das sie für mich bedeutet hat, als erstaunlich opportunistisch, stets bereit, dem jeweils Mächtigsten oder Auftrumpfendsten in einer Gesprächsrunde recht zu geben und Konflikten, wenn irgendwie möglich, aus dem Weg zu gehen. Dennoch vermutete ich relativ früh, dass sie unter dieser tragischen Schwäche litt. Ebenso wie sie einerseits den oft inhaltlich konventionellen Wortführern folgte, bewunderte sie andererseits rebellische und gegen den Strom schwimmende Persönlichkeiten zutiefst – solche, die sich eigenständig und eindeutig und auf originelle Weise zu ihren Überzeugungen bekennen.

Ihr Lieblingsschriftsteller in der Gegenwart war Thomas Bernhard, und sie las jedes der Bücher von Elfriede Jelinek und erkannte darin jene andere Möglichkeit eines unangepassten Daseins. Mir sagte sie einmal nach einem heftigen Streit: »Bitte versteh, ich halte deine Art und deine Lebensführung für völlig gerechtfertigt, aber ich könnte so nicht existieren, ich wünschte allerdings, ich könnte es.« So hat sie es sich in vielem, das sie durchaus für falsch oder für dumm oder für gefährlich in seinen Auswirkungen erkannt hat, vermeintlich komfortabel eingerichtet und gleichzeitig keinen Augenblick wirklich an diesen Komfort geglaubt. Ja, sie wurde durch diesen tatsächlich äußerst unkomfortablen Komfort nur ständig und quälend an ihren Kleinmut erinnert, den sie verachtete. Manchmal schmiedete sie wohl ernsthafte Pläne, sich aufzubäumen, und machte zu mir darüber Andeutungen. Sie wollte jenen Graben überspringen, der sie von der Verwirklichung ihres Wunsches trennte, eine selbstbewusste, konsequent für sich einstehende und Wichtiges wagende Person zu sein. Aber noch während des Anlaufs sagte ihr wohl eine leise, aber beharrliche innere Stimme, es würde letztlich mit einem Sturz in den Abgrund enden; und so schreckte sie vor dieser Einschüchterung zurück und mied das Risiko.

Dann kamen ihre späten Jahre, und ich begriff, dass meine Mutter auf etwas wartete, das sie nicht benennen konnte, das aber eine Verabredung mit ihr hatte. »Da kommt noch etwas Wichtiges«, hat sie es formuliert, und es kam tatsächlich: zunächst in zarten Wellen eine größere Gelassenheit, und dann schon etwas heftiger, so ab Ende achtzig, eine Neugier und ein Appetit auf die Früchte des Alters. Sie fühlte instinktiv, dass ihr eine reiche Ernte bevorstand, in die ihre bisherigen Erfahrungen einfließen würden. Das wirkte sich verändernd auf unsere Beziehung aus.

Ich entwickelte ein völlig neues Interesse an ihr und teilte ihre Erwartungen; gleichzeitig erwuchs ihr durch meine schöne und kluge Gefährtin Albina der erste Mensch, der sie bedingungslos liebte und einen zärtlichen, immer humorvollen Umgang mit ihr pflegte. Dies lockerte die mittlerweile einiges über Neunzigjährige, die sich immer noch in hervorragender gesundheitlicher Verfassung befand, und ließ sie empathischer und selbstzärtlicher werden. Sie sah sich und die Welt mit gütigeren Augen, ihre Gedanken und Taten wurden harmonischer und leuchtender.

Mit neunundneunzig, nun schon Tag und Nacht von herzensgebildeten Pflegerinnen der Malteser betreut, aber immer noch in ihrer Wohnung in Wien-Hietzing residierend, öffnete und durchschritt sie bisher verborgene Türen in ihrem Wesen. Und sie traute sich zu, ihr Selbstverständnis noch einmal von Grund auf neu zu gestalten. Während sie auf ihre Besucher still dem Augenblick hingegeben wirkte, hatte sich ihr Bewusstsein aufs imponierendste verändert. Sie, die ihr Leben lang vieles an Ängsten zu erleiden hatte, nahm zwei Oberschenkelhalsbrüche und deren ernste Operationen stoisch hin und ließ sich von nichts und niemandem mehr in eine Sorge drängen. In ihrem hundertzweiten Jahr schließlich, im Herbst und Winter 2015/16, wurden für etwa vier Monate zwischen uns Gespräche möglich, die mich in ihrer Klarheit, Tabulosigkeit, Originalität und Innigkeit begeisterten. Ich notierte die meisten und habe nun, selbstverständlich mit ihrem Einverständnis, entschieden, die am wenigsten intimen in einem Büchlein auch anderen zugänglich zu machen.

André Heller

Wien, im Dezember 2016

Erstes Gespräch

André: Möchtest du mir etwas sagen?

Elisabeth: Weißt du, das Reden hab ich ein Leben lang überschätzt, ich rede nur mehr das Nötigste, das Schweigen bringt für gewöhnlich höheren Genuss. Die besten Gesellschafter sind in meiner Situation Kreuzworträtsel. Da beweise ich mir, dass ich noch nicht ganz verblödet bin.

Hast du denn manchmal das Gefühl zu verblöden?

Die Angst hab ich schon, aber ich vergess nur manches, das ich wahrscheinlich auch für gar nichts mehr brauchen kann. Irgendetwas räumt in meinem Gedächtnis auf, und das Überflüssige wird ausgeschieden. Seitdem hab ich auch nie mehr Kopfweh.

Glaubst du, dass alles, was sich seit einiger Zeit in dir an Veränderungen bemerkbar macht, einen Sinn ergibt?

Ja natürlich, es ergibt einen Sinn. Ich glaub, es sind Verabschiedungen, zum Beispiel die Auhofstraße löst sich auf, und den großen Kastanienbaum vor dem Fenster, den gibt es auch schon nicht mehr.

Wie nimmst du denn das genau wahr? Ist an der Stelle des Baums jetzt eine Lücke?

Nein, keine Lücke, dort ist etwas anderes, das füllt sich.

Womit hat es sich gefüllt?

Das weiß ich nicht; es ist dort etwas anderes, ein Huschen vielleicht.

Was meinst du mit Huschen?

Na ja, ein Huschen halt, du kennst das ja, es huscht.

In meiner Welt huscht manchmal etwas vorbei.

Und in meiner Welt bleibt es. Ein Huschen, das halt bleibt.

Glaubst du, wir beide leben in unterschiedlichen Welten?

Ja, unbedingt. Du lebst in der Phantasie und ich eher sehr in der Wirklichkeit.

Wie ist das in der Wirklichkeit?

Das ist schwer zu erklären: Alles ist eben so, wie es ist, ganz wirklich eben.

Und du glaubst, in meiner Welt ist viel mehr unwirklich?

Wahrscheinlich.

[Langes Schweigen]

Ich war eine schwere Sünderin.

Das nehme ich dir nicht ab, Mami. Was hast du denn für Sünden begangen?

Da fällt mir jetzt nix ein, aber wahr ist es trotzdem.

Was ist denn das überhaupt, eine Sünde?

Schlechte Manieren im Denken und Tun. Der Mozart war auch ein Sünder.

Wie kommst du denn darauf?

Das erzählt seine Musik. Hör dir ruhig einmal Mozart an, dann weißt du es.

Mozart ist doch eher heiter und immer von großer Klangschönheit.

Vielleicht lachen seine Melodien manchmal seine Sünden aus. Eine Lachmusik.

Wer sind denn deine Lieblingskomponisten?

Der Mozart, der Schubert, der Puccini und der Richard Strauss. Der Russe ist auch gut. Den hör ich so gern.

Der Strawinsky? Oder der Schostakowitsch? Der ist großartig.

Nein, nein, ein anderer. Mit einem gepflegten Bart.

Meinst du den Tschaikowski?

Ja, den. Der konnte herrlich Klavier spielen.

Hast du ihn denn noch gekannt?

Ich weiß nicht, es kommt mir so vor. Das Klavier hatte schwarzweiße Tasten.

Mami, jedes Klavier hat das.

Elfenbein und Kohlen.

Was genau ist Elfenbein?

Das ist Gebein von Elfen, etwas sehr Seltenes und Teures.

Und Fliegenpilze sind Pilze auf Fliegen.

So ein Unsinn. Was du manchmal zusammenredest.

Sag du irgendein besonders schönes Wort.

Ein besonders schönes Wort? Schön ist ein besonders schönes Wort.

Ist sehr schön mehr als schön?