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Krimi-Cops

4,7

Beschreibung

Kriminalhauptkommissar "Struller" Struhlmann ist ratlos. Niemand scheint die unbekannte, hübsche Frau zu vermissen, die in einem Container am Düsseldorfer Rheinufer ermordet aufgefunden wurde. Sein Ex-Praktikant Jensen, derzeit eigentlich im Urlaub, hat ebenfalls alle Hände voll zu tun. Er soll den Schwiegersohn in spe eines tschechischen Kollegen suchen, der nach einem ausgedehnten Altstadtbummel nicht wieder zu seiner Verlobten zurückgekehrt ist. Als die beiden Ermittler bei ihren Nachforschungen in einem Tabledance-Laden übereinander stolpern, zeichnet sich ab, dass beide Fälle etwas miteinander zu tun haben könnten. Gemeinsam führt sie nun eine rasante, temporeiche Mörderjagd ins Düsseldorfer Rotlichtmilieu, in vornehme Tennisclubs und auf wilde Stripteasepartys, zu Oma Jensen nach Herongen und bis ins ferne Prag. Als die beiden Ermittler schließlich erfahren, wem sie diesmal auf der Spur sind, macht das die Sache weder einfacher noch ungefährlicher ... ganz im Gegenteil!

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Die Krimi-CopsUmgelegt

Vom Autoren-Team bisher bei KBV erschienen:

StückwerkTeufelshakenUmgelegt

Die Krimi-Cops sind: Carsten »Casi« Vollmer, Jahrgang 1967, aus Düsseldorf, Ingo »Inge« Hoffmann, Jahrgang 1978, aus Hilden, Carsten »Rösbert« Rösler, Jahrgang 1977, aus Düsseldorf, Martin Niedergesähs, Jahrgang 1977, aus Herongen an der niederländischen Grenze und Klaus »Stickel« Stickelbroeck, Jahrgang 1963, aus Kerken am Niederrhein. In ihren Büchern verarbeiten sie nach Feierabend mal komische, mal härtere Einsätze der zurückliegenden Schicht. Mit tatkräftiger Unterstützung der anderen Mitglieder der Dienstgruppe Anton der Polizeiinspektion Ost haben sie nun bereits den dritten Kriminalroman um den Düsseldorfer Kommissar Pit »Struller« und seinen Praktikanten Jensen verfasst.

www.krimi-cops.de

Die Krimi-Cops

Umgelegt

Ein Struller- und Jensen-Krimi

1. Auflage Juni 20112. Auflage August 2011

© KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Fax: 0 65 93 - 998 96-20

Umschlagillustration: Ralf Kramp

unter Verwendung von:

© Gernot Krautberger – www.fotolia.de

Redaktion: Volker Maria Neumann, Köln

Druck: Aalexx Buchproduktion GmbH, Großburgwedel

Printed in Germany

Print-ISBN 978-3-942446-06-8

E-Book-ISBN 978-3-95441-074-3

pro tebe

Prolog

Beeindruckend. Geheimnisvoll.

»Einfach himmlisch!«

Leicht über das kalte Eisengeländer gelehnt, atmete sie die frische, kühle Novemberluft tief ein, warf einen weichen, milden Blick die Uferpromenade entlang und seufzte. In der milchigen Oberfläche der friedlich dahinfließenden Moldau spiegelten sich schlierig die hellen Lampen einer weihnachtlich glitzernden Kandelaberreihe.

»Aufgezogen, wie eine Perlenkette.«

Sie lächelte. Prag war in der Vorweihnachtszeit noch mal so schön.

Ach. Diese sanfte, melancholische Stimmung hatte sie nie zuvor in dieser warmen Heftigkeit empfunden. Erst seit Pavel vor unendlich langer Zeit in ihr Leben getreten war, erst seitdem sah sie die Welt anders. Schöner, begehrenswerter … spannender.

Sie löste sich vom Brückengeländer und schlang die Arme fest um ihren Körper. Aber ihr war nicht kalt. Im Gegenteil. Wären das nur schon seine starken Arme!

»Gleich«, flüsterte sie.

Er holte sie nie direkt nach dem Unterricht ab. Er hatte erklärt, dass ihre braven Freundinnen sich sonst die niedlichen, kleinen Münder fusselig reden würden. Was ganz sicher so sein würde, klar. Wie so oft hatte sie ihm recht geben müssen.

Pavel. Er war nur knappe fünf Jahre älter als sie, 23. Einen Mann wie ihn hatte sie noch nie kennen gelernt. So erwachsen. Natürlich war Pavel nicht ihr erster Freund, aber Pavel war einfach mehr. Pavel war ihr erster, richtiger Mann.

Sie strich eine lange, blonde Strähne aus dem Gesicht. Ein Fußgänger ging vorbei, sah sie an und lächelte. Schüchtern drehte sie sich weg.

Eine reife Ausstrahlung hatte Pavel das genannt. Glanz, der auf Männer anziehend wirkt. Unbezahlbar. Und er hatte sie richtig stolz angesehen. Sie sehe mindestens aus wie 23, wirke wie 25, viel, viel erwachsener als ihre Freundinnen. Schade, dass sie ihre Liebe noch für sich behalten musste, dass sie ihre starken, heftigen Gefühle nicht mit ihren Freundinnen und Eltern teilen durfte. Das war noch zu früh. Auch da hatte Pavel recht.

In wenigen Tagen würde sie 18 werden. Dann, ja dann werden es alle erfahren, hatte Pavel gesagt – und sie war ihm um den Hals gefallen.

»Da!«

Sie richtete sich freudig auf, denn sie entdeckte Pavels kleinen, roten Sportwagen, der auf die Uferpromenade bog. Ihr Herzschlag raste. Endlich! Sie freute sich auf jede Minute, jede Sekunde!

Heute wollten sie einen Ausflug machen. »Ich zeige dir den alten Hof meines Onkels, keine halbe Stunde außerhalb, du wirst begeistert sein.«

Pavel bremste den Wagen. Durch die heruntergekurbelte Scheibe auf der Fahrerseite wehte sein herbes Aftershave zu ihr herüber. Sie liebte diesen Duft. Er lachte sie an, und sie strahlte.

»Pavel!«

Durch die offene Scheibe drückte sie einen festen, feuchten Kuss auf seine Lippen. Ein Tourist fing den verliebten Moment mit seiner Kamera ein und knipste ein freches Foto von ihnen. Sie lachte. Der Tourist lachte ebenfalls. Sie strahlte Pavel an und erschrak.

»Was …?«

Pavel lachte nicht. War er verärgert? Seine Augenbrauen zogen sich zusammen, sein Blick … finster. Genau wie damals, als sie sich heimlich nur für ihn hatte tätowieren lassen.

»Steig ein!«, befahl er knapp mit harter Stimme, deutete mit grobem Kopfnicken energisch auf den Beifahrersitz und öffnete gleichzeitig die Fahrertür seines Fahrzeugs.

1. Tag

Hier muss es sein.« Er sprach langsam, mit unsicherer Stimme und kratzte sich mit den klobigen Fingern seiner riesigen, rechten Hand unter der blauen Wollmütze, die er auf dem kahlen Kopf trug.

Der Mann auf dem Beifahrersitz neben ihm verdrehte genervt die Augen. »Bist du sicher?«

»Brücke hat er gesagt.«

Der Mann auf dem Beifahrersitz seufzte und deutete mit breiter Geste nach links und rechts. »Links ist noch ’ne Brücke zu sehen, und weiter rechts erkenne ich auch noch eine. Sind wir hier jetzt richtig oder nicht?«

Der Fahrer schniefte und rutschte unruhig im Sitz vor und zurück. »Brücke hat er gesagt. Ich hab es in das Scheiß-Navi eingegeben, aber das Ding hat ja vorhin den Geist aufgegeben, dämliches Teil«, murmelte er.

»Das Teil hat den Geist aufgegeben, den du nie gehabt hast«, knurrte der Beifahrer.

Wollmütze machte einen kleinen Schlenker. »Hä, versteh ich nicht.«

Der Beifahrer seufzte wieder. Schon oft hatte er sich gefragt, wieso seine Partner immer blöder wurden. Da hatte er einen Moment mal nicht aufgepasst – und schon war dieser Trottel falsch abgebogen. So gut kannte er sich in dieser Stadt auch nicht aus. Diese dumpfe Blödheit machte ihn aggressiv. Und sauer. Demnächst würde er in der Sache mal Klartext sprechen. Aber nicht heute. Heute musste er diese verdammte Scheiße irgendwie zu Ende bringen.

»Für die Rückfahrt besorge ich ein neues«, brabbelte Mütze mit ausdruckslosem Gesicht, griff nach links, fischte aus den Tiefen des Seitenfachs der Tür einen Pinienkern und versenkte ihn mit Schwung im Mund.

»Was?«

»Ein neues Navi.«

Der Mann auf dem Beifahrersitz schwieg ihm eine Antwort entgegen.

»Eine Brücke ist doch wie die andere«, fuhr sein genialer Partner kauend fort.

Ruhig bleiben, mahnte er sich. Ruhig bleiben! Natürlich war eine Brücke nicht wie die andere, aber was blieb ihnen jetzt übrig? Schon zwei Mal hatten sie diesen breiten, grauen Fluss überquert. Mit ein wenig Pech würde noch irgendein Autofahrer auf ihr Fahrzeug aufmerksam. Und Aufmerksamkeit konnten sie nun wahrlich nicht gebrauchen.

Die Uhr im Display des Autoradios zeigte drei Uhr. Er warf einen Blick in den Rückspiegel. Kein Fahrzeug zu sehen. Es musste jetzt voran gehen! »Okay. Fahr rechts ran!«

»Jetzt?«

»Ja.«

»Rechts ran?«

»Rechts ran, du Niete!«

Wollmütze bremste den Wagen. Sein Finger glitt Richtung Warnblinkanlage.

»Die bleibt aus. Oder willst du länger bleiben?«

»Nein, aber …«

»Oder irgendjemanden auf uns aufmerksam machen? Mit einer eingeschalteten Warnblinkanlage?« Er blickte in ein ausdrucksloses Mondgesicht.

»Äh … nein.«

»Dann los!«

Die beiden Männer stiegen aus dem Wagen. Der Mann vom Beifahrersitz musterte den mächtigen, muskulösen Körper seines grenzdebilen Partners. Na immerhin. Zupacken konnte der wohl. Das würde zumindest den jetzt folgenden Teil ihres Auftrags erleichtern.

Wollmütze ging hinten ans Fahrzeug und öffnete mit kräftigem Ruck die beiden Flügeltüren des schwarzen Transporters.

2. Tag

Noch einen Kaffee, Krake!«, orderte Kriminalhauptkommissar Struhlmann, genannt Struller, übel gelaunt seinen dritten Becher, ohne eigentlich sagen zu können, was ihm heute Vormittag derart auf den Magen geschlagen war. Aber man musste ja auch nicht alles erklären können.

Krake, Strullers einarmiger Lieblingswirt, hob die Augenbrauen. »Pit, das ist schon dein dritter. Starkes Zeug. Du musst an dein Herz denken.«

»Du musst an deine Vorderzähne denken! Bist du Wirt oder Arzt?«

»Wenn es um dich geht, geht das ja fließend ineinander über. Es passt ja sonst keiner auf dich auf. Was zerbröselt dir denn so die Stimmung?«

»Heute ist Dienstag. Es ist Vormittag. Ich muss arbeiten.«

»Ach so. Da kommt natürlich einiges zusammen. Das erklärt alles.«

»Hier soll sich nichts klären. Mach hin!«, trieb Struller nicht nur seinen Wirt, sondern auch seinen besten Freund zur Eile an. Unnötigerweise, denn Krake hatte schon Strullers Becher vom Tresen gefischt und goss geschwärztes Wasser in weiße Keramik.

Strullers Blick fiel an ihm vorbei in den altmodischen Spiegel, der in die hölzerne Thekenanrichte eingelassen war. 47 Jahre, schlank, volles, dunkles Haar, stechende, blaue Augen und ein immer etwas dunkel schimmerndes, breites Kinn. Ein prima Bursche im allerbesten Mannesalter, auf den bestimmt keiner aufpassen musste!

»Hast du schon deine Weihnachtsgeschenke zusammen?«, wechselte Krake das Thema.

»Ich mache keine Weihnachtsgeschenke.«

»Also, ich wünsche mir von dir mal was Besonderes.«

»Nuschele ich? Von mir gibt’s nichts. Hab ich dir jemals ein Weihnachtsgeschenk gemacht?«

»Deshalb wünsch ich mir von dir ja was Besonderes. Die Toten Hosen kommen in den ISS Dome, da würde ich gerne hingehen.«

»Geht ja wohl nicht. Du machst die Stimmung kaputt! Du kannst bei den Liedern nicht mitklatschen«, kommentierte Struller rotzig.

Beleidigt schob Krake Struller den dampfenden Becher unter die große Nase. »Blödmann!«

Über der großen Nase verdrehte Struller beide Augen. Dann fiel sein wieder neu justierter Blick durch ein Kneipenfenster nach draußen. Schmuddelwetter. Deprimierender Schneeregen fiel vom grauen Himmel. Richtig hell wurde es schon seit Tagen nicht mehr. Sein Blick flüchtete hastig wieder nach drinnen auf den Abrisskalender eines örtlichen Abschleppunternehmers, der an der Wand hing.

»10. Dezember. Da hab ich ja noch jede Menge Zeit«, murmelte Struller, als sich in seiner grauen Jacke plötzlich das Diensthandy meldete und die Titelmelodie von Spiel mir das Lied vom Tod bimmelte.

»Digitalkameras sind schon ausverkauft«, mahnte Krake.

»Wenn, dann hatte ich sowieso eher an ein kleines Ruderboot für den Unterbacher See gedacht.«

»Witzig«, knurrte Krake.

Struller friemelte sein Handy aus der Tasche. »Hallo?«

»Kriminalhauptkommissar Struhlmann?«

»Nein, sein Assistent«, antwortete Struller.

»Assistent?«

»Struhlmann ist dran. Sogar persönlich«, meldete sich Struller nochmals mit energischer Stimme.

»Äh … Ja. Hallo, hier ist, äh, der, also mein Name ist, äh, von der Leitstelle. Ich bin gerade verwirrt. Wieso kann ich deine Telefonnummer nicht im Display erkennen?«

»Weiß ich nicht. Ich sitz im Büro. Wahrscheinlich spinnt die Telefonanlage«, schwindelte Struller, der dem Anrufer nicht unter die Nase reiben wollte, dass er die Rufumleitung aktiviert hatte, um den Arbeitstag am späten Vormittag in einem angemessenen Tempo in seiner Stammkneipe angehen zu können. Waffe und Dienstfahrzeug hatte er dabei, alles klar!

Krake hob überrascht die Augenbrauen.

»Ja. Gut. Äh, dass du da bist, Kollege. Da ist etwas am Fluss … äh, am Rhein, äh …«

»Was ist am Rhein? Ein Schiff?«

»Schiff? Ich weiß nicht. Auf jeden Fall ist dort eine Brücke. Die … Südbrücke. Und direkt unter der Brücke steht ein Streifenwagen von uns bei einer … äh … weiblichen Wasserleiche. Die bräuchten dich da mal.«

»Wasserleiche? Eklig. Ist nicht so mein Ding.«

Pause.

»Äh …«, stutzte der Kollege am anderen Ende.

»Schon gut«, unterbrach ihn Struller. »Ich fahre gleich los. Die Leitung ist übrigens ganz schlecht. Es knarzt ständig.«

»Äh …«

»Da ist es wieder!«

»Das ist nicht die Leitung. Ich hab Kratzen im Hals. Und ich muss … «

Obwohl Struller den Eindruck hatte, dass sein flotter Kollege noch etwas hatte sagen wollen, drückte er den roten AusKnopf. Er hatte schließlich nicht bis zum dritten Advent Zeit.

Wasserleiche. Soso. Nicht gut. 11.25 Uhr sagte seine Armbanduhr.

»Du sitzt also in deinem Büro? Aha. Du darfst nicht lügen«, zankte Krake grinsend.

»Ich bin Polizist, ich darf alles.«

»Dann darfst du jetzt auch zahlen. Vier-fünfzig.«

Struller kramte seine Geldbörse aus der Hose und faltete das alte, braune Lederstück auseinander. Krake verließ derweil den Thekenbereich, ging durch eine Tür nach hinten und schepperte kurz darauf eine alterschwache Alutreppenleiter hinter sich in die Kneipe.

»Vier-fünfzig habe ich passend«, zählte Struller Kleingeld auf dem Tresen ab.

»Das hab ich mir gedacht«, brummelte Krake und balancierte die Leiter klappernd um die Theke herum.

Struller vergrub sein Portemonnaie wieder in der Hose und leerte den Becher. »Was soll das denn werden?«

»Ich klebe Fußballbilder ins Panini-Album.«

»Aha. Deshalb die Leiter.«

»Genau. Es ist Weihnachten, Pit. Ich werde die Kneipe schön vorweihnachtlich schmücken und allerlei Besinnliches aufhängen.«

»Aha«, knurrte Struller. »Dich selbst?«

»Bitte! Du kannst mir natürlich auch kurz zur Hand gehen.«

»Du hast doch selbst eine! Sorry, ich habe ein Date am Rheinufer.«

»Ach? Eine Frau?«, fragte Krake neugierig.

»Ja«, antwortete Struller. Irgendwie fast wahrheitsgemäß. »Hängst du auch diese bunten Papiergirlanden auf?«

»Natürlich.«

»Die so schnell brennen? Gut zu wissen«, erklärte Struller. »Wenn mir der ganze Weihnachtsscheiß zu sehr auf den Sack geht, werde ich kommen und dir den Laden anzünden. Fall nicht von der Leiter!«

Draußen schlug Struller den Kragen hoch, zog den Kopf ein und schwang sich in den Wagen. Das Dienstwagenroulette hatte ihm diesmal einen älteren Peugeot beschert. Einen Kombi, dessen schlüpfriger Grip auf der Fahrt zum Aquarium hatte vermuten lassen, er sei mit Sommerreifen ausgestattet. Struller hatte das nicht kontrolliert. Er war kein leidenschaftlicher und begnadeter Autofahrer.

Struller startete den Motor. Die Heizung bedröhnte auf höchster Stufe fönartig die graue Windschutzscheibe. Und es piepte.

»Ach so, anschnallen«, knurrte Struller und hedderte sich den verdrehten Gurt um den Körper. Dann setzte er den Wagen langsam zurück. Was hatte da gescheppert? Ein Fahrradfahrer? Struller richtete den Rückspiegel, aber durch die mit Eis versiegelten Scheiben war nichts zu erkennen. Auch kein gestürzter Radfahrer.

»Okay.«

Struller fuhr zügig los. Mittels bullernder Heizung den Wagen vom eisigen Wintermantel zu befreien, dauerte quer durch die Stadt bis zum Stadtteil Hamm. Nörgelnde Spießer und unflexible Anfänger honorierten einige seiner spontanen, fahrbahnübergreifenden Manöver begeistert mit Hupen. Schwer zufrieden friemelte Struller sich eine Ernte 23 zwischen die Lippen.

»Verdammt«, murmelte er schließlich, als er feststellte, dass er sich beim Umfahren der wie immer hoffnungslos mit Fahrzeugen überfüllten Völklinger Straße in den engen, verwinkelten Gässchen Hamms verfahren hatte. »Irgendwo hier muss doch die verfluchte Brücke sein, so ein Scheiß.«

Eigentlich brauchte man in Düsseldorf immer nur lange genug geradeaus und Richtung Westen zu fahren, um irgendwann an den Rhein zu kommen. Da waren dann auch die Brücken. In der Nähe einer kleinen Kirche entdeckte Struller eine enge Stichstraße.

»Opfergasse. Schöner Name. Passt, die nehme ich«, brummte Struller, den Kragen der Jacke immer noch hochgeschlagen.

Durch einen schmalen, geöffneten Fensterspalt, schnippte Struller Asche nach draußen. Den Aschenbecher hatten sie ausgebaut, weil im Auto nicht geraucht werden durfte. Ganz, ganz clever!

Die nächsten Straßennamen konnte er nicht erkennen, denn ein weißer Schleier verdeckte die Schrift. Kurz geriet er auf eines der frisch abgeernteten Kohlfelder, die diesem Ortsteil den Vornamen Kappes eingebracht hatten, aber mit kräftigem Griff schlidderte der Peugeot wieder zurück in die Spur. Es ging leicht bergauf und endlich war er auf dem Deich. Feiner Bodennebel umwaberte sein Fahrzeug, aber links konnte er die Südbrücke erkennen.

»Na also.«

Struller hupte einige neugierige, vom kreisenden Blaulicht eines Streifenwagens angelockte Spaziergänger beiseite und bremste gleich neben dem Fahrzeug auf feuchtem Gras rutschend. Er stieg aus, drückte sich knackend das Polizistenkreuz gerade und klopfte gegen die Scheibe an der Beifahrerseite des Streifenwagens. Damit erschreckte er einen blassen Polizeibeamten mit frostroten Lippen, der vermutlich gerade versehentlich kurz eingenickt war und hochschnellte.

»Guten Morgen!«

»Wohl kaum«, knurrte der Polizist schlecht gelaunt.

»Wo muss ich hin?«

Der Uniformierte deutete nach vorne, Richtung Rhein.

Struller blickte auf den Fluss. Der sonst breite Strom hatte sich nach mehreren Wochen Trockenheit weit in sein Bett zurückgezogen. Seufzend marschierte Struller los. Vom Deich ging es die Böschung runter über leicht gefrorenen, hin und wieder matschig-rutschigen Boden knapp 200 Meter weit bis ans Wasser. Ein massiver Brückenpfeiler stand völlig wasserfrei. Vor dem zweiten Brückenpfeiler lagen etliche graue Felsbrocken, dann erst erreichte er das Ufer.

Und einen weiteren Kollegen, der ihn heranwinkte und freudig rief: »Struller!«

»Jörg!«, grüßte Struller einen alten Lehrgangskollegen überrascht. »Jörg Greifenberg. Ich dachte, du wolltest schon vor Jahren nach Thailand auswandern? Ist da was dazwischengekommen?«

»Meine Frau.«

»Au. Geschieden?«

»Nein. Aber sie wollte mit.«

»Oh.«

»Ja, da bin ich hier geblieben. Und die letzte große Umstrukturierung hat mich nach 21 Jahren aus meinem gemütlichen, warmen Büro wieder raus auf die Straße getrieben, wo ich jetzt am Fließband des Grauens in eisiger Kälte große Pakete schnüre.«

Struller schlug sich lachend eine Kippe aus der Schachtel. »Sie lassen sich immer was Neues einfallen. Das Karussell hört nie auf, sich zu drehen.«

»Egal in welche Richtung. Du bist allein, ohne Partner?«

»Bei mir hält es keiner lange aus«, grinste Struller und nahm einen tiefen Zug auf Lunge. »Okay, was liegt an?«

»Kurz nach zehn hat ein Mann bei uns angerufen, der direkt am Ufer mit seinem Hund spazieren gegangen ist. Der Hund turnt auf den Felsbrocken rum, Herrchen hinterher. Dort hat er dann plötzlich einen Container im Wasser entdeckt. Der Deckel war leicht hochgeklappt und etwas Fransiges hing heraus. Das wusste er nicht so genau einzuordnen und hat uns informiert. Wir dachten zuerst, es hat nur mal wieder jemand seinen Müll samt Eimer illegal entsorgt. Aber dann … Guck es dir besser selbst an!«

Der uniformierte Kollege führte ihn vorsichtig über die rutschigen Felsbrocken. Schließlich entdeckte Struller im Wasser des Rheins knapp vier Meter vor sich einen silberfarbenen, viereckigen Müllcontainer, dessen Klappe offen stand. Es war so ein Ding mit dicken Rollen drunter. Struller kniff die Augen zusammen. Strähnig, verfilzt und nass hing etwas aus dem Container heraus.

»Ist es das, was ich vermute, was es ist?«

Greifenberg lachte verkniffen. »Deshalb bist du hier, Mann.«

»Lange, blonde Haare«, murmelte Struller.

»Genau.«

Der Kollege trat einen Schritt nach rechts und erklomm vorsichtig einen etwas größeren Steinbrocken. »Und wenn du dich hier drauf stellst, kannst du auch erkennen, dass es keine Perücke ist, die dort raushängt.«

Struller kletterte neben ihn und konnte im Inneren des Containers einen verdrehten Körper erkennen. »Warum gehen wir nicht ran?«

Greifenberg knurrte. »Das hat mein Kollege versucht, der sich jetzt oben am Deich im Streifenwagen aufwärmt. Der hat jetzt eine nasse Hose und friert. Was du nicht sehen kannst, ist die tierische Strömung, die dir sofort die Beine wegreißt, wenn du ins Wasser steigst.«

»Ihr wart noch nicht am … Objekt?«

»Nö. Der Container hat sich da irgendwie am Rand der Fahrrinne verhakt. Kommen wir so nicht dran.«

Struller nickte. »Wir brauchen die Feuerwehr.«

»Richtig. Die wollte ich aber nicht bestellen, bevor du hier bist und dir ein Bild gemacht hast«, erklärte Greifenberg, trat einen Schritt zur Seite und bestellte über Funk der Reihe nach die Feuerwehr mit großem Bergungskran, einen Notarzt, der offiziell den Tod festzustellen hatte, die zuständigen Bestatter und schließlich noch die Kollegen für die Spurensicherung.

Struller lauschte interessiert und warf noch mal einen Blick Richtung Container.

Lange, blonde Haare. Verfilzt. Er seufzte.

Nur eine gute Viertelstunde später hatten die Feuerwehrleute eines ihrer Fahrzeuge vorsichtig bis ans Rheinufer rangiert und eine Drehleiter über den Rhein ausgefahren. Ein Feuerwehrmann in Gummiklamotten wurde mit Sicherungsleine ins Wasser gelassen.

Struller nahm einen tiefen Zug auf Lunge und beobachtete interessiert, wie der Mann mehrere Haken am Container befestigte.

Rechts neben Struller standen inzwischen zwei Männer aus Faserspuren-Haralds Team, die das Ganze filmten. Der Feuerwehrmann machte ein Zeichen, die Drehleiter wurde hochgefahren und zog den tropfenden Container vorsichtig in die Höhe. Die Leiche blieb dort, wo sie war.

»Gut«, murmelte Struller.

Greifenberg dirigierte mit rudernden Armen, und der matschdreckige, zwei mal einen Meter große Container wurde vor Struller auf den Boden herabgelassen. Die Feuerwehrmänner drückten den Container so, dass er mit den breiten Reifen auf dem Boden zu stehen kam.

Struller schnippte die Kippe weg. »Nun denn.«

Einer von Haralds Männern öffnete mit spitzen Handschuhfingern die große Klappe und gab den Blick frei aufs wenig erbauliche Innere. Struller erkannte unter den filzigen, nassen Haaren ein junges, weibliches Gesicht. Die Frau mochte um die zwanzig Jahre alt sein, was schwer zu schätzen war. Sie war bekleidet. Sie war schlank. Und zu Lebzeiten sicher hübsch gewesen.

»Jetzt nicht mehr«, fluchte Struller.

Zwei Feuerwehrmänner zogen die Leiche aus dem Container und legten sie auf den Boden.

Der Notarzt warf einen kurzen Blick auf die Frau und stellte umfassend fest: »Tot.«

Einer der Spurensicherer deutete auf den Hinterkopf. »Sieht aus wie eine Verletzung. Ein Loch. Ein Schlag? Sturz oder Unfall. Gerichtsmedizin?«

»Auf jeden Fall, Kollege. Ihr kümmert euch! Doc Stich einen Gruß, und ich hätte für die Obduktion morgen Vormittag in der Gerichtsmedizin gerne den ersten Termin. Er soll hin machen!«

»Geht klar.«

Der Kollege tastete die Taschen der Kleidung ab und schüttelte den Kopf. Keine Ausweispapiere. Also: eine unbekannte Leiche. Schlecht!

Struller wandte sich noch mal an seinen alten Lehrgangskumpel. »Jörg, kannst du dafür sorgen, dass der Container zum Präsidium kommt, damit Faserspuren-Harald ihn sich gründlich vornehmen kann?«

»Klar, Pit. Ich pack ihn auf die Rückbank.«

»Danke«, grinste Struller, der es liebte, mit unkomplizierten Kollegen zusammenarbeiten zu dürfen, und trat den Rückzug an.

Als er im Gehen einen letzten Blick über den kalten Fluss warf, fröstelte ihn. Und er war sicher, einen ganz, ganz unangenehmen Fall am Hacken zu haben.

Zwanzig Minuten später schob Struller seine faltige, an den Kanten eingerissene Chipkarte in den Automat zur Einlassschranke und ruckelte ein paar Rutscher später den alten Peugeot zentimetergenau unmittelbar vor einen der hellgrauen Steinpoller im Hof des massigen Polizeipräsidiums.

16.05 Uhr. Die Bergung des Containers hatte länger gedauert, als gedacht. Die meisten seiner Kollegen hatten schon Feierabend, aber er hoffte, noch einen Versprengten beim Kommissariat für Vermisstenfälle zu erwischen. Vielleicht ließ sich zügig die Identität der jungen Toten klären.

Didi, der Pförtner, war auch schon zu Hause, deshalb nutzte Struller den Nebeneingang links neben dessen verlassener Glasloge. Ohne auf eine einzige Beamtenseele zu stoßen, erreichte er sein Büro in der dritten Etage und schnappte sich einen Telefonhörer.

»Wegmann?«, meldete sich eine atemlose Kollegin.

»Ich bin’s, Struhlmann.«

»Ich bin schon fast weg«, erklärte die Kollegin aus dem Kommissariat für Vermisstensachen entsetzt.

»Da hab ich ja Glück, dich noch zu erwischen. Mordsache. Ich brauche eine Liste aller vermissten Personen. Weiblich, Alter zwischen 16 und 26 Jahre.«

»Mach ich dir morgen fertig«, versuchte sie verzweifelt abzuwiegeln. Erfolglos!

»Nix da. Brauch ich sofort. Du hast doch bestimmt eine Exceldatei oder so was.«

»Ich hab Feierabend.«

»Wohl nicht.«

»Moment«, zischte Frau Wegmann.

Struller hörte interessiert, wie die Kollegin den Hörer auf die Schreibtischplatte knallte. Dann verfluchte sie nacheinander ihn, sich, den verdammten Tag und die Erfindung des Telefons. Sie fuhr den Computer hoch und haute fluchend hart in die Tasten. Struller schüttelte zufrieden eine Ernte aus der Schachtel. Freizeit wurde generell überbewertet. Es raschelte am anderen Ende der Leitung.

»Weiß oder farbig?«, fragte die Kollegin, politisch nicht ganz korrekt.

»Hä?«

»Ich habe eine vermisste 23-Jährige aus Ghana.«

»Die scheidet aus.«

»Dann Fehlanzeige. Keine aktuelle Vermisstensache in ganz Nordrhein-Westfalen.«

»Okay, dann …«, murmelte Struller, aber da hatte Frau Wegmann schon aufgelegt.

Struller blies einen blau-grauen Kringel an die Decke. NRW negativ. Okay. Was die anderen Bundesländer und das benachbarte Ausland anging, würde er morgen das Landeskriminalamt bemühen. Heute würde er um diese Uhrzeit niemanden mehr erreichen. Grübelnd rauchte er die Kippe zu Ende und zerquetschte den Stumpen im Ascher.

Plötzlich öffnete sich die Türe.

»Herr Struhlmann.«

»Hallo«, begrüßte Struller erstaunt seinen Kommissariatsleiter, Kriminaldirektor Hengstmann, den Struller eigentlich auch schon lange im Feierabend wähnte. Man durfte sich nie sicher sein!

»Herr Struhlmann, ich springe noch mal eben kurz rein, um Sie auf den aktuellen Stand zu bringen.«

»Sie? Mich?«

»Ja. Neuigkeiten. Eine gute, eine schlechte.«

»Raus damit!«

Hengstmann räusperte sich. »Die Gute zuerst. Wir richten natürlich wegen dieser schrecklichen Sache eine Mordkommission ein. Das verlangt der Anstand. Und die Presse. Eine tote, junge Frau. Das ist furchtbar. Ich kann Ihnen aber sagen, dass ich bereits einen Namen für die Kommission habe.«

Struller blinzelte. Ein Name für die Kommission … Das war die gute Nachricht? Herr im Himmel. An dieses herausragende Problem hatte er noch gar nicht gedacht.

Hengstmann wippte auf seinen Absätzen nach vorne und zurück. Das hatte der ehemalige Leiter der Düsseldorfer Reiterstaffel sich vor einigen Wochen nach einem Rhetorikseminar in Münster angewöhnt.

»Schlimme Sache. Eine junge Frau im Müllcontainer, ein abscheuliches Verbrechen. Was ist das für eine Welt? Ich möchte dem einen Namen entgegensetzen, der positiv besetzt ist und ein Trotzdem darstellt. Ich habe unserer Pressestelle mitgeteilt, dass die Mordkommission MK Arielle heißen wird.«

»Arielle?«

»Die Meerjungfrau, ja. Mit dem Namen geben wir dem schrecklichen Schicksal des toten Mädchens etwas Positives. Arielle, die Meerjungfrau. Eine Geste des Respekts. Zugleich eine Aufforderung, alles zu tun, um den Mörder zur Strecke zu bringen. Schnell. Und kompromisslos!«

»MK Arielle. Ganz große Klasse«, ächzte Struller, der zwar den wohlgemeinten Ansatz erkennen konnte, der sich aber jetzt ernstlich besorgt fragte, was denn dann wohl die schlechte Nachricht war.

»Tja. Ich hatte Herrn Rademacher als Ihren Partner ausgeguckt. Erfahrener Kollege, das hätte gepasst. Der Kollege wusste bereits Bescheid, hat sich aber vor wenigen Minuten bei mir telefonisch krank gemeldet.«

»Hoffentlich nichts Ernstes?«, fragte Struller scheinheilig. Rademacher galt als arbeitsscheuer Krankmacher.

»Blasenentzündung. Was ganz Unangenehmes.«

Struller nickte. Rademacher war wirklich was ganz Unangenehmes. »Da kann man nichts machen.«

»Herr Struhlmann«, lachte Hengstmann. »Sie kennen mich doch. Ich werde schon einen passenden Spannmann für Sie finden, verlassen Sie sich auf mich. Apropos verlassen: Ich bin dann jetzt auch außerhäusig und in Notfällen wahrscheinlich jederzeit erreichbar.«

»Das ist gut zu wissen«, winkte Struller seinem Chef hinterher.

»MK Arielle«, flüsterte Struller, griff gedankenverloren zur Zigarettenschachtel und fand den Namen mit einem Mal gar nicht mehr so unpassend. »Arielle, ich verspreche dir: Ich bringe deinen Mörder zur Strecke.«

»Dies wird nur gelingen, wenn wir die Standards in allen Mitgliedsstaaten unserer Gemeinschaft vereinheitlichen. Besser heute als morgen! Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerksamkeit!«

Jensen ruckelte seine Papiere auf dem Pult zusammen und atmete tief durch. Puh, seine erste Rede. Geschafft, ohne größere Stotterer. Er blickte hoch ins Publikum und war richtig überrascht. Mehr als höflicher Applaus wurde ihm entgegengeklatscht.

Klasse.

Er nickte noch mal dankend in den Saal und verließ das Podest.

Der Inspekteur der Polizei als Schirmherr der Veranstaltung erwartete ihn an der untersten Stufe und klapste ihm freundlich auf die Schulter. »Gut gemacht!«

Jensen grinste. Na, das hatte ja hingehauen. Dabei hatte er ernsthafte Bedenken gehabt, als ihm angetragen wurde, seine Diplomarbeit, die er im Rahmen seines Fachhochschulstudiums zu fertigen hatte, auf einem Kongress in den Räumlichkeiten des Landeskriminalamts vorzutragen. Immerhin saßen dort nur Fachleute aus aller Herren Länder im Publikum, und die wollte er nicht mit irgendwelchem Schülerkram aus dem Internet langweilen. Die Erforderlichkeit koordinierter Zusammenarbeit bei Langzeitvermissten in Europa war sein Thema. Hinter ihm wurde bereits der nächste Redebeitrag angekündigt.

Bierdurst!

Jensen schlich an einigen seiner Mitstudenten vorbei in einen Nebenraum, wo eine beliebte, einheimische Brauerei einen Bierwagen mit Zapfanlage, Theke und Stehtischen aufgebaut hatte.

»Schlüssel Alt, prima«, freute sich Jensen.

Mit einem frisch Gezapften parkte er sich an dem einzig freien Stehtisch. Am Nebentisch standen eine hübsche Blondine und ein verwegen dreinblickender, junger Mann mit schulterlangen Haaren, die sich gegenseitig anschmachteten.

Verliebtes Glück, dachte Jensen, nippte an seinem Glas und musste kurz an Speedy denken. Speedy hatte er vor über einem Jahr kennen und vor drei Monaten lieben gelernt. Letzteres war allerdings eine eher einseitige Sache – sehr kompliziert –, denn Speedy befand sich auf einem bizarren Selbstfindungstrip, der sie für mehrere Monate zum Meditieren in einen Ashram nach Indien geführt hatte.

Ort der Erlösung …

Jensen trank aus Versehen sein Glas ganz aus. Und bestellte ein neues. Das Bierchen lief aber heute auch wieder.

In der Zwischenzeit hatte sich ein etwa 55 Jahre alter Mann an den Nebentisch zu dem Pärchen gestellt. Sportlicher Typ, teurer Anzug. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die Jensen nicht verstand. Egal, seine Gedanken glitten schon wieder den Globus ein wenig weiter süd-östlich nach Indien.

Der Mann drehte sich plötzlich zu Jensen um: »Eine sehr gute Rede.«

»Oh. Danke.«

»Sie haben mit klaren, direkten Worten ein paar sehr wahre Dinge ganz konkret auf den Punkt gebracht. Sehr gut. Wir sind ein Europa und müssen in vielen Dingen auch als ein Europa aufgestellt sein. Sehr richtig und konsequent vorgetragen.« Er stöhnte. »Ihr Nachfolger verliert sich leider gerade knietief im Theoretischen.«

Jensen nickte freundlich und wunderte sich über die frische Wortwahl des Mannes, der mit starkem, ausländischem Akzent sprach. Einem osteuropäischen, vermutete Jensen.

Er nippte grübelnd auch das zweite Glas leer und wollte gerade wieder in den Saal zurückgehen, als ihn der Mann ein zweites Mal ansprach.

»Entschuldigen Sie bitte. Mein Name ist Milos Kopecky. Das sind meine Tochter Jara und ihr Verlobter Janek. Ich bin ein Kollege aus Tschechien und habe da mal eine Frage.«

Die Tochter protestierte leise, wahrscheinlich auf Tschechisch, aber ihr Vater fragte lachend: Die jungen Leute begleiten mich auf diese Veranstaltung, aber jetzt … Also, ich kenne mich hier in Köln überhaupt nicht aus, aber wo kann man hier denn als junger Mensch jetzt um diese Zeit noch rausgehen?«

Jensen lachte. »Als Erstes sollten die beiden sich unbedingt merken, dass sie nicht in Köln, sondern in Düsseldorf sind. Das wird nämlich sonst problematisch. Und dann …« Jensen überlegte. »Heute ist Dienstag. Altstadt natürlich. Hm …«

Er blickte auf sein leeres Glas. Na ja. Seinen Vortrag hatte er hinter sich gebracht. An der gleich folgenden Podiumsdiskussion würde er ohnehin nicht teilnehmen. Das erstklassige Jazzensemble des Polizeimusikcorps hatte seinen Auftritt mit musikalischen Krimiklassikern auch schon gehabt. Und die beiden am Nebentisch sahen ganz peppig aus.

Ach, verdammt!

»Ich fahre jetzt auf ein Stündchen in die Altstadt. Wenn die beiden Lust haben, nehme ich sie gerne mit. Ich kenne da einen ganz guten Club.«

Vater Kopecky strahlte. Die Tochter ebenfalls. Sie verstand offenbar auch ganz gut deutsch, denn sie sagte: »Klasse.«

»Ein super Laden«, lobte Jara und nippte am Flaschenbier.

Jensen nickte. Das Pretty Vacant war auch dienstags eine Topadresse. Es war richtig voll. An der Theke knubbelte es sich, und unten im Gewölbekeller spielte eine britische Rockband. Waren das The Vals? Jensen war sich nicht sicher.

»Bist du öfter hier?«

Die blonde Jara hatte sich in ihn reingeschraubt. Jensen schnappte nach Luft. Und warf einen Blick in die Runde. Janek, ihr Verlobter, hatte eben jemanden gegrüßt, ihm, Jensen, seine Verlobte anvertraut und sich mit seinem Kumpel an die Theke verzogen.

Und jetzt trank sich seine Jara über die Zwei-Promille-Grenze. Wenn das mal gut ging.

Jensen wechselte einen Blick mit Keith Moon, der als übergroßes Schwarzweißportrait an der Wand hängend die ganze Szene spöttisch überblickte.

»Dienstags, mittwochs. Und manchmal am Wochenende. Wieso sprechen dein Vater und du eigentlich so gut deutsch?«

Sie lachte. »Deutsch lernen wir an der Schule. Außerdem hat mein Vater mehrere Jahre im Tschechischen Konsulat in Dresden gearbeitet. Als Verbindungsbeamter. Ich habe drei Jahre in Deutschland gewohnt.«

Süß. Und so ein leise klappernder Akzent … Charmant.

Jensen warf einen Blick auf Janek und seinen Bekannten an der Theke. »Kennst du den Typen, den Janek dort eben getroffen hat?«

»Den hab ich noch nie gesehen. Wahrscheinlich einer aus seinem ersten Leben«, grinste Jara und kicherte.

Jensen runzelte ihr ein Fragezeichen entgegen.

Sie beugte sich näher ran. Ihre Nase berührte sein Ohr. »Janek hat als Student ein wildes Leben geführt. Ich glaube, ich hab ihn zurück auf die gerade Bahn geholt. So sagt man doch, oder? Deshalb war er auch ein bisschen froh, diese Veranstaltung meines Vaters verlassen zu können.«

»Wieso?«, fragte Jensen.

»Da waren zu viele Polizisten. Das macht ihn nervös. Da mögen manche von ihnen auch noch so nett sein«, fügte sie mit Augenaufschlag hinzu. »Mir gefallen deine blauen Augen und deine langen Haare. Du siehst aus wie ein britischer Rockstar. Gute Figur. Bist du Sportler?«

»Ich spiele Fußball.«

»Wie groß bist du?«

»1,80 Meter.«

»Passt genau«, flüsterte sie und stellte sich auf die Zehenspitzen.

Jensen schmunzelte und sah auf die Uhr. »Hoppla. Schon zwei Uhr durch … Äh, wäre das schlimm für euch, wenn ich mich gleich verabschiede?«

»Für uns nicht. Aber für mich«, grinste die kleine Tschechin mit frechem Blick. Frech, aber nicht mehr so ganz zielsicher.

Allerhöchste Zeit zu gehen, entschied Jensen.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte sie aber dann. »Ich kämpfe mich zu Janek an die Theke. Ich komme klar. Danke. Du bist richtig nett!«

Sie hauchte ihm einen Abschiedskuss auf die rotwarme Wange. Jensen wollte Janek noch zum Abschied grüßen, konnte ihn aber an der Theke nicht mehr entdecken und schlug wenige Sekunden später draußen vor dem Lokal einen dicken Schal über den Kragen seiner schwarzen Lederjacke.

»Nett bin ich also«, grummelte er vor sich hin. Soso. Nett ist die kleine Schwester von Scheiße. Schnelle Gedanken an Speedy wischte er unwillig von der Festplatte. Sollte sich seine Freundin oder Ex-Freundin oder wie auch immer doch in ihrem doofen Indien langweilen …

3. Tag

Die große Frühbesprechung am nächsten Morgen war schnell gehalten. Auf der wöchentlichen Besprechung, an der die Dienststellenleiter der Fachkommissariate mit ihren Vertretern Aktuelles aus ihren Bereichen vortrugen, erfuhr Struller wenig Neues. Es gab den vagen Hinweis auf ein anstehendes, größeres Waffengeschäft. Ein krimineller Event, der aus sicheren Quellen nahezu monatlich angekündigt wurde, nie eintrat und daher niemanden vom Hocker reißen wollte. Der Abteilungsstab bereitete eine große Übung vor, bei der Feuerwehr in Flingern hatte es gebrannt, es brodelte im Rotlichtmilieu.

In der Polizeiinspektion Süd drehte man hoch, denn beim Entladen eines Containerschiffes im Düsseldorfer Hafen war ein Ladeseil gerissen. Ein Container voll mit hochwertigen Holzsärgen war auf den Beckenrand geknallt, der morbide Inhalt ins brauntrübe Wasser gestürzt.

Da hatte Struller laut gelacht. Aber er war der Einzige, der das komisch fand. Der Polizeipräsident hatte böse geguckt.

Jetzt waren Feuerwehr und Technisches Hilfswerk dabei, die Särge zu bergen. Was schwierig war, denn einige der kostbaren Exemplare hatten sich mit Wasser gefüllt und waren auf den Beckenboden gesunken. Andere hatte die Strömung des Rheins aus dem Hafenbecken raus in den Fluss gezogen. Die schwammen jetzt Richtung Nordsee. Das wiederum hatte den Staatsschutz alarmiert, denn man befürchtete politische Verwerfungen für den Fall, dass die Särge in Holland ans Ufer getrieben wurden.

Da hatte Struller noch mal geschmunzelt. Aber bedeutend vorsichtiger.

Ferner hatten Kollegen der Polizeiwache Bilk einen Autoknacker festgenommen, wobei man auch nach dem euphorisch vorgetragen Beitrag des zuständigen Kommissariatleiters nicht davon ausgehen konnte, dass der internationalen Navigationshydra der Kopf abgetrennt worden war. Den Täter hatte man inzwischen aus der Untersuchungshaft entlassen.

Und schließlich: Es wurde immer noch keine Frau vermisst, deren Beschreibung auf Arielle gepasst hätte. Struller war sowieso der Meinung, dass Besprechungen nur von der Arbeit abhielten.

Zurück im Büro überflog er den erwartet dünnen Bericht der Spurensicherung vom Tatort, warf sich in seinen Dienstwagen und trat knappe dreißig Minuten später auf die Bremse, um mit seinem kleinen Franzosen in den Stand zu rutschen.

Das Schöne an der Düsseldorfer Gerichtsmedizin war, dass man hier immer einen Parkplatz fand.

Er warf die Tür seines französischen Kleinwagens hinter sich krachend in den Rahmen. Struller hatte sich für den Hintereingang des schlichten Gebäudes entschieden. Nur für finale Gäste, enge Freunde und regelmäßige Besucher.

»Hier könnten die auch ruhig mal streuen«, murmelte Struller noch und geriet plötzlich mit rudernden Armen auf dem abschüssigen Pflaster ins Rutschen. Klatsch – saß er auf seinen vier Buchstaben, rutschte weiter und bremste schließlich mit beiden Füßen gegen die schwere Eisentür krachend.

Die Tür öffnete sich. Eine junge Frau mit kurzen, schwarzen Haaren und blutverschmierten Einweghandschuhen an den Fingern stand vor ihm. Die hellblauen Augen oberhalb eines Mundschutzes, der fast das ganze Gesicht verdeckte, starrten ihn fragend an.

Struller rappelte sich hoch, klopfte sich wütend die Hose sauber und schob sich an der Frau vorbei. »Polizei. Ich habe einen Termin.«

Zwei Räume weiter traf er im Obduktionssaal auf Doc Stich, der ihn freundlich grüßte. »Morgen, Pit. Komm beim nächsten Mal besser durch den Haupteingang. Hinten wird nicht gestreut. Da ist es immer sehr glatt.«

»Werd ich mir merken. Wie weit bist du?«

»Soweit fertig.« Der Doc deutete auf die junge Frau, die Struller die Tür geöffnet hatte. »Das ist meine neue Assistentin, Lena.«

Die Assistentin nickte. Struller nickte zurück, eher verhalten. Frauen mit blutverschmierten Einweghandschuhen waren nicht so sein Fall. Überhaupt waren ihm Menschen suspekt, die freiwillig in der Gerichtsmedizin arbeiteten. Das galt letztendlich auch für den Doc, den er einerseits schätzte, weil er eine anerkannte Koryphäe auf seinem Gebiet war und ihm schon oft weitergeholfen hatte. Aber englische Steaks würden sie zum Beispiel niemals zusammen essen gehen!

Obwohl Struller den sterilen und bis zur Decke weiß gekachelten Saal mit seinen gluckernden Abflüssen natürlich bereits von vorherigen Obduktionen kannte, drückte ihn sofort der Magen. Das war hier einfach nicht sein Wohlfühlbereich.

Der Doc führte ihn an eine Bahre. Er schlug ein fleckiges, ehemals weißes Laken zurück und legte ohne weitere Vorwarnung die Tote vom Rheinufer frei. Strenger Körpergeruch wehte Struller in die Nase. Der mit groben Stichen genähte so genannte Y-Schnitt hatte ihren schlanken Körper entstellt.

Strullers Nackenhaare sträubten sich. Arme Arielle, schoss es ihm durch den Kopf.

»Nun gut«, sagte Doc Stich und klatschte in die Hände. »Ich habe noch einige Leichen auf Eis liegen, lass uns loslegen! Weibliche Leiche, circa 17 bis 22 Jahre alt. 1,65 Meter groß, 64 kg Gewicht. Auf der Haut sind rötliche bis hellgrüne Leichenflecken sichtbar, die sich nicht mehr wegdrücken lassen. Zudem ist der Körper bereits durch den begonnenen Verwesungsprozess aufgedunsen. Das Schädeldach ist an einer Stelle eingedrückt.« Der Doc deutete auf eine Stelle am kahl rasierten, bleich schimmernden Hinterkopf oberhalb der so genannten Hutkrempe.

»Ein Schlag?«, fragte Struller.

»Wenn, dann mit einem stumpfen Gegenstand. Den Schädel leite ich später weiter ans Landeskriminalamt, damit die Techniker ihn sich dort genauer ansehen können.«

»Oberhalb der Hutkrempe«, murmelte Struller.

»Richtig. Das Mädchen ist vermutlich von hinten mit einem stumpfen Gegenstand geschlagen worden. Eine Sturzverletzung kann ich nicht gänzlich ausschließen, halte ich aber für unwahrscheinlich. Dann müsste sie auf irgendwas Rundes gefallen sein.«

»Fotografisch gesichert?«, fragte Struller.

Lena nickte und deutete auf einen Beistelltisch, auf dem ein teurer Fotoapparat lag.

Struller nickte. »War der Schlag tödlich?«

Doc Stich grunzte und deutete auf ihren Hals. »Der Kehlkopf ist eingedrückt. Das Mädchen ist erwürgt worden. Entsprechende Male befinden sich am Hals. Und bevor du fragst: Die sind auch fotografisch gesichert.«

»Irgendwas Besonderes bei den Würgespuren am Hals? Alle Finger dran?«

»Ganz normales Spurenbild. Ganz normale Hände. Keine riesigen Pranken, keine kleinen Fingerchen. Und frag es bloß nicht: natürlich keine Fingerabdrücke, kein zu sicherndes DNA-Material.«

Struller kratzte sich den Kopf. Okay. Vermutlich erst ein Schlag auf den Kopf. Sie lebt noch, aber dann erwürgt sie der Täter.

Jetzt hatte er der Toten unwillkürlich ins blasse Gesicht geschaut. Verdammt, das hatte er vermeiden wollen. Aber er wäre eh nicht drum herumgekommen, denn der Doc lenkte seine Aufmerksamkeit jetzt genau auf den Kopf. Mit einem knirschenden Spreizgriff öffnete er ihren Mund.

»Der Zahnersatz ist eindeutig osteuropäisch.«

»Ach?«, fragte Struller.

»Die arbeiten dort einfach anders und mit anderen Materialien.«

»Dann kommt sie aus Osteuropa?«, fragte Struller.

»Aus Tschechien«, erklärte die Assistentin.

Struller blickte sie verwundert an.

Doc Stich räusperte sich. »Versau mir nicht die Pointen, Lena.«

Er drehte die Leiche mir einem festen Ruck auf die Seite. Auf ihrer Schulter entdeckte Struller ein Herz, das von links durch einen süßen, kleinen Bären hochgehalten wurde. Im Herz prangte filigran ein schwarzer, dünn geschwungener Schriftzug.

»Pro tebe«, las Struller.

»Für dich«, übersetzte die Gehilfin und fügte mit einer, wie Struller angenehm auffiel, sehr weichen Stimme hinzu: »Meine Mutter kommt aus Tschechien. Dort lebt meine halbe Verwandtschaft, daher spreche ich die Sprache.«

Doc Stich drehte die Tote wieder auf den Rücken. »Wir haben kein Sperma gefunden.«

»Kein Geschlechtsverkehr also«, deutete Struller.

»Kein Sperma, Pit! Vielleicht hat sie ein Kondom benutzt. Manche Menschen tun so was! Aber eine Vergewaltigung zum Beispiel kann ich ausschließen, weil wir keine entsprechenden Verletzungen entdeckt haben.«

Struller fuhr sich durchs Gesicht. »Kein Sperma, also kein DNA-Material. Das ist schlecht.« Er musterte Arielles schlanken Körper. Beine und Arme waren mit blauen und braunen Flecken übersät.

»Knochenbrüche?«, fragte Struller.

»Negativ. Die Hämatome sind alle postmortal. Kann man ganz leicht erkennen, wenn …«

»Ich glaub es dir.« Struller beugte sich über ihren Unterleib, kniff die Augen zusammen, stutzte und deutete auf einen verwischten, ungleichmäßigen Streifen in ihrer Leiste. »Was ist das?«

Doc Stich nickte. »Ich habe mir das mit der Lupe angeguckt. Das ist eine Buchstaben- und Zahlenkombination. Allerdings selbst mit den dicken Gläsern kaum noch zu erkennen. Zu verwischt. So ohne Weiteres konnte ich da nichts entschlüsseln.«

Struller runzelte die Stirn. »In der Leiste?«

Der Doc zog die Schultern hoch. »Ungewöhnlich, find ich auch. Dort notiert man sich normalerweise keine Telefonnummer. Aber das wird schon seinen Grund haben, nehme ich an.«

»Seltsam. Ich will genau wissen, was da steht«, zischte Struller.

»Lena wird die Haut gleich austrennen. Ich schicke den Streifen sofort ans Landeskriminalamt. Ich kann mir vorstellen, dass die Jungs dort mit ihren starken Röntgengeräten noch irgendwas rausarbeiten können. Vielleicht haben wir Glück.«

»Is noch was?«, fragte Struller ungeduldig, dem der Sinn nach frischer Luft und einer Kippe stand.

Doc Stich zog das Tuch wieder über die Leiche. »Lena hat noch was Interessantes für dich.«

Die Assistentin winkte Struller, ihm in den Nebenraum zu folgen. Hier zog sie die Schutzmaske vom Gesicht und aktivierte den Bildschirm ihres Computers. Struller blinzelte irritiert, als er ihr zum ersten Mal ins unverhüllte Gesicht sah. Meine Güte, war die aber hübsch. Alle Achtung! Ein echter Elfmeter. Aristokratisch geschnittenes, kantiges Gesicht, hohe Wangenknochen. Dazu die beeindruckenden, hellblauen Augen. Eine fein gezeichnete Nase, ein sinnlicher, volllippiger Mund. Und als Schlusspunkt hatte die Natur ihr auf der linken Wange ein Schönheitsmuttermal mit ins Leben gegeben, wofür aristokratische Damen am französischen Hof vor einigen hundert Jahren einen Arm gegeben hätten.

Verdammt.

Sie legte den Kopf schräg, schien seinen musternden Blick richtig zu deuten und zeigte auf den Monitor. »Es hat nicht direkt mit dem … Tod der Frau zu tun, aber da ihre Identität, wie ich hörte, noch nicht feststeht, könnte das interessant sein.«

Auf dem Monitor erkannte Struller die Rückseite des Handgelenks der Toten. Mit flinken Fingern auf der Tastatur zoomte sie die Haut näher heran. Dort wurde verwischte, fast ausgeblichene Farbe sichtbar.

»Das ist vermutlich ein Stempel, wie er in Diskotheken beim Eingang verwendet wird.«

»Aha«, murmelte Struller interessiert. Gut mitgedacht! Das war wirklich ein Ansatz! Dort würde man mit einem Foto der Toten nachfragen können. Er beugte sich tief über den Bildschirm, aber die schwache Schrift auf der blassen Haut war nicht zu entziffern. Vielleicht war es auch eine Figur? Nicht zu erkennen. »Mach mit dem Teil hier bitte dasselbe wie mit der Buchstabenkombination. Gute Arbeit! Das könnte wirklich eine brauchbare Spur sein.«

Doc Stich trat zu ihnen. »Die anderen Ergebnisse maile ich dir morgen zu, sobald ich sie habe.«

»Pro tebe«, murmelte Struller nachdenklich und bemerkte, dass ihm die hübsche Assistentin daraufhin einen interessierten Blick zugeworfen hatte, den er allerdings nicht richtig deuten konnte.

Sie senkte sofort ihren Blick und zeigte auf die Fotokamera. »Und ich maile Ihnen die Fotos zu.«

Struller nickte, verabschiedete sich und war froh, als er kurz darauf frische Luft in seine Lungen pumpen konnte. Eiskalte Luft zwar, die seine Lungenflügel klirren ließ, aber zumindest roch sie nicht nach Tod und Verbrechen.

»Arielle ist eine Tschechin«, flüsterte Struller, rutschte vorsichtig zum Auto, wo er sich eine Kippe ansteckte. Rauchen kann tödlich sein, stand auf der Packung. »Ja, genau. Unter anderem«, zischte er und startete den Wagen.

»Mist«, fluchte Struller, denn auf dem überfüllten Parkplatz des Polizeipräsidiums fand er wieder keine freie Parktasche. Für seinen wuchtigen Peugeot-Kombi schon gar nicht. Wütend hämmerte er aufs Lenkrad. Er durfte gar nicht an die Pläne denken, die gerüchteweise über den Flur waberten, dass demnächst ein weiterer Gebäudeflügel angebaut werden sollte. In der Umbauphase würden die Kollegen ihre Dienstwagen sicherlich auf dem Jürgensplatz stapeln müssen.

Kurz überlegte Struller, seinen Wagen einfach irgendwo auf einer Sperrfläche abzustellen. Er konnte ja immer noch behaupten, die Handbremse habe sich gelöst und der Wagen sei aus einer Parktasche herausgerollt. Aber die von der Verwaltung hatten sein flexibles und die Verkehrsregeln weit auslegendes Parkverhalten bereits zweimal angemahnt und mit Entzug der Parkerlaubnis gedroht. Beim nächsten Mal würden sie ihm vermutlich die Reifen zerstechen.

»Aha«, murmelte Struller, denn er hatte eine Art freien Parkplatz gefunden.

Wenn er mit seinem Wagen schräg rückwärts am rot-weiß gestreiften Poller vorbei vor das Husarendenkmal fahren würde, das groß und mächtig den Jürgensplatz zierte, müsste das eigentlich in Ordnung sein.

Grob.

Im weitesten Sinne.

Rasant brachte Struller seinen Dienstwagen in Position und schlug das Lenkrad wild kurbelnd nach links ein. »Sollte klappen«, knurrte er mit halssteifem Schulterblick.

Okay, noch ein paar graue Beamte des Finanzministeriums hinten vorbeigehen lassen, die wie immer dann aus dem Nichts auftauchten, wenn man sie nicht gebrauchen konnte. Und noch eine Kollegin, die mit dem Fahrrad zum Dienst kam. Ein hübsch durchgefrorenes, rotes Näschen hatte die Kleine, die er schon mal auf der Wache Bilk gesehen hatte. Hieß die nicht irgendwas mit Anne? Oder Anna?

»Oder Ann-Marie?«

Ein in der Fahrspur des Parkplatzes wartender Kollege hupte ihn aus seinen Gedanken.

»Ja, ja«, brummte Struller und setzte schwungvoll zurück in die Nische.

Rums.

Verdammt. Das Fahrzeugheck war gegen das Denkmal getatscht. Mann, das war aber auch alles unübersichtlich. Und durch die dämlichen, beschlagenen Scheiben war ja auch kaum was zu sehen. Scheiß Winter! Struller stieg aus und ging ums Fahrzeug herum.

Die frische Delle im Heck war auch für ihn unschwer auszumachen. Doof. Rückwärtsfahren war einfach nicht sein Ding.

»Au, Backe!«

Er entdeckte auf dem Boden einen durch die Einflüsse des Wetters mit grün-blauer Patina überzogenen Pferdekopf. Das Heck hatte den Pferdekopf, der nun hinter dem Fahrzeug auf dem Boden lag, vom Husarendenkmal getrennt. Hastig blickte Struller sich um. Hatte ihn jemand gesehen? Das Beste wäre, er würde einfach abhauen …

»Na, Struller! Klasse gemacht. Das wird teuer!«, applaudierte ihm ein Kollege der Leitstelle gibbelnd mit tiefer Stimme.

»Klaus, äh, hallo! Das Pferd war schon tot«, erklärte Struller und erschreckte sich ein zweites Mal.

Beim Aufprall hatten sich Teile des Denkmals in den Verschluss der Heckklappe gebohrt, die jetzt mit einem Ruck nach oben aufsprang und krachend eine weitere Macke ins Reiterdenkmal schrammte.

»Mann!«

Hastig sprang Struller in den Wagen, setzte ein Stück vor und versuchte dann wieder, die Heckklappe zu schließen. Was nicht ging. Das komplette Schloss war verbogen. Die Klappe sprang immer wieder auf. Da half nichts: Das Ding musste in die Werkstatt.

Er widmete sich wieder dem Denkmal. Vielleicht ließ sich der Pferdekopf mit starkem Sekundenkleber wieder ankleben. Bevor irgendwer wegen der Sache ein Fass aufmachen würde …

Sein Blick ging hinauf zur ersten Etage, wo sich ein Fenster geöffnet hatte. Puh. Dort tuschelten interessiert zwei Kollegen der Direktionsführungsstelle. Einer deutete mit dem Finger auf ihn und dann auf das beschädigte Denkmal. Verdammt, wie schnell sich schlechte Neuigkeiten rumsprachen!

Mussten die denn nicht arbeiten?

Fluchend hob Struller den grünen Pferdekopf auf und warf ihn in den Kofferraum. Ihm selbst würde man den Kopf schon nicht abreißen, nahm er mal an, und fuhr Richtung Werkstatt.

Der Lederball kam von rechts außen. Als Bogenlampe. Aber scharf getreten. Verdammt, an Freund und Feind vorbei. Ein bisschen zu hoch. Aber sonst perfekt. Jensen stand fast Ecke Sechzehner. Er reckte sich und stoppte die Pille mit der Brust. Herrliche Annahme. Von seiner Brust tropfte der Ball vor ihm auf den Boden. Gleich zwei Verteidiger warfen sich ihm entgegen. Jetzt musste es schnell gehen. Er legte seinen Körper schräg, holte mit rechts aus. Traf den Ball voll.

Ein Knaller! Wie eine Rakete schoss die Pille Richtung gegnerisches Gehäuse. Der Torwart machte sich lang, reckte sich, streckte seine Finger.

Knochentrocken rauschte der Ball an seinen Fingerspitzen vorbei oben rechts in den Winkel. Unhaltbar. Noch im Fallen wurde Jensen bewusst, dass er Großartiges vollbracht hatte. Und als seine Mitspieler ihn jubelnd unter sich begruben, rauschte das begeisterte, rhythmische Klatschen der fantastischen Fans in seinen Ohren.

Und wollte nicht aufhören.

Klatsch, klatsch, klatsch.

Es hörte einfach nicht auf. Einfach. Nicht. Auf.

Jensen schlug die Augen auf. Verdammt. Das war … Er wischte sich übers Gesicht. Keine Mitspieler hatten ihn unter sich begraben. Im Gegenteil: Sogar die Bettdecke hatte er im Traum weggestrampelt.

Und was da klatschte, waren keine dankbaren Ultras, sondern sein Handy und das sich ständig wiederholende Klatsch-Intro zu Don’t let me be misunderstood von Santa Esmeralda.

Er drückte eine Taste und keuchte: »Jensen.«

Am anderen Ende räusperte sich der Gesprächsteilnehmer hörbar erleichtert.

»Herr Jensen. Milos Kopecky hier. Der Kollege aus Tschechien. Der Vater von Jara. Herr Jensen, ich brauche Ihre Hilfe. Dringend. Können Sie kommen? Sofort kommen?«

»Ist der Platz neben Ihnen noch frei?«, fragte eine ältere Dame mit Gehhilfe.

»Nein«, bellte Struller und ruckelte seinen Körper in die Mitte der Zweierbank.

Die Dame blinzelte erschreckt und humpelte weiter nach hinten durch. Struller war bedient. Aber so was von!

»Der Wagen muss hierbleiben«, hatte der Mann in der Werkstatt festgestellt. »Das Schloss ist kaputt, müssen wir austauschen. Haben wir nicht da, müssen wir bestellen. Wird zwei bis drei Wochen dauern.«

»Aha«, hatte Struller geantwortet und festgestellt, dass die in der Werkstatt nicht nur keine Ersatzteile, sondern auch keine vollständigen Hauptsätze hatten.

Auch egal. Hatte er gedacht.

»Wir haben kein Ersatzfahrzeug«, hatte der Mann der Fahrwache dann erklärt.

»Ich will kein Ersatzfahrzeug. Ich will ein Auto!«

»Haben wir nicht.«

Struller hatte gar nicht lange diskutiert, sondern sich gleich an Hengstmann gewandt. Sollte der auch mal was tun für sein Gehalt.

»Das Husarendenkmal beschädigt? Beim Rückwärtssetzen? Oh, Gott. Wenn Sie wenigstens nur einen umgefahren hätten, aber das Denkmal …«

Blass war er geworden, sein Chef. Und hatte eine sehr unangenehme Sache angesprochen. »Ist das nicht Ihr vierter oder fünfter Unfall?«

»Ich bin sehr viel unterwegs.«

»Und immer beim Rückwärtsfahren, oder?«

»Rückwärts, vorwärts«, murmelte Struller.

»Ich werde mich um die Sache kümmern, aber ein neues Fahrzeug kann ich mir nicht aus den Rippen schneiden. Erst mal müssen Sie auf Bus und Bahn zurückgreifen.«

Tja. Und da saß er nun. In der Bahn.

»Oh Gott«, rutschte es über seine Lippen.

Ihm gegenüber saß ein grobschlächtiger Kerl mit abstehenden Ohren, der mit entspanntem Blick genüsslich tief in der Nase bohrte. Daneben hockte zusammengesunken ein angetrunkener Banker in schicken Klamotten, der unentwegt seine schwarze Aktentasche anstarrte, die auf seinen Knien lag.

»Du bist schwanger?«, fragte das Mädchen in der Reihe hinter ihm die Freundin neben sich.

»Ja. Stell dir vor. Zwillinge.«

»Toll. Und wer ist der Vater?«

»Beim ersten der Tommy. Beim zweiten weiß ich es nicht genau.«

Struller seufzte innerlich und hörte weg.