Unbekannt Verzogen - Thorsten Nesch - E-Book

Unbekannt Verzogen E-Book

Thorsten Nesch

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Beschreibung

"Die Drei sind echt verrückt, aber eins muss ich ihnen lassen, die lassen sich von nichts und niemandem unterkriegen. Ihre Geschichte ist Punk und RocknRoll, fun und crazy, mit viel Freundschaft im Blut. Die Story geht nach vorne, nur nach vorne. Geht mit, lauft mit, tanzt mit!" - Saheed Schuster (Sänger der Band Gossen Posse)

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Thorsten Nesch

Unbekannt Verzogen

von Gitarren, Girls und Geiern

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1 – Rote Karte, und die Saison hat noch nicht mal angefangen

2 – „Drei Monate SKY-TV umsonst und Übernahme der Umzugskosten“

3 – Sollen wir jetzt sieben Tage chillen die Woche, oder wie?

4 – Häuptling Deutschland-Socke, der Robocop von Hangover

5 – Ein Mann liegt im Fahrstuhl und schläft

6 – Überraschung! Heiko, unser Sozialarbeiter

7 – Pausen Posse samt Smartphonediebstahl

8 – Und der Name unserer Band ist Red Hot Chillout Pussies?

9 – Trödel Tonys Armee der Verdammten

10 – Der große E-Gitarren Bieter Marathon

11 – Das unbeschreibliche Gefühl in einer Band zu sein

12 – Den hatte ich doch total vergessen

13 – Erste Probe, Proberaum: Wohnungszimmer

14 – Wie im Maschinenraum einer Steampunkstadt

15 – Der große Samstag Nacht Party Skandal

16 – Extrem-Songtexten am Sonntagnachmittag

17 – Volle Lautstärke nach vorn im Proberaum

18 – Wunden lecken und Konkurrenz abchecken

19 – Das monatliche Gespräch mit unserem Familienhelfer

20 – Eine unangenehme Überraschung im Proberaum

21 – Und folgende 8 Bands spielen um den Opener für Gossen Posse:

22 – Oberschenkelkneten und der Weg ins Loch

23 – Generalprobe live im Loch mit Publikum

24 – Wenn der Proberaum zum zweiten Wohnzimmer wird

25 – Von wegen Tote Hose in der Weißen Rose

26 – Anerkennung von links und Neid von rechts

27 – Wie ein Flugzeugträger in der Nacht

Bitte nimm Dir kurz Zeit,

UNBEKANNT VERZOGEN

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Danke:

Impressum neobooks

1 – Rote Karte, und die Saison hat noch nicht mal angefangen

„Das ist ein Akkord, das ist noch einer, hier ein dritter, jetzt gründe eine Band“

- Sideburns (Punkfanzine)

„Wir mögen ihren Sound nicht, und die Gitarrenmusik ist auch nicht das Wahre“

- Decca Records, Ablehnungsschreiben an die Beatles 1962

„Ich meine, hey, Hauptsache, es rockt“

- Saheed Schuster (Sänger, Gossen Posse)

„Ey, Anecken“, schreit Jamaika hinter mir her.

Ich werfe einen Blick über meine Schulter und sehe, wie sie und W-Lan sich auf ihren Rädern abstrampeln, um mich einzuholen.

Ein Auto hupt. Meint wohl mich, weil ich auf der schmalen Straße zu weit in der Mitte fahre. Ich zeige dem Honk im roten Golf den Finger.

„Warte, Anneke... Anneke!“, ruft W-Lan meinen richtigen Namen.

Das machen meine Freundinnen eigentlich nur, wenn es ernst ist. Klar, bin ich noch sauer, so richtig sauer. Aber wenn ich drüber nachdenke, könnte ich heulen. Und deshalb trete ich noch stärker in die Pedalen. Damit der Fahrtwind die aufsteigende Hitze in meinen Augen kühlt.

Blöde Wettbergen-Punze. Wer schon Merle heißt! Ich bereue überhaupt nicht, dass ich ihr eins aufs Auge gegeben habe, aber dass ich mich schon wieder habe so provozieren lassen, das nervt mich. Die letzten drei Sekunden, bevor ich explodiere, was da immer in mir abgeht ...

Irgendwie hat Markus, der Trainer, ja Recht. Was okay ist gegen eine gegnerische Kreisläuferin, das ist nicht okay gegen die eigene Torhüterin! Kein Teamgeist, meint er, ich wäre zu aggressiv. Sogar für Handball.

Ihr Auge wird zuschwellen, da bin ich mir sicher. Dann sieht sie nur die Hälfte. Müssen die linken Außen im nächsten Spiel eben besser verteidigen.

Die habe ich ganz schön blöde stehen lassen. Sollen die doch sehen, wie die ohne mich klarkommen. Ohne mich umzudrehen, bin ich gegangen. Ich bin rasch aus der Halle marschiert, aber nicht gelaufen, mit Stil. Die werden mir alle hinterher geglotzt haben, auch der Trainer. Obwohl der nichts dafür kann. Der musste mich in die Wüste schicken. Immerhin eine Wüste, wo ich die Besserwettbergers nicht mehr sehen muss.

Ach, ich hätte mich doch noch einmal umschauen sollen. Dumme Hackfressen ernten. Geschnattert haben sie hinter mir, aber das wurde immer leiser. Dann bin ich durch den Gang in die Umkleide, hab mir meine Tasche geschnappt, und erst danach bin ich zum Fahrrad gelaufen. Bin losgedüst, mit einem höheren Gang als nötig, damit ich mich anstrenge, Energie verbrauche, negative. Dazu der Wind im Gesicht.

Ich frage mich, was ich in so einem Moment mache, wenn ich älter bin und ein Auto habe? Vollgas, Seitenfenster runter und Kopf raushalten?

Ah, vielleicht wird es auch ein Motorrad, und dann den Helm weglassen.

An der Hamelner Chaussee muss ich anhalten. Feierabendverkehr stadtauswärts, raus aus Hannover. Ohne die Fußgängerampel zu drücken, habe ich keine Chance, lebendig rüber zu kommen. Ich inhaliere mit offenem Mund die Autoabgase. Mein Puls pocht im Hals, als wäre er zu eng für mein Blut.

Jamaika und W-Lan holen mich ein. Mit gesenkten Köpfen geben ihre Lungen ein Pfeifkonzert.

Wir stehen an der Ampel und schweigen. Kommt nicht oft vor bei uns, dass wir schweigen, aber die beiden wissen genau, wann sie bei mir die Klappe halten müssen. Die kennen das. Lassen mich erstmal runterkochen.

Sie schnappen nach Luft. Die sind auch ziemlich überstürzt los. Gleich nach mir. Meine Freundinnen.

W-Lan hat noch nicht mal ihre heiß geliebten Chucks zugebunden, heute lila links und rechts schwarz. Die Schnürsenkel baumeln bis auf die versiffte Gehsteigplatte. Jamaika hat ihr Possen-Shirt falsch rum an. Sie schaut als Erstes hoch. Also stecke ich es ihr.

„Glaubst du, Waschzettel am Kinn wird der nächste Fashionhit?“

Sie schielt an ihrer Nase runter, und blitzschnell verschwinden ihre Arme in den kurzen Ärmeln, und sie dreht ihr Shirt herum.

„Sagt die Richtige“, keucht sie.

„Wieso?“

„Guck dich mal an!“

Fuck, ich habe mich nicht mal umgezogen. Ich trage noch das Trikot, rot-weiß, super, in der Hose habe ich einen Arsch wie eine Abrissbombe.

„Warum habt ihr nichts gesagt?“

„Wollten wir ja!“

„Du bist einfach weitergefahren, immer weitergefahren“, auch W-Lan kann wieder halbwegs normal atmen.

„Ihr lasst mich rumfahren, in den Klamotten, bei solchen Freundinnen brauche ich keinen, der mich mobbt.“

„Wie ich eingangs erwähnte ...“, W-Lan äffte gerne Lehrersprüche nach, “wir haben gerufen, wie die Irren.“

„Ja, aber was!“

„Deinen Namen! Was sonst?“

„Trikot, Trikot! Das hättet ihr rufen sollen, dann wäre mir das aufgefallen!“

„Ich fahr doch nicht hinter jemandem her, der ein Trikot trägt, und rufe Trikot-Trikot! Dann könnte ich auch Fahrrad-Fahrrad rufen. Da glaubt doch jeder, ich hätte einen völligen Dachschaden!“, sagt Jamaika und tippt sich dabei an die Stirn.

„Stimmt ja auch.“

Klatsch, hab ich Jamaikas Faust auf dem Arm. Ich versuche, ihr eine zurückzugeben, aber damit hat sie natürlich gerechnet, und wir lachen, weil ich den Knutschfleck verdient habe. So nennen wir die blauen Flecken auf unserem Oberarmen, die wir uns so geben, aus allen möglichen Gründen. Manchmal auch ohne Grund.

Grün.

Wir radeln los, nebeneinander, und saugen die notgeilen Feierabendblicke der Männer aus den Autos auf, und auf halbem Weg nimmt ein verschwitzter Anzug in einem Mercedes mit Kindersitz sogar seine Sonnenbrille ab, und ich stelle mich auf meine Pedalen und schwenke meine Abrissbombe.

Hupen.

Lachen und drei Stinkefinger.

2 – „Drei Monate SKY-TV umsonst und Übernahme der Umzugskosten“

Das Schild prangt auf jedem Dach. Wer möchte da nicht gleich in meine Nachbarschaft ziehen?

Gut, keiner, der nicht unbedingt muss.

Die Übernahme der Umzugskosten ist auch eher ein Witz. Wer hierhin kommt, der hat nicht mehr viel. Was wollen die da übernehmen? Die Busfahrkarte?

Ich wohne in Mühlenberg, am Westrand von Hannover, einer Art Trabantenstadt. Und – ob du es glaubst oder nicht – trotz dieses Wahnsinnsangebots sind bei uns in der Straße noch eine Menge Wohnungen frei. Tendenz allerdings sinkend.

Wir sitzen auf unserer Bank am Marktplatz, gegenüber der Bücherei. Unsere Räder mit den Sporttaschen lehnen an der Hauswand.

Auf dem Marktplatz kriegt man alles mit, was im Viertel passiert, und man kann gut über die Nerds von unserer IGS lästern. Und wenn wir nicht lästern, dann chillen wir einfach. Auf die Bank fläzen, Augen in den Himmel, und Musik an, Musik! Musik! Laut natürlich, so laut, dass du nicht mehr merkst, ob der Beat, der dir durch den Kopf knallt, von den Drums oder deinem Herz kommt. Energie, die durch deinen Bauch in die Beine fährt, bis du anfängst zu zucken und zu tanzen und alles andere um dich herum vergisst. Manchmal sehen wir ganz schön albern aus, wie wir da mit unseren Steckern im Ohr rumzappeln, meint Jamila, wenn sie mal wieder einen Anfall von Vernunft hat.

Mir ist das egal. Wenn ich Musik höre, vergess ich, was die anderen von mir denken, vor allem bei der Gossen Posse. Und bei manchen Songs werde ich einfach weich, und dann kullert mir auch schon mal eine Träne runter, na und? Die sind der Knaller und Saheed ist ein Gott von einem anderen Planeten.

Mittlerweile bin ich wieder abgekühlt. Überhaupt hat die Bank etwas Beruhigendes, zumindest nachmittags, wenn die Biersäufer, die erst gegen Abend kommen, noch nicht da sind. Neben unseren Füßen kleben die Kaugummibatzen der letzten zwei Jahre, und im Holz haben wir mehr als eine flüchtige Liebe verewigt und verflucht.

W-Lan sitzt links von mir im Schneidersitz und checkt auf ihrem iPhone die Messages bei Chitchatflat. Jamaika entknotet sich die Haarsträhnen, die sich bei der Fahrradfahrt verheddert haben. Ihre Haare glänzen schwarz in der Sonne, arabisch-schwarz. Was würde ich für ihre Haare geben.

„Das war auf jeden Fall voll korrekt von euch, dass ihr auch raus seid“, sage ich.

„Soli, ist doch klar“, meint Jamaika, die eigentlich Jamila heißt, und, während sie redet, konzentriert sie sich weiter auf ihre Haarspitzen, „Wie wäre das denn gewesen? Du gehst, und wir so: Tschö? Lasst uns ne Runde Siebenmeter werfen! Geht doch gar nicht.“

„Wie auch? Ist langweilig ohne Torfrau.“

Wir lachen dreckig.

„Du hast nur getan, was wir gedacht haben“, sagt W-Lan.

„Yeah“, sage ich, aber ich weiß, das stimmt so nicht, und sie weiß das auch, und sie weiß, dass ich weiß, dass sie weiß, dass ich es weiß. Verstanden? So ist das zwischen echten Freundinnen.

Sie heißt natürlich auch nicht W-Lan, sondern Lan. Ihre Eltern sind aus Vietnam, und ihr Name bedeutet etwas Hübsches, das hatte sie mir mal gesagt, aber ich habe es vergessen. W-Lan liegt bei ihr sehr nahe, denn sie hat immer die neuesten Smartphones mit Internetflat. Ihre Eltern legen auf ihre Zukunft großen Wert. Und sie hat Zukunft. Wenn eine von uns, dann sie. In der Schule fliegt ihr alles zu. Vielleicht übt sie zu Hause, anstatt zu schlafen. Denn wir hängen ja dauernd zusammen rum. Wann sollte sie sonst büffeln?

Der Asia-Shop ihrer Eltern in der Innenstadt geht wohl ganz gut. Sie arbeiten jeden Tag so lange, wie es gesetzlich erlaubt ist. Und sie sind stolz darauf, dass sie vor einem halben Jahr den Absprung aus dem Mühlenberg geschafft haben. Jetzt wohnen sie unten in Bornum, gleich um die Ecke, aber ganz anders, da steht ein Einfamilienhäuschen neben dem Anderen. Gutbürgerlich, darauf sind sie stolz, die Eltern. Gutbürgerlich über Nacht. Aber W-Lan muss jetzt immer ne Strecke fahren, bis sie hier ist, und zum Handball ist es noch weiter für sie. An sowas denken die Eltern natürlich nicht.

Klar, W-Lan hat jetzt auch ein eigenes Zimmer, wo wir öfter zu dritt abhängen, aber meistens treffen wir uns doch lieber hier am Markt. Hier ist einfach mehr los. Und die Nachbarn in Bornum gucken immer seltsam, wenn wir kommen. Dann schon lieber Mühlenberg, da fallen wir nicht so auf.

„Ich glaube, die Wettberger Weiber wollten uns einfach aus der Mannschaft raushaben, alle drei“, sage ich.

„Geht ja auch nicht anders“, sagt W-Lan.

Und Jamaika bestätigt, „So eine Freundschaft kennen die gar nicht.“

„Die wollen unter sich sein, und sie sind eifersüchtig, weil Markus immer mit Jamaika geflirtet hat, stimmts?“, frage ich zum Ende hin W-Lan, und sie nickt und guckt grinsend an mir vorbei zu Jamaika.

„Hat er überhaupt nicht“, protestiert die gleich und viel zu laut, „du spinnst, ihr spinnt.“

„Nee, echt. Der guckt dich immer voll geil an.“

„Quatsch.“

„Klar!“

„Nein!“

„Sabber-Sabber...“

„Hör auf!“, und sie schubst mich, so dass ich mit einer Schulter W-Lan anrempele, und sie gibt's mir zurück. Und ich fliege wie eine Flipperkugel zwischen den beiden hin und her, drei, vier Mal, bis ich jeweils einen Arm um die Hälse meiner Freundinnen schlinge. Wir lachen.

„Ihr seid die Besten“, sage ich.

„Und du solltest am besten besser auf dein Outfit achten“, sagt Jamaika.

Damit spielt sie auf mein Trikot an.

„Ach, ist der Ruf erst ruiniert ...“, und die beiden fallen in unseren Spruch ein, wie immer, und mit den Armen deuten wir eine La Ola-Welle an, „lebt es sich ganz ungeniert!“

Ein Ü40-Ehepaar in Joggingklamotten – beide Arme gestreckt von den prallen blauen Einkaufstüten – schaut zu uns herüber.

„He, was gibt’s zu glotzen?“, sage ich.

Sie gucken weg, nach vorne, gehen weiter, flüstern.

„Wer flüstert, der bettnässt.“

Getuschel.

„Hab ich gehört!“, rufe ich.

Keine Reaktion.

3 – Sollen wir jetzt sieben Tage chillen die Woche, oder wie?

Nicht, dass ich grundsätzlich etwas gegen das Chillen hätte, nein-nein, und wahrscheinlich könnte ich das auch einige Wochen durchhalten, aber 365 Tage im Jahr? Bis zur zehnten Klasse? Ich weiß nicht. Da steigt in mir irgendwie das Bild von dem Mammut auf, dass man im Eis gefunden hat. Das hat auch gechillt. Lange gechillt.

„Lasst uns mal überlegen, was wir jetzt dienstags und donnerstags immer machen“, sage ich.

„Chillen“, kommt es in Stereo zu mir.

„Außer chillen.“

„Was ist falsch mit chillen?“, fragt Jamaika.

„Irgendwann hast du alle Knoten aus deinen Haaren herausgedreht.“

„Na und?“

„Sollen wir uns dann gegenseitig lausen?“

W-Lan tut so, als picke sie Läuse aus meinen Haaren und steckt sie sich in den Mund wie Erdnüsse. Ich spiele mit, kratze mich unter dem Arm, gucke so bescheuert wie möglich und tue, als popele ich in meiner Nase. Leider guckt keiner. Jamaika klatscht in die Hände vor Lachen.

„Ich meine ja nur, das kann irgendwann öde werden“, sage ich.

„Dann ist es früh genug, sich um das Problem zu kümmern“, sagt Jamaika, legt den Kopf schief und kämmt sich mit gespreizten Fingern.

Jetzt wurmt mich die Sache mit dem Handball ein bisschen. Ich hätte Merle genauso gut nach dem Training eins verbraten können. Aber das hätte ich dann auch nicht mehr gemacht, weil ich bis dahin runtergekocht wäre.

„Und die Saison hatte noch nicht mal angefangen“, ich stampfe mit meinen weißen Nikes auf. Erst zwei Wochen alt, strahlend weiß draußen in der Sonne, gleißend hell. Auf die hatte ich ein halbes Jahr gespart. Ich stehe auf und schlendere zu meinem Fahrrad.

Hinter mir höre ich Jamaika, „Tschö, bis morgen, war super mit dir hier ...“

„Ich fahre doch nicht einfach so“, sage ich, „ich hole mir meine Sonnenbrille.“

„Bring meine mit, in der Außentasche.“

„Meine auch“, sagt W-Lan.

Auch meine Brille ist in der Außentasche. Auf halben Weg werfe ich erst Jamaika und dann W-Lan die Brille zu. Beide fangen sie unter Protest.

„Ihr habt so schlapp ausgesehen“, sage ich.

Wir setzen uns die Sonnenbrillen auf, und meine Welt tönt sich grün. Die habe ich im Juni draußen vor dem LIDL gefunden. Mal etwas anderes: Grün.

W-Lan wischt mit dem Zeigefinger übers Display, die Thumbnails purzeln nach oben, und sie öffnet einen Browser, „Mal sehen, was so geht diese Woche ... Im Jugendzentrum gibt’s ne Aktion ...“

„Gemeinsam kochen?“, fragt Jamaika.

„Gemeinsam runterkochen“, sage ich.

„Geocaching für Mädchen.“

„Was'n das?“, frage ich.

„Also, bei uns Menschen gibt es Jungen und Mädchen, und Mädchen unterscheiden sich ...“

„Reiz mich nicht, ich habe mich gerade beruhigt!“

„Geocaching. Weißt du nicht? Schatzsuche mit GPS.“

„Was für Schätze? Mit dunkelblauen Augen und Sixpacks?“

„Ja, genau, Anecken.“

Jamaika vermutet eine wahrscheinlichere Variante, „Wohl eher eine Tüte Kekse.“

„Selbst gebacken.“

Das kann ich mir gut vorstellen in der Weißen Rose, wie unser Jugendzentrum heißt, und ich sage, „Och nee. Die Tote Hose ist öde.“

„Außerdem hängen da die ganzen Penner aus der Schule rum.“

„Und Sozialarbeiter.“

„Iiiiieeeh!“, machen wir alle drei gleichzeitig und kreuzen die Finger wie zur Vampirabwehr. Gelächter.

„Ey, geil!“, ruft W-Lan.

„Was denn?“

„Guckt mal, guckt mal, guckt mal! Hier, auf der PRINZ-Seite: da findet n Musikwettbewerb statt: Nachwuchsbands können einen Song einreichen. Danach gibt’s nen Konzertbattle, und wer den gewinnt, wird VORBAND BEIM GOSSEN POSSE-OPEN AIR AUF DER PARKBÜHNE!“

„Wie geil ist das denn?“, stöhne ich.

„Ey, da kann man die Gossen Posse treffen, hinter der Bühne“, ergänzt Jamaika.

„Und anschließend ist Party.“

„Mit anfassen!“, kiekse ich absichtlich.

„Das ist ...“

„Ich sag nur ...“

„GOSSEN POSSE!“, rufen wir aus.

Vor einem Jahr hatte W-Lan ein Video von ihnen auf YouTube entdeckt, seitdem waren wir geradezu infiziert von ihrer Musik. Ihr Live-Mitschnitt war der Hammer. Er ist das Letzte, was ich vor dem Einschlafen höre, und das Erste morgens beim Zähneputzen. Und ich glaube, den beiden geht es genauso.

„Darauf eine Ziggy“, sagt Jamaika.

Ich nicke. Und sie zaubert eine krumme Filter aus ihrer Hosentasche und eine Packung Streichhölzer. Mit einer geschmeidigen Bewegung reißt sie ein Streichholz an und zieht an der Zigarette, bevor sie das brennende Streichholz wegflitscht, wie ein abstürzendes Flugzeug. Es verglüht am Boden.

„Lasst uns da mitmachen!“, schlägt sie vor.

„Als was?“, fragt W-Lan.

„Als Groupies“, sage ich.

Wir lachen.

„Kommt!“, feuert uns Jamaika an.

„Wie denn? Wir sind doch keine Band“, sage ich.

„Na und? Dann werden wir eben eine!“

„Ist das wirklich Nikotin, was du da rauchst?“, fragt W-Lan.

„Ja!“, Jamaika ist Feuer und Flamme. Ich habe sie selten so gesehen. Sonst ist sie eher die Coole, „Los, was sagt ihr?“

„Meinst du, nur weil du ein bisschen Krach auf der Gitarre von deinem Stief machen kannst, reicht das?“

Einmal hatte sie ein wenig auf dem Ding herumgeschrammelt, als ich bei ihr war, nichts, was wirklich mit Musik zu tun gehabt hätte.

„Hey, besser als nichts, und wenn ich ihn frage, bringt er mir bestimmt noch mehr bei. Der will mich seit Tag Eins auf seine Seite ziehen, egal wie, Hauptsache punkten bei Mutti, wie gut er mit mir klarkommt. Der bringt mir die Nationalhymne rückwärts bei, wenn ich ihn frage.“

„Und du hast letztes Jahr in Musik ganz leuchtende Augen gehabt, Anecken, als du den Bass ausprobiert hast“, fällt W-Lan ein.

„Nee, da bin ich nur rot geworden, weil Popp-Ei mich auf einmal gelobt hat.“

Popp-Ei war unser Musiklehrer. Eigentlich hieß er nur Popp. Warum haben Lehrer oft so blöde Namen? Und bei seinen Unterarmen lag es nahe, dass wir ihn ... Ach, egal. Dass ich danach ein paar Stunden Bass-Unterricht bei Popp-Ei genommen habe, habe ich den beiden nie erzählt. Die Sprüche wollte ich mir sparen. Ja, ein bisschen war ich verknallt. Aber das binde ich doch keinem auf die Nase.

„Okay“, sage ich schließlich, „wir können ein bisschen Gitarre und ein bisschen Bass. Na und? Wir haben nicht mal eigene Instrumente. Und W-Lan? Was spielt die?“

„Ey, diez mich nicht!“, protestiert W-Lan.

„Und was spielst DU, W-Lan?“

„Schlagzeug, was sonst? Das geht einfach. Nur zwei Stöcke in die Hände und loskloppen. Wie im richtigen Leben.“

„Leute, das kann doch nur schiefgehen“, seufze ich.

Jamaika zieht einen Flunsch, als hätte sie ein ganzes Netz Zitronen ausgelutscht. Das macht sie immer, wenn sie nachdenkt. Sie runzelt dann ihr ganzes Gesicht, als hätte sie keine Knochen im Schädel, kräuselt die Nase und verzieht die Augenbrauen, dass ihre Stirn sich wellt wie die Fensterfolie an dem Golf von Henrik aus der Oberstufe.

Dann steht sie auf und geht in Luftgitarrenpose. Sie imitiert einen Gitarrenriff, in dem sie die Backen aufbläst und Luft und Zigarettenqualm durch die Schneidezähne pustet.