Und auf dem Berg, tabula rasa - Thilo Sauer - E-Book

Und auf dem Berg, tabula rasa E-Book

Thilo Sauer

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Beschreibung

"Sie sind die Zurückgelassenen, die Verbliebenen, die Irdenen. Mit der Sonne verschwand die Freude aus ihren Gesichtern und jede Farbe, jedes Rot, jedes Rosa, jeder Braunton, wich nach und nach einer Bleichheit. Mit ihren Tränen kam auch der Regen, der lange blieb und das Antlitz der Erde langsam veränderte." Ist es Ende oder Anfang? Die Sonne ist verschwunden und mit ihr alle Wärme, aber auch die Hoffnung, die Tränen und die Träume. Vergessen und verlassen wandern die Menschen durch die ewige Nacht, schleppen sich durch Schnee und Eis.

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Seitenzahl: 54

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Impressum

Text: © Thilo Sauer

Coverabbildung: © Aaron Sprawe

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Bücherstadt e.V. und des Autors unzulässig.

Herausgeber*in

Bücherstadt e.V.

c/o ghepetto GmbH & Co.KG

Pia Zarsteck

Ringstraße 5

28309 Bremen

[email protected]

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Lektorat

Aaron Sprawe

Korrektorat

Alexa Sprawe, Pia Zarsteck

Covergestaltung & Layout

Erika Unterpertinger, Pia Zarsteck

Weitere Mitwirkende

Michelle-Denise Oerding

Und auf dem Berg,

tabula rasa

Sie sind die Zurückgelassenen, die Verbliebenen, die Irdenen.

Mit der Sonne schwand die Freude aus ihren Gesichtern und jede Farbe, jedes Rot, jedes Rosa, jeder Braunton, wich nach und nach einer Bleichheit.

Mit ihren Tränen kam auch der Regen, der lange blieb und das Antlitz der Erde langsam veränderte.

Und so lange weinten sie. So lange, bis ihnen die Tränen an den Wangen festfroren, bis sich die Tropfen in die Haut gruben, bis die Kälte den Tränenkanal hochgewandert war (manche von ihnen wurden blind, als der Frost ihre Augen erreichte) und die Tränen versiegten, weil die Quellen zugefroren waren.

Allmählich lichteten sich die Schleier vor ihren Augen. Aus ihren Tränen wuchsen Eisblumen, die sich in Nebel auflösten und mit dem gefrierenden Atem mischten, der aus ihren Mündern strömte und sich zu einer pulsierenden Wolke verband.

Und während sie die Wolke betrachteten, wie sie immer wieder anschwoll, wurde ihnen etwas bewusst: Sie waren noch am Leben.

Noch? Oder wieder? War der Einbruch der Kälte nicht auch ein Einbruch in ihr Sein? Bedeutete das Verschwinden der Sonne nicht auch das Ende ihres Lebens? Sie erinnerten sich vage an ein Damals, in dem oft die Rede von einer Stunde Null war. Doch so sehr sie sich auch erinnerten, nichts glich einem Nullpunkt mehr als dieser Moment. Das Fehlen der Sonne löschte alles Vorherige aus, ließ es zum Teil einer fremden Welt werden, zu der sie vielleicht nie gehört hatten, an die sie sich nur erinnerten als einen Blick durch ein angelaufenes Fenster.

Die Sonne stand immer für das Leben, für den Lauf der Dinge, das Werden und Vergehen. Nachdem dieses Licht verschwunden war, mussten sie sich fragen, was das alles noch zu bedeuten hatte. Ob ihre Existenz noch Leben war oder ob sie nicht bereits in eine Form des Todes eingetreten waren, weil so etwas wie Leben gar nicht mehr möglich war ohne den Motor des Lebens.

Panik machte sich in den Blicken breit. Ihre Pupillen zitterten. Ihr Atem ging schneller und die Wolken, die aus den Mündern aufstiegen, verdunkelten sich.

Ihre Hände wanderten über ihre Körper, strichen über ihre Haut und versuchten, der Wärme nachzuspüren, die langsam entwich. Sie tasteten nach etwas, das sie früher Leben genannt hätten. Ihre Finger krallten sich fest und sie spürten ihr Herz, beinahe so als könnten sie es jederzeit aus der Brust nehmen. Doch mit jedem schnellen Schlag wurde die Wärme weniger.

Von außen fraß sich die Kälte in sie hinein. Jede Gefühlsregung wurde Klang: Das Zusammenziehen der Augenbrauen oder ein kleines Lächeln verursachten ein leises Knirschen, wenn die kristalline Haut sich verschob. Das Geräusch kratzte an der eisigen Stille der neuen Welt, die die Zurückgelassen zu ehren lernten. Und so unterdrückten sie fast jedes Gefühl, behielten einen starren Gesichtsausdruck.

Volvox humana

In einem sind sich alle Erzählungen einig: Als die Zurückgelassenen spürten, wie die Kälte sich auch in ihnen immer mehr ausbreitete, griffen sie wild um sich. Aus Angst, etwas zu verlieren, das sie doch so lange umgeben hatte, das ihr Inneres bestimmte: Wärme. Also begannen sie sich festzusaugen wie Parasiten, klammerten sich aneinander, ineinander. Sie rissen sich die schmutzigen Kleider von den Leibern. Die Schneeverwehten wollten nicht irgendeine Wärme, sie wollten diese lebendige Wärme ein letztes Mal fühlen – eine Erinnerung an die Sonne.

Sie rutschten immer weiter zusammen, drückten sich mit jeder Kraft, die ihnen blieb, aneinander, ineinander. Fragen quälten sie: Was soll ich jetzt tun, was wird aus mir? Jeder einzelne von ihnen wollte diese Fragen vergessen, indem sie sich selbst vergaßen.

Ihre Haut wurde weicher und ihre Hände kribbelten. Alles wurde still. Kein Wind, kein Tier. Jeder hörte nur seinen Herzschlag und dann den der anderen. Manche wurden langsamer, andere schneller. Es entstand ein Rhythmus, so einzigartig und komplex, dass kein Computer ihn berechnen könnte.

Die Schneeverwehten verschmolzen miteinander, wurden zu einem Organismus, zu einer Muschel. Ihre Rücken wurden zur Schale, die im Inneren das Wertvollste beschützte, was ihnen geblieben war.

Ihr Atem ging schneller, lauter. Er wurde zur Harmonie in der Symphonie der Zurückgelassenen. Jeder, der das hörte, verging für einen Moment.

Irgendwann erwachten sie wieder. Vielleicht war es der nächste Morgen. Die Wärme schien nun komplett verschwunden zu sein. Die Ereignisse der Großen Einheit, wie die Ereignisse fortan genannt werden sollten, schrumpften zu einem kleinen Punkt in ihren Herzen.

Sobald sie in einen tiefen Schlaf gefallen waren, löste sich das innige Band langsam auf. Sie wachten auf, wischten sich den Schnee vom Gesicht und den Tau aus den Augen. Sie blickten sich an und versuchten, etwas zu erkennen. Doch alles war ihnen plötzlich fremd.

Selbstmörder

Es war der Zeitpunkt des Zweiten Großen Schismas, die erste Trennung seit dem Einstürzen des Turms. Damals legte sich Staub auf die Zungen, heute setzten sich Schneekristalle in den Augen fest.

Die Wege der letzten Menschen trennten sich.

Beinahe alle gingen fort, doch einige rührten sich nicht – vermutlich über Tage. Sie saßen da, während die Schneedecke immer höher wuchs. Sie saßen da, den Blick mit glasigen Augen nach vorne gerichtet, in das Nichts, wo sie ihre Zukunft vermuteten. Wenn sie Hunger bekamen, nahmen sie eine Handvoll Schnee in den Mund und kauten mehrere Minuten darauf herum. Die meiste Zeit schwiegen sie, ließen jeden Laut vom Weiß verschlucken. Nur hin und wieder gaben sie einen Ton von sich, der zwischen einem leisen Summen und einem lauten Seufzen lag. Es klang, als würde jemand auf einem Klavier einen seltsam schwebenden Akkord anschlagen und ausklingen lassen. Dabei gesellte sich der Wind zu ihnen und türmte nach und nach ein Gebirge aus mikroskopischen Eiskristallen neben ihnen auf.