Und dann verschwinden - Monika Neun - E-Book

Und dann verschwinden E-Book

Monika Neun

0,0
16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine junge Frau zieht es in eine Stadt südlich der Alpen, sie will endlich existenzielle Erfahrungen machen. Sie mietet ein Zimmer, doch die Zeit in dem fremden Land vergeht, ohne dass etwas geschieht. Damit hatte sie nicht gerechnet. Einmal aber läuft ihr jemand über den Weg, ein seltsamer Typ, der Zigarillos raucht. Er bietet ihr an, bei ihm zu wohnen, in seiner riesigen Wohnung mit Klingelzug an der Badewanne und einem Klavier, auf dem schon Liszt gespielt hat. Sie zieht ein, sie belauern sich, und eines Abends steigen sie aufs Motorrad: Sie jagen durch die Nacht, berauscht vom Glück, am Leben zu sein wie nie zuvor. In Monika Neuns schön-traurigem Roman passieren die Dinge unvermutet; die Liebe, die Städte, die Wüste werden entdeckt. Genau wie das Theater, wo die junge Regisseurin antritt, »Drachen zu töten«. Irgendwann kommt der Verlust hinzu, wenn man einen Namen sagt, wo niemand mehr ist, oder die hohle Zypresse aus dem Garten der Kindheit verschwindet. Unvergessliche Bilder und wiederkehrende Erinnerungen verflechten sich zu einem sprachlich dichten Lebensbuch, einem Schatz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 142

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Monika Neun

Und dann verschwinden

Roman

atlantis

Für Dügg und für Yves

»Il n’y a rien de vrai dans le réel, rien.«

Marguerite Duras

Wir liegen auf dem Sofa. Ich bin fünfzehn Jahre alt. Durch die offene Tür kann ich ins Nebenzimmer sehen, wo Samuel am Klavier vor dem Fenster sitzt und Schubert spielt. Seine nackten Füße bewegen die Pedale. Er trägt einen farbigen Morgenmantel aus Seide, die Motive sind Blumen, Drachen oder Schmetterlinge, ich erinnere mich nicht mehr genau. Ich sehe ihm zu und denke an seinen einen Schneidezahn, der mit Gold umrandet ist und der mich so anzieht. Während er spielt, fallen ihm immer wieder die Haare über die Augen. Er ist siebzehn, das ist weit weg, und außerdem bin ich die Freundin seines Bruders, mit dem ich auf dem Sofa liege.

*

Samuel wird bald fortgehen, um eine große Reise zu machen. Er wird nach Amerika fliegen, aber der, den wir kennen, kommt niemals zurück. Niemand weiß, was dort mit ihm geschehen ist, und keiner wird es je herausfinden.

Eines Tages bringt ihn die Polizei zurück. Doch er ist nicht mehr er. »Wahrscheinlich Drogen«, sagen sie. Und wie ein Lauffeuer: »Hast du schon gehört? Samuel ist auf einem Trip hängen geblieben und hat den Weg nicht mehr zurückgefunden.« Er hat alles vergessen, er hat sich unterwegs verloren, und jetzt hört er Stimmen. Türklinken können sprechen und auch Katzen, man muss sie nur verstehen. Warum ist das, was sie sagen, so böse?

*

Jahre später. Es ist Frühling. Kalter Wind spielt in den Narzissen. Das Licht im Garten ist hell, so hell, es tut in den Augen weh. Der Apfelbaum reckt seine schwarzen Äste in den Himmel, und Lichtflecken fallen auf die Veranda. Rechts die Zypresse, ein Pinselstrich, der das Bild zerteilt. Weit weg hört man den Wind, der über die Hügel hinter den Häusern fegt.

Ich stehe an der Verandatür und sehe nach draußen. In der Hand eine Schale Tee, Dampf, der aufsteigt und sich im Morgenlicht windet. Ich sollte etwas tun, aber ich tue nichts. Es ist Vormittag, vielleicht zehn, vielleicht elf Uhr. Ich sehe nach draußen in den Garten, das ist alles.

*

Wir wollten alle weg. In der Ferne wartete etwas auf uns, das unser Leben zum Leuchten bringen, die drohende Dunkelheit verscheuchen würde.

 

Ich sehe in den Garten, ohne ihn zu sehen, im Kopf einen Film, der mir nicht mehr gehört. Ich spiele nicht mehr darin mit. Es ist eine Schauspielerin, die mich spielt. Sie ist plötzlich wieder in jenem Zug. Vom vielen Erinnern ist er ganz blass geworden. Die Polster im Schlafwagenabteil aus hellgrünem Cord, darauf ein Haufen Laken der Reisenden der letzten Nacht. Die junge Frau sitzt am Fenster und trinkt aus einem dampfenden Pappbecher. Der Kaffee vertreibt den metallenen Geruch der Nacht, der an ihr hängen geblieben ist. Niemand ist mehr im Abteil, alle anderen sind vor ihr ausgestiegen. Das Rattern der Räder, das den Schlaf aufwühlt, ist noch in ihrem Kopf, das Geräusch des Auf- und Zuschlagens der Tür, wenn jemand aufgestanden und gegangen ist. Sie ist müde. Es ist nicht das erste Mal, dass sie diese Reise macht.

Den Pappbecher in der Hand, schaut sie kurz auf ihren Schuh, ein roter Turnschuh, an einer Stelle ist die Gummisohle geschmolzen, sie hat eine kleine Delle.

 

Die Abteiltür wird aufgerissen. »In fünf Minuten kommen wir an.« Der Kondukteur bleibt stehen. Er ist unrasiert, seine Haare sind lustig zerzaust, die Uniform zerknittert. Er lächelt. »Danke«, sagt die junge Frau und schaut weg. Sie will diese Minuten für sich allein, hinter dem Fenster die Häuser mit den vielen Antennen auf den Dächern sehen, die staubigen Gärten vor dem Bahnwärterhäuschen, ein Mann im Unterhemd, der an einem Fenster raucht, eine Frau, die auf einem Balkon Wäsche aufhängt, das abweisende Weiß der Gebäude des Sackbahnhofs, das Gleiten des Zuges dahinein. Etwas hört dort auf, und etwas anderes beginnt, jedes Mal, als könne sie verschiedene Leben haben.

 

Wärme strömt zur Tür herein. Zwischen den Geleisen wachsen Blumen, Spatzen tschilpen. Menschen drängeln im Gang, Koffer werden heruntergehoben und herumgezerrt. Sie schlängelt sich hindurch und springt mit ihrem Seesack aufs Perron, ist schnell weg.

*

Er wartet in der Halle an eine Säule gelehnt, einen Fuß auf dem anderen. Wie immer barfuß in den Schuhen. Er lächelt nicht, raucht einen Zigarillo. Er freut sich nicht, oder er will cool sein. Oder beides. Sie steht vor ihm. Seine Augen, die krumme Nase. Er ist nicht schön, nein, aber sie findet ihn trotzdem umwerfend. Er lässt den Zigarillo fallen, drückt ihn mit dem Schuh aus. Er umarmt sie. Dann nimmt er ihren Seesack, wirft ihn sich über die Schulter. Sie verlassen den Bahnhof, treten hinaus in die Sonne. Ich kann sie durch die flimmernde Hitze über den Parkplatz gehen sehen, bis sie zwischen den Autos verschwunden sind.

*

So war es nicht, es war nicht der Anfang. Es gibt in meinem Kopf zwar ein Bild von der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof, aber dieses Bild kann auch von später sein.

Das Erste, woran ich mich mit Sicherheit erinnere, ist ein menschenleeres Haus. Darin habe ich ein Zimmer gemietet. Ein Bett, ein Stuhl, ein Schrank. Es ist ein ehemaliges Dienstbotenzimmer. Das einzige Fenster öffnet auf einen Lichtschacht.

Das Haus ist groß. Lange Korridore, eine dämmrige Bibliothek, Bücher in Regalen vom Boden bis zur Decke, Ledersessel, gebohnerte Holzdielen, die knarren, wenn man darübergeht. Sonst ist alles still. Die Jalousien vor den Fenstern sind geschlossen. Eine angelehnte Tür, ich gebe ihr einen kleinen Stoß. Dahinter ein verlassenes Kinderzimmer.

 

Manchmal kommen die Besitzer. Ein Mann, eine Frau. Die Atmosphäre zwischen uns bleibt kühl. Wir essen bei flackerndem Neonlicht in der Küche, die im Gegensatz zum restlichen Haus ärmlich eingerichtet ist, sitzen an einem wackligen Tisch mit Wachstuch, geometrische Muster darauf. Eine alte Spüle aus gesprenkeltem Stein, in die wir am Ende das dreckige Geschirr räumen. Am nächsten Tag ist es verschwunden. Das Fenster der Küche geht auf den gleichen Schacht hinaus wie mein Zimmer.

Morgens putzt für ein paar Stunden ein dünner schwarzer Mann im Haus. Die meiste Zeit steht er auf einer Leiter in der Bibliothek und staubt die langen Reihen Bücher mit einem Wedel aus Vogelfedern ab. Wir werden einander nicht vorgestellt. Eines Tages entdecke ich ihn zufällig auf einer meiner Wanderungen durch die Räume. Wir erschrecken beide. Er oben auf der Leiter, ich unter der Tür zur Bibliothek. Wir sprechen kein einziges Mal zusammen. Ich lese viel, in dem schmalen Bett in meinem Zimmer oder in einem Park auf einer Bank. Ich kenne niemanden und lerne niemanden kennen. Einmal setzt sich im Park jemand neben mich. Als er weggeht, lässt er eine Zeitschrift liegen. Es ist ein Pornoheft.

 

Die Zeit vergeht. Eine Vorstellung davon, was hier passieren könnte, hatte ich nicht. Dass nichts geschieht, damit habe ich nicht gerechnet.

 

Im Haus, in dem ich wohne, gibt es einen Lift. Er ist sehr alt und ganz mit rotem Samt ausgeschlagen. Er hat keine Türen, stattdessen ein Holzgitter, das man schließen muss, damit er sich in Bewegung setzt. Ich kannte bis jetzt nur die metallenen Lifte in Mietshäusern. In diesem Lift gibt es einen Spiegel und eine Bank, die auch mit Samt bezogen ist und auf der man ausruhen kann. Ohne nach oben oder nach unten zu wollen, fahre ich viele Male die zwei Stockwerke hinauf und wieder hinunter. Es ist der einzige Ort, an dem ich mich gut fühle in dieser Stadt. Hier glaube ich, dass es gut war, fortzugehen.

*

Fremd im eigenen Leben werden, das war vielleicht meine Absicht.

Eine Frau, die eines Tages im Lift auf einer meiner Fahrten nach oben und unten zusteigt, lädt mich zum Essen ein. Weil ich immer allein sei, sagt sie. Ich mag nicht aus Mitleid eingeladen werden und gehe trotzdem hin. Ich bin allein, so allein wie noch nie. Es ist nicht schlimm, nur neu.

 

Ich sitze eines Abends bei ihr am gedeckten Tisch, über dem ein Leuchter brennt. Sie hat ihren Sohn mit seinem Freund eingeladen. Im warmen Licht sehe ich die Hände seines Freundes schwarz verschmiert zwischen den Tellern und Schüsseln über das blütenweiße Tischtuch wandern. Ich sehe ihn dort zum ersten Mal. Wir essen. Wir reden zusammen. Manchmal lachen wir sogar.

 

Nach dem Essen gehen wir in eine Bar. Beim Dessert hat sie die beiden gefragt, ob sie mich nicht in die Stadt mitnehmen. Damit ich mal rauskomme. Ich schäme mich dafür.

 

Vor dem Fenster der Bar ein gepflasterter Platz, der das Licht der Laternen spiegelt, als habe es geregnet. Nur selten geht ein Mensch vorbei, biegt in eine der Gassen, die vom Platz abzweigen. Einmal ein Hund, der über den Platz trabt. Ich versuche, schnell auszutrinken. Ob ich noch etwas wolle? Nein. Ich glaube, sie sind fremd in diesem Teil der Stadt. Sie haben mich dorthin gebracht, wo sie auch nichts kennen.

 

Wer bringt mich nach Hause? Sie sprechen darüber, ohne mich anzusehen, als sei ich gar nicht da. Seine noch immer schwarz verschmierten Hände zünden sich einen Zigarillo an. Er sagt, er müsse sowieso in meine Richtung. Der andere ist erleichtert, reibt sich die Augen und verabschiedet sich. Ich schäme mich schon wieder, jetzt weil er mich fahren muss.

 

Die Rückbank im Auto ist heruntergeklappt. Überall liegen Dosen, Kartons, alte Lappen, Pappbecher, dazwischen ein Werkzeugkasten. Vielleicht ist er Mechaniker, denke ich. Er steckt den Autoschlüssel ins Zündschloss, dreht ihn aber nicht um und sagt stattdessen, wenn ich wolle, könne ich bei ihm wohnen. Er sieht mich nicht an, als er es sagt. Als ich nicht antworte, meint er, es sei viel näher. »Näher woran?«, frage ich. »An allem«, sagt er. Als ich nichts sage, startet er den Motor und fährt los.

Unter meinem Bein spüre ich etwas Hartes auf dem Sitz. Es ist eine Kassette. In krakeliger Schrift steht ein Name darauf.

»Magst du sie?«, fragt er.

»Ja, sehr.«

Er nimmt mir die Kassette aus der Hand und schiebt sie ins Gerät. Die Musik habe ich lange nicht gehört. Wir fahren durch leere Straßen, biegen manchmal ab. Selten ein anderes Auto. Dann gibt er Gas, überholt. Er fährt sicher und konzentriert. Wahrscheinlich fährt er gern.

Ein bisschen ist es wie in dem Lift, denke ich. Ich fühle mich plötzlich gut, in der Nacht und hier mit ihm, mit der Musik, die uns das Reden abnimmt. Lebendig. Deshalb bin ich hierhergekommen. Um lebendig zu werden.

 

»Hier ist es«, sagt er, hier wohne er. Büsche und Bäume wachsen in einem Vorgarten. Dahinter eine Tür mit Glasscheibe, eine hell erleuchtete Eingangshalle und eine gewundene Treppe, die oben im Nichts verschwindet. Wenn ich wolle, könne er es mir zeigen, jetzt, sagt er. Kurz zögere ich, dann öffne ich die Autotür und steige aus.

*

Ich bin sicher, dass er mit mir schlafen will. Ich bin fast sicher, dass ich nicht will. Ich stehe hinter ihm im Treppenhaus und betrachte seinen Rücken. Wir sind im Lift nach oben gefahren, beide haben wir, ohne zu sprechen, die Wände angestarrt. Jetzt stehen wir vor einer Tür. Ich höre das Geräusch der Schlüssel in seinen Händen und das Aufschnappen mehrerer Schlösser. Es hallt im Treppenhaus. Unsere Haustür hat nur ein einziges Schloss, und oft schließen wir nicht einmal ab. Es kommt mir mühsam vor und ein bisschen erniedrigend für ihn, weil es so lange dauert. Als die Tür endlich offen ist, macht er Licht und tritt zur Seite. Im Spiegel an der gegenüberliegenden Wand sehe ich uns nebeneinander stehen. Wir sind ganz klein. Alles andere ist groß, das Entree, der goldumrandete Spiegel und der Tisch davor. Er ist aus schwarzem Marmor und hat Beine, die unten in einem goldenen Löwenkopf enden. Überall auf dem Boden und auf dem Tisch verstreut Motorradhelme, Bücher, Papiere, Schachteln, Werkzeug, Kleider. Es riecht seltsam, fremd, ungelüftet, nach Stoff, oder vielleicht ist es der Geruch von Mottenkugeln, der Geruch von Mottenkugeln dieses Landes.

Er geht an mir vorbei, bleibt stehen, dreht sich zu mir um. Ich mache ein paar Schritte ihm nach in die Wohnung. An der Wand links neben dem Eingang hängt ein Bild. Es ist fast schwarz, doch durch die Ölfarbe schimmern die Umrisse eines Tiers. Als ich näher trete, erkenne ich einen weißen Stier. Unter dem Bild ein Sessel mit Perlmutt-Intarsien und Schnitzereien.

»Sieht aus wie ein Thron«, sage ich. Das Bild zieht mich an, aber ich mag es nicht sagen. Lieber spreche ich über den Sessel.

»Er ist alt«, sagt er.

»Wohnst du hier? Ich meine, ist es deine Wohnung?«

»Ja.«

Wir mustern uns. Die Männer, die ich kenne und die so alt sind wie ich, wohnen in Einzimmerwohnungen oder WGs, sie schlafen auf Matratzen auf dem Boden und stapeln ihre Habe in Obstkisten. An den Wänden ihres Zimmers hängt nichts, oder wenn, dann ist es das Plakat einer Kunstausstellung. Er wirkt nicht älter als ich. Ich verstehe ihn nicht, verstehe diesen Ort nicht.

»Komm.« Er dreht sich um und verschwindet durch eine Tür. Ich folge ihm ins Wohnzimmer.

 

Ein verblichenes Sofa steht darin, die Lehnen sind abgeschabt. Davor liegt ein fadenscheiniger Teppich, der einmal schön gewesen sein muss. Rechts ein Kamin, in dem Zeug herumliegt und an dessen Seiten zwei mit Muschelkalk besetzte Amphoren stehen. In einer steckt ein Baseballschläger. Einige Bilder an der Wand hängen schief. Links ein langer Schrank mit alten Büchern. Lauter Ledereinbände. Dazwischen ein paar zerlesene Taschenbücher, die nicht recht dazu passen.

 

Vor den beiden Fenstern hängen grüne Samtvorhänge. Einer hat sich aus der Halterung gelöst. Durch einen Spalt fällt das Licht einer Straßenlaterne herein. In einer Ecke ein Klavier.

 

Als er meinen Blick bemerkt, öffnet er den Deckel, klimpert ein paar Takte. »Tatata«, singt er dazu. »Liszt hat darauf gespielt.«

Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich wiederhole in Gedanken den Satz. Er besitzt ein Klavier, auf dem Liszt gespielt hat, als könnte ich ihn so verstehen.

 

Der Wecker meiner Großmutter fällt mir ein. Er war aus rotem Bakelit, mit einem goldenen Zifferblatt. Er stand auf ihrem Nachttisch, als sie starb. Es gab Streit um diesen Wecker, weil ich ihn haben wollte. Aber das erzähle ich ihm nicht.

 

Wir verlassen das Wohnzimmer und treten in einen Korridor. An den Wänden Gewehre mit Beschlägen aus silbernen Blumen. Er geht mir voraus, manchmal öffnet er eine Tür, macht Licht in einem Zimmer, lässt mich hineinsehen. Noch mehr Bilder, Möbel. Ein grau verstaubter Leuchter brennt in einem Esszimmer, und einmal der grelle Schein einer Neonröhre über einem Kajütenbett.

 

»Hier ist es«, sagt er. Ich sehe durch die geöffnete Tür. Auf dem Boden liegt überall verstreut Papier. Vielleicht Briefe? Ich sehe ihn von der Seite an.

»Das kann man wegräumen«, sagt er.

An der Wand ein schmales Bett. Er knipst eine Lampe an. Als er sich dabei über das Bett beugt, sehe ich das Levis-Schild an seiner Jeans. Das Schild kommt mir falsch vor, als habe er sich verkleidet.

 

»Dein Badezimmer«, wie er es nennt, es hat einen grünen Teppich. Ich hatte noch nie ein eigenes Bad. Über der Badewanne baumelt eine Schnur.

»Was ist das?«, frage ich.

»Das ist die Glocke«, sagt er.

»Und wer kommt, wenn man läutet?«, frage ich ihn.

Er lächelt. Er zieht an der Schnur, und alles bleibt still. Der Spiegel über dem Waschbecken ist schwarz angelaufen, ich sehe mein Gesicht darin wie durch ein vergangenes Jahrhundert. Die Seife, die neben dem Spiegel in der Schale liegt, ist brüchig.

 

»Hier schlafe ich.« Er stellt sich neben sein Bett. Ins Kopfteil ist ein Wappen mit Schwertern geschnitzt. Vielleicht sind es auch Säbel. Das Bett ist nicht gemacht. Ich stehe unten am Fußende und halte mich an einer der hölzernen Artischocken fest, in denen die zwei Bettpfosten oben enden.

 

»Du wohnst hier allein? Ich meine, es ist wirklich deine Wohnung?«, frage ich noch einmal.

»Ja. Überleg es dir. Hier ist meine Telefonnummer.« Er kritzelt etwas auf einen Zettel und gibt ihn mir. Ich stecke ihn ein und bin sicher, dass ich ihn niemals anrufen werde.

 

»Es ist spät. Ich fahr dich jetzt nach Hause«, sagt er. Er will nicht mit mir schlafen, denke ich, er will mit mir wohnen.

*

Es ist Nacht, und es regnet. Gläserne Pinselstriche im Licht der Straßenbeleuchtung. Ich stehe allein auf einem Balkon und werde nass. Es riecht nach Stein, auf den Regen fällt. Es gurgelt in den Dachrinnen der Häuser ringsum, und von der Straße unten hört man das Rauschen der Autos, die durch die Pfützen fahren.

 

Dann liege ich wieder in dem stickigen Zimmer mit dem Fenster zum Lichtschacht und kann nicht schlafen. Ich habe nicht mehr an ihn gedacht, nein. Wahrscheinlich stimmt das sogar.

 

Und alle Tage geschieht immer noch nichts. Ich lese und sitze und esse. Manchmal sitzen der Mann, die Frau und ich wieder am Tisch in der Küche und haben uns nichts zu sagen. Ich warte. Ich denke daran, nach Hause zurückzukehren. Aber vorher, vorher will ich noch was. Nur was? Im Grunde gibt es nur eine Möglichkeit. Alles andere bedeutet, dass nichts geschieht.

*