Und ich leuchte mit den Wolken - Sophie Bichon - E-Book
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Und ich leuchte mit den Wolken E-Book

Sophie Bichon

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Beschreibung

Lilou sitzt im Zug von München nach Paris. Sie hat gerade ihr Abitur gemacht und will in der Heimatstadt ihrer Mutter erfahren, wer sie wirklich ist. Kurz vor Paris steigt Mignon zu. Sie ist cool, wunderschön, und obwohl sie mit Lilou zu flirten scheint, bleiben ihre Augen ernst und ihre ganze Haltung abweisend. Dennoch hat Lilou das Gefühl, dass sie in ihr Innerstes blickt. Beim Abschied am Gare du Nord spürt sie: Diese Frau könnte ihr gefährlich werden, und dafür hat sie keinen Platz in ihrem Leben. Zwei Wochen später trifft sie Mignon zufällig auf einer Party wieder, und ihr wird klar, dass diese magische Intensität nicht nach Grenzen fragt.

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Das Buch

Mach deine Träume wahr. Jetzt.

Lilou sitzt im Zug von München nach Paris. Sie hat gerade ihr Abitur gemacht und will in der Heimatstadt ihrer Mutter erfahren, wer sie wirklich ist. Kurz vor Paris steigt Mignon zu. Sie ist cool, wunderschön, und obwohl sie mit Lilou zu flirten scheint, bleiben ihre Augen ernst und ihre ganze Haltung abweisend. Dennoch hat Lilou das Gefühl, dass sie in ihr Innerstes blickt. Beim Abschied am Gare du Nord spürt sie: Diese Frau könnte ihr gefährlich werden, und dafür hat sie keinen Platz in ihrem Leben. Zwei Wochen später trifft sie Mignon zufällig auf einer Party wieder, und ihr wird klar, dass diese magische Intensität nicht nach Grenzen fragt.

Die Autorin

Sophie Bichon wurde 1995 in Augsburg geboren und studierte dort Germanistik und Kunstgeschichte, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt und arbeitet in einer bunten WG direkt unter dem Dach, umgeben von Büchern und ihren geliebten Pflanzen. Sophie Bichon liebt lange Schreibnachmittage in Cafés, durchgetanzte Nächte und Tage, an denen die Sonne scheint. In ihren Romanen schreibt sie nicht nur über die kleinen und großen Momente des Lebens, über Fehler und neue Chancen, sondern auch über die Liebe in all ihren wunderschönen Facetten.

SOPHIEBICHON

UNDICH

LEUCHTE

MITDEN

WOLKEN

loveislove

Band 1

Roman

WILHELMHEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Originalausgabe 05/2021

Copyright © 2021 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Eva Jaeschke

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

unter Verwendung von FinePic®, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN: 978-3-641-27058-2V002

www.heyne.de

Für jede einzelne Frau,

die mein Herz zum Stolpern gebracht hat.

Ihr wisst, wer ihr seid.

Danke für jeden Kuss, für verrückte Nächte,

für das Verliebtsein und all die Schmetterlinge.

Dank euch habe ich gelernt, wer ich bin.

Vor allem aber, dass mein Herz bunter ist,

als ich dachte.

Ihr alle seid Menschen,

die mich auf ihre ganz eigene Weise berührt haben.

Rester, c’est exister.

Mais voyager, c’est vivre.

Gustave Nadaud

L’amour est une rose, chaque pétale une illusion, chaque épine une réalité.

Charles Baudelaire

PLAYLIST

Space Song von Beach House

You and I von Caribou

Hey Little Baby von Dope Lemon

La Lune Rousse von Fakear feat. Deva Premal

Finally von Ro

Three Nights von Dominic Fike

Je Pense à Toi von Amadou & Mariam

Permanent Way von Charlie Cunningham

Alrighty Aphrodite von Peach Pit

Wild Girl von Zeck

Mi Corazón von Kike Pinto und El Búho

How Dare You! von Steaming Satellites

Nothing’s Gonna Hurt You Baby von Cigarettes after Sex

Poison von Rocket Juice & The Moon

Stonecutters von Dope Lemon

Agitations Tropicales von L’Impératrice

Vanille Fraise von L’Impératrice

TOUT CHANGE, TOUT COULE – ALLES VERÄNDERT SICH, ALLES FLIESST

Lilou

In den vergangenen Monaten hatte es für mich keine Zeit gegeben, so wie es in der Erinnerung keine Zeit gibt. Wenn alles nur aus losen Bildern und vergangenen Gefühlen besteht. Und während diese schmerzhaft auf mich einstürzten, saß ich inmitten eines Meers aus Zeichenpapier und malte wie eine Besessene den Himmel. Vielleicht malte ich ihn schon seit Stunden immer und immer wieder, weil er sich eigentlich nicht einfangen lässt, zumindest nicht in seiner Gänze. Genauso wenig wie die Wüste, das Meer oder die Nacht. Sie haben keinen Anfang und kein Ende, kein Ziel, keine Zukunft.

Der Stift kratzte über das Papier und reihte Wolken aneinander und die einzelne Träne, die aus meinen Augen regnete, lief quälend langsam quer über das Bild.

Alles verändert sich, alles fließt, dachte ich. Und wenn das Leben ein Fluss war, wie schon Heraklit wusste, dann hatte meines sich von einem kleinen Bach in einen reißenden Strom verwandelt, der mich unaufhaltsam und ohne Rücksicht auf mein Herz mit sich davongetragen hatte. Meine Gefühle waren wie ein wilder Ozean, dessen Farbe der ihrer Augen glich. Einsam und verloren.

Und jetzt? Alles war anders geworden und ich würde nie wieder dieselbe sein.

La chance sourit aux audacieux.

Das Glück ist mit den Unerschrockenen.

SEPT MOIS PLUS TÔT – VOR SIEBEN MONATEN

1.  Kapitel

Mignon

Der Eiffelturm versteckte sich hinter dichtem Nebel und unter tief hängenden Wolken. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen kämpften sich durch kaltes Grau, erhellten die Ränder des Himmels, um ihn schon bald in sanftes Bernsteinlicht zu tauchen – genauso wie die Stadt darunter. Bald wäre mein Blick vom Schreibtisch aus wieder frei auf die kunstvoll in die Höhe ragende Eisenkonstruktion, deren Anblick auch nach fünf Jahren mein Herz noch zum Stolpern und meinen Mund zum Lächeln brachte.

Während ich weiter aus dem Fenster schaute und die Pfeiler zwischen dem sich lichtenden Nebel auszumachen versuchte, strich ich mit einer Hand gedankenverloren über die zahlreichen Klebezettel und Fotos an den Rändern meines Bildschirms. Es waren kleine Botschaften, die sich dort in den zwei Jahren, die ich bei dem Magazin Sauvage arbeitete, angesammelt hatten. Ich musste gar nicht mehr hinsehen, weil ich Émilie und Oceanes Nachrichten inzwischen auswendig kannte: Du schaffst das heute. Bisous, Bossgirl. Kill ’em with Kindness. Vergiss das Geschenk für Benoît nicht. Wir denken an dich! Laissez-faire. Brich ihre Herzen, aber vergiss nicht, sie danach wieder zusammenzusetzen!

Ich starrte weiter in die Ferne und seufzte. Trotz der zwei Tassen Kaffee steckte mir das vergangene Wochenende noch tief in den Knochen.

Die Bars und Klubs, die Diskussionen, das Gelächter.

Die Sonnenaufgänge, das Trinken, der Sex.

Und Noé, den ich manchmal anrief, wenn ich unter seinen Händen die Welt ein bisschen vergessen wollte. Es ging nicht wirklich darum, dass es seine Hände waren, eher darum, dass es welche waren und der Kerl, zu dem sie gehörten, mir gefiel. Meinem Körper zumindest, nicht meinem verdammten Herzen. Doch gestern war etwas anders gewesen. Gestern hatte Noé mich danach verschwitzt und besitzergreifend an sich gezogen und mich zärtlich auf den Mund geküsst. Er hatte mich auf eine Art und Weise angesehen, bei der sich unwillkürlich etwas in mir verkrampfte. Mon dieu, ich mochte ihn wirklich, aber nach dieser Nacht konnte ich ihn nicht wiedersehen, konnte ihm nicht das geben, was er sich von mir erhoffte. Manchmal glaubte ich, in mir schlug ein gläsernes Herz. Kühl und unnachgiebig, und nicht empfänglich für Noés sanfte Art und die Wärme in seinen braun gesprenkelten Augen. Es ließ mich kalt. Er ließ mich kalt, und letztendlich war es meine eigene verfluchte Kälte, die mir zu schaffen machte.

Schnell schob ich den Gedanken beiseite und schlüpfte zurück in die schwarzen High Heels, die ich unter meinem Schreibtisch abgestreift hatte. Etwas, das ich mir nur erlaubte, wenn niemand es sah. Vielleicht würde mir ein weiterer Kaffee helfen, mich auf die Arbeit zu konzentrieren, doch gerade als ich aufstehen wollte, wurde mir der Eingang einer neuen Mail angezeigt.

Gesendet: 14.06.21, 08:26 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected], [email protected]

Betreff: HILFE!

Notfalltreffen im Kreativraum. Dépêchez-vous! Beeilt euch!

Schnell griff ich nach meiner Tasse und eilte den Flur entlang. Das gleichmäßige Klackern meiner Absätze verlor sich bald im aufgeregten Gewusel und Durcheinander der anderen. In einer Woche war Redaktionsschluss für die Juliausgabe, und in den letzten sieben Tagen passierte oft das Unerwartete, und wichtige Entscheidungen wurden noch in letzter Sekunde geändert. Die Stimmung in der Redaktion war wie immer Mitte des Monats angespannt. Heller werdendes Licht fiel durch die großen Fenster auf das geordnete Chaos aus hellen Schreibtischen, hohen Decken mit Stuckverzierungen und Wänden, die übersät waren von den schönsten Zeitschriftencovern der vergangenen Jahre und den Ausgaben der Sauvage, die von Paris ausgehend am meisten für Aufruhr gesorgt hatten. Außerdem waren da die großformatigen Kunstdrucke, die das Lebensgefühl des Magazins einfingen: Jung, wild, frei. Und ein bisschen rebellisch.

Der Stoff meines tiefroten Wickelkleides schwang weich um meine Unterschenkel, als ich meine Schritte beschleunigte. Und bei jeder Bewegung kitzelten mich meine Haarspitzen an den Schultern, fielen mir meine Ponyfransen in die Augen. Vorbei an der breiten Flügeltür zur Fashionabteilung und an Anouks Büro mit den gläsernen Wänden bis zu Émilies Schreibtisch. Ich schnappte mir ihre leere Tasse und eilte weiter, als ich das Klackern von einem zweiten Paar High Heels neben mir wahrnahm. Dunkel schimmernde Beine, die Schritt hielten. Mit mir, mit meinem Herzschlag. Oceane hauchte mir im Gehen ein Bisou auf die Wange, dann hielt sie mir die Tür zum Aufenthaltsraum auf und folgte mir. Wir waren allein, jemand hatte seine Jacke auf einem der beiden dezent gemusterten Sofas unter dem Fenster vergessen. Die Obstschale auf dem ovalen Tisch in der Mitte des Raums funkelte im gleißenden Licht, und ich lächelte für einen Moment, denn die Sonne hatte sich erfolgreich durch Nebel und Wolken gekämpft.

»Saß Ém noch an ihrem Schreibtisch?« Oceane hatte die Augenbrauen besorgt zusammengezogen. Ich schüttelte den Kopf und nahm ihr die Tasse aus der Hand, dann stellte ich alle drei nacheinander unter die Kaffeemaschine. Oceane holte eine Dose Schlagsahne aus dem Kühlschrank und sprühte in regelmäßigen Bewegungen eine große Ladung auf den Kaffee in Émilies Tasse. Beim Anblick der Grimasse, die sie dabei zog, musste ich unwillkürlich grinsen. Doch selbst mit gefurchter Stirn und zusammengepressten Lippen war Oceane hinreißend. Fast so sehr wie in den Momenten, in denen sie ihr lautes Lachen lachte und dabei die Lücke zwischen ihren Schneidezähnen entblößte.

»Ich finde es selbst echt eklig, aber was auch immer passiert ist, es wird helfen«, kommentierte ich ihre angewiderte Miene. Oceane nickte und strich sich seufzend über die kurz rasierten Haare. »Okay, dann los.«

So schnell wie möglich eilten wir weiter zum Kreativraum am Ende des breiten Flurs. Wir tauschten einen letzten Blick, dann stieß ich entschlossen die Tür auf, und es ging mitten hinein in diese Mischung aus hellen Wänden und einer wahren Flut an Licht, die den tiefroten Teppichboden zum Leuchten brachte. Dominiert wurde der Raum von einer kreisrunden Sofalandschaft in seiner Mitte. Überquellende Kleiderstangen standen gegen die Wände geschoben. Es waren alles Sachen, für die die Fashionabteilung gerade keine Verwendung hatte und die aussortiert worden waren. Manchmal erlaubte Anouk uns auch, uns etwas auszusuchen und mitzunehmen – so wie den figurbetonten Jumpsuit, den Oceane trug und der sich pastellrosa von ihrer dunklen Haut abhob. Zwischen den Kleidern war ein Bücherregal mit Rezensionsexemplaren, die die Redaktion im Laufe der Zeit bekommen hatte, zu sehen. Außerdem hingen an den Wänden das vorläufige Layout und der Satz der kommenden Ausgabe, inspirierende Poster, Zitate und dazwischen immer wieder gerahmte Fotos in allen Formaten und Größen. Es waren Bilder von der feuchtfröhlichen Weihnachtsfeier im letzten Jahr, eine Großaufnahme von Oceane, Émilie und mir, zusammen mit ein paar anderen Kolleginnen Anfang März auf der Pariser Fashion Week, sowie ein Schnappschuss aus der Nacht, in der beinah die ganze Redaktion wegen eines Fehlers in der Druckerei durchgemacht hatte und wir uns Pizza ins Büro liefern ließen.

Inzwischen war es fast schon ein ungeschriebenes Gesetz, dass Oceane, Émilie und ich uns hier trafen, wann immer wir einander brauchten oder es etwas zu besprechen gab – so war es schon an der Sorbonne gewesen, auch wenn unser Ort dort eine versteckte Nische in der Bibliothek gewesen war. Ich war mir ziemlich sicher, dass Anouk von diesen Treffen während der Arbeit wusste, doch sie schien es stillschweigend zu tolerieren, genauso wie alle anderen.

Émilie lag auf der Couch, Arme und Beine weit von sich gestreckt. Abgestreifte Schuhe, nackte Fußsohlen, die Zehen blau lackiert. Kurz hob sie den Kopf an, doch sofort darauf ließ sie ihn seufzend wieder nach hinten sinken. Sie pustete sich eine Haarsträhne aus der Stirn, blieb ansonsten aber vollkommen reglos liegen. Oceane und ich warfen uns einen besorgten Blick zu, setzten uns dann links und rechts von ihr auf die Polster.

Émilie lachte kurz auf. Es klang schrill und passte zu der intensiven Röte auf ihren Wangen. Blond und hell floss ihre Lockenmähne über die Couch, während sie aus riesigen schokoladenbraunen Augen zu uns aufsah. »Ich bleib hier einfach liegen. Für immer.«

»Gleich für immer?«, echote Oceane und hob eine Augenbraue an.

»Oui.«, Émilie nickte inbrünstig, »für immer und ewig sogar.«

Ich schmunzelte. »Das ist verdammt lang.«

»Schrecklich lang«, pflichtete Oceane mir bei und grinste. »Wir würden dich da draußen sehr vermissen.«

»Und Anouk auch. Schließlich bist du ihre Assistentin und unersetzbar.«

»Ihr kommt schon ohne mich zurecht.« Émilie zog eine Grimasse. Doch als sie auf die zweite Kaffeetasse in meinen Händen aufmerksam wurde, die mit dem Sahneberg darauf, setzte sie sich auf und lächelte eines ihrer niedlichen Engelslächeln. Ich reichte ihr den Kaffee.

»Es war so unfassbar peinlich.« Sie stöhnte auf und nahm einen Schluck, dann einen zweiten, leckte sich Sahne von der Oberlippe. »Wisst ihr noch, wie ich im Le Petit verkündet habe, dass Schluss mit dem Schüchternsein ist?!« Das Le Petit – Ort unserer Schwüre, Geheimnisse, guter und schlechter Entscheidungen. Ich erinnerte mich an die vielen Abende, die wir seit dem ersten Semester in dem kleinen Bistro verbracht hatten. Dort inmitten von schummrigem Licht fühlte ich mich fast so zu Hause wie Émilie und ihr Bruder Benoît, deren Grand-Père das Le Petit gehörte.

»Ja, aber da warst du auch wirklich betrunken«, gab Oceane zu bedenken, und ich lachte: »So wie wir alle. Mir tut immer noch alles weh.«

»Das liegt wohl eher daran, dass du am nächsten Tag gleich wieder losgezogen bist und zu viel Zeit in Noés Bett verbracht hast«, neckte Oceane mich. Sie schien einen Augenblick nachzudenken, dann sagte sie: »Wobei ich an deiner Stelle wohl auch –«

»Was hat Noés Bett denn damit zu tun?«

Sie wackelte mit den Augenbrauen und raunte: »Sag du’s mir, Mignon.«

Ich blinzelte. »Du bist furchtbar.«

»Du meinst wohl furchtbar scharfsinnig.« Wie so oft lag dieses Glitzern in ihren Augen, das einem das Gefühl gab, man hätte einen Witz nicht verstanden. Einen, dessen Sinn nur sie kannte.

»Eigentlich eher so etwas wie furchtbar nervig. Oder nein, warte: Furchtbar frivol.«

»Furchtbar frivol?«, Oceane kicherte. »Damit kann ich leben, auch wenn ich glaube, dass diese Beschreibung besser zu Benoît passen würde.« Sie schien noch etwas hinzufügen zu wollen, doch dann schloss sie den Mund und sah mich ernst an. »O Gott, du wirst Noé abservieren, oder?«

Was zur Hölle?! Ich fühlte mich auf unangenehmste Weise ertappt, und dennoch hielt ich dem Blick ihrer schwarzen Augen stand. Ich hatte vielleicht Geheimnisse, hielt sogar vor Oceane und Émilie einen Teil meiner Fassade aufrecht, doch die wirklich wichtigen Dinge verschwieg ich ihnen nicht. Nicht diesen beiden, die zu den wenigen Menschen gehörten, die mir etwas bedeuteten. Denen ich wirklich glaubte, dass auch ich ihnen etwas bedeutete.

»Du hast diesen Gesichtsausdruck«, murmelte Oceane. »Keine Ahnung, was passiert ist, aber du wirst den armen, süßen Noé bei nächster Gelegenheit abservieren.«

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich würde sie nicht anlügen. Gläsern pochte es mir gegen die Rippen.

Herz und Glas und Risse. Dazwischen: Ich.

»Ich bin nur …«, setzte ich an und wusste selbst nicht, was ich eigentlich sagen wollte. Vielleicht, dass abservieren der falsche Ausdruck war, dass ich Noé vielmehr die Chance auf etwas Echtes gab.

»Leute«, unterbrach Émilie uns mit leiser Verzweiflung in der Stimme, voller Ungeduld, »können wir jetzt bitte über mein Problem sprechen, bevor wir uns um den armen Noé kümmern?«

»Wieso nennt ihr ihn ständig armen Noé?!«, murmelte ich und bekam ein zweistimmiges Sorry zur Antwort.

»Okay«, nahm ich den Faden wieder auf und musterte Émilie, »du meintest, es ist Schluss mit dem Schüchternsein. Aber wie Oceane schon gesagt hat: Du warst wirklich betrunken und du musst jetzt nicht –«

»Na und?«, sie reckte das Kinn und machte sich größer als sie war, klammerte sich an ihrer Tasse fest. »Ernst gemeint habe ich es trotzdem. Das kann so nicht weitergehen.«

»Du bist wunderbar, so wie du bist. Wirklich. Bitte denk nicht, dass du dich wegen irgendjemandem ändern müsstest«, entgegnete ich inbrünstig. »Wer dich nicht will, wie du bist, der hat dich anders nicht verdient.«

Émilie schwieg einen Moment, dann sagte sie etwas leiser: »Ja, aber vielleicht möchte ich mich ändern? Für mich?! Ich muss mehr auf Menschen zugehen, ich muss auch einmal die Initiative ergreifen. Ich möchte mich nicht ständig verlieben und dabei zusehen müssen, wie eine Chance nach der anderen verstreicht, weil ich mich einfach nicht traue. Oder weil ich aus Angst mich zu blamieren panisch davonrenne, sobald es auch nur ansatzweise ernst wird.«

Wieder wechselten Oceane und ich einen Blick, der mir verriet, dass wir dasselbe dachten. Émilie schwärmte schon seit einem halben Jahr für Ciel, der seinem Namen alle Ehre machte: Le ciel, der Himmel, himmelblaue Augen, die eine fast hypnotische Wirkung hatten. Vor sechs Monaten hatte er bei der Sauvage angefangen und schrieb für jede Ausgabe eine inzwischen gefeierte Kolumne. Eine Kolumne, die Émilie förmlich inhalierte, während sie in der Redaktion noch kein Wort mit ihm gewechselt hatte.

»Was ist passiert?«, fragte ich möglichst sanft, und da erklang wieder dieses ungewohnt schrille Lachen.

»Ich hab gesehen, wie Ciel allein in den Aufenthaltsraum gegangen ist, und dann … dann bin ich ihm hinterher.«

Ich spürte, wie sich ein Grinsen auf meinen Lippen auszubreiten begann. »Du bist ihm hinterher?«

»Das ist ja von null auf hundert«, meinte Oceane.

»Ähm ja …« Émilie hielt einen Moment inne, ehe sie fortfuhr: »Eine Übersprungshandlung. Und glaubt mir: Als ich gemerkt habe, was ich da tue, wäre ich am liebsten gleich wieder weggerannt. Wir standen in der Küche und Ciel … er hat mich angelächelt. Plötzlich wusste ich nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Seine Haare waren offen, und ich stehe doch so auf Männer mit langen Haaren und dann … O Gott, ich dachte, ich könnte ihm ein Kompliment machen. Man sagt doch immer, dass Komplimente solche Situationen auflockern, und ich dachte … am besten mache ich ihm eins zu seiner Hose.«

Ungläubig riss ich die Augen auf. »Zu seiner Hose?«

»Ja, ich weiß auch nicht«, Émilies Locken hüpften, als sie mit den Schultern zuckte. »Das war die erste Idee, die ich hatte. Und er hat mich so erwartungsvoll angesehen, und ich dachte, dass ich ja irgendetwas sagen muss, oder? Dass das meine Chance ist. Und ich meine … ihr wisst schon, Ciel trägt immer diese speziellen Hosen.«

»Diese speziellen Hosen?«, hakte Oceane nach, und ich biss mir auf die Unterlippe, um mir das Lachen zu verkneifen. Émilie war offensichtlich völlig durch den Wind, und ich wollte ihr nicht das Gefühl geben, vor uns nicht offen sprechen zu können. Denn das konnte sie, bei Oceane und mir konnte sie das immer. Auf den ersten Blick mochten die Unterschiede zwischen uns zwar groß sein, aber genau das machte uns aus. Émilie, die Ruhige und in sich Gekehrte. Oceane, die Lustige und Laute. Und ich, die Verwegene und Coole. Seit unserer gemeinsamen Zeit an der Sorbonne standen wir füreinander ein. Was auch passierte: Zusammen bildeten wir ein Ganzes in seiner allerschönsten Form.

»Na, ihr wisst schon. Diese Jeans, die Ciel immer anhat. Die, in denen sein Hintern immer so … so gut aussieht.«

Jetzt lachte ich doch. »Ich denke nicht, dass das an seinen Hosen liegt, Ém, sondern eher –«

»Eher an dem, was darunter ist«, vervollständigte Oceane meinen Satz mit einem anzüglichen Grinsen. Émilie wurde noch röter und hielt sich eine Hand vor das Gesicht. »Leider ist das ein bisschen anders aus meinem Mund herausgekommen, als ich mir das gedacht hatte.«

Irgendwo da draußen läutete ein Telefon, ich glaubte meinen Namen zu hören, aber das war genau in diesem Moment nicht wichtig.

»Ich habe gesagt«, Émilie holte tief Luft. »Ich mag Hosen. Daraufhin hat Ciel mich ganz komisch angesehen, und dann habe ich gefragt: Du auch? Nur hat er dann noch verwirrter geschaut. Da bin ich geflüchtet, und seitdem verstecke ich mich hier.«

Stille. Und dann brachen wir alle drei gleichzeitig in Gelächter aus, Oceanes tönte am lautesten.

»Oh Ém.« Ich stellte meine Tasse auf dem Boden ab und drückte sie ganz fest an mich. Ihre weichen Locken ein Kitzeln an meiner Wange.

»Das ist so so peinlich. Ich kann ihm nie wieder unter die Augen treten«, stöhnte sie gequält auf.

»Natürlich kannst du das!«, sagte Oceane bestimmt. »Außerdem: Vielleicht fand er das ja süß?«

»Was soll er daran bitte süß gefunden haben?«

»Na, dass er dich so nervös macht. Das ist doch irgendwie süß.«

»Und, du hast dich getraut ein Gespräch zu beginnen, obwohl du mega in ihn verschossen bist und sonst bei ihm kein einziges Wort rausbekommst. Allein deshalb kannst du schon stolz auf dich sein, ganz egal, was du letztendlich gesagt hast.«

»Meint ihr?« Hoffnungsvoll blickte Émilie zwischen uns hin und her.

»Ja«, bekräftigte Oceane und nickte. »Ganz sicher.«

»Du gehst da jetzt erhobenen Hauptes raus, und wenn Ciel dir heute das nächste Mal über den Weg läuft, dann lächelst du ihn einfach an als wäre nichts.«

Émilie schaute mit ernstem Gesichtsausdruck in die Ferne und ordnete ihre Locken, ehe sie wieder uns ansah. »Ihr habt recht.«

»Natürlich haben wir das«, sagten Oceane und ich gleichzeitig. Und einen Augenblick später schlang Émilie schwungvoll die Arme um uns. Dabei zog sie uns unsanft zu sich auf die Polster. Erst verlor ich das Gleichgewicht, dann Oceane. Ihr Arm bohrte sich so fest in meinen Bauch, wie sich ihr typischer Duft nach Vanille in einer Wolke um uns legte. Irgendwo stach mich ein Knie und eine von Émilies Locken landete in meinem Mund. Aber ich lachte zwischen drückenden Armen und zu wenig Luft und dem vibrierenden Kichern meiner Freundinnen.

Zurück an meinem Schreibtisch rief ich die Homepage der Künstlerin auf, deren erste Vernissage ich am Freitag besuchen würde. Auf der Startseite blickte mir das herzförmige Gesicht einer jungen Frau entgegen, die nur wenige Jahre älter als ich selbst sein konnte. Schwarzes Haar, das teilweise unter einem gemusterten Tuch verschwand, ein breites Lachen und doch eine tief liegende Melancholie in den Augen, die sich auch in ihren großformatigen Bildern widerspiegelte.

Als ich vor zwei Wochen zufällig an der Galerie vorbeigelaufen war, hatte mich irgendetwas zu dem Gemälde hingezogen, das neben der Ankündigung der Vernissage von Colette Moreau hing. Es war spät gewesen, meine Gedanken frei und ungefiltert nach einem langen Abend mit Oceane, Émilie und Benoît im Le Petit. Irgendetwas hatte mich dazu getrieben, früher als die anderen aufzubrechen. Doch statt nach oben in die Wohnung zu gehen, hatte ich mich noch durch die Nacht treiben lassen. Der Rotwein wärmte mich von innen, der laue Wind kühlte mich von außen. Ich blickte auf wilde Striche und Farbkleckse, die auf den ersten Blick willkürlich wirkten, auf den zweiten aber gewollt und einnehmend. Wie hypnotisiert starrte ich das Bild an, verspürte einen Anflug jener Nostalgie und Sehnsucht, den ich immer empfand, wenn ich fünf Jahre zurückdachte. An eine andere Version von mir, an mein achtzehnjähriges Ich, das mit einem Koffer voll selbstgenähter Kleider und mit großen Träumen nach Paris gekommen war. Ein Gefühl von Traurigkeit und zugleich eine Freude über die Gegenwart, in der vergangene Wünsche und die Realität unaufhaltsam aufeinandertrafen, überkam mich. Und diese Angst, die mich ständig begleitete. Die Angst, dass das Glück platzen würde wie eine Seifenblase, dass es nicht echt war. Merde, dass vor allem ich nicht echt war und in Wahrheit womöglich immer noch das junge Mädchen aus der Bretagne, das so unbedingt jemand sein wollte.

Jetzt schloss ich die Seite von Colette Moreau wieder und öffnete stattdessen mein Postfach. Die neueste Mail war von Anouk. Meine Chefin wollte nach der Mittagspause einige Details mit mir absprechen, weil ich nächste Woche im Auftrag der Sauvage ein paar Tage nach Straßburg fahren würde. Das Musée d’Art Moderne et Contemporain de Strasbourg, eine Flut moderner und zeitgenössischer Kunst und ein Termin mit der Kuratorin, die mich am letzten Tag exklusiv durch die neuen Ausstellungsräumlichkeiten führen würde, erwarteten mich dort.

Nach zwei Jahren bei der Sauvage, einer Zeit, in der ich wirklich alles für meinen Job getan hatte, konnte ich es immer noch kaum glauben, dass ich es tatsächlich geschafft haben sollte. Dass Anouk Vertrauen in mich setzte und meinen Tipps und Ahnungen vertraute. So wie meiner Einschätzung, dass Colette Moreau es in Paris im Speziellen und in der Kunstwelt im Allgemeinen noch weit bringen würde. Eine junge, starke Frau, die wusste, was sie vom Leben wollte, und selbstbestimmt ihren Weg ging – genau das waren die Geschichten, die dieses Magazin erzählen wollte. Und genau das war die Geschichte, die mein eigenes Leben erzählen sollte.

Gesendet: 14.06.21, 09:43 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected], [email protected]

CC: [email protected]

Betreff: Monsieur Sexy

Ach. Du. Scheiße. Ciel ist gerade hier vorbeigelaufen, und Ém hat absolut recht: Es liegt an den Hosen. Zumindest heute. Kein Arsch der Welt kann SO aussehen!!! Jetzt verstehe ich auch, wieso du so gestammelt hast, Ém. Frag ihn nächstes Mal bitte, wie lang er braucht, um seine Jeans loszuwerden … Oder finde es am besten gleich selbst heraus.

Gesendet: 14.06.21, 09:44 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected], [email protected]

CC: [email protected]

Betreff: Monsieur Hintern

Oceane scheint mir gerade ein bisschen zu begeistert zu sein…

Gesendet: 14.06.21, 09:45 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected], [email protected], [email protected]

Betreff: WASZURHÖLLE???

Wieso zur Hölle setzt ihr mich immer noch in CC? Und Émilie: Wer ist dieser verdammte Ciel?

Gesendet: 14.06.21, 09:46 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected]

CC: [email protected], [email protected]

Betreff: Sorry not Sorry

Wir wollen dich nur an unserem Leben teilhaben lassen, allerliebster Benoît. Sonst müssen wir dir abends immer alles noch mal erzählen. So weißt du immer gleich Bescheid, und wir verschwenden keine kostbare WG-Zeit.

Gesendet: 14.06.21, 09:48 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected], [email protected], [email protected]

Betreff: Ciels verfluchte Nase

Großartig. Vor allem, wenn ich was über die Männergeschichten meiner kleinen Schwester lesen muss. Émilie, ich breche dem Kerl die Nase, wenn er dir das Herz brechen sollte.

Gesendet: 14.06.21, 09:49 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected]

CC: [email protected], [email protected]

Betreff: Sei keine Memme!

Stell dich nicht so an. Wir drei wissen mehr als uns lieb ist, vor allem von deiner Vorliebe für Touristinnen. Und wie du sicher schon bemerkt hast, sind unsere Wände sehr dünn. Die paar Mails sind ja wohl ein geringer Preis dafür.

Gesendet: 14.06.21, 09:51 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected],

CC: [email protected], [email protected]

Betreff: Sei keine miese beste Freundin!

Solltet ihr diese Mailadressen nicht eigentlich für geschäftliche Zwecke nutzen? Und wieso habt ihr bei der Arbeit überhaupt so wahnsinnig viel Zeit? Irgendetwas stimmt da doch nicht …

Gesendet: 14.06.21, 09:52 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected]

CC: [email protected], [email protected]

Betreff: Gegenfrage

Eine Frage, die ich gern zurückgeben würde, Bruderherz. Wolltest du deine Semesterferien nicht nutzen, um an dem Roman zu schreiben, von dem du immer redest? Wieso hast DU überhaupt Zeit, dich aufzuregen?

Gesendet: 14.06.21, 09:55 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Kündigung

Sehr geehrte Mademoiselle Bonnet,

da Sie gegen §23 der Beste-Freunde-Ordnung verstoßen und mich nicht bedingungslos vor unseren verrückten Mitbewohnerinnen verteidigt haben, muss ich Ihnen leider mitteilen, dass ich mich gezwungen sehe, unser Verhältnis vorzeitig zu beenden.

Mit unfreundlichen Grüßen,

Benoît »Touristinnen-Magnet« Lefèvre

Gesendet: 14.06.21, 09:56 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Kündigung abgelehnt

Sehr geehrter Monsieur Lefèvre,

Ihr Antrag wird hiermit aufgrund fehlerhafter bzw. inexistenter Beweisführung abgelehnt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Die Vereinbarung läuft weiterhin auf Lebenszeit.

Mit extrafreundlichen Grüßen,

Mignon »Die-du-nicht-los-wirst« Bonnet

PS: Heute Abend MB-Power-Abend?

Gesendet: 14.06.21, 09:58 Uhr

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Kündigung unter Vorbehalt zurückgezogen

Sehr geehrte Mademoiselle Bonnet,

ich wusste, dass ich das Kleingedruckte hätte lesen sollen.

Mit mittelfreundlichen Grüßen,

Benoît »Der-einzig-wahre-Monsieur-Sexy« Lefèvre

PS: Ja, aber nur wenn du kochst. Und sag jetzt nicht, dass du nur ein paar Gerichte kochen kannst. Ich bin dafür da, dich herauszufordern und das Beste aus dir herauszuholen ;) (siehe Anhang).

PPS: Manchmal finde ich dich sehr nervtötend, lieb habe ich dich (leider) trotzdem.

Im Anhang befand sich ein Selfie von Benoît mit diesem für ihn typischen verhangenen Blick in den braunen Augen, die Unterlippe schmollend vorgeschoben. Zerstrubbeltes Haar, zerwühlte Laken und sein aufgeklappter Laptop im Hintergrund. Leise lachte ich auf und war mir ziemlich sicher, dass er bis gerade eben nicht allein in unserer Wohnung, geschweige denn seinem Bett gewesen war.

Am Freitagabend schaffte ich es gerade noch pünktlich zur Eröffnung der Vernissage, und mit dem ersten Schritt durch die Tür schob ich alle Gedanken beiseite, die hier verdammt noch mal nichts zu suchen hatten. Gedanken an Herz und Glas und Leere. Ich lächelte mein bestes Lächeln und ließ mir nichts anmerken, weil das mein Job war. Mein Job, der über meine Leidenschaft für Kunst hinausging. Händeschütteln mit den richtigen Leuten, Küsschen verteilen und Höflichkeiten austauschen. Manche von ihnen echt, manche nicht. Ich ließ mich durch Bilder, Farben und leise Musik treiben und stieß mit Colette auf den Erfolg ihrer ersten Ausstellung an. Wir unterhielten uns angeregt über Werke von Mark Rothko und Jackson Pollock, die Colette auf der Suche nach ihrem ganz eigenen Stil beeinflusst hatten. Und tatsächlich erkannte ich beim zweiten Hinsehen die verschiedenen Einflüsse: Rothkos ruhige Farbfeldmalerei im Hintergrund und Anklänge an seinen abstrakten Expressionismus trafen hier auf Pollocks Technik des Action-Paintings mit seinen wilden Farbklecksen auf großformatigen Werken.

Als sie sich schließlich mit einem Lächeln entschuldigte, um Freunde zu begrüßen, zog mich das Gemälde aus dem Schaufenster auch jetzt wieder magisch an. Heute hing es im hinteren Bereich der Galerie, in Szene gesetzt in warmem Licht, rundherum nur die weiße Wand und nichts, was das Auge ablenken konnte. Auch als die Galerie sich langsam leerte, stand ich mit meinem Glas Wein immer noch vor dem Bild mit den wilden Linien und kräftigen Klecksen und suchte diesen einen Strich, den mutigsten Strich, der das Gemälde zu dem machte, was es war – einzigartig und berührend. Es gab ihn fast immer: Diesen einen Pinselstrich, dessen Fehlen eine ganze Leinwand in ihren Grundfesten erschüttern und verändern konnte. Eine einzige Linie wie der Beginn einer Rebellion. Colette war eine der Künstlerinnen, die diesen Strich nutzten und sich seiner Macht bewusst waren. Dass ich ihn nicht sofort entdeckte, obwohl ich so sicher war, dass er existierte, zog mich nur noch mehr zu dieser Leinwand hin.

Ich schluckte. Wäre mein Leben ein abstraktes Gemälde … es wäre blutrot und hätte gleichzeitig die Farbe von sanften Sonnenuntergängen. Es wäre vermutlich ebenso wild und wunderschön, doch der mutigste Strich würde fehlen, das Etwas. Denn obwohl ich das Leben spürte und auskostete, fühlte ich mich wie in Watte gepackt. Es war nicht so, als würde ich mich nicht verlieben wollen, mir nicht wünschen, dass da jemand wäre, der mein Herz aus dem Takt brachte. Ich wollte Funkensprühen und etwas Stürmisches, sehnte mich nach der Nervosität, die Émilie in Ciels Gegenwart verspürte, nach dieser Mischung aus Unbeschwertheit und Selbstbewusstsein, mit der Oceane mit Jules zusammen war und nach der Unbekümmertheit, mit der Benoît sich in jedes Abenteuer stürzte.

Doch ich konnte es nicht, versteckte mich auf den letzten Metern hinter rot geschminkten Lippen und perfektionierter Lässigkeit. Ich war die, die andere Herzen stahl und diese leider auch oft brach. Ich bekam in der Regel das, was ich wollte, aber nicht das, wonach ich mich sehnte. Hatte lockere Affären, Freunde, mit denen ich regelmäßig im Bett landete. Dass, was ich mit diesen Männern erlebte, war zwar in gewisser Weise echt, jedoch nicht wahrhaftig – denn Orgasmen waren nicht das Einzige, das ich ab und zu vortäuschte. Tief in mir fühlte ich nichts, einfach absolut nichts. Und gleichzeitig machte mir die Vorstellung von Wahrhaftigkeit Angst, bedeutete es doch auch, einem anderen Menschen einen ungeschönten Blick in die eigene Seele zu gewähren. Und dann müsste ich mich den Gründen stellen, wegen derer ich diesen Menschen gegenüber in Wahrheit bloß eine Rolle spielte. Mehr noch: Ich müsste mich mit dieser seltsamen Verlorenheit auseinandersetzen.

Kühl und süß rann der letzte Schluck Weißwein meine Kehle hinab, und für einen Moment schloss ich genießerisch die Augen. Als ich sie langsam wieder öffnete, hielt ich den Atem an. Ich hatte ihn entdeckt: Den mutigsten Strich. Unauffällig in der rechten unteren Ecke des Bildes und dabei doch so kraftvoll und einnehmend, zumindest jetzt, wo er sich mir zeigte. Ich lächelte, und das Gefühl auf meinen Lippen war schwer und bittersüß.

Lilou

Ich stand am Fenster und zeichnete mit den Fingerspitzen die Konturen der Wolken nach. Vor drei Stunden hatte der Zug München verlassen, und mit jedem Meter, den er der Stadt meiner Träume entgegenfuhr, wurde das Kribbeln in meinem Körper stärker. Mit schnell schlagendem Herzen spürte ich ihm nach und umrandete einen leuchtenden Wattebausch nach dem anderen, verlor mich in den schwebenden Goldtönen des Himmels.

Le ciel de Paris est unique, hörte ich Mamans glockenhelle Stimme wie aus weiter Ferne. Es war eine Erinnerung und doch war da in meinen Gedanken jene sanfte Betonung, die all ihre Geschichten immer an sich gehabt hatten. Jedes ihrer Worte, die aus ihrem Mund geklungen hatten wie eine unverkennbare Melodie und der Nachhall von etwas viel Größerem. Es erschien mir fast unwirklich, dass ich diesen einzigartigen Himmel in wenigen Stunden endlich, endlich, endlich mit eigenen Augen sehen würde.

Der Zug wurde langsamer. Straßburg, der erste Halt, der sich in Frankreich befand: Ich spürte diesen Zauber und das Gefühl, dass große Abenteuer auf mich warteten, als ich meine Nase gegen die Scheibe presste. So präsent, so verlockend.

Ich tastete in meinen aufgetürmten weißblonden Dreads nach den Perlen aus Bernstein und Holz. Gedankenverloren suchte ich dabei die eine, die Yuna mir am Abend zuvor zum Abschied geschenkt hatte. Wir hatten uns ewig umarmt, weil wir noch nicht genau wussten, wann wir uns wiedersehen würden – eine seltsame Vorstellung, wenn man bedachte, dass meine beste Freundin neben mir gewohnt hatte, seit ich denken konnte. Unsere Fenster lagen einander direkt gegenüber, und ich hatte Yuna jedes Mal, wenn sie Hausarrest hatte, Botschaften auf Zettel geschrieben und in die Höhe gehalten.

Ein neues Alt, ein altes Neu, ich nur noch drei weitere Stunden von meinen Wurzeln entfernt, und von der Stadt, in der ich mir ab heute ein Jahr lang Zeit geben würde, um herauszufinden, was ich vom Leben wollte. Ich hoffte, dass ich mir sicher wäre, wenn ich im nächsten Juni an der Gare du Nord in den Zug zurück nach Hause steigen würde. Und vielleicht wäre Maman dann mehr für mich als ein Schatten.

Plötzlich ließ mich ein Räuspern zusammenzucken. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass der Zug wieder Fahrt aufgenommen hatte und ich nicht mehr allein im Abteil saß.

»Was suchst du in Paris?«

Ich wandte mich der Stimme zu, die so treffsicher meine Gedanken erraten hatte, und dann schien die Zeit einen Flügelschlag meines Herzens lang stehen zu bleiben. Mir gegenüber hatte eine betörend schöne Frau im Schein der hereinfallenden Sonne Platz genommen. In den Händen hielt sie ein schwarzes Notizbuch und einen Flyer. Ich erkannte den Namen der Stadt, in der der Zug zuletzt gehalten hatte, und den Schriftzug Musée d’Art Moderne et Contemporain. Sie war groß und schlank, der Blick ihrer blauen Augen unter markant geschwungenen Brauen ernst. Ich betrachtete ihre gerade Nase und die vollen, rot geschminkten Lippen, die ein bisschen wie ein Herz geformt waren. Als sie den Kopf leicht neigte, fielen ihr dichte Ponyfransen in die Stirn.

Rauchig und warm klang ihre fragende Stimme in mir nach und sorgte unwillkürlich für eine Gänsehaut auf meinen Armen.

Keine Einleitung, keine Begrüßung, kein Hallo.

Ihre Mundwinkel zuckten, als ich nichts erwiderte und sie einfach nur anstarrte.

»Wer sagt, dass ich auf dem Weg nach Paris bin?«, entgegnete ich schließlich ebenfalls auf Französisch und biss mir gleich darauf auf die Unterlippe. Die Fremde schwieg, dann lehnte sie sich mir ein Stück entgegen und schlug die Beine lässig übereinander. Endlosbeine, die in nudefarbenen High Heels endeten. C’est la révolution, stand in zackiger, fast schon aggressiver Schrift auf der Seite des Schuhs, und dieser Bruch in all ihrem Pariser Chic brachte mich unwillkürlich zum Lächeln. Revolution und Ausbruch. Damit konnte ich mehr anfangen als mit ihrer Eleganz, die mich eher sprachlos machte.

»Der Blick in deinen Augen.« Sie schien einen Moment nachzudenken, dann sagte sie: »Du bist definitiv auf dem Weg nach Paris. Und es gibt irgendetwas, das du dort finden willst.«

Ich schluckte und riss mich vom Anblick ihrer Beine los. O Gott.

Der Blick in deinen Augen. Flirtete sie mit mir?

»Du hast recht«, erwiderte ich, »ich muss etwas herausfinden.«

»Was deine Bestimmung ist?« Obwohl sie die Stimme am Ende des Satzes leicht hob, klang es wie eine Feststellung. Nicht wie eine Frage.

»Und woher weißt du das?«, ich grinste und senkte die Stimme, »hast du das auch im Blick meiner Augen gelesen?«

»Vielleicht. Vielleicht bin ich aber auch einmal wie du gewesen. Vielleicht bin ich auch nach Paris gegangen, um meine Träume zu suchen und zu verwirklichen«, sagte sie rau und mit einem Unterton, den ich nicht ganz einordnen konnte.

»Sind deine Träume wahr geworden?«, wollte ich wissen. Obwohl sie nur wenige Jahre älter sein konnte als ich, schien sie von einer Vergangenheit zu sprechen, die schon ein halbes Leben zurücklag.

»Ich schätze, ja.«

»Das klingt nicht nach einem eindeutigen Ja. Eher nach einem Ja, auf das ein Aber folgt.« Ich befeuchtete meine trockenen Lippen mit der Zungenspitze. Sie machte mich nervös. »Was ist das Aber? Und wieso musstest du deine Träume erst suchen? Sind Träume eigentlich nicht einfach da und fühlen sich an, als wären sie es immer schon gewesen?«, schob ich schließlich hinterher. Meine Sehnsucht, eine Zeit lang in Paris zu leben, hatte mich mein ganzes bisheriges Leben lang begleitet, ebenso wie die Geschichten meiner Mutter.

Sie musterte mich. »Du bist neugierig«, stellte sie amüsiert fest.

»Ich bin aufmerksam.«

»Und neugierig.«

»Du hast angefangen.«

Ihre Mundwinkel hoben sich erneut, und ihre roten Lippen nahmen eine noch deutlichere Herzform an. »Touché.«

»Also, dieses Mal ganz ohne Aber: Sind deine Träume wahr geworden? Ja oder Nein?«, kam ich auf meine erste Frage zurück und zog an einer der Dreads, die sich aus meinem Haarknoten gelöst hatte. Strich über Yunas Holzperle, meine Glücksperle.

Einen Moment lang blickte sie aus dem Fenster und hob geistesabwesend die linke Hand, um sich eine Haarsträhne hinter das Ohr zu schieben. Dabei bemerkte ich ein Tattoo an ihrem Ringfinger, auf dem unteren Gelenk. Es war das Bild einer Schlange.

»Sagen wir so: Sie sind wahr geworden, aber gleichzeitig ist da auch die Realität, die mich eingeholt hat.«

»Wenn Träume wahr werden, dann sind sie ja logischerweise immer auch Realität«, erwiderte ich ohne zu zögern. »Das macht sie nicht weniger wertvoll.«

»Wahr gewordene Träume sind irgendwie das Schönste überhaupt, aber gleichzeitig die größte Entzauberung«, sie blickte mich an, als hätte sie mir eins der größten Geheimnisse des Lebens verraten. »Klingt das seltsam?«

Ich schüttelte den Kopf, denn mich berührte die leise Melancholie, die ihren Worten anhaftete. Immer noch wurde ihre Seite des Abteils in sanftes Licht getaucht, während meine im Schatten lag. Und etwas sagte mir, dass es in unseren Herzen genau umgekehrt aussah – in meinem Licht, in ihrem Schatten.

Ich beugte mich ein Stück zu ihr herüber und … ich müsste nur meine Hand ausstrecken, um mit den Fingerspitzen über ihre nackten Beine zu streichen. »Vielleicht brauchst du ja einfach neue Träume?«

»Und was, wenn die zu groß sind?«

Wieder schüttelte ich den Kopf. »Träume sind niemals zu groß, höchstens zu klein. Außerdem macht sie das doch irgendwie aus: Dass sie immer ein bisschen magisch bleiben und einem manchmal zu entwischen drohen.«

Durchdringend blickte sie mich an. »Du bist definitiv eine Träumerin.«

Ich nickte. Das war ich schon immer gewesen. Wenn es nach Yuna ging, dann war mein Glaube an das Gute so groß, dass ich ihrer Meinung nach leicht verletzt und ausgenutzt werden konnte. Ich dachte an Vera und daran, wie sie mir mit ihrem schönsten Lächeln das Herz gebrochen hatte. Für einen Augenblick krampfte sich etwas in mir zusammen. Ein kurzer, heftiger Stich, der innerhalb der letzten Monate zwar nach und nach schwächer geworden war. Doch bei dem Gedanken an sie spürte ich ihn noch. Wahrscheinlich hatte Yuna gar nicht so unrecht: Ich musste besser auf mein Herz aufpassen.

Schnell schob ich diese Überlegung beiseite. »Du kannst dich glücklich schätzen, in diesem Abteil gelandet zu sein, denn ich bin eine wahre Expertin, wenn es ums Träumen geht«, sagte ich.

»Vielleicht werde ich ja darauf zurückkommen.« Wieder war ich mir nicht sicher, ob sie mit mir flirtete oder ob es nur ihre Art war, so … so verführerisch zu sprechen. Bei Männern fiel es mir so viel leichter, solche Situationen richtig einzuschätzen. Aber bei Frauen …

Der Zug fuhr ratternd in einen Tunnel, der Himmel und die Wolken wurden von Schwärze geschluckt. Für einige Augenblicke war das Innere des Abteils in Dunkelheit getaucht, ehe wieder Helligkeit sichtbar wurde. Es hätte mich nicht gewundert, wenn ihre schlanke Gestalt sich innerhalb dieser wenigen Atemzüge in Luft aufgelöst hätte, so wie sie auch wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Ja, ich war eine Träumerin, ein Mädchen mit dem Kopf in den Wolken, und die Fremde … sie wirkte fast wie ein Teil eines Traums. Der rasende Zug, das goldene Licht, das Abteil, in dem es erst nur mich allein gegeben hatte und plötzlich uns beide. Es war losgelöste Zeit, in der nur wir existierten.

»Hast du einen Traum, den niemand kennt?«, fragte ich, als wieder Sonnenstrahlen auf ihre helle Haut fielen. Sie hatte recht: Ich war wahnsinnig neugierig, und das hatte absolut nichts damit zu tun, dass sie das Gespräch begonnen hatte. Es lag an mir, am meisten aber an ihr. »Erzählst du ihn mir?«

»Wieso sollte ich dir so etwas Persönliches erzählen?« Sie klang überrascht.

»Weil du mich mit großer Wahrscheinlichkeit nie wiedersehen wirst, und man fremden Menschen manche Dinge besser erzählen kann. Ich kenne dich und dein Leben nicht, nicht deine Vergangenheit und nicht deine Gegenwart. Einen unvoreingenommeneren Menschen kannst du also gar nicht finden.«

Mehrere Herzschläge lang war da nur das Rattern des Zugs. Der Schaffner lief an unserem Abteil vorbei, doch er warf nur einen schnellen Blick durch die Scheibe und ging dann weiter, ohne hereinzukommen.

»Okay, fille étrangère, fremdes Mädchen. Ich erzähle es dir, wenn du mir im Gegenzug etwas Wahres über dich erzählst.« Ein selbstsicheres Lächeln als Antwort auf mein unsicheres.

»Okay.«

Sie legte den Kopf schief und streckte mir ihre Hand entgegen. Warm schlossen sich ihre Finger um meine und jagten einen kurzen Schauer durch meinen Körper. Ihre Augen waren gar nicht nur tiefblau, wie ich zunächst gedacht hatte. Da war ein brauner Fleck in ihrem rechten, wie eine einsame Insel im endlos blauen Meer. Ihr Blick aus diesen ungewöhnlichen Augen bohrte sich mit absoluter Coolness in meinen und zeugte davon, dass sie es gewohnt war, bewundernd angesehen zu werden.

»Okay«, sagte ich noch einmal und zog meine Hand langsam zurück. Das Gefühl ihrer unerwarteten Berührung blieb.

»Ich träume davon, ein Herz zu haben, das richtig funktioniert. Das so funktioniert wie bei allen anderen auch. Ich träume davon, dass es dort keine Leerstellen mehr gibt.« Mit jedem Wort, das ihre roten Lippen geformt hatten, war ihre Stimme rauer geworden. Es passte zu ihrem Auftreten, dass sie mehr in Rätseln sprach als in Antworten.

Ich träume davon, dass es dort keine Leerstellen mehr gibt. Ich schluckte, denn irgendetwas an der Traurigkeit dieser Worte zog mich an. Ich hätte gern genauer nachgefragt, doch mir war klar, dass sie mir nicht mehr dazu sagen würde.

Und dann war ich an der Reihe, ihr wie versprochen etwas Wahres über mich zu erzählen: »Eine gute oder eine schlechte Wahrheit?«

»Kommt darauf an, was für ein Mensch du bist«, entgegnete sie.

»Zu meinem sechsten Geburtstag habe ich ein Puzzle bekommen, das ich mir schon ewig gewünscht habe.« Noch jetzt sah ich das glänzende Papier vor mir, Maman und Papa, die zu mir hinunterlächelten, als ich es vorsichtig öffnete, weil ich nichts kaputt machen wollte. »Um das Geschenk war ein dunkelgrünes Band mit einer Schleife gewickelt, das ich danach fast ein Jahr lang überallhin mitgenommen habe. Ich habe mir manchmal vorgestellt, an der Schnur wäre ein Drachen befestigt, der sich in der Luft aufbauschte. Manchmal war es eine Leine mit einem Hund daran. Oder ein Einhorn, das ich gefangen hatte. Irgendwann wollten die anderen Kinder meine Schnur haben, weil sie dachten, dass sie irgendwie magisch wäre … Aber das war sie nicht, zumindest nicht bei ihnen. Das war nur mein Kopf.« Ich hob mein linkes Handgelenk, um das die Schnur mehrmals gewickelt war und strich mit den Fingern darüber. »Seitdem denke ich, dass letztendlich alles möglich ist. Man muss nur daran glauben.«

Lang und intensiv sah sie mich an, bis ich unruhig auf meinem Sitz herumzurutschen begann. Meine nackten Beine klebten unangenehm auf dem synthetischen Stoff des Bezugs, und meine Bewegungen verursachten ein unschönes Geräusch. Ich hielt inne, sah die Fremde an.

»Und was ist die Schnur heute für dich?«, wollte sie schließlich wissen und betrachtete das Band um mein Handgelenk.

»Ein Glücksbringer«, sagte ich grinsend, senkte dann aber die Stimme. »Vielleicht bin ich aber auch eine Prinzessin von einem fernen Planeten, und dieses Armband ist meine einzige Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen.«

Sie lachte leise. Je länger wir uns unterhalten hatten und der Klang ihrer rauchigen Stimme das Abteil erfüllte, desto neugieriger war ich auf sie geworden. Weil jede ihrer Antworten neue Fragen aufwarf, weil sie wie ein großes Geheimnis wirkte.

Und dann rollte der Zug plötzlich in die Gare du Nord ein, der Himmel verschwand, und mein Herz raste – wegen dieser Frau, wegen des Abenteuers, das genau in dieser Sekunde begann. Ich hievte meinen bunten Rucksack mit den ausgefransten Blumen-Patches aus der Gepäckablage, während sie nach einem Rollkoffer und einer schwarz glänzenden Handtasche griff. Wir standen uns auf dem Gleis gegenüber, und eine Flut an Menschen schob sich links und rechts an uns vorbei. Es war wie die Ruhe im Auge eines Sturms. Ich musste den Kopf in den Nacken legen, um ihr in die Augen blicken zu können.

»Salut«, verabschiedeten wir uns und sahen uns unentschlossen an. Salut. Eines der Dinge, die ich am Französischen so liebte: Dass ein und dasselbe Wort ein Willkommen und ein Abschied bedeuten konnte.

»Salut«, sagte ich noch einmal und meinte beides. In einem Paralleluniversum würde ich sie nach ihrer Nummer fragen, würde eine Abfuhr riskieren, weil sie vielleicht nicht auf Frauen im Allgemeinen oder mich im Speziellen stand. Lieber eine Abfuhr riskieren, als später etwas bereuen und eine Chance vertan zu haben. Die Chance auf eine aufregende erste Nacht in Paris mit jemandem, der mein Herz aus unerfindlichen Gründen zum Rasen brachte. Doch deshalb war ich nicht hier. In den nächsten zwölf Monaten sollte es nur um mich gehen. Nur ich ganz allein und sicher keine Frau wie sie, die meinem Herzen gefährlich werden könnte. Diese berauschende Mischung aus Schneewittchen und Femme Fatale.

Ich sah auf ihren Herzmund, den ich in diesem anderen Universum küssen wollen würde, dann lächelte …

Mignon

… sie mich ein letztes Mal an, drehte sich um und machte sich auf den Weg. Wohin, wusste ich nicht, weil wir diesen Part in unserer Unterhaltung irritierenderweise übersprungen hatten. Den, in dem man sich einander vorstellte. Ich schüttelte den Kopf. Non,ich hatte ihn übersprungen. Bordel de merde, und dann hatte ich ihr erst meine innere Zerrissenheit angedeutet und ihr dann von Träumen erzählt. Dinge, von denen allein Benoît etwas wusste. Und jetzt sie, ein Mädchen mit leuchtend grünen Augen voller Lebenshunger und Tatendrang.

»Warte!«, sagte ich hastig und ging ihr ein paar Schritte hinterher. »Wie heißt du?«

Tatsächlich wandte sie sich wieder um. Unentschlossen sah sie mich an, zog an einer der Dreads, die sich aus dem wirren Knoten auf ihrem Kopf gelöst hatte, dann kräuselten sich ihre Lippen zu einem frechen Grinsen. So breit, dass das Grübchen auf der linken Seite sichtbar wurde. »Gib du mir doch einen Namen«, schlug sie vor.

Ich lachte nervös, weil mir selbst nicht ganz klar war, was ich da tat. Wieso ich doch noch etwas gesagt hatte, wieso ich nicht wollte, dass unsere Wege sich hier und jetzt trennten. Normalerweise musste ich mich nicht um irgendwelche Leute bemühen – sie gerieten sonst unbemerkt in meine Umlaufbahn, während ich selbst mich weiterdrehte. Doch bei ihr war da plötzlich eine Neugier gewesen. Wäre sie ein Bild, es wäre eines mit einem feinen und doch dominierenden mutigsten Strich.

Gib du mir doch einen Namen. Sie war allein in dem Abteil gewesen und hatte es gar nicht bemerkt, als ich mich auf die gegenüberliegende Seite setzte. Ich hatte die Zeit nutzen wollen, um die Notizen durchzugehen, die ich während der Tage in Straßburg gemacht hatte. Am nächsten Tag musste ich wieder in die Redaktion, und ich war immer gerne gut vorbereitet. Doch dieses Mädchen mit dem abwesenden Blick hatte mich schnell fasziniert. Bestimmt zehn Minuten lang saß sie so da und malte Bilder in die Luft. Und dabei sah sie so scheißglücklich aus, als könne sie sich nichts Schöneres auf der Welt vorstellen. Vielleicht beneidete ich sie darum, ganz sicher aber bewunderte ich sie dafür.

Gib du mir doch einen Namen. Ich ließ meinen Blick über sie gleiten. Über die hellen Dreads mit den Perlen darin, die mandelförmigen Augen, das kunstvolle Mandala-Tattoo auf ihrem linken Unterarm. Die Jeansshorts mit den aufgestickten bunten Blumen. Das Gefühl von Freiheit und Verbundenheit mit der Welt, das von ihr ausging. Und zwischen all dem eine feine Unsicherheit, die immer wieder für einen Moment in ihren Waldaugen aufblitzte.

»Pocahontas«, sagte ich plötzlich und unterdrückte den Impuls, mir sofort auf die Lippen zu beißen. Es hätte den Lippenstift ruiniert, vor allem aber hätte es ihr gezeigt, dass sie mich aus irgendwelchen seltsamen Gründen aus dem Konzept brachte. Pocahontas, die Verspielte. Die, die alles durcheinanderbringt.

Sie schwieg und ich dachte schon, sie würde sich einfach umdrehen und gehen, doch dann blitzte etwas in ihrem Blick auf.

»Pocahontas«, wiederholte sie langsam in diesem perfekten, runden Französisch, in dem ganz leicht noch etwas anderes mitschwang. »Gefällt mir.«

Ich lächelte. »Ich hoffe, du findest hier, was du suchst.« Und vielleicht hoffe ich, dass wir uns wieder begegnen werden.

»Merci. Das hoffe ich auch. Und du, mach deine Träume wahr und dein Herz voll.«

Im nächsten Augenblick stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. Ihre Lippen waren so weich wie die Berührung unerwartet war, und ehe ich noch etwas erwidern oder tun konnte, verschwand sie inmitten all der Menschen, die von den Gleisen in die Halle der Gare du Nord strömten. Im goldenen Licht, das durch die Bogenfenster fiel, schien die Zeit einen Moment lang stillzustehen. Die Luft flirrte hoch oben unter dem spitz zulaufenden Dach, während ich einfach nur dastand und dorthin starrte, wo dieses elfenhafte Mädchen eben noch gewesen war.

Dann strich ich den Rock meines Kleides glatt, durchquerte die Halle und trat schließlich hinaus ins Freie. Und bei jedem einzelnen Schritt hallten zwei ihrer Sätze hell und klar in mir nach.

Vielleicht brauchst du ja einfach neue Träume. Schritt, wehendes Kleid, Schritt. Mach deine Träume wahr und dein Herz voll.

2.  Kapitel

Lilou

Ich stand direkt vor dem Bahnhof, drehte mich auf der Place Napoleon III. im Kreis und atmete ganz bewusst die Luft ein.

Pocahontas, ausgesprochen mit dieser rauchigen Stimme. Für einen Moment hing der Name noch über allem, dann wurde er verdrängt vom permanenten Hupen der Autos, umherhastenden Menschen und dem wütenden Ruf eines Taxifahrers. Koffer rollten über Asphalt, Absätze klackerten durch das Großstadtchaos. Ich machte mich auf die Suche nach der Metro, erst nach der passenden Linie, dann der richtigen Station. Nach einer Viertelstunde Fahrt wurde ich, zurück im Freien, von einem kurzen Schauer überrascht, doch ich sah nur den Regenbogen über den Dächern, als die Sonne wieder durch die Wolken brach. Ich fühlte mich frei, nur ganz leise im hintersten Winkel meines Verstandes rührte sich die Furcht, hier am Ende nicht das zu finden, was ich suchte. Dabei wog Mamans einziger und letzter Brief schwer am Boden meines Blumenrucksacks.

Das Quartier Latin war bunt und laut und voller Leben. Cafés und Bars mit leuchtenden Markisen drängten sich dicht aneinander, wie die Leute an den runden Tischen davor. Mein Weg führte mich durch die schmalen Straßen und Gassen des Viertels, und immer wieder musste ich auf meinem Handy die Route aktualisieren, weil ich vergaß, auf das Display zu schauen. Stattdessen sah ich an den hellen Hausfassaden hinauf, entdeckte bodentiefe Fenster mit verzierten Gittern davor, konnte meinen Blick nicht von all dem Neuen lösen und nahm immer wieder die falschen Abzweigungen. Ich ließ mich von diesem berauschenden Strudel aus Eindrücken mitreißen und kam schließlich deutlich zu spät vor meinem neuen Zuhause an. Hier war es ruhiger, das Treiben rund um die Bistros schien weit weg zu sein, nur die Musik, die gedämpft bis hierher drang, erinnerte daran, dass wenige Gassen weiter das Leben tobte.

Das Haus sah so wunderschön alt aus wie auf den Bildern, nur die breite grüne Eingangstür schien frisch gestrichen zu sein, und auch die Blumenkästen auf beiden Seiten wirkten neu. Aus einem der Fenster ertönten Gesang und Gelächter, auf den Stufen zum Eingang saß ein Mann, ein Bein lässig ausgestreckt, das andere angezogen. Er hielt ein Buch in der Hand, blätterte konzentriert eine Seite um, während sich die Sonne in seinen blonden Haaren verfing – von François jedoch fehlte jede Spur.

Ich hatte die Anzeige für die Wohnung online gefunden und anschließend einige Mails mit ihm hin- und hergeschrieben. Auf dem Foto des Profils war ein älterer Mann mit freundlichen Augen und einem lustigen Schnauzer zu sehen gewesen. Seine Haut wie zerknittertes Papier und Falten, guten Falten. Die in den Mundwinkeln und um die Augen herum. Die, die von einem fröhlichen Herzen erzählten. Er war so nett und entgegenkommend gewesen und jetzt hatte ich unnötig getrödelt. Gerade wollte ich seine Nummer wählen, als unerwartet ein Schatten auf mich fiel.

»Hey. Bist du Lilou?«

Der Mann, der eben noch auf den Stufen vor der Tür gesessen hatte, stand nun vor mir und überragte mich deutlich. Er hatte feine Gesichtszüge und dunkle Augen – mit einem wachen Blick, der mich an Yuna erinnerte.

»Ja.« Ich schob die Riemen meines Rucksacks hin und her, denn inzwischen spürte ich das Gewicht doch überdeutlich auf den Schultern.

»Ich bin Benoît«, sagte er mit einem entwaffnenden Lächeln, während er das schmale Buch in die hintere Hosentasche seiner Jeans schob. Er schien älter zu sein als ich, vielleicht Mitte zwanzig. Unwillkürlich fragte ich mich, wo ich in sieben Jahren sein würde, doch bei dem Gedanken hatte ich kein klares Bild vor Augen. Da waren nur Vergangenheit und Gegenwart. »François ist mein Grand-Père und musste kurzfristig in sein Bistro, weil mit einer Lieferung etwas schiefgelaufen ist. Er hat mich gebeten, auf dich zu warten und dir die Schlüssel zu geben.«

Erleichtert atmete ich auf. »Sorry, dass du warten musstest. Irgendwie hat mich das alles«, ich zeigte in einer vagen Geste um mich, »ein bisschen abgelenkt, als ich hergelaufen bin.«

»Es ist ja auch verdammt schön.« Benoît zwinkerte mir zu als er ergänzte: »Ich verzeihe dir.« Er sah mich noch einen Moment an, dann deutete er hinter sich auf die Tür. »Sollen wir? François wollte, dass ich dir noch ein paar Sachen zeige.«

»Unbedingt«, entgegnete ich und nickte heftig.

Benoît lachte, vielleicht wegen meiner Vehemenz, vielleicht wegen meiner Aufregung, die ich so wenig verstecken konnte. Die ich auch gar nicht verstecken wollte.

Im Inneren des Hauses wand sich eine dunkle Holztreppe vor kunstvoll verzierten Wandfliesen nach oben. Der Eingangsbereich war nur schwach beleuchtet, dennoch erkannte ich im hinteren Bereich die Briefkästen. Daneben führte eine schmale Tür zu einem winzigen Innenhof, in dem ein Apfelbaum stand. Man sah an vielen Stellen, dass das Gebäude seine beste Zeit längst hinter sich hatte, doch gerade dieser entrückten Atmosphäre wohnte eine ganz eigene Magie inne. Die Wohnung war die letzte unter dem Dach, so wie ich es mir immer erträumt hatte – so nah wie möglich am Himmel. Sie bestand aus einem winzigen Flur und einem großzügig geschnittenen Zimmer mit Dachschrägen und großen bodentiefen Fenstern, durch die das Sonnenlicht in goldenen Mustern auf den Holzboden fiel.

Dominiert wurde der Raum von einem breiten Bett mit heller Tagesdecke und einem senffarbenen Sessel mit bunten Kissen darauf. Neben der Tür zur Küche, in der es gerade einmal genug Platz gab, um mich um die eigene Achse zu drehen, stand ein runder Tisch mit zwei Stühlen.

Benoît zeigte mir, was ich in welchen Schränken fand, erklärte mir, wie ich von hier zum nächsten Supermarkt kommen würde, welche Boulangerie im Viertel die besten Croissants machte und wies mich lachend darauf hin, dass Madame Mercier in der Wohnung direkt unter uns wahnsinnig neugierig war und ihre Nase ständig in fremde Angelegenheiten steckte. Als er in einem Nebensatz erwähnte, dass er in Paris aufgewachsen war, feuerte das meine Begeisterung noch weiter an – wie wunderschön es sein musste, das hier jeden Tag zu haben! Schließlich drückte Benoît mir die Schlüssel in die Hand und war schon fast zur Tür hinaus, da drehte er sich noch einmal um und schrieb seine Nummer auf einen alten Kassenzettel von Monoprix. Er hatte Schokolade und Wein gekauft.

»Falls du wegen irgendetwas Hilfe brauchen solltest «, erklärte Benoît noch, dann war er weg.

Als ich begann meinen Rucksack auszupacken, sah ich Papas Stirnrunzeln vor mir. Er hatte mir angeboten, den großen Koffer aus dem Keller zu holen, doch ich hatte so wenig wie möglich mitnehmen wollen. Es waren meine liebsten Klamotten – nichts in Schwarz, nichts in Weiß, nur bunte Sachen. Drei Bücher, mein Laptop. Eine Lichterkette, die ich an der Wand hinter dem Bett befestigte, darüber hing ich das Tuch mit dem Mandala in der Mitte. Das Licht würde wunderschön sein, sobald die Sonne untergegangen wäre. Mamans Brief verbannte ich mit brennenden Fingern vorerst in die Kommode im Flur. Die beiden Postkarten, die ich heute an einem kleinen Stand am Münchner Hauptbahnhof entdeckt und an denen ich nicht hatte vorbeigehen können: Das Leben ist so bunt, wie du dich traust es auszumalen und You already have what it takes, kam an die Wand gegenüber vom Bett. Dann die Fotos: Ich auf Yunas Schultern, ein Bier in der Hand und ein breites Grinsen auf den Lippen. Mein sechster Geburtstag, mein strahlendes Gesicht zwischen dem meiner Eltern, das einzige Bild von Maman, das ich besaß. Papa und ich am Tag der Zeugnisübergabe. Er hatte essen gehen wollen, doch ich hatte mir einen Abend mit Pizza und einem Filmmarathon gewünscht – man sah uns auf dem Boden vor der Couch sitzen, mein Mund war voller Tomatensoße. Weitere Schnappschüsse, ein Bild von Yuna, Vera, Natalie und mir, das ich aus irgendeinem Grund mitgenommen hatte. Vielleicht, weil unsere Vergangenheit unabdingbar Teil unserer Gegenwart war. Als das letzte Foto hing, öffnete ich die Fenster und schob den Sessel direkt davor. Vor mir erhoben sich Häuser mit flachen Dächern und schmalen Fenstertüren mit Gittern oder kleinen Balkonen davor. Gegenüber saß ein Mädchen wie ich am Fenster. Sie hielt eine Tasse in der einen, ein Buch in der anderen Hand. Von irgendwoher ertönte klassische Klaviermusik, vermischt mit dem Klang elektronischer Beats.

Ich schrieb Papa eine kurze Nachricht, dass ich gut angekommen war, dazu ein Selfie mit in die Höhe gerecktem Daumen. Eigentlich hatte ich ihn anrufen wollen, aber dann hätte sich wieder dieses schlechte Gewissen bemerkbar gemacht. Ein schlechtes Gewissen, weil in jedem seiner Worte diese Traurigkeit mitschwang. Schon seit ich in der Zehnten angefangen hatte, nach dem Unterricht in dem kleinen Kino zu arbeiten, um Geld für meinen Traum von Paris zu sparen. Seit Maman gegangen war, erdrückte er mich mit seiner Zuneigung, doch ich war jetzt erwachsen, es war Zeit zu fliegen und meinen eigenen Weg zu gehen. Meine eigenen Fehler zu machen und es beim nächsten Mal besser zu wissen. Und herauszufinden, wer genau ich war und wer ich sein wollte. Das konnte ich nicht, wenn Papa versuchte, über jeden meiner Schritte zu wachen.

Schließlich wählte ich Yunas Nummer und startete einen Videoanruf.

»Babygirl«, kreischte sie Sekunden später in das Handy und für einen Moment war ihr Gesicht so nah, dass ich nicht mehr als fliegende knallrote Haare und ihr breites Lachen mit dem glitzernden Piercing in der Unterlippe sah. Dann wackelte das Bild, bevor Yuna das Handy anlehnte und ich sie auf ihrem Bett sitzen sah. »Wie ist es?«, wollte sie wissen. »Erzähl mir alles!«

»So