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Mia hat eine Liste. Keine gewöhnliche. Es ist ihre Liste fürs Leben - und vielleicht auch fürs Sterben. Nach einer niederschmetternden Diagnose bleibt ihr nicht mehr viel Zeit. Aber sie hat Träume. Und Elias. Was als vorsichtige Begegnung beginnt, wird zu einer Geschichte über Mut, über das Zulassen von Liebe - und über das, was bleibt, wenn alles andere verschwindet. ,,Und manchmal darüber hinaus'' ist ein berührender, zarter und intensiver Roman über zwei junge Menschen, die dem Leben mit offenen Herzen begegnen - bis zum letzten Punkt auf ihrer Liste
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Portland, Oktober
Der Regen war kein Ereignis mehr in dieser Stadt – er war ein Zustand. Keine Unterbrechung des Alltags, sondern ein fester Bestandteil davon. So selbstverständlich wie der Asphalt unter den Füßen oder das gedämpfte Rauschen der Straßenbahnen, das sich zwischen den Häuserzeilen verlor. Er fiel nicht in
Sturzbächen, sondern in einem gleichmäßigen, fast gleichgültigen Tropfenregen – als hätte der Himmel längst aufgehört, sich zu bemühen. Kein Donner, kein Blitz, kein dramatisches Schauspiel. Nur diese konstante, ruhige Nässe, die alles bedeckte, als wolle sie Portland sanft in Watte hüllen.
Die Stadt war grau. Nicht trostlos – eher nach innen gekehrt. Eine Stadt mit gesenktem Blick, mit Gedanken, die sich lieber in Fensterscheiben spiegelten als laut ausgesprochen wurden.
Fensterläden blieben halb geschlossen, als wollten sie sich der Welt nur mit Vorbehalt öffnen. Auf den spiegelnden Gehwegen tanzten Lichter wie Erinnerungen, die man nur am Rand wahrnimmt – flüchtig, verformt vom Wasserfilm, der sich über alles legte. Der Regen kroch durch die Ritzen alter Fensterrahmen, schlich sich unter Türen, und bildete feine Tropfenlinien an Schultaschen, Parkbänken und Fahrradlenkern. Er zeichnete die Umrisse der Welt neu – verwaschen, flüchtig, vage.
Portland atmete schwer in dieser Jahreszeit, aber regelmäßig. Die Menschen sprachen leiser, bewegten sich langsamer, als wollten sie die Geräusche dämpfen, die sonst zu viel gewesen wären. Vielleicht war das der Grund, warum so viele sich Kapuzen tief ins Gesicht zogen, nicht nur gegen die Nässe, sondern auch gegen den Blickkontakt. Und wer sprach, tat es gedämpft – als fürchte man, der Regen könnte jedes Wort verschlucken, bevor es den anderen erreichte.
Elias mochte den Regen.
Nicht im kitschigen, verklärten Sinn – nicht wegen irgendeiner romantischen Vorstellung von Melancholie. Sondern wegen der Ruhe, die er brachte. Der Regen war wie ein Filter, der die Geräusche, die Gesichter und die Erwartungen der Menschen dämpfte. Im Regen wurde niemand angesprochen. Keine Begrüßungen, keine langen Blicke, keine Fragen wie „Wie geht’s?“ oder „Willst du mitkommen?“. Nur
Bewegungen – zielgerichtet, schweigend, in Eile. Und das passte Elias. Sehr sogar.
Man könnte sagen, der Regen war sein Verbündeter. Eine Form von Tarnung, die ihn vor der Welt verbarg, ohne dass er sich verstecken musste. In dieser diffusen Welt voller Tropfen und Nebel konnte man verschwinden, ohne sich zu entfernen. Elias hatte sich längst daran gewöhnt, sich zwischen den Ritzen der Aufmerksamkeit zu bewegen – weder laut noch auffällig, aber dennoch da. Still, aber nicht stumm. Sichtbar, aber ohne Bedeutung.
Er trat aus dem Bus, zog die Kapuze seiner verwaschenen Jacke tiefer ins Gesicht und steckte die Hände in die Taschen. In seinem linken Ohr lief Musik – irgendein instrumentaler Lo-Fi-Track, dessen Titel er längst vergessen hatte, der aber reichte, um ihn noch einen Schritt weiter aus der Realität zu ziehen. Die Musik hatte keine Worte, nur Klang – gerade deshalb mochte er sie. Worte lenkten ab, verlangten Bedeutung. Klänge ließen Raum. Raum zum Denken, Raum zum Nichtdenken.
Vor ihm lag die Lincoln High. Das Gebäude war wie der Rest von Portland: alt, kantig, regennass. Graubrauner Backstein, bleiverglaste Fenster, ein
Eingangsbereich, der nach jahrzehntelangem Schulbetrieb roch – nach Papier, nasser Kleidung und einer unterschwelligen Müdigkeit, die in den Wänden hing. Es war ein Ort, der alles gesehen hatte, ohne sich daran zu erinnern. Ein Gebäude, das Menschen kommen und gehen sah, ohne jemanden wirklich zu behalten.
Elias war pünktlich. Wie immer.
Nicht, weil er ein Streber war oder weil ihm die Schule besonders wichtig gewesen wäre – sondern weil
Unpünktlichkeit Aufsehen bedeutete. Und Aufsehen war das Letzte, was er wollte.
Wenn man zu spät kam, drehte sich alles.
Augen folgten einem. Stimmen verstummten. Der Lehrer machte eine dieser passiv-aggressiven Bemerkungen, die wie ein Tropfen Öl auf Wasser schwammen – oberflächlich harmlos, aber zäh und unangenehm. Es war diese kurze, aber unausweichliche Bühne, auf der man stehen musste, ob man wollte oder nicht.
Elias betrat das Gebäude, nickte dem Hausmeister stumm zu – einem Mann mit Halbglatze, grauem Bart und einem Thermobecher in der Hand, der aussah, als würde er den ganzen Tag aus genau diesem einen Becher trinken. Eine dieser Gestalten, die immer da waren, aber selten auffielen. Wie ein Möbelstück, das man nie wirklich anschaut, aber vermissen würde, wäre es plötzlich weg.
Er stieg die knarzenden Treppen zur zweiten Etage hinauf. Die Gänge waren halb leer. Nur vereinzelt liefen Schüler mit nassen Schuhen über das Linoleum, das bei jedem Schritt ein leichtes Quietschen von sich gab. Gespräche waren selten und leise. Man hörte das Schließen von Spinden, das Rascheln von Jacken, das entfernte Brummen eines Kopierers.
Im Raum 204, gleich hinter dem Lehrerzimmer, setzte er sich wie immer hinten links – dritte Reihe, direkt am Fenster. Er hatte diesen Platz gewählt, weil er ihn kannte. Weil er das Kratzen auf der Tischplatte kannte, die leichte Neigung der Fensterbank, das Rauschen der Bäume draußen, wenn der Wind durch sie strich. Hier war er unbeobachtet, aber nicht ganz abgeschottet. Sichtbar, aber nicht im Mittelpunkt. Genau richtig.
Der Blick aus dem Fenster war verschwommen vom Regen.
Regentropfen zogen lange Spuren über das Glas, als würden sie selbst zögern, bevor sie sich dem Boden hingaben. Auf dem Sportplatz tropften die Tornetze. Der Himmel hing tief, die Farben waren blass, fast wie ausgewaschen.
Er holte sein Notizbuch heraus – schwarzer Umschlag, Eselsohren, Seiten, die vom vielen Auf- und Zuschlagen leicht aufgequollen waren – und blätterte darin, ohne wirklich zu lesen. Halbsätze, Fragmente, Ideen für Geschichten, die nie zu Ende gedacht waren. Worte wie lose Fäden, die aus seinem Inneren gesponnen wurden, ohne dass er sagen konnte, wozu.
Elias schrieb, seit er denken konnte.
Nicht für Noten. Nicht für Lehrer. Nicht, um irgendwo veröffentlicht zu werden. Schreiben war ein Ort. Ein innerer Raum, in dem er sich bewegen konnte, ohne dass jemand ihn beobachtete. Ohne Regeln. Ohne Erwartungen. Es war die einzige Tür, durch die er sich selbst begegnete – und sich manchmal sogar verstand.
Wenn die Welt draußen zu laut wurde – wenn die Stimmen in der Klasse schrill, die Fragen der Lehrer zu direkt, die Geräusche auf den Fluren zu viel wurden – dann war das Schreiben sein Rückzugsort. Ein stiller Raum, den er mit niemandem teilte.
Er kritzelte ein paar Zeilen, halb in Gedanken, halb aus Routine.
Ein Gedanke, ein Bild, ein Gefühl. Kein Anfang, kein Ende. Nur ein Satz, der sich anfühlte wie ein Echo.
Dann betrat sie den Raum.
Nicht wie jemand, der sich entschuldigt. Nicht wie jemand, der stört. Sondern wie jemand, der einfach kommt, wenn sie kommt.
Mia.
Mia.
Der Klang ihres Namens war in Elias’ Kopf nicht laut. Nicht aufdringlich. Kein Trommelschlag, keine Explosion. Eher wie ein Licht, das sich langsam über eine Oberfläche schiebt und dabei alles in sanftes Gold taucht. Warm, aber nicht heiß. Präsenz, nicht Aufmerksamkeit. Sie trat in den Raum wie ein Gedanke, der sich nicht anmeldet, aber bleibt. Unaufgeregt, selbstverständlich – und doch war sie sofort da. Vollständig.
Sie kam zu spät – ein paar Minuten vielleicht –, aber niemand schien das zu stören. Nicht die Lehrerin, nicht die anderen Schüler. Keine Kommentare, kein Innehalten. Als hätte ihre Anwesenheit immer Vorrang vor der Uhrzeit. Als würde sich der Ablauf des Unterrichts nach ihr richten, nicht umgekehrt. Als wäre ihr bloßes Erscheinen eine Antwort auf eine Frage, die keiner laut gestellt hatte, aber alle verstanden.
Ihre Schritte waren ruhig, bestimmt, beinahe schwerelos. Keine Unsicherheit, kein Zögern. Sie bewegte sich wie jemand, der nicht zu beeindrucken versucht, aber weiß, dass er gesehen wird. Ihre schwarze Jeans war an den Knien aufgescheuert, nicht aus
Modegründen, sondern als sei sie einfach oft hingefallen und immer wieder aufgestanden. Ihr Pullover – ein dunkler Violettton, der fast schwarz wirkte – hing locker über der Hose, als würde er nicht dazugehören und doch genau richtig sein. Darüber ein Parker, abgewetzt, die
Ärmel bis zu den Ellbogen hochgeschoben. Als hätte sie keine Angst, sich schmutzig zu machen. Als gehörte sie nicht in diesen Raum, aber auch nicht in einen anderen.
Ihr Haar war eine wilde Mischung aus kastanienbraun und kupferrot. Nicht gestylt, nicht gezähmt. Es wirkte, als hätte der Wind selbst darin gehaust – ungebeten, aber willkommen. Und in ihren Augen lag etwas Unnahbares – wie eine Geschichte, die niemand ganz kennt, aber jeder spürt. Etwas, das man nicht greifen kann, aber das einen dennoch berührt. Nicht Traurigkeit. Nicht Wut.
Eher eine stille Tiefe. Wie ein See, in dem etwas liegt, das man nicht benennen kann.
Sie nahm Platz – zwei Reihen vor Elias, etwas schräg rechts. Nicht in der Mitte, nicht am Rand. Ebenfalls so gewählt, dass sie Raum hatte. Raum zum Atmen, zum Beobachten, zum Anderssein. Kein Platz für die Lauten, nicht für die Unsichtbaren. Ein Platz mit Absicht, nicht mit Zufall.
Elias konnte nicht sagen, warum gerade sie seine Aufmerksamkeit gefangen hielt. Es war nicht bloß ihr Aussehen – obwohl sie schön war, auf eine wilde, unangepasste Weise, die sich nicht um Zustimmung bemühte. Es war mehr als das. Es war etwas in ihrer Art, wie sie die Welt ansah. Nicht naiv. Nicht verbittert. Sondern wach. Fast so, als würde sie in allem ein Geheimnis vermuten. Als wäre jeder Raum für sie ein Rätsel, jeder Mensch ein Fragment. Und vielleicht – nur vielleicht – suchte sie etwas, das sie selbst noch nicht kannte.
Die Lehrerin sprach irgendetwas über amerikanische Literatur. Namen fielen – Fitzgerald, Plath, Morrison. Worte wie „Symbolik“, „Zeitkritik“, „Sprachbilder“. Konzepte, die zwischen den Pulten schwebten wie Staubkörner im Licht. Elias hörte zu, ohne zuzuhören. Die Stimme der Lehrerin klang weit weg, wie durch ein Kissen gefiltert. Klar, aber bedeutungslos. Stattdessen ließ er seinen Stift über die Ränder seines Notizbuchs kreisen – schwarze Linien auf vergilbtem Papier, die sich langsam zu Formen verwandelten. Erst waren es Augen. Dann Sterne. Dann etwas Unbestimmtes, das vielleicht ein Gesicht sein wollte oder ein Gefühl. Und immer wieder: ihr Name. Nicht ausgeschrieben, aber angedeutet. Ein „M“. Dann ein „i“. Dann nur ein leerer Strich, wie ein Atemzug.
Mia.
Der Name wirkte in seinem Kopf wie ein leiser Widerhall. Kein Echo im klassischen Sinn – eher wie ein Ton, der nicht verklingt. Elias hatte sich nie viel aus Namen gemacht. Sie waren Etiketten, funktional, notwendig. Aber dieser Name war anders. Er hatte Gewicht, obwohl er leise war. Präsenz, obwohl er kurz war. Er war nicht nur ein Name – er war ein Gefühl.
Dann drehte sie sich um.
Nur einen winzigen Moment. Ihre Augen trafen seine. Nicht aus Versehen – sondern als hätte sie gewusst, dass er hinsah. Ein Blick, der weder schüchtern noch fordernd war. Kein Lächeln. Kein Ausdruck. Nur ein Blick, tief und prüfend. Fast so, als würde sie nicht fragen: Wer bist du?, sondern: Bist du echt? Und dann wandte sie sich wieder ab. Nicht abrupt. Nicht demonstrativ. Einfach weiter. Als wäre alles gesagt worden – ohne ein einziges Wort.
Elias spürte, wie sein Herz einen Schlag aussetzte. Dann einen zu viel schlug. Es war kein Schock, kein Donner, keine Explosion. Nur dieser eine Moment, der sich in seine Erinnerung einbrannte wie Tinte in Papier. Unauslöschlich. Er senkte den Blick, zwang sich zu atmen – tief, ruhig, kontrolliert. So wie jemand, der gerade am Rand eines Waldes steht und nicht weiß, ob er eintreten soll. Weil er nicht weiß, was ihn darin erwartet – und ob er zurückfinden wird.
Die Stunde zog sich. Minuten dehnten sich zu Räumen, durch die seine Gedanken stolperten. Die Worte der Lehrerin wurden zu einem Rauschen – wie Regen, der gegen eine Fensterscheibe klopft, aber nicht hereinkommt. Nur Mias Präsenz blieb klar. Wie eine Linie in einem Bild, das sich auflöst. Sie schrieb mit. Aber langsam. Mit einem alten, zerkratzten Tintenfüller, der dunkle, leicht ausfransende Buchstaben aufs Papier setzte. Ihre Schrift war eigenwillig, fast kunstvoll – ein Gegenentwurf zur digitalen Welt, in der alles schnell, glatt und bedeutungslos wirkte. Ihre Worte hatten Gewicht, selbst wenn Elias sie nicht lesen konnte. Man sah es an der Art, wie sie schrieb – als müsse sie dem Gedanken erst Raum schaffen, bevor sie ihn festhielt.
Als der Gong ertönte, war es, als würde jemand einen Zauber unterbrechen. Die Klasse löste sich auf, Stimmen füllten den Raum, Stühle kratzten über den Boden. Alles wurde wieder laut, hektisch, grell. Mia stand auf, schulterte ihre Tasche – ein altes, mit Aufnähern übersätes Teil, das Geschichten erzählte, ohne laut zu werden – und verschwand. Ohne Eile. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Wie jemand, der weiß, dass ihre Anwesenheit gereicht hatte.
Elias blieb sitzen.
Noch einen Moment. Vielleicht zwei.
Nicht aus Trägheit. Nicht, weil er müde war. Sondern um den Nachhall zu spüren. Um zu begreifen, was sich gerade verändert hatte – auch wenn es noch keinen Namen trug. Er konnte es nicht greifen, nicht erklären. Aber es war da. Eine Verschiebung. Eine leise Umordnung der Welt in ihm.
Er wusste nur eines:
Etwas hatte begonnen.
Am nächsten Morgen wachte Elias früher auf als sonst.
Es war kein lauter Wecker, kein Ruf durchs Haus, nicht das Rumpeln von Schritten im Flur, das ihn aus dem Schlaf riss. Es war etwas anderes. Etwas Leiseres. Eine Unruhe, die nicht von außen kam, sondern aus seinem Inneren aufstieg – ein leichtes Flirren in der Brust, als hätte sein Herz vergessen, wie gleichmäßiger Rhythmus geht. Er lag da, die Decke bis unter das Kinn gezogen, die Augen zur Decke gerichtet, und wusste: Etwas hatte sich verändert. Nicht in der Welt da draußen – sie war noch dieselbe, grau und regennass wie gestern. Sondern in ihm selbst. Irgendetwas hatte sich verschoben. Leise. Unsichtbar. Aber spürbar.
Er stand auf, früher als sonst, schlich ins Bad, das noch vom nächtlichen Dunst der Heizung beschlagen war. Beim Blick in den Spiegel blieb er stehen. Er sah aus wie immer. Augen, die zu müde für sein Alter wirkten. Haare, die immer so lagen, als wüssten sie selbst nicht, wohin. Nichts war anders – und doch alles.
Beim Frühstück starrte er in seine Kaffeetasse. Das brodelnde Schwarz darin wirkte wie ein Spiegel, der keine
Antworten gab. Dunkel, still, undurchdringlich. Seine Mutter saß ihm gegenüber, redete über irgendetwasTermine, Einkäufe, das Wetter vielleicht, oder drüber, dass der Kühlschrank wieder Geräusche machte, die er nicht machen sollte. Ihre Worte kamen bei ihm an wie durch eine geschlossene Tür – gedämpft, verlangsamt, bedeutungslos.
Er nickte ab und zu, machte „Hm“-Laute, ohne zu wissen, worauf er reagierte. Seine Gedanken waren woanders. Bei einer Stimme, die er noch nicht kannte. Bei einem Blick, der nicht länger als eine Sekunde gedauert hatte – und trotzdem etwas ausgelöst hatte, das blieb.
Mia.
Ihr Name glitt ihm wieder durch den Kopf. Lautlos. Wie eine Melodie, die man nicht kennt, aber trotzdem summt. Kein Ohrwurm. Eher ein Nachhall. Ein Ton, der einmal angeschlagen wurde und sich nun in den Zwischenräumen seiner Gedanken festgesetzt hatte. Nicht greifbar. Aber da.
Auf dem Weg zur Schule war alles wie immer. Dieselben grauen Häuserreihen mit ihren moosgrünen Dächern und den verblichenen Vorhängen. Dieselben Risse im Asphalt, dieselben Pfützen, die zwischen den Pflastersteinen lebten wie kleine Welten. Und doch fühlte sich jeder Schritt bedeutsamer an. Schwerer. Als würde ihn jemand beobachten. Oder erwarten.
Er zog die Kapuze tiefer ins Gesicht, obwohl der Regen heute ausblieb. Die Luft war kalt, beinahe klar. Aber Elias spürte trotzdem diesen Druck hinter der Stirn – nicht unangenehm, aber fordernd.
Als würde etwas ihn drängen, weiterzugehen, schneller, als wüsste die Welt bereits, wohin es ihn zog, noch bevor er selbst es wusste.
Das Schulgebäude empfing ihn wie immer: matt beleuchtet, muffig, durchzogen von Stimmen, die zu laut, zu gleichgültig klangen. Er durchquerte den Flur mit den schief hängenden Plakaten – „Spendenlauf nächste Woche“, „Jazzband sucht Trompete“, „Biologiekurs fällt aus“ –, alles Dinge, die ihn nicht betrafen, nicht interessierten. Er spürte die Energie der anderen Schüler – dieses morgendliche Rauschen aus Gelächter, hastigen Schritten, dem metallischen Klicken von Smartphonehüllen und dem dumpfen Aufprall von Rucksäcken auf Böden. Inmitten all dessen: ein leerer Moment. Eine Art Blase, in der er stand, unbewegt, außerhalb der Zeit.
Elias blieb vor dem Klassenzimmer stehen, atmete ein, tief, als müsste er sich sammeln, sich ordnen. Dann trat er ein.
Mia war schon da.
Diesmal nicht zu spät. Nicht auffällig früh. Einfach da – als wäre es das Natürlichste der Welt.
Sie saß am Fenster, die Stirn auf die Hand gestützt, den Blick nach draußen gerichtet. Ihre Haltung war ruhig, aber nicht passiv. Eher so, als würde sie auf etwas warten, das nur sie sehen konnte. Das Licht fiel schräg durch die Fensterscheibe, streifte ihre Wange, ließ ihre Gesichtszüge für einen Moment fast durchsichtig wirken. Nicht blass. Nicht geisterhaft. Sondern verletzlich. Offen. Als wäre sie nicht gemacht für Neonlicht und Lehrpläne, sondern für das
Morgenlicht einer anderen Welt.
Elias setzte sich auf seinen Platz. Ganz ruhig. Äußerlich unverändert. Dieselben Bewegungen, dieselben Gesten. Doch innerlich begann etwas zu vibrieren – eine feine, flirrende Spannung, wie elektrische Ladung unter der Haut. Es war kein Unwohlsein. Eher ein Staunen. Ein Ahnen. Als wäre etwas auf dem Weg zu ihm, das er noch nicht benennen konnte.
Als die Stunde begann, glitt sein Blick wieder zu ihr. Unauffällig. Oder zumindest versuchte er es. Sie schien es nicht zu bemerken. Oder sie tat nur so.
Ihre Augen waren halb geschlossen, als lauschte sie auf eine Melodie, die nur sie hören konnte. Vielleicht hörte sie wirklich Musik, aber nicht aus
Kopfhörern. Aus sich selbst. Aus der Welt da draußen. Wer konnte das wissen?
Sie schrieb Notizen. Langsam. Fast zärtlich. Nicht das hektische Gekritzel, das die meisten Schüler produzierten, um der Pflicht Genüge zu tun. Sondern mit Bedacht. Mit echter Hand. Ihr Stift war kein Kugelschreiber, kein Gelpen, sondern ein Tintenfüller, der dunkle Linien hinterließ, die sich leicht in das Papier sog. Ihre Schrift war rund, klar, irgendwie altmodisch. Und gleichzeitig hatte sie etwas Widerständiges – als würde jedes Wort sagen wollen: Ich bin hier. Ich bin nicht egal.
Elias beobachtete sie nicht die ganze Zeit. Nur in diesen Zwischenmomenten. Wenn die Lehrerin zum Whiteboard ging. Wenn ein Klassenkamerad gähnte. Wenn die Welt für eine Sekunde innehielt. Dann war sein Blick bei ihr. Und in seinem Kopf formte sich keine Frage – sondern ein stilles Verstehen, das noch keinen Namen hatte.
Er wusste nicht, was es war, das ihn so fesselte. Ihre Stille? Ihre Abwesenheit mitten in der Gegenwart? Ihre Art, da zu sein, ohne wirklich hier zu sein? Oder war es das Gefühl, dass hinter ihren Blicken ganze Welten lagen, die er nicht kannte, aber betreten wollte?
Es war keine Liebe. Noch nicht.
Es war auch keine Schwärmerei. Keine Projektion. Es war etwas anderes. Etwas Undefiniertes. Roh. Echt. Vielleicht nur eine Ahnung. Ein Wunsch nach Nähe, die nicht laut war. Keine Eroberung. Sondern ein vorsichtiges Herantasten. So leise, dass man fast aufhören musste zu atmen, um es nicht zu stören.
Ein Anfang.
Zart, unaufdringlich. Wie das erste Licht eines neuen Morgens, das durch ein halboffenes Fenster fällt und nicht fragt, ob es darf. Es kommt einfach. Und verändert die Dinge.
Elias wusste noch nicht, was es bedeutete. Oder wohin es führen würde. Aber er wusste: Der Tag war nicht wie die anderen. Nicht mehr.
Und Mia?
Sie hatte ihn nicht angesehen. Nicht gesprochen. Nicht gelächelt.
Aber sie war da.
Und das reichte.
Die nächsten Tage vergingen wie in einer trägen Schwebe.
Nicht wie Nebel – dafür war alles zu klar.
Aber auch nicht wie Alltag. Es war ein Zustand zwischen den Zuständen. Eine Art Zwischenzeit. Der Unterricht floss an Elias vorbei wie ein leiser Strom, kaum berührend, kaum bleibend. Wörter wurden gesagt, Aufgaben gestellt,
Kapitel gelesen – doch sie erreichten ihn nur wie Stimmen durch eine dicke Fensterscheibe: verständlich, aber bedeutungslos.
Zahlen, Formeln, Daten und Regeln legten sich wie Schatten an die Tafel – und rutschten von dort genauso schnell wieder ab. Er schrieb mit, wenn nötig, antwortete, wenn er direkt angesprochen wurde. Aber er war selten dort, wo er sein sollte.
Sein Körper saß auf dem Stuhl. Seine Stimme war anwesend. Aber sein Denken – das war woanders.
Immer wieder kehrten seine Gedanken zu ihr zurück.
Mia.
Ein Name, der sich unauslöschlich in die Zwischenräume seines Alltags schrieb. Wie eine Randnotiz, die sich über jede Seite seiner Woche zog. Nicht in Großbuchstaben, nicht fett gedruckt. Sondern leise, fast poetisch. Ein Hauch, der blieb, selbst wenn sie längst gegangen war.
Sie war nicht laut. Nicht im klassischen Sinn präsent. Keine, die sich in den Mittelpunkt stellte oder mit großen Gesten sprach. Sie schien vielmehr abwesend anwesend – wie ein Lied, das leise im Hintergrund spielt und trotzdem das ganze Zimmer verändert.
Sie bewegte sich durch die Schule, als würde sie sie nur streifen. Ihre Schritte waren nicht zögerlich, aber auch nicht zielgerichtet. Eher wie die Bewegung eines Windhauchs: frei, flüchtig, nicht festzuhalten. Ihre Kleidung wechselte kaum – dunkle Jeans, einfache Pullover, ein alter Parker. Keine Marke, kein Statement. Und doch hatte sie Stil. Nicht, weil sie es darauf anlegte. Sondern weil sie sich selbst genügte.
Elias beobachtete sie, ohne es zu wollen. Oder vielleicht wollte er es mehr, als er sich eingestand. Er versuchte, unauffällig zu sein. Nahm sich vor, sie nicht anzusehen – aber es gelang ihm nicht. Sein Blick fand sie. Immer wieder. In jeder Stunde. In jeder Pause.
Sie schien in einer anderen Frequenz zu schwingen.
Ihre Bewegungen waren fließend, unaufgeregt, aber voller Bedeutung – als würde sie mit einer Welt sprechen, die nur sie hören konnte. Ihre Augen wanderten oft aus dem Fenster. Nicht aus Langeweile. Sondern als suchten sie etwas. Als folgten sie einer Geschichte, die sich im Licht auf dem Fensterglas, im Tanz der Blätter, in den Tropfen des Regens erzählte.
Elias fragte sich, woran sie dachte.
Was sich hinter diesen stillen, dunklen Augen verbarg.
Welche Welten sie in sich trug – und wie man zu ihnen fand.
Er begann, sich auf die kleinen Dinge zu konzentrieren. Auf die Art, wie sie ihre Stifte ordnete – stets dieselbe Reihenfolge, als hätte jede Farbe einen Platz, der ihr zustand. Wie sie in den Pausen ein kleines, abgegriffenes Notizbuch hervorholte, dessen schwarzer Einband an den Kanten Risse zeigte. Kein Titel. Kein Name. Kein Schmuck. Nur gelebte Zeit, eingefasst in Leder und Papier. Sie schrieb darin mit einem Füller, den sie wie etwas Wertvolles hielt – nicht schnell, nicht fahrig, sondern mit stiller Aufmerksamkeit.
Er fragte sich, was in diesem Buch stand. Ob es Geschichten waren. Gedanken. Gedichte vielleicht. Oder nur Wörter, die sie sammeln musste, um sich nicht zu verlieren.
Manchmal – ganz selten – lächelte sie.
Nicht für jemanden. Nicht auf eine bestimmte Situation hin. Sondern einfach so.
Ein Lächeln, das sich anschlich, sich kurz in ihrem Gesicht zeigte und genauso still wieder verschwand.
Dieses Lächeln war wie ein Sonnenstrahl, der durch eine dichte Wolkendecke bricht: nicht laut, nicht warm – aber plötzlich da. Und Elias wusste, er würde alles tun, um es wiederzusehen.
Trotz all dieser Beobachtungen – oder gerade deshalb – sprach er sie nicht an.
Nicht, weil er nicht wollte. Sondern weil er nicht wusste, wie.
Wie redet man mit jemandem, der wirkt, als sei jedes Wort zu viel?
Wie beginnt man ein Gespräch, wenn schon ein Blick alles sagt – und doch nicht genug?
Und dann war da dieser Nachmittag.
Die Stunde zog sich wie zäher Nebel. Die Lehrerin sprach über Gedichtanalysen. Irgendwo fiel das Wort „Metapher“, dann „Binnenreim“, dann „Subtext“. Elias schrieb nichts mit. Stattdessen beobachtete, wie Mia wieder dieses kleine schwarze Notizbuch öffnete und langsam, beinahe andächtig, zu schreiben begann.
Ihre Hand bewegte sich ruhig. Fast meditativ.
Elias spürte, wie sich in seiner Brust etwas zusammenzog – nicht schmerzhaft, aber drängend. Eine Art inneres Ziehen.
Er wusste nicht, was es war. Sehnsucht? Neugier? Mut?
Dann, in den letzten Minuten vor dem Gong, fiel ihm auf, dass Mia ihre Tasche langsamer packte als sonst. Ihre Bewegungen waren zögerlich.
Zurückhaltend.
Nicht träge – sondern bedacht.
Als wolle sie Zeit dehnen.
Als würde sie warten.
Auf etwas.
Auf jemanden?
Ein Impuls stieg in ihm auf.
Plötzlich. Wild. Klar.
Eine Stimme in ihm – nicht laut, aber deutlich – flüsterte:
„Sprich mit ihr.“
Er sah zu ihr hinüber. Ihre Finger glitten gerade über den Reißverschluss ihrer Tasche. Ihr Blick war gesenkt. Aber ihre Haltung – offen. Nicht abwehrend. Nicht verschlossen.
Elias spürte, wie sein Herz schneller schlug.
Nicht panisch. Aber lebendig.
Er öffnete den Mund. Nur ein Hauch. Ein Wort formte sich in seinem Kopf.
Vielleicht ihr Name. Oder nur ein „Hi“.
Doch dann – nichts.
Er blieb sitzen. Starrte auf seine Bücher. Tat, als hätte er noch etwas zu ordnen.
Feige.
Er hörte, wie sie aufstand. Wie ihre Schritte leise den Raum verließen.
Und er rührte sich nicht.
Er verließ den Raum erst, als sie längst verschwunden war. Und doch – etwas blieb.
Ein Nachhall.
Eine Spur.
Wie der Duft eines Parfums, der noch in der Luft hängt, wenn jemand gegangen ist.
Wie das Echo eines Moments, der hätte werden können.
Die Tage wurden kürzer.
Unmerklich zuerst – nur ein paar Minuten Licht, die am Abend fehlten. Dann deutlicher. Die Schatten dehnten sich, das Licht wurde weicher, brüchiger, wie durch hauchdünnes Papier gefiltert. Und mit dem nahenden Herbst kam eine neue Stille über die Stadt. Keine absolute, keine, die leer war – sondern eine gefüllte, atmende Ruhe. Sie legte sich über Straßen und Dächer, über die Äste der Bäume, über die Gesichter der Menschen. Und Elias spürte sie – mehr als je zuvor.
Die Luft war kühler geworden.
Sie roch nach nassem Asphalt, nach Holz, nach Wind. Trug das Rascheln der fallenden Blätter mit sich, das zögerliche Tropfen von Regen, der nicht entschied, ob er bleiben wollte. Die Sonne verlor allmählich ihre sommerliche Schärfe. Kein grelles Weiß mehr, sondern goldene Flächen, die über Haut und
Fensterscheiben glitten wie ein müder letzter Gruß.
Es war diese Zwischenzeit – nicht mehr warm, noch nicht kalt – in der alles langsamer wurde. Nachdenklicher.
Und in Elias erwachte etwas, das er lange nicht gefühlt hatte: eine Unruhe, die keinen Namen trug.
Oder doch.
Es war Mia.
Oder das, was sie in ihm auslöste.
Er dachte nicht in klaren Linien, wenn es um sie ging.
Es waren keine Pläne. Keine Strategien. Kein Wunsch, etwas Konkretes zu erreichen.
Es war mehr ein Sehnen – nach Tiefe, nach Wahrhaftigkeit, nach einem Blick, der länger verweilte als nötig.
Ein Hunger nach Bedeutung. Nach einem „mehr“, das sich nicht erklären ließ, aber immer fühlbar war.
Er bemerkte, wie sich seine Wahrnehmung
verschob.
Dinge, die früher bedeutungslos an ihm vorbeigeglitten waren, gewannen plötzlich Gewicht:
die Farben der Bäume – kein simples Grün mehr, sondern ein ganzes
Orchester aus Ocker, Gold, Rostrot; das Spiel von Licht und Schatten auf dem Pflaster des Schulhofs;
das leise Schimmern von Regenpfützen, in denen sich die Wolken spiegelten.
Selbst der kurze Blick eines Fremden in der Bahn, ein zufälliges Lächeln, schien eine Geschichte zu tragen.
Es war, als hätte Mia einen Filter über seine Welt gelegt.
Keinen, der Dinge verbarg – sondern einen, der sie sichtbarer machte.
Langsamer. Leiser. Aber auch… schöner.
In den Pausen saß sie oft allein.
Nicht einsam – das war etwas anderes.
Sie wirkte zufrieden mit dem Alleinsein, fast so, als wäre sie darin aufgehoben.
Als hätte sie eine eigene Welt in sich, in der sie sich sicher fühlte.
Elias beobachtete sie aus der Ferne. Nicht aufdringlich. Aber mit einer Mischung aus Staunen und Vorsicht. Oft versteckte er sich hinter einem aufgeschlagenen Buch, das er nicht wirklich las. Er tat so, als sei er vertieft – in Worte, in Seiten, in Gedanken. Aber in Wahrheit war seine Aufmerksamkeit immer auf sie gerichtet.
Und manchmal – nur manchmal – hob sie plötzlich den Kopf. Ohne Vorwarnung. Ohne sichtbaren Anlass. Und sah ihn an. Nicht lange. Aber direkt.
In diesen Augenblicken fühlte Elias sich ertappt.
Nicht beschämt.
Sondern gesehen.
Einmal, an einem dieser besonders leisen Tage – es hatte leicht geregnet, der Flur war leerer als sonst, die Welt schien gedämpft –, da geschah etwas.
Die Klasse löste sich gerade auf. Stimmen wurden leiser. Schritte entfernten sich. Bücher wurden in Taschen gestopft, Jacken übergezogen.
Elias bückte sich gerade nach seinem Rucksack, als er etwas bemerkte:
Schuhe.
Direkt vor ihm.
Einfache, abgetragene Turnschuhe. Der Stoff leicht aufgeweicht vom Regen. Keine Marke. Keine Farbe, die ins Auge sprang. Und doch – sie wirkten passend. Wahr.
Wie sie.
Er hob den Blick. Langsam.
Und sah Mia.
Sie stand einfach da.
Nicht verlegen. Nicht ungeduldig. Einfach… da.
Ihre Haare waren leicht feucht, einzelne Strähnen klebten an ihrer Stirn. In ihren Augen lag Ruhe – nicht Gleichgültigkeit, sondern etwas Tieferes.
„Du zeichnest doch, oder?“
Ihre Stimme war ruhig. Klar. Fast wie ein Gedanke, der sich versehentlich laut ausgesprochen hatte.
Elias blinzelte. Überrascht.
Er hatte nicht damit gerechnet – nicht heute, nicht je.
Er richtete sich auf. Ihre Augen trafen die seinen.
Keine Unsicherheit.
Keine Forderung.
Nur Präsenz.
„Ein bisschen“, antwortete er. Seine Stimme klang fremd. Nicht unsicher – aber ungewohnt.
„Ich hab deinen Skizzenblock gesehen“, sagte sie. Einfach so.
„In der Pause. Du hast unter den Baum gezeichnet. Die Bank, glaube ich. Mit dem Ast darüber.“
Er nickte. Wortlos.
Mehr brachte er nicht hervor.
Doch sie schiennichts weiter zu erwarten. Kein
Gespräch, keine Erklärung.
„Die Linien waren schön“, fügte sie nach einer kleinen Pause hinzu. „Nicht perfekt. Aber ehrlich.“
Dann – Stille.
Keine weitere Frage. Kein Lächeln. Kein Blick zurück.
Sie ging einfach.
So, wie sie gekommen war – leise, leicht, wie ein Windhauch, der einen Raum streift.
Und doch – etwas war anders.
Sie hatte gesprochen.
Nicht viel. Aber genug.
Diese wenigen Worte – sie fielen wie Tropfen auf Elias’ Welt.
Klar. Still. Und doch wie eine Erschütterung.
Nicht laut, nicht sichtbar. Aber tief.
Etwas war in Bewegung geraten.
Er blieb noch lange stehen, als der Flur sich längst geleert hatte.
Er hörte das Echo ihrer Schritte. Sah den Schatten ihrer Silhouette, der sich in seinem Kopf festsetzte.
Und in ihm klang etwas nach. Kein Geräusch. Kein Satz. Sondern etwas
Tieferes.
Vielleicht war es der Anfang eines neuen Kapitels.
Nicht nur in seinem Skizzenblock.
Sondern in seinem Leben.
Seit jenem Moment im Flur trug Elias Mias Worte in sich wie eine feine Melodie, die man nicht benennen, aber auch nicht vergessen kann.
„Nicht perfekt. Aber ehrlich.“
Er hatte den Satz nicht sofort verstanden. Nicht ganz. Es war, als hätte er sich zwischen seinen Rippen festgesetzt – nicht schmerzhaft, aber deutlich. Wie ein kaum wahrnehmbares Vibrieren, das immer dann lauter wurde, wenn die Welt um ihn herum still wurde.
Es war das erste Mal, dass jemand seine Zeichnungen nicht nur gesehen, sondern begriffen hatte. Nicht die Technik. Nicht das, was er mit der Hand aufs Papier brachte – sondern das, was dazwischen lag. Die Räume zwischen den Linien. Die Pausen zwischen den Strichen. Das Unsagbare, das er nie in Worte fassen konnte.
Etwas hatte sich verschoben.
Nicht laut. Nicht sichtbar. Aber tief.
Wie ein stiller Riss unter der Oberfläche, der nicht zerstört, sondern öffnet.
Er begann, mehr zu zeichnen. Nicht aus Pflicht. Nicht aus Gewohnheit. Sondern weil es ihn drängte. Weil seine Finger manchmal zu kribbeln begannen, wenn er einen Moment zu lange beobachtete – eine Bewegung, ein Lichtreflex, ein Blickwechsel.
Er zeichnete auf dem Schulweg, in der Bahn, auf dem Rand von Arbeitsblättern. Abends, wenn das Haus still wurde, war sein Skizzenbuch das Erste, das er berührte. Als würde seine Hand geführt von einem unsichtbaren Faden, der irgendwo in seiner Brust begann – dort, wo das Unaussprechliche wohnte.
Seine Motive änderten sich. Früher waren es Gebäude, Bäume, Gegenstände – Dinge, die man sehen konnte.
Jetzt war es Atmosphäre.
Ein Blick über eine Schulter.
Ein Lichtstreifen auf einer Stirn.
Ein Hauch von Wind in einem Haar, das sich kaum vom Hintergrund abhob.
Nie ganz deutlich.
Aber immer mit einer Ahnung – als würde Mia darin leben.
Versteckt zwischen Bleistiftlinien und leeren Flächen.
Elias war wacher geworden.
Empfindsamer.
Er hörte dem Regen länger zu, blieb stehen, wenn Sonnenstrahlen durch die kahlen Äste brachen. Er beobachtete Menschen – nicht aus Neugier, sondern aus Staunen. Wie sie gingen, wie sie warteten, wie sie sprachen oder schwiegen. Alles schien bedeutsamer. Bedeutend. Selbst die Stille.
Und die Morgende – sonst grau, mechanisch, verschlafen – trugen nun eine leise Spannung.
Vielleicht würde er ihr begegnen.
Vielleicht auch nicht.
Aber allein die Möglichkeit reichte aus, um dem Tag eine neue Farbe zu geben. Ein Ton heller, ein Atemzug wärmer.
In der Schule veränderte sich äußerlich nichts. Mia sprach kaum. Elias noch weniger. Sie saßen in derselben Klasse, in demselben Raum, von außen betrachtet unverändert. Aber zwischen ihnen war etwas.
Ein Band.
Unsichtbar, aber fühlbar.
Zart wie der erste Frost über einem See.
Zerbrechlich. Aber da.
Sie sah ihn manchmal an. Und manchmal nicht.
Er tat es ebenso.
Manchmal streiften sich ihre Blicke. Nur für Sekunden. Doch in diesen Sekunden dehnte sich die Zeit.
Kein Lächeln. Kein Gespräch.
Nur diese stillen Brücken aus Blicken.
So zerbrechlich, dass ein falsches Wort sie zerstört hätte.
Dann kam dieser Nachmittag.
Ein Dienstag, grau und nass. Die Stadt unter einem Himmel, der so schwer war, dass man glaubte, er würde jeden Moment zerbrechen. Die letzten Blätter wurden vom Wind gejagt. Fußgänger hasteten mit gesenkten Köpfen über die Straßen. Der Regen hatte längst aufgehört, aber seine Spuren waren überall: in den Pfützen, im glatten Glanz der Gehwege, im Dunst, der aus den
Gullys stieg.
Elias lief ohne Ziel. Seine Schritte führten ihn wie von selbst an einen Ort, den er gut kannte – einen alten, verwilderten Park am Rand der Stadt. Ein
Ort, den kaum jemand besuchte. Zwischen zwei vernachlässigten Wohnblocks, halb vergessen, mit bröckelnden Bänken und Bäumen, die sich über schiefe Wege beugten.
Hier war er oft gewesen, wenn das Haus zu eng, die Stadt zu laut oder seine Gedanken zu schwer geworden waren.
Hier hatte er gezeichnet.
Und geschwiegen.
Er setzte sich auf die alte Holzbank unter der Kastanie. Die Rinde der Bäume roch nach nasser Erde, die Luft war kühl und klar. Kein Lärm. Nur der Wind, der durch das verbliebene Laub fuhr, ein gelegentliches Krähen eines Vogels, das Klirren eines entfernten Fahrrads auf Kies.
Elias öffnete sein Skizzenbuch. Schlug eine leere Seite auf. Der Bleistift in seiner Hand zitterte leicht – nicht vor Kälte, sondern vor etwas, das er nicht benennen konnte.
Doch diesmal zögerte er.
Er wartete.
Nicht auf etwas Bestimmtes – aber auf ein Gefühl, das sagte: Jetzt.
Dann hörte er Schritte.
Nicht laut. Nicht eilig.
Aber vertraut.
Wie ein wiedererkanntes Lied aus der Ferne.
Er sah auf.
Und da war sie.
Mia.
Sie trug eine dunkle Jacke, deren Stoff sich im Wind leicht blähte. Einzelne Haarsträhnen hatten sich gelöst, tanzten um ihr Gesicht. Sie hatte keine Kapuze auf, obwohl es wieder zu tröpfeln begann. Ihre Hände waren in den Jackentaschen vergraben, ihre Schultern leicht hochgezogen gegen die Kälte. Doch sie wirkte nicht verloren. Nur… gegenwärtig.
Sie sagte nichts.
Kein Gruß.
Keine Frage.
Nur ein Blick – kurz, aber direkt.
Dann setzte sie sich.
Neben ihn.
Ganz selbstverständlich.
Nicht schüchtern. Nicht fordernd.
Als hätte sie es schon oft getan.
Als gehöre sie dort hin.
Elias hielt den Atem an.
Nicht vor Schreck. Sondern weil es schien, als könnte jede Bewegung den Moment zerreißen.
Mia sah auf das leere Blatt in seinem Buch.
Lange.
Dann sagte sie leise – fast flüsternd:
„Ich mag das Weiß vor dem ersten Strich. Es ist, als würde alles möglich sein.“
Elias nickte.
Langsam.
Er verstand.
Mehr als er sagen konnte.
Die Worte fielen in ihn wie Wasser auf trockene Erde.
Nicht laut. Nicht spektakulär.
Aber lebendig.
Echtes Verstehen – das war selten.
Zwischen Jugendlichen, die meistens nach Antworten suchten, aber nie die richtigen Fragen stellten.
Sie sagte nichts weiter. Lehnte sich leicht zurück. Schaute in die Äste über ihnen, wo das letzte Blatt sich zögernd hielt. Der Himmel war durch die Äste zu sehen – ein fahles, beinahe transparentes Grau.
Der Wind rauschte.
Zeit verging.
Elias hob den Bleistift.
Setzte ihn auf das Papier.
Und zeichnete.
Nicht Mia – nicht direkt.
Aber etwas von ihr.
Etwas von der Stille.
Von der Offenheit dieses Augenblicks.
Ein Umriss. Ein Fragment.
Vielleicht ein Anfang.
Sie beobachtete ihn nicht.
Sie störte ihn nicht.
Sie war einfach da.
So saßen sie. Eine Stunde, vielleicht zwei. Niemand sprach. Es war nicht nötig.
Zwischen ihnen: das Weiß des Papiers.
Das Rascheln der Bäume.
Und etwas, das begann – zart, wie der erste Strich einer Skizze.
Als sie später aufstand, sagte sie nur:
„Du solltest das nicht wegwerfen.“
Elias blickte auf das Blatt.
Er hatte es noch nicht angesehen.
Jetzt tat er es.
Und erkannte etwas.
Nicht ein Gesicht. Nicht ein Bild.
Sondern einen Moment.
Er hob den Blick, wollte etwas sagen – doch sie war schon gegangen.
Langsam. Ohne Eile.
Der Wind spielte mit ihrem Schal.
Kein Blick zurück.
Aber auch kein Abschied.
Er blieb noch lange sitzen.
Das Skizzenbuch auf den Knien.
Die Seite offen.
Der Stift locker in der Hand.
In ihm war es still.
Nicht leer. Sondern erfüllt.
Von etwas Neuem.
Etwas, das keine Worte brauchte.
Vielleicht war dies das Ende von etwas.
Vielleicht der Anfang.
Vielleicht beides.
Aber sicher war:
Er hatte den ersten Strich gesetzt.
Und das Weiß davor – war Vergangenheit.
Elias.
Mia bemerkte Elias nicht auf eine Art, wie man jemanden bemerkt, der laut in einen Raum tritt. Sie sah ihn – wirklich sah ihn – lange, bevor sie ein Wort mit ihm sprach.
Er war der Junge, der mehr durch seine Abwesenheit auffiel als durch Präsenz. Nicht, weil er verschwand, sondern weil er nie ganz da zu sein schien. Als würde er zwischen zwei Welten leben: der einen, die für alle sichtbar war – und einer anderen, in der nur er existierte. Und vielleicht ein paar wenige Gedanken, die er niemandem zeigte.
Mia hatte ihn zuerst in der dritten Reihe gesehen, an einem Montagmorgen, als die Sonne zu hell durch die Jalousien fiel. Er saß ganz außen, schräg an der Wand, mit einem zerfledderten Buch auf dem Tisch, dessen Seiten wie Windflügel wirkten – als wären sie jederzeit bereit, davongetragen zu werden.
Er war keiner von denen, die ihre Stimmen erhoben, wenn sie etwas sagen wollten. Seine Sprache war Blick, Haltung, das leise Klopfen eines Fußes unter dem Tisch im Takt eines inneren Rhythmus, den sonst niemand hörte.
Es war nicht sein Schweigen, das Mia faszinierte. Es war das, was in seinem Schweigen lag.
Ein Raum voller Gedanken, voller Geschichte, voller unerzählter Poesie.
Und genau das war es, was sie anzog.
Sie begann, ihn zu beobachten, wie man ein Rätsel betrachtet, das keine Lösung verlangt, sondern nur Geduld. Elias bewegte sich mit einer Art kontrollierter Zartheit – als wäre er sich stets bewusst, dass jeder Schritt etwas in der Welt verändern könnte.
Wenn alle in der Pause nach draußen strömten, blieb er zurück. Manchmal saß er auf der Treppe zum Dachgeschoss, den Blick nach unten gerichtet, als würde dort etwas liegen, das die anderen übersahen. Manchmal verschwand er in der Bibliothek, streifte mit den Fingern über Buchrücken, las sich in Zeilen fest, die nicht für den Moment, sondern für das ganze Leben geschrieben worden waren.
Er hatte Kopfhörer, die er fast nie abnahm – aber nie laut. Eher wie eine Barriere, eine Art unsichtbarer
Schutzschirm gegen zu viele Stimmen.
Mia versuchte nicht, ihn zu interpretieren. Sie wollte nur verstehen.
Denn in einem Schulalltag voller Oberflächen und Egos war Elias ein stilles Echo.
Das erste Mal, dass sie einander berührten – wenn auch nur flüchtig – war fast zufällig.
Es war in der dritten Schulwoche, kurz vor der Mittagspause. Mia war auf dem Weg zum Kunstraum, ihre Skizzenmappe fest unter den Arm geklemmt, als sie um die Ecke bog und beinahe in ihn hineinlief.
Elias hatte ein Buch in der Hand, das Cover halb eingerissen, die Seiten vergilbt. Ihre Schultern streiften sich, ein kaum wahrnehmbarer Kontakt – und doch war da dieser Moment, in dem sich etwas verlangsamte.
Er sah sie an. Nicht erschrocken. Nicht neugierig. Sondern wie jemand, der sich fragt, ob er ein Detail übersehen hat, das wichtig sein könnte.
„Was liest du da?“, fragte Mia, fast ohne nachzudenken.
Seine Augen, grau mit einem Stich ins Dunkelgrüne, ruhten einen Moment länger auf ihrem Gesicht, als notwendig gewesen wäre.
„Gedichte“, sagte er.
„Die traurigen oder die schönen?“
Er schloss das Buch, leise. „Manchmal sind die traurigsten auch die schönsten.“
Und dann ging er weiter, als wäre nichts gewesen.
Aber Mia blieb einen Moment stehen.
Weil seine Antwort in ihr nachhallte – nicht als Floskel, sondern als Wahrheit.
Noch Tage später dachte sie daran.
Es war nicht, dass Elias besonders attraktiv gewesen wäre – nicht auf die Art, wie man sich in Schulfluren gegenseitig mustert. Aber da war etwas in ihm, das sie nicht benennen konnte. Eine Art von Präsenz, die man nicht sehen, nur fühlen konnte.
Er sah nicht aus, als wolle er gefallen. Und genau deshalb fiel er auf.
Mia begann, genauer hinzusehen. Beobachtete ihn von der anderen Seite des Klassenzimmers. Wie er Notizen machte – nicht ordentlich, nicht linear, sondern wie Fragmente von Gedanken. Worte, manchmal mitten auf einer leeren Seite. Pfeile, die nichts verbanden. Kritzeleien, die mehr fühlten als erklärten.
Einmal entdeckte sie eine Zeile auf dem Rand eines seiner Blätter:
„Vielleicht ist das Echo das Ehrlichste, was wir sagen.“
Sie googelte es an diesem Abend. Fand nichts. Kein Autor, kein Zitat. Also war es vielleicht von ihm.
Diese Möglichkeit machte etwas mit ihr.
In den darauffolgenden Tagen begann sie, sich in der Bibliothek aufzuhalten, zur gleichen Zeit wie er. Nie zu nah. Aber auch nie zu weit. Manchmal stand sie einfach zwischen den Regalen, ihre Finger auf den Buchrücken, während sie ihn aus dem Augenwinkel betrachtete. Sah, wie er sich über Seiten beugte, wie seine Stirn sich manchmal kräuselte, als würde er mit den Worten ringen.
Einmal saß er dort fast zwei Stunden, ohne ein einziges Buch auszuleihen. Einfach nur lesend, schreibend, lauschend. Und Mia fragte sich: Was passiert in einem Menschen, der so viel Stille sucht?
Sie fing an, kleine Skizzen von ihm zu machen – heimlich. Ein Profil, ein Blick, eine Hand, die einen Stift hielt. Nicht aus romantischer Verklärung. Sondern aus Neugier. Eher eine Studie als eine Schwärmerei.
Und doch – irgendetwas in ihr begann sich zu verändern.
Eines Nachmittags, als der Himmel schwer auf der Stadt lag und der Wind durch die Bäume raste, saß Elias allein auf der Bank hinter dem Sportplatz. Kopfhörer in den Ohren, sein Blick ging ins Leere – oder in eine Welt, die Mia nicht sehen konnte.
Sie trat nicht näher. Sie blieb stehen, etwa zehn Meter entfernt, lehnte sich an einen Baum und beobachtete ihn. Fühlte, wie sehr man einem Menschen nah sein kann, ohne ihn zu berühren.
Elias war für sie nicht nur ein Mitschüler. Er war eine Art lebendiges Gedicht.
Etwas in ihm erzählte Geschichten – selbst wenn er schwieg.
Und Mia wusste, dass sie diese Geschichte hören wollte.
Nicht aus Neugier. Sondern weil sie glaubte, dass man Menschen wie ihn nicht oft begegnet.
Und weil es Mut braucht, sich ihnen wirklich zu nähern.
Es war ein grauer Mittwoch, als sich etwas veränderte.
Nicht laut. Nicht dramatisch. Sondern wie eine Tür, die langsam aufschwingt, obwohl niemand daran rührt.
Der Kunst- und Literaturkurs war einer dieser Wahlfächer, den man belegte, weil man musste – oder, wenn man wie Mia war, weil man etwas suchte. Einen Ausdruck. Einen Raum, in dem man nicht ständig gefragt wurde, was das bringen soll.
Die Lehrerin – Frau Wenzel – war eine von denen, die zwischen den Zeilen lasen. Die nicht nur Arbeiten bewertete, sondern auch Zwischenräume, Tonlagen, Mut. Sie trug ihre grauen Haare in einem losen Knoten und besaß eine Sammlung an karierten Schals, die scheinbar mit den Jahreszeiten wechselten. Und sie stellte Aufgaben, die keine klaren Antworten hatten.
„Formen von Wahrheit“, sagte sie an diesem Tag, während sie mit einem Bleistift die Luft zerschnitt, als sei sie eine Leinwand. „Das ist euer nächstes Projekt. Was Wahrheit für euch bedeutet. Wie sie sich zeigt. Oder versteckt. Ob sie laut ist oder leise. Persönlich oder universell. Ihr dürft alles machen – Film,
Text, Bild, Installation, Dialog.“
Ein Stöhnen ging durch den Raum. Die Art von kollektiver Unlust, die entsteht, wenn man sich selbst begegnen soll. Und doch war da ein Flackern in Elias’ Augen, das Mia bemerkte, obwohl er nicht mal den Blick hob.
Etwas in ihm schien auf diese Offenheit zu reagieren wie ein Fenster, das sich von selbst einen Spalt breit öffnete.
Die Gruppeneinteilung erfolgte nicht zufällig, auch wenn Frau Wenzel es so darstellte. Ihre Paare hatten immer eine stille Logik – als würde sie sehen, was sich gegenseitig zum Klingen bringen könnte.
„Elias und Mia“, sagte sie.
Mia sah zu ihm. Keine Regung. Keine Überraschung. Nur dieses stille Innehalten, das er perfektioniert hatte. Als würde er erst in sich hineinfühlen, bevor er etwas annimmt.
Sie ging zu seinem Tisch. Nicht vorsichtig, nicht übertrieben selbstbewusst. Einfach mit dem stillen Wissen: Das hier könnte etwas bedeuten. „Ist das okay für dich?“, fragte sie leise, als sie sich neben ihn setzte.
Er zögerte. Nicht lange. Aber spürbar.
„Solange du mit Stille umgehen kannst“, sagte er.
Sie lächelte. „Ich zeichne mit Stille. Jeden Tag.“
Sein Blick glitt über ihr Gesicht, blieb kurz an ihrem Mundwinkel hängen, als wollte er prüfen, ob ihr Lächeln echt war.
Dann nickte er.
Und sie begannen.
Die erste Besprechung verlief wortarm, aber nicht leer. Sie saßen in der hinteren Ecke der Bibliothek, umgeben von Regalen, die wie stumme Wächter über ihre Gespräche wachten.
Mia hatte ein paar Notizen gemacht, kleine Skizzen, die das Wort „Wahrheit“ in Formen zerlegte – zerbrochene Spiegel, ein Mund mit zugenähten
Lippen, ein offenes Fenster mit verhangenem Licht. Elias hatte sein Notizbuch dabei, aufgeschlagen auf einer Seite, auf der nur ein Satz stand:
„Wahrheit ist das, was übrigbleibt, wenn alle Geschichten aufhören.“
Mia las es, sagte aber nichts. Nicht sofort. Sie ließ den Satz wirken, wie man einen Tropfen Tinte im Wasser beobachtet – langsam, sich ausbreitend, tief.
„Was bedeutet Wahrheit für dich?“, fragte sie schließlich.
Elias stützte den Kopf auf die Hand, drehte seinen Stift langsam zwischen den Fingern. „Etwas, das meistens zu spät kommt.“
Sie schmunzelte. Nicht spöttisch, sondern wie jemand, der einen unerwarteten Zugang gefunden hat.
„Oder zu früh“, erwiderte sie. „Wenn man noch nicht bereit ist, sie zu hören.“
Er sah sie an. Dieses Mal wirklich. Nicht nur aus Reflex. Und in diesem Blick war etwas wie Zustimmung. Oder
Überraschung. Vielleicht beides.
„Du bist anders“, sagte er leise.
„Anders nervig?“, fragte sie, halb scherzend.
„Anders als jemand, der hinter Dinge sieht.“
Sie legte den Kopf schräg. „Vielleicht, weil ich selbst gern gesehen werden will.“
Ein Satz, ehrlich und nackt. So ungefiltert, dass er fast wehtat.
Aber Elias wich nicht aus.
In den Tagen danach trafen sie sich öfter.
Manchmal wegen des Projekts. Manchmal einfach so. Ohne es auszusprechen.
Sie saßen im Park, unter einem Baum, der seine Blätter wie Gedanken abwarf. Oder in der Mensa, abseits, zwischen Geräuschen, die sie nicht mehr hörten.
Elias zeigte ihr sein Notizbuch. Etwas, das sonst niemand sehen durfte. Die Seiten waren keine sauberen Gedichte.
Keine Werke. Sie waren Bruchstücke – Gedanken, die wie Risse in Glas wirkten.
Unsortiert, ehrlich, manchmal schmerzhaft roh.
Ein paar Sätze blieben ihr besonders im Kopf:
„Ich mag Menschen nicht, wenn sie zu laut sind.
Aber ich fürchte mich vor denen, die mich wirklich hören.“
„Nähe ist wie Licht in einem dunklen Raum.
Sie zeigt, wo es staubt.“
Mia zeichnete ihm ihre Welt zurück. Zeigte ihm Skizzen aus ihrem privaten Block – Gesichter ohne Pupillen, Hände, die sich fast berührten, aber nicht ganz. Eine Zeichnung zeigte einen Menschen, der sein eigenes Spiegelbild hielt – mit leerem Blick.
„Du zeichnest Dinge, bevor sie geschehen“, sagte Elias.
„Und du schreibst, als wären sie schon passiert“, entgegnete sie.
Sie sahen sich an. Länger. Und diese Stille war anders. Keine Pause. Sondern eine Art Einklang.
Und doch – zwischen all dem wuchs etwas, das Mia nicht einordnen konnte. Eine Zartheit, die Angst in sich trug. Eine Nähe, die zugleich Rückzug bedeutete.
In einem Moment, in dem sie glaubte, dass Elias sich ihr wirklich öffnete, sagte er plötzlich:
„Ich mag es, wie du mit mir redest. Als wüsstest du nicht, was an mir falsch ist.“ Sie sah ihn an. Ganz ruhig.
„Vielleicht, weil ich nicht glaube, dass du falsch bist.“
Er antwortete nicht. Aber in seinen Augen zuckte etwas. Wie Schmerz, der kurz an die Oberfläche kam.
Und dann war da wieder diese leise Distanz. Keine Ablehnung. Eher eine Schutzreaktion. Als würde er sich daran erinnern, dass er Mauern gebaut hatte – und nun zögerte, ob er sie wirklich einreißen wollte.
In der nächsten Projektbesprechung sprach er kaum.
Sie saßen auf dem Boden der Bibliothek, zwischen zwei Regalen, in einer Art Nische, die sie für sich entdeckt hatten. Mia hatte ihr Skizzenbuch aufgeschlagen, zeigte ihm eine Zeichnung von einem
Käfig – leer, mit weit offener Tür.
„Das ist mein Bild von Wahrheit“, sagte sie. „Nicht, was drin ist. Sondern was fehlt.“
Elias nickte, langsam. Dann holte er ein Stück Papier aus seiner Jackentasche. Er reichte es ihr, ohne etwas zu sagen.
Darauf stand:
„Wahrheit ist der Moment, bevor man sich entscheidet, zu fliehen oder zu bleiben.“
Mia faltete das Papier, steckte es ein. Sagte nichts. Musste auch nichts sagen.
Denn zwischen ihnen hatte sich etwas verschoben.
Etwas Echtes.
Etwas, das keine Definition brauchte.
Es war ein Freitagnachmittag, kurz nach vier, als Mia das erste Mal Elias’ Zuhause betrat.
Er hatte ihre Nachricht gelesen – ein schlichtes „Wollen wir bei dir weitermachen?“ – und nach drei Minuten geantwortet: „Wenn du keine Angst vor
Stille hast.“
Sie hatte keine. Nicht vor seiner Stille. Nur vor der eigenen Ungeduld.
Er wohnte in einem Altbau am Stadtrand, einem dieser Häuser mit knarrenden Treppen und hohen Decken, in denen jedes Geräusch mehr Raum bekam. Schon das Treppenhaus roch alt – nicht unangenehm, sondern nach Dingen, die Geschichten kannten. Holz, Papier, etwas Bitteres. Irgendwo lief eine Uhr, deren Ticken durch die Wände drang.
Elias öffnete die Tür mit einem leisen Nicken. Er stand barfuß im Türrahmen, ein schwarzer Pullover, ein Notizbuch unter dem Arm. Hinter ihm lag eine Wohnung, die aufgeräumt war, aber nicht kalt. Sie war still. Fast zu still.
„Meine Eltern sind übers Wochenende weg“, sagte er beiläufig. Keine Erklärung, kein Unterton. Nur eine Feststellung.
Mia trat ein. Ihr Blick wanderte sofort. Bücherregale, die nicht sortiert waren. Vinylplatten, aber kein Plattenspieler in Sicht. Eine Couch, deren Kissen ein wenig zu akkurat lagen. Auf dem Couchtisch eine angefangene Teetasse, dampfend, der Löffel noch darin.
„Du wohnst ruhig“, sagte sie.
„Ich denke besser in Räumen, die nicht schreien.“
Sie stellte ihre Tasche ab, trat ans Fenster. Es regnete leicht, kaum hörbar – doch der Himmel war so dicht bewölkt, dass das Licht in Elias’ Zimmer wie gefiltert wirkte. Gedämpft, weich, beinahe melancholisch.
Dann der Geruch: Zimt. Und etwas, das sie nicht sofort benennen konnte.
Vielleicht Honig. Vielleicht Verborgenes.
„Du hast Tee gemacht“, stellte sie fest.
„Immer. Wenn ich nicht weiß, was ich sagen soll.“
Sie lächelte. Er reichte ihr eine Tasse, ohne zu fragen, ob sie welchen wollte. Es war, als hätte er gewusst, dass sie ja sagen würde.
Sie arbeiteten nicht sofort. Sie setzten sich auf den Boden, wie Kinder, die noch nicht entschieden hatten, ob sie spielen oder schweigen wollten. Mia hatte ihren Zeichenblock dabei, aufgeschlagen auf einer Seite mit feinen Linien – eine Figur, umgeben von grauen Schlieren, der
Körper aufrecht, der Blick nach unten.
Elias sah lange hin.
„Hier sieht man dich“, sagte er schließlich.
Mia hob den Kopf. „Was meinst du?“
Er deutete auf das Bild. „Du versteckst dich nicht. Du wirst sichtbar. Durch das, was du fühlst.“
Sie legte den Bleistift zur Seite. „Und du? Du versteckst dich zwischen den Zeilen. Man muss dich fast suchen.“
Ein kurzes Schweigen. Keine Abwehr. Kein Rückzug. Nur Nachdenken.
„Vielleicht will ich gar nicht gefunden werden“, sagte er leise.
„Und trotzdem hast du mich lesen lassen.“
Ein Moment. Eine dieser Sekunden, die zu einer Entscheidung werden könnten, wenn man den Mut aufbringt.
Elias stand plötzlich auf. Ging zum Fenster. Verschränkte die Arme, als wollte er sich selbst festhalten.
„Ich hab das noch nie gemacht“, sagte er. „So nah sein lassen.“
Mia stand ebenfalls auf. Trat langsam zu ihm. „Ich auch nicht.“
Dann war da eine dieser Pausen. Groß. Bedeutend. Eine Stille, die nichts verlangte und doch alles ermöglichte: Rückzug. Nähe. Flucht. Kuss.
Sie berührte seinen Arm. Vorsichtig, fast wie eine Frage. Er legte seine Stirn an ihre. Kein Kuss. Nur ein Innehalten. Ein leiser Versuch von Nähe.
Elias schloss die Augen. Für einen Moment war es ruhig – nicht nur außen, sondern auch in ihm.
Dann zog er sich zurück. Nicht hastig. Aber spürbar.
„Es tut mir leid“, flüsterte er.
„Warum?“