Und was, wenn ich mitkomme? - Eva Prawitt - E-Book

Und was, wenn ich mitkomme? E-Book

Eva Prawitt

4,8

Beschreibung

Nach 27 Ehejahren geraten Eva und Pit Prawitt in eine Krise. Eva bechließt, auf dem Jakobsweg zu pilgern: Sie will raus, sich den Kopf und die Seele freilaufen. Ihr Mann ist davon zunächst nicht begeistert. Doch dann fragt er sie: "Und was, wenn ich mitkomme??" Die beiden entscheiden sich nicht für den klassischen Jakobsweg, sondern für den weniger begangenen nordspanischen Küstenweg. Eva Prawitt gibt von jeder Tagesetappe ihre ganz persönlichen Eindrücke und Empfindungen wieder. Sie erzählt von der Schönheit der Natur, den Strapazen des Laufens, den Begegnungen mit Einheimischen und anderen Pilgern - und von dem, was in ihr und ihrem Mann geschieht. Sie gehen mal gemeinsam und mal getrennt, reden, lachen und schweigen sich an, lernen sich selbst, den anderen und ihre Beziehung ganz neu kennen. Und in Santiago de Compostela angekommen, stellen sie sich, von Erschöpfung gezeichnet, die alles entscheidende Fage: Ob ihr gemeinsamer Weg hier endet oder weiterführt ...

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EVA PRAWITT

»Und was, wenn ich

mitkomme?«

Zu zweit unterwegs auf dem Jakobsweg

Für Doris und für alle, die mit uns auf dem Weg sind.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 9783865064462

© 2010 by Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

Einbandgestaltung: Brendow Verlag, Moers

Titelfoto: mauritius images

Satz: Satzstudio Hans Winkens, Wegberg

www.brendow-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Prolog

1. TEIL Freude und Frust, Schönheit und Schmerz: Irun bis Santiago de Compostela

2. TEIL Am Ende ein Anfang: Finisterre, Muxia, La Coruña, Ferrol

3. TEIL Ankommen: Ferrol bis Santiago und nach Hause

Epilog

PROLOG

Er bewunderte die sonderbare Verblendung der Menschen, die doch recht gut wissen, was alles sich in ihnen selbst verändert, aber ihren Freunden ein für allemal das Bild, das sie sich von ihnen gemacht haben, aufzwingen wollen. Ihn selbst beurteilte man nach dem, was er gewesen war.

ALBERT CAMUS aus: Der glückliche Tod

Sie ist unglücklich, aber sie weiß, dass es nicht an der Nasennebenhöhlenvereiterung liegt, mit der sie sich seit Wochen herumschlägt. Sie hat das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Das Ringen um Luft hat sie ermüdet, wie nach langer, harter Arbeit. Doch sie kommt nicht zur Ruhe. Jeden Abend grübelt sie sich mühsam in den Schlaf.

Mitternacht ist längst vorüber. Durchs Schlafzimmerfenster flirren Sternenfunken wie zersprungenes Glas, gedämpft durch das Licht einer entfernten Straßenlaterne. Die Nachbarhäuser liegen schweigend und dunkel da, genauso wie ihr Mann im Bett neben ihr. Er hat einen Arm von sich gestreckt, als wolle er nach etwas greifen, aber sein Gesicht ist wunschlos entspannt. Falten blättern sich um seine geschlossenen Augen, seine Stirn ist wulstig wie bei einem Säugling, an den Wangen faltet sich seine Haut, als sei sie eine Nummer zu groß für ihn. Sie weiß, dass sich beim Aufwachen seine Gesichtszüge straffen werden. Aber jetzt schläft er. Und das würde sie auch gerne tun. Sie will schlafen und so bald nicht mehr aufwachen.

Sie kann sich nicht erinnern, wann sie nicht dieses Bedürfnis verspürt hätte. Sie weiß nicht mehr, wann sie das letzte Mal morgens mit Freude und Energie aus dem Bett und in den Tag gesprungen wäre.

Mein Gott, was ist bloß los mit ihr?

Ihr Mann neben ihr atmet leise und gleichmäßig.

»Ich hab die Nase voll«, flüstert sie in seine Richtung, aber er regt sich nicht. »Und zwar gestrichen«, fügt sie etwas lauter hinzu, was zur Folge hat, dass er sein Gesicht von ihr wegdreht, ohne zu erwachen.

Sie setzt sich im Bett auf und starrt aus dem Fenster. »Schon mal was von Psychosomatik gehört?«, fragt sie sich selbst und nickt. Sie hat die Nase voll, und zwar nicht nur im wörtlichen, sondern auch im übertragenen Sinn. Sie ist voll von zurückgehaltenen Gedanken. Sie hat Vitamine in sich hineingestopft und Antibiotika, hat ihre Nebenhöhlen mit Salzwasser gespült und hing alle naselang bei Ärzten herum, ohne dass ihre Kraft zurückgekehrt wäre und ohne dass sich das Geringste geändert hätte.

Etwas zu ändern ist schwer.

Dabei ist doch in den letzten Jahren alles so anders geworden: Die Kinder sind aus dem Haus, sie selbst hat ein paar Fortbildungen hinter sich gebracht, das Haus ist leer und öde und viel zu groß. Sie hat das Gefühl, bloß noch zu putzen, dabei war sie niemals gerne Hausfrau. »Aber du kochst gut«, hat ihre Schwiegermutter sie gelobt. Aber gut und gerne sind zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. Bis jetzt hat sie das noch niemandem begreiflich machen können. Auch nicht, dass sie nicht gerne Klamotten einkauft oder sich zum Kaffeetrinken trifft. Sie hat keine Lust auf Gymnastikgruppen und Jogging. Sie ist es leid, ein ewig offenes Ohr für die Wehwehchen ihrer Familie und anderer Nahestehender zu haben, und sie findet es eine Zumutung, ständig zur Verfügung stehen zu sollen. Sie mag es nicht, überrascht oder beobachtet zu werden. Intimität und Privatsphäre sind ihre Höhlen, in die niemand unaufgefordert eindringen darf. Sie meidet Menschenansammlungen und hasst Feste, auf denen nicht getanzt und gesungen wird, auf denen es nur ums Essen und Trinken und den Smalltalk geht. Sie möchte nicht verbessert werden wie ein Schulmädchen oder gemaßregelt, wenn sie mal aus dem Rahmen fällt. Sie möchte aus dem Rahmen fallen und impulsiv sein. Sie sieht nicht ein, warum sie Sachen wissen soll, die sie nicht betreffen und die sie auch nichts angehen, und warum sie – selbst bei vertrauten Menschen – nicht ins Unreine reden darf, warum sie festgelegt wird auf Aussagen, die schon Jahre zurückliegen, und auf Verhalten, das sie, unbemerkt von allen anderen, schon längst abgelegt und gegen ein anderes ausgetauscht hat. Sie kann nicht verstehen, dass niemand diese Veränderungen bemerkt, geschweige denn danach fragt.

Sie kann nicht mitreden über Fernsehsendungen, und es interessiert sie auch nicht. Fußball ist ihr zuwider, selbst während der Weltmeisterschaften. Sie will nicht einsehen, warum sie Emotionen investieren soll in etwas, wovon sie keine Ahnung hat und auch keine Ahnung haben will. Sie würde niemals in einen Verein eintreten. Sie mag kein Fleisch und deswegen auch keine Grillpartys. Sie weiß nicht, warum sie auf Schokolade verzichten soll eines Schönheitsideals wegen, das Werbung, Mode und Zeitgeist ihr vorschreiben wollen. Als ihre Großmutter noch eine junge Frau war, galt es als schick, mollig zu sein. Manchmal denkt sie, in der falschen Zeit zu leben. Aber sie orientiert sich ungern an der Vergangenheit und möchte lieber eigene Erfahrungen sammeln. Sie liebt es, neue Gedanken zu denken, und bemerkt gleichzeitig den Schrecken der anderen, wenn sie sie ausspricht. Sie verabscheut die Worte »man« und »muss« und versteht nicht, warum sie eigene Gedanken und die der anderen nicht infrage stellen darf. Sie hasst Selbstverständlichkeiten und fremdauferlegte Verpflichtungen. Sie findet es schrecklich, Erwartungen entsprechen zu müssen, die sie nicht selbst an sich hat. Sie hält große Stücke auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung. Sie spürt Abwehr und schweigt, weil sie Ablehnung ahnt.

Aber darin täuscht sie sich vielleicht. Sie traut sich nicht, es auszuprobieren. Beziehungen findet sie anstrengend.

»Midlife-Krise«, murmelt sie, ohne dass es ihren Mann zu stören scheint. Er bewegt sich nicht einmal. Es ist, als wäre sie gar nicht da. Es könnte genauso gut eine Schaufensterpuppe neben ihm im Bett liegen. Oder abends neben ihm auf dem Sofa sitzen, mit einem Buch auf den Knien, während er im Internet surft, seine Fotos sortiert, Musik hört oder sich eine DVD ansieht. Immer öfter verstreichen die Abende, ohne dass einer vom anderen etwas erfahren hat. Sie sind lange verheiratet. Trotzdem ist er ihr oft fremd. Und sie hat keine Ahnung, was er noch über sie weiß.

»Quatsch«, denkt sie. Sie will es nicht hinnehmen, alles mit einer Midlife-Krise zu erklären. Abnutzung wäre vielleicht der bessere Begriff und Erneuerung das Ziel.

Sie weiß, dass es ihrer Genesung nicht dienen wird. Hinter ihrer Stirn trommeln winzige Hämmerchen. Trotzdem schlägt sie die Bettdecke zurück und stellt die Beine auf den Boden. Sie liebt es, den weichen Kork unter ihren bloßen Füßen zu spüren, das Holz der Treppenstufen, die kühlen Steinfliesen im Flur. In der Küche riecht es nach Abwasch und Abendbrot. Die Möbel im Wohnzimmer sind vertraute Schatten. Sie öffnet die Terrassentür und tritt hinaus auf den nachtfeuchten Rasen. Ihr Nachthemd bauscht sich wie Federn. Sie würde gerne fliegen – oder zumindest irgendwie abheben, ein bisschen die Bodenhaftung aufgeben und etwas völlig Neues erleben. Sie ist nicht mehr jung, aber sie fühlt sich auch noch nicht alt.

Vom Garten aus blickt sie zu dem dunklen Schlafzimmerfenster hinauf. Dort oben träumt ihr Mann. Bei dem Gedanken an ihn weitet sich ihr Herz. Aber gleichzeitig zieht es sich auch zusammen. Wann sind sie sich das letzte Mal begegnet, ohne eine Rolle zu spielen? Wann haben sie sich ihre Seele gezeigt und nicht nur das Bild, das sie voneinander schon seit Jahren kennen?

Sie sind schon lange zusammen: Vor zwei Jahren haben sie ihre silberne Hochzeit gefeiert …

Am Himmel zerschmelzen die Sterne, und über dem Kirschbaum zeigt sich ein erster Lichtstreifen. Im Gartenteich spiegeln sich hellgeränderte Wolken. So hat sie dieses Stück Erde noch nie gesehen. Warum eigentlich nicht?

»Weil ich um diese Uhrzeit noch niemals draußen war«, erklärt sie sich selbst. Was also muss sich ändern? Die Zeit, um den Raum neu zu erleben? Dann vielleicht aber auch der Raum, um die Zeit neu zu fühlen? Oder der Rahmen – was vielleicht bedeutet, etwas auszuprobieren, das sie vorher noch nie gemacht hat, wie zum Beispiel, den Morgen im Garten zu begrüßen.

Sie dreht sich einmal um sich selbst, legt den Kopf in den Nacken und atmet tief die frische Morgenluft ein. Sie taucht ihre Zehen in den Gartenteich und schüttelt die eisigen Tropfen auf die Wiese. Vorsichtig, als wäre dies eine völlig neue Erfahrung, setzt sie einen Fuß vor den anderen. Unter ihren Sohlen knicken die Grashalme. Und plötzlich, während sie sich zum Haus zurücktastet, weiß sie, was sie tun wird.

*

»Hast du dir schon mal überlegt, dass neue Bilder selten in alte Rahmen passen?«, fragt sie.

Zwei Wochen sind vergangen. Die Kopfschmerzen sind verschwunden, und die Nasennebenhöhlen sind einigermaßen frei, aber sie fühlt sich immer noch verschnupft. Trotzdem ist sie heute Morgen relativ gut aus dem Bett gekommen. Jetzt sitzt sie mit ihrem Mann beim Frühstück. Über ihre Kaffeetassen hinweg schauen sie sich ins Gesicht.

»Nun?«, hakt sie nach. Doch er weiß nicht, was er antworten soll.

Sie stellt ihre Tasse ab und nimmt den Faden wieder auf: »Ich habe lange nachgedacht und gründlich recherchiert. Für ein freiwilliges soziales Jahr bin ich zu alt. Ich finde es auch unfair, einen Platz zu besetzen, der eigentlich jungen Leuten zusteht. Außerdem ist ein Jahr für mich sowieso zu lang … ich würde zu viel aufgeben müssen, was ich mir in den letzten Jahren mühsam aufgebaut habe … meine Arbeit … ich würde mich bloß selber bestrafen …«

»Was willst du eigentlich?«, fährt er dazwischen.

Wie kann sie es ihm bloß verständlich machen? Aber vielleicht muss sie das gar nicht. Vielleicht genügt es, ihm ihre Gedanken mitzuteilen, egal, was er daraus macht.

»Ich will leben, was ich bin«, sagt sie.

»Tust du das nicht?«

»Ich glaube nicht.«

Er dreht seine Kaffeetasse in den Händen ohne zu trinken. Der Kaffee wird kalt werden. Heute ist es egal. Sie forscht in seinen Augen, die sie ernst anblicken. Irgendwie wirkt er verunsichert.

»Was bist du denn?«, fragt er schließlich.

Endlich ist sie raus, diese Frage, auf die sie so lange gewartet hat. Sie könnte ihm jetzt Romane erzählen, endlich ihre Gedanken vor ihm ausbreiten. Aber sie haben keine Zeit dafür, er muss zur Arbeit. Und außerdem: Zeigt sich die Wahrheit nicht viel mehr im Handeln als im Reden? Sie hat so oft geredet, erklärt, erläutert und beleuchtet, ohne dass sich deswegen irgendetwas geändert hätte. Sie ist müde darüber geworden, und das will sie jetzt nicht mehr.

»Wir werden sehen«, sagt sie.

»Und deshalb musst du unbedingt weg?«

»Ja, ich will den Rahmen wechseln. Ich kann nicht ein neues Bild von mir zeigen im alten Umfeld. Das habe ich versucht, aber es hat mir keiner geglaubt. Am schlimmsten ist, dass ich mir mittlerweile selber nicht mehr vertraue. Ich habe den Eindruck, in meinem eigenen Leben nicht mehr vorzukommen. Das will ich ändern.«

»Und wie stellst du dir das vor?«

»Ich will mich wieder spüren und Zutrauen zu mir finden. Ich will wissen, wo meine Möglichkeiten und wo meine Grenzen sind und was ich wirklich zum Leben brauche. Und ich will unerreichbar sein …«

»Und wie willst du das alles unter einen Hut bringen?«

»Indem ich wandern gehe«, sagt sie.

»Wie stellst du dir das vor? Wo willst du schlafen, und was soll das kosten?«, sprudelt er seine Vorbehalte heraus.

»Keine Sorge, ich werde unsere Haushaltskasse nicht mehr belasten als sonst auch«, entgegnet sie.

»Und wie soll das funktionieren?«

»Spanien«, sagt sie, »Jakobsweg.«

Auf diese Möglichkeit ist sie im Internet gestoßen. Vorher hat sie nicht einmal gewusst, dass es so etwas gibt, Wege, die sich spinnennetzartig durch Europa ziehen und nur ein Ziel haben: Santiago de Compostela in Spanien, das Grab des Apostels Jakobus. Doch sie wird nicht wegen dieses Heiligen unterwegs sein. Ihr Ziel ist es, ihr eigenes Leben einzuholen oder es hinter sich herkommen zu lassen. Sie will die Gelegenheit haben, alles, was sie bewegt, in Ruhe und ohne Ablenkung zu Ende zu denken, und – anders als die meisten Jakobspilger – Gott nicht suchen, denn den hat sie längst gefunden, sondern in neuen Herausforderungen erleben, was es mit seinen Versprechungen auf sich hat.

Er ist skeptisch. Womöglich will er aber auch nur ihren Entschluss ins Wanken bringen. »Ist das nicht gefährlich?«

»Ich glaube nicht. Vielleicht ist es ein Abenteuer«, gibt sie zu, »aber kein echtes Wagnis. Die Wege sind mit gelben Pfeilen ausgeschildert oder mit blauen Kacheln mit Jakobsmuschel drauf. Ich habe gelesen, dass die Bevölkerung aufmerksam und hilfsbereit ist. Es gibt Herbergen in Abständen, die sich bewältigen lassen, wo man für bloß ein paar Euro übernachten kann. Und in jedem Ort kann man Wasser und Vorräte kaufen. Außerdem ist Spanien nicht die Wüste und schon gar nicht ein ferner, fremder Planet. Tausende gehen jedes Jahr diesen Weg, die meisten den sogenannten Camino Francés.«

Sie merkt, wie sie anfängt zu dozieren. Es kann sein, dass er ungeduldig werden wird. Aber sie kann es nicht lassen und redet sich in Rage: »Der Camino Francés führt von Saint-Jean-Pied-de-Port dicht hinter der französischen Grenze über die Pyrenäen nach Roncesvalles und weiter über Pamplona, Logrono, Burgos und Leon bis nach Santiago. Es gibt aber noch eine Menge anderer Jakobsrouten, über die ich nur wenig Informationen gefunden habe, den Camino Primitivo zum Beispiel, der über Oviedo verläuft, oder den Küstenweg über Ribadeo. Ich habe auch was über den Camino Ingles entdeckt, der von Ferrol bis Santiago führt. Der englische Weg verdankt seinen Namen den Pilgern, die von England über die Biskaya nach Ferrol schipperten und sich von dort weiter nach Santiago aufmachten. Aber der ist für mich zu kurz, nur etwa 120 km, die man schon in sechs Tagen schaffen kann.«

»Wie lange willst du denn wegbleiben?«, schnaubt er.

»Zwei Monate.«

Er fährt zusammen und starrt sie aus großen Augen an.

»So lange?«

Beruflich war er oft ohne sie unterwegs gewesen, zugegebenermaßen niemals zwei Monate an einem Stück, aber manchmal wochenlang. Sie hat es hingenommen, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl sie es niemals so gewollt hat. Sie hat ihn immer vermisst.

»Ja, so lange«, bestätigt sie.

Behutsam stellt er seine Tasse auf den Tisch, steht auf und wendet sich der Tür zu. Es ist spät und er muss zur Arbeit. Doch anstatt zu gehen, dreht er sich plötzlich, einem spontanen Einfall folgend, zu ihr um.

»Was hältst du davon, wenn ich mitkomme?«

So hat sie sich das nicht vorgestellt. Sie wollte dieses Erleben für sich allein haben. Aber jetzt fühlt sie sich überrumpelt.

»Ich kann dir nicht verbieten, durch Spanien zu laufen wann und wie lange du willst«, presst sie hervor. Doch klein beigeben will sie auch nicht. »Ich kann mir bloß nicht vorstellen, dass du so lange Urlaub bekommst.«

»Wir werden sehen«, sagt jetzt er und geht.

*

Noch am selben Abend steht es fest: Sie werden zusammen weg sein. Er hat sofort mit seinem Chef gesprochen und die Zustimmung erhalten, den diesjährigen Urlaub aufzusparen, um dafür nächstes Frühjahr zwei Monate frei zu bekommen. Ob sie so lange auf ihn warten wird? Warum nicht. Sie hat ein Leben lang geübt, Abstriche zu machen. Jetzt kann sie nicht plötzlich damit aufhören.

Es stehen ihnen Monate ohne Erholungsphasen bevor. Die wenige freie Zeit ist vollgestopft mit Planen und Organisieren. Sie kaufen sich Ruck- und Schlafsäcke, Wanderstöcke, Sonnenhüte und knallrote Regencapes. Sie lassen sich von der Fränkischen St.-Jakobus-Gesellschaft in Würzburg Pilgerausweise ausstellen, die sie dazu berechtigen, in allen Pilgerherbergen kostengünstig zu übernachten. Sie unternehmen lange Samstags-Wanderungen und laufen sich Fersen und Schuhe weich. Sie reiben sich abends die Füße mit Hirschtalg ein.

Jeder von ihnen legt sich drei Unterhosen, drei Paar Socken, zwei leichte Wanderhosen, Fleecejacke und Anorak zurecht, dazu ein paar T-Shirts, eine winzige Reiseapotheke, Ohropax,Waschzeug, das in eine Zipperplastiktüte aus dem Drogeriemarkt passt, zwei zu Handtüchern umfunktionierte Microfaser-Bodenwischtücher und Sonnencreme, was zusammen knapp neun Kilo ergibt. Sie probieren aus, wie sich das Gewicht auf dem Rücken anfühlt. Sie beschaffen sich Literatur über den Jakobsweg, über das Wandern im Allgemeinen und über Spanien im Besonderen. Sie forschen im Internet nach Pilgerberichten und erfahren, wie überlaufen der Camino Francés ist. Sie sind sich einig, dass sie keine Lust auf Gänsemärsche haben und auch nicht auf überfüllte Herbergen. Sie blättern in Landkarten und Atlanten und probieren in ihrer Fantasie unterschiedliche Routen bei Google Earth aus.

Die Landschaft Nordspaniens stellt sich auf den Computerbildern herb und schön und verlockend dar, eine Vision aus Bergen und Meer, Geschichte und Natur, aus Kraft und Traum. Sie entscheiden sich für den Küstenweg, der von Irun und San Sebastian über Bilbao, Santander und Gijon bis nach Ribadeo führt und von dort weiter über den Nordweg nach Mondonedo bis Santiago. Sie erschrecken über die Länge der Strecke: 840 Kilometer. Sie fürchtet sich vor den Höhenunterschieden, die auch direkt am Meer auf schweißtreibende Rackerei schließen lassen. Er wird seinen Fotoapparat vermissen. Aber sie haben beschlossen, auf jedwede Technik zu verzichten.

Auch das Handy wird zu Hause bleiben, obwohl dieser Entschluss Ängste in der Familie auslöst. Was ist, wenn jemand krank wird oder sonst irgendwie ihre Hilfe benötigt?

»Dafür gibt es Ärzte oder andere Fachleute«, hält sie ihren Lieben entgegen, die daraufhin schwerere Geschütze auffahren: »Und was, wenn einer von uns stirbt?«

Ihre Antwort könnte als herzlos aufgenommen werden. Sie sagt es trotzdem: »Lasst uns alles, was gesagt und bereinigt werden soll, jetzt sagen und bereinigen, sodass wir in Frieden Abschied voneinander nehmen können.«

Das ganze Unternehmen hat auch den Sinn, sich von Erwartungen zu lösen. Das wird sie jetzt durchziehen – mit allen Konsequenzen. Und er wird es mit ihr teilen – oder auch nicht. Sie behalten sich vor, sich jederzeit auf dem Weg zu trennen. Wie oft hatte sie sich das in der Vergangenheit ausgemalt, einfach zu gehen, um zu spüren, wie es ist, ohne ihn zu leben. Aber dann hat sie es doch niemals umgesetzt. Diesmal will sie sich diese Option offenhalten, und sie werden es beide aushalten müssen. Sie sind fest entschlossen.

Jeder von ihnen kauft sich ein Outdoor-Handbuch, in dem sie Streckenbeschreibungen und allerhand Tipps für ihren Weg finden, und ein kleines schwarzes Tagebuch. Sie buchen Flüge zu Spottpreisen. Allmählich stellt sich Vorfreude ein.

Es ist lange her, dass sie aktiv am selben Strang gezogen haben. Doch die Anspannung macht sie unvorsichtig.

Silvester sind sie bei guten Freunden eingeladen, bei Doris und ihrem Mann. Natürlich kommt an diesem Abend auch ihr Vorhaben, den spanischen Küstenweg zu erwandern, zur Sprache. »Da hätte ich auch Lust drauf«, schwärmt Doris. Und in einer spontanen freundschaftlichen Anwandlung bietet sie an, dass Doris mitkommen könne. Doris ist nicht der Mensch, der sich lange bitten lässt. Schon einen Tag später hat sie herausgefunden, dass im Flieger noch Platz ist. Kurzerhand verlegt sie zweieinhalb Wochen Urlaub in die geplante Reisezeit, bucht ihren Flug und kreuzt abenteuerlustig und bereit zu allem mit ihrem Gepäck einen Abend vor Reisebeginn bei ihren Freunden auf. Nun gut, gehen sie eben zu dritt. Und warum auch nicht? Hauptsache, es geht endlich los. Es ist wie eine Flucht, aber auch wie ein Angriff. Vielleicht ist es gut, nicht nur zu zweit zu sein.

Am Abend vor ihrer Reise ertränkt sie ihre inneren Widersprüche, ihre Vorbehalte und ihre Aufregung zusammen mit ihrer Freundin in Grand Marnier. Ihr Mann hat Whiskey gewählt, was sein gutes Recht ist. Alle drei sind sehr aufgekratzt. Gegen elf Uhr erhebt sie sich.

»Es wird Zeit«, sagt sie, »gute Nacht, Doris.«

»Gute Nacht, Eva, gute Nacht, Pit«, antwortet ihre Freundin.

1. TEILFreude und Frust, Schönheit und Schmerz: Irun bis Santiago de Compostela

Über längere Strecken musst du deinen Rhythmus finden und ihn beibehalten. Du solltest keine übertriebenen Sprints hinlegen, die bereust du hinterher immer.

ANDREA DE CARLO aus: Wenn der Wind dreht

1. TAG KASSEL – HONDARRIBIA

Hinter uns liegt eine kurze Nacht. Um drei Uhr müssen wir schon aus unseren Betten. Ein Freund, der dienstlich nach Heilbronn fährt, macht für uns einen Umweg und bringt uns zum Frankfurter Flughafen. Wie im Traum fliegt mir hinter den Autofenstern die Skyline von Frankfurt entgegen. Irgendwo dort hinten wartet unser Flugzeug. Ich kann es nicht fassen: Vor mir liegen zwei völlig unberührte Monate.

Beim Start unserer Maschine überkommt mich ein solches Hochgefühl, dass ich am liebsten schreien möchte. Ich drücke aber nur Pits Arm. Pit strahlt. Er kann kaum den Blick losreißen von dem Morgenlicht, das die tief unter uns liegenden Pyrenäen mit ihren schneebedeckten Berggipfeln überpudert. Auch Doris ist ganz versunken.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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