Und wer küsst mich? - Heide John - E-Book
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Heide John

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Beschreibung

„Perle gesucht". Eine kleine Anzeige am Infobrett eines Baumarktes bringt Franziska Perle auf die Idee, sich einen Nebenverdienst zu suchen. Weil sie mehr als zwanzig Jahre einen Ehemann und drei inzwischen erwachsene Kinder versorgt hat, sieht sie überhaupt kein Problem darin, an drei Tagen in der Woche den kleinen Haushalt des dreißigjährigen Juniorchefs der örtlichen Baumarktkette zu versorgen. Nicht gerechnet hat Fanny Perle allerdings mit den unerwarteten Nebenwirkungen.

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Seitenzahl: 245

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Heide John

Und wer küsst mich?

Roman

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2012 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2001 bei Blanvalet / Wilhelm Goldmann Verlag, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München

Heide John wird vertreten durch die literarische Agentur Lianne Kolf, München.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Zweite, überarbeitete Fassung.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-17-6

Von Heide John zuletzt bei hey! erschienen:

Ein Herz für Männer. Roman

1

Eigentlich war ich wie eine Mutter für ihn. Eine bessere Mutter, sozusagen. Wenn ich richtig informiert bin, hat sich seine leibliche Erzeugerin mehr um den Aufbau der Geschäfte gekümmert als um ihren einzigen Sohn. Im Umkreis von fünfzig Kilometern haben die Netts drei Baumärkte, und es gibt, glaube ich, niemanden hier in der Gegend, der noch nie was bei denen gekauft hat. Von der Bohrmaschine über die Tapete bis hin zur Schraube: In den Nett-Märkten gibt es einfach alles, was der Heimwerker braucht, und deshalb stinken die inzwischen vor Geld. Riesengroße Villa, dicke Autos, Hausangestellte – und im neuen Golfklub, der ausgerechnet da angelegt wurde, wo ich seit zwanzig Jahren meinen Sonntagsspaziergang mache, sind sie natürlich auch, wie mir Helga erzählt hat.

Dem Baumarkt an der Oststraße verdankte ich meinen Job. Als ich meinen mir Angetrauten nach wochenlanger Nörgelei endlich überredet hatte, am Wochenende unser Wohnzimmer neu zu streichen, fuhren wir an einem verregneten Freitag gegen Abend zum Nett-Markt, um dort zwei Eimer Farbe zu kaufen. Tja, und wie ich da vorm schwarzen Brett stand, las ich:

»Perle gesucht. Wer hilft einem ledigen Junggesellen bei der Bewältigung seines Haushaltes? Rufen Sie an. Paul Nett. 0221-456522.«

Ich musste lachen: »Lediger Junggeselle« – so ein Quatsch. Junggesellen sind schließlich immer ledig! Aber einen Job konnte ich gut gebrauchen. Außerdem fühlte ich mich direkt angesprochen, weil ich seit meiner Hochzeit »Perle« heiße. Franziska Perle. Die meisten Leute nennen mich allerdings Fanny, obwohl mir der Name Franziska besser gefällt, weil er so etwas Nobles hat. Aber auch mit Fanny bin ich eigentlich ganz zufrieden. Es klingt so fröhlich!

Als mein Mann und ich vor den vielen Farbeimern standen, konnten wir uns wieder mal nicht einigen. Plötzlich wollte Franz das Wohnzimmer rein weiß und nicht cremefarben streichen, obwohl vorher klar abgesprochen war, dass ein zarter Farbton viel gediegener wirkt als dieses kalte strenge Weiß. Typisch Franz Perle. Sein Geschmack war schon vor dreißig Jahren schlechter als meiner und zu seinem Wort steht der Kerl ohnehin nie. Nach einem kurzen, nicht gerade lautlosen Streit waren wir schnell wieder auf dem Weg nach Hause.

Beim Rausgehen hatte ich allerdings nicht nur eins der vorgestanzten Zettelchen mit der Telefonnummer von Paul Nett abgerissen, sondern gleich den ganzen Aushang. Ich war immer schon gut darin, Konkurrenten auszutricksen.

Ungeduldig wartete ich darauf, dass Franz zum Abendbierchen in seine Stammkneipe verschwand, damit ich meinen neuen Arbeitgeber anrufen konnte. Von einem zusätzlichen Einkommen sollte mein Gatte nämlich nicht unbedingt sofort etwas wissen.

Bei Paul Nett lief nur einer dieser blöden Anrufbeantworter. Ich musste die Nummer viermal hintereinander wählen, weil ich immer schon vor dem Piepston meinen Namen gesagt hatte. Endlich klappte es, und ich bot dem Blechkopf meine Dienste an. Drei Tage später klingelte gegen neun Uhr das Telefon. Schon als ich am Morgen aufgewacht war, hatte ich eine gewisse Vorahnung; ich spürte förmlich, dass Paul Nett mich höchstpersönlich anrufen und zu sich nach Hause einladen würde. Und genau so war es dann auch. Nach einem kurzen Plausch mit dem sehr sympathischen und ziemlich gut aussehenden Mann hatte ich den Job. Dreimal in der Woche drei Stunden. Montag, Mittwoch, Freitag. Pflege des Junggesellenhaushaltes für DM 15,- die Stunde. Macht DM 540,- im Monat. Mann, war ich stolz. Mein erster Job seit meiner Eheschließung. Noch dazu ein wahnsinnig angenehmer. Viel Arbeit gab es nämlich nicht. Ein bisschen Staubwischen, ein paar Hemden bügeln, Betten machen und wischen. Viel zu wenig Arbeit für neun Stunden. Vermutlich habe ich deshalb auch angefangen, mich näher mit Pauls Angelegenheiten zu befassen. Fernsehgucken konnte ich schließlich auch bei mir zu Hause. In der Zeit, wo ich bei Mr. Nett den Staubwedel schwang, habe ich meinen Paule ziemlich gut kennen gelernt. Und das ist ja nach mehr als drei Jahren auch nicht weiter verwunderlich.

Ich kannte alle seine Gewohnheiten. Wusste, wie (und ob) er das Bett auslegt, wusste, dass er seine Hemden über den Kopf zieht und sie linksrum liegen lässt, dass er die Morgenzeitung fein säuberlich zusammenlegt, so als wäre sie noch nicht gelesen, dass er am frühen Abend meistens einen Whisky aus einem schweren, kantigen Glas trinkt, ich wusste sogar, dass er im Stehen pinkelt. Mit allergrößtem Interesse verfolgte ich natürlich vor allem Pauls kleine Liebschaften. Mein Leben war im Gegensatz zu seinem nämlich nicht besonders ereignisreich. Alles verlief in den gleichen Bahnen, ein Tag war wie der andere, und mit zunehmendem Lebensalter galt das sogar für die Jahre. Meine Kinder waren erwachsen, meine Ehe langweilig geworden. »Veränderung«, war ein Wort, das ich ausschließlich vom Hörensagen kannte. Aber wenn Fanny Perle bei Paul mehrere Tage hintereinander zwei Tassen und zwei Teller abzuspülen hatte, war sie im Bilde. Am Zustand der Bettlaken erkannte ich, dass mein lieber Paul ein recht aktiver Liebhaber sein musste. Was bei einem kräftigen jungen Mann auch kein Wunder ist, die haben eben noch Ausdauer.

Glücklicherweise hat sich mein Junggeselle in den ersten Jahren nicht einfangen lassen. Frauen kamen, Frauen gingen. Das bemerkte ich an den Karten, Briefen und Zettelchen, die die Damen geschrieben haben und die Paul immer offen herumliegen ließ, was ich im Grunde als Aufforderung verstehen musste, sie zu lesen. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass er jemanden brauchte, der regen und vor allem dauerhaften Anteil an seinem Leben nimmt. Und wer konnte das anders sein als die Frau, die ihn seit Jahren versorgte, die ihn mit mütterlicher Liebe und umfassendem Verständnis umhüllte? Ich, natürlich! Niemand anders als Franziska Perle, die von der ersten Sekunde an eine gewisse Zuneigung für diesen Mann im Herzen hegte.

Dann bekam ich einen Brief in die Finger, der anders war als alle anderen. Anfangs konnte ich mir keinen rechten Reim darauf machen, deshalb bin ich schnell zum Kopierladen in der Klopstockstraße gelaufen, damit ich ihn mitnehmen und in aller Ruhe zu Hause studieren konnte. Abends habe ich mich im Badezimmer eingeschlossen, das weiße Blatt aus der Handtasche gezogen und war ziemlich erstaunt:

Lieber Paul,

ich bin ein wenig verunsichert und weiß nicht recht, wie ich mit diesem Gefühl umgehen soll. Was gestern passiert ist, war – zumindest für mich – wie der Blitzschlag in kitschigen Liebesromanen. Man blickt in Augen, in die man bereits viele, viele Male geblickt hat, aber alles ist anders als sonst. Da tastet sich der Zeiger einer Uhr von einer Minute zur nächsten und in dieser winzigkleinen Zeitfrequenz findet eine allumfassende und überwältigende Veränderung statt. Plötzlich hat der Blick in die Augen des Menschen, der einem – wie häufig zuvor – gegenübersitzt, nichts mehr mit der altvertrauten und freundschaftlichen Mischung aus Neugier und Interesse zu tun. Nichts mit der ständig wachen Bereitschaft, dem anderen zuhören zu wollen, nichts mit kameradschaftlicher Zuneigung.

Auf einmal ist da eine Liebe oder besser gesagt, weil wir beide nicht wissen, was aus unseren Gefühlen werden soll: ein Verliebtsein.

Zwischen dem Gespräch über Schröders und Lafontaines vorpubertäre Rangeleien und deiner einfühlsamen Beschreibung über das derzeitige Verhalten unseres Freundes Carlos fiel ein Gedanke über mich. Absolut unerwartet und ohne erkennbaren Grund dachte ich auf einmal: Ich liebe ihn. Das ist er. Der Mann, der meinem Herzen am nächsten ist. Ich hätte diesen Gedanken für ein abwegiges Produkt meiner Phantasie oder für eine kurzzeitige irrelevante Wunschvorstellung gehalten und niemals darüber gesprochen. Aber zwischen Spaghetti Vongole und Tiramisu hieltest du inne und sagtest:

»Paula Stups, du bist wirklich die tollste Frau, die mir jemals begegnet ist.«

So nahm die Geschichte, die nun unsere werden soll (oder werden kann?) ihren Lauf. Wir sprachen über uns. Dass wir uns mochten, haben wir schon am Tag unserer ersten Begegnung gemerkt. »Betriebswirtschaftliches Seminar für zukünftige Führungskräfte« im Ausbildungszentrum West. Wie lange ist das nun her? Zehn Jahre! Wirklich schon so lange? Beim ersten Mittagessen saßen wir am selben Tisch, abends gingen wir gemeinsam an die Hotelbar, in den darauf folgenden Monaten hat sich so etwas wie eine gute Freundschaft zwischen uns entwickelt. Nicht mehr und nicht weniger.

Und nun soll alles eine andere Bedeutung bekommen? Wollen wir das überhaupt? Ist ein eher zufälliger Beischlaf nach einem gelungenen Abend wirklich wichtig? Wir könnten die gestrige Nacht als schöne Ausnahmesituation in unserem Gedächtnis bewahren. Ein Koitus verpflichtet zu nichts. Ist kein Versprechen. Ist nicht bindend. Ist etwas ganz Normales. Zwischen erwachsenen Menschen.

Setzt der Mensch ein Zeichen, wenn er mit einem anderen nach Hause fährt in tiefer Nacht? Wenn eine Zärtlichkeit entsteht, die gar nicht besonders viel mit ekstatischer Sexualität zu tun hat (vor Müdigkeit?), wenn er aufwacht neben einem anderen Menschen, der ihm vertraut ist, den er seit vielen Jahren kennt? Der ein Freund ist oder war? Ein Freund. Der Freund! Setzt der Mensch ein Zeichen, wenn er sich im verdunkelten Nacht-Raum aus einer Umarmung windet, um aus zwei Schlafstunden drei zu machen, und der eine greift im Schlaf mit wohlstimmigen Lauten nach des anderen Leib?

Pauls sonore Brummstimme, sinniere ich und lasse den Arm zumindest für die nächsten zehn Minuten um deinen Bauch geschlungen, dann schläft er ein, mein Arm; und ich ziehe ihn vorsichtig zum weggewandten eigenen Körper. Und du, der zartweiche, vichyduftende Geliebte dieser langen Nacht, drehst dich hinterher, umarmst mich und beendest damit meinen Nachtschlaf endgültig.

Mit offenen Augen liege ich in deinem Schlafzimmer, in das ich in all den Jahren zuvor nur ein einziges Mal einen Blick geworfen habe. Damals bei meinem ersten Besuch, als du mir stolz die geräumigen Zimmer deiner neuen Wohnung zeigtest.

Mit weit geöffneten Augen liege ich in deinem Bett und male Kreise, Parallelen und Schleifen an die Zimmerdecke und fahnde nach der Bedeutung der Zeichen. Paul braucht Wärme, denke ich, Wärme und Nähe, Ohren und Augen und Stimme. Noch etwas anderes? Vor allem frage ich mich: Braucht er meine Wärme, meine Nähe, meine Augen, meine Stimme? Ich finde keine Antwort. Ich weiß es nicht. Was ich weiß? Ich mochte dich von Herzen gern an diesem langen Abend, obwohl ich mich (wie so oft) über viele deiner Sätze wunderte. Aber es ist wahr: Paul, ich habe mich in dich verliebt.

Dein Satz am frühen Morgen zwischen Badezimmer und Bett hat mich gefreut, zugleich macht er mir ein bisschen Angst.

»Du bist meine Traumfrau. Mit dir will ich leben.« Ich weiß gar nicht genau, was das ist, »eine Traumfrau«. Ich weiß nicht, ob ich deinen Ansprüchen gerecht werden kann. Ich weiß nicht, ob ich tatsächlich dazu in der Lage bin, mit einem anderen Menschen – sprich mit einem Mann – sprich mit dir – zu leben. Ich weiß nicht, was aus meinen Gefühlen werden soll. Warum sollte mir mit Anfang dreißig gelingen, was mir zeit meines Lebens nicht gelungen ist: Das harmonische Zusammenleben mit einem Mann … Ich bin nicht geschaffen für kontinuierliche Beziehungen. Ich habe es dir bereits vor langer Zeit erzählt. Länger als zwei Jahre habe ich es bislang mit keinem Mann ausgehalten, obwohl es selbstverständlich das Bedürfnis gibt, alles mit jemandem teilen zu wollen. Alles! Und nicht mit irgendjemandem! Sondern mit einem. Einem Einzigen. Mit dem, der es sein soll. Bis ans Ende der Tage.

Wie romantisch. Wie unrealistisch. Weil ich mit meinem Charakter inzwischen vertraut genug bin, um zu wissen, dass ich kein unkompliziertes Menschenkind bin, beruhigt mich der Gedanke, dass du mich einigermaßen gut kennst. Vielleicht kannst du ja mit meinen »Macken« umgehen … Lass uns Dienstagabend noch einmal in Ruhe über alles reden.

Deine Paula

Gott im Himmel! Was für ein Brief! Und so lang. Ist ja ganz schön geschrieben, so poetisch. Solche Sachen würden unsereinem gar nicht erst einfallen. Aber dass mein Paul zu einer Frau gesagt haben soll, dass sie seine Traumfrau ist und dass er den Rest seines Lebens mit ihr verbringen will, konnte ich nun überhaupt nicht verstehen. Ein Mann von fünfunddreißig Lenzen soll sich nicht gleich binden. Der muss sich nicht einfangen lassen von irgendeiner Frau. Der braucht noch keine Leine, dem steht doch die Welt noch offen. Skeptisch stimmte mich bei dieser Paula auch, dass sie nie länger als zwei Jahre mit einem Mann zusammen war. Das schrieb sie ja selber. Es ist schließlich kein gutes Zeichen, wenn eine Frau keine Ausdauer hat, oder?

Lustig fand ich, dass sie Paula heißt. Ein bisschen verbunden waren wir vier also durch unsere Namen, da gehörte sogar mein Ehegespons dazu. Und sofort wurde die Befürchtung in mir wach, dass Paul einer falschen Romantik zum Opfer fallen könnte. Paul und Paula – Franziska und Franz. Meine beste Freundin Helga sagte zwar immer, es sei totaler Blödsinn, an solche Sachen zu glauben, aber ich bin absolut davon überzeugt, dass alles Bestimmung ist, sonst würde das Leben keinen Sinn machen. Man muss eben nur genau aufpassen, dass man nicht an die falschen Dinge glaubt. An Franz Perle zu glauben, war zum Beispiel ein eklatanter Fehler.

Ich kann mich gut daran erinnern, wie klasse ich es fand, dass der Franz Franz hieß, weil das so gut zu Franziska passt. Aber da habe ich mich eben geirrt und zu früh ein Zeichen sehen wollen. Wahrscheinlich hätte ich ihn gar nicht so flott geheiratet, wenn sein Name Heinz oder Karl gewesen wäre. Tja, damals habe ich eben gedacht, das ist fast so etwas wie Schicksal. Vielleicht war ich auch ein bisschen eitel. Als junger Mann sah Franz ziemlich gut aus, »fesch«, sagten wir damals. Meine Freundin Helga hätte ihn gerne genommen. Aber gewollt hat er nur mich. Und damals fand ich den Namen Franziska Perle schick, er klang bedeutungsvoll.

Aus der Bedeutung ist nun leider nichts geworden, denn dass ich das große Los mit Franz gezogen hätte, kann man nun wirklich nicht behaupten. Er ist eher eine Art Trostpreis. Naja, ich war dann gleich schwanger, dem ersten Kind folgte das zweite – und was soll’s, in meinem Alter brauche ich auch nicht mehr ernsthaft über eine Trennung nachzudenken. Außerdem dachte ich diesbezüglich stets gut katholisch: Was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht scheiden, oder so ähnlich heißt es doch …

Heute frage ich mich, was geschehen wäre, wenn Paul Nett bemerkt hätte, dass ich seinen Brief gelesen und sogar kopiert habe. Und ihn noch dazu einer gründlichen Prüfung unterzogen habe, während ich breitbeinig auf dem Klodeckel saß? Das war wirklich und wahrhaftig nicht besonders romantisch.

Das vorläufige Ergebnis dieses Abends bestand darin, dass ich meine Handtasche nicht noch mal mitnehmen durfte, wenn ich mich zum Lesen ins Bad verziehen wollte. Als ich rauskam, stand nämlich mein Oller vor der Tür und fragte grinsend: »Bewahrst du das Klopapier jetzt schon in deiner Umhängetasche auf?«

Typisch Franz Perle. Aber was soll man von einem Ochsen anderes erwarten als ein Stück Rindfleisch? Zum Glück muss man auf derart blöde Fragen keine Antwort geben.

Auf jeden Fall wartete ich mächtig gespannt darauf, ob es an meinem nächsten Putztag neue Nachrichten geben würde.

Aber es gab nichts Neues. Keinen Brief. Kein Foto. Und auf dem Anrufbeantworter war nur der Mann vom Boilerdienst. Wie langweilig! Vielleicht war die Liaison der beiden längst beendet. Eigentlich ein beruhigender Gedanke. Es war nämlich schlichtweg unvorstellbar, dass eine Frau in meine und Pauls Wohnung eindringen, dort einen unpassenden weiblichen Geist beheimaten wollte und nichts als Unordnung machen würde.

Eine ganze Woche musste ich warten, bis mir der nächste Brief in die Hände fiel:

Ein kleiner Brief für meinen »Lieblingsmenschen«

Liebling,

die letzten beiden Tage waren wunderbar und beeindruckend, und nun wäre ich wahrhaftig in der richtigen Stimmung, eine euphorische Liebeshymne auf unsere Beziehung zu schreiben.

Paul, ich staune über mich selbst. Ich sitze hier in meiner Wohnung, es ist beinahe Mitternacht und deine realistische Freundin Paula ist zu glücklich, um ins Bett gehen zu können. Wie ein Teenager träume ich unseren schönen Stunden hinterher … Jetzt kann ich es ja zugeben: Noch am Freitagvormittag habe ich darüber nachdenken müssen, ob es wirklich klug war, eine Verabredung zu treffen, die ein ganzes Wochenende umfassen sollte. Unbeschreiblich viel Zeit würde vor uns liegen, und ich befürchtete, dass wir vielleicht nichts Sinnvolles miteinander anzufangen wussten. Ich hatte Angst davor, wir würden uns spätestens am zweiten Tag nichts mehr zu sagen haben. Wahrscheinlich hatte ich deshalb am Morgen auch ungemein heftige Kopfschmerzen. Aber als du mir abends die Haustüre öffnetest und mich zärtlich in die Arme nahmst, waren alle Zweifel verflogen. Plötzlich wusste ich, wie richtig unsere Entscheidung war. Ich wusste sogar, dass es ein schönes Wochenende werden würde. Da war eine Grundlage, auf der – mit und ohne Worte – ein tiefes und inniges Verständnis füreinander da war. Die Nachwirkung unserer Wochenend-Vertrautheit besteht in einem Zustand des kleinen Schwebens. Ich fühle mich ganz leicht. Mein Kopf ist in den Wolken, lediglich meine Füße stehen fest auf dem Boden. Sogar unsere Sinnlichkeit korrespondierte, wir waren auch miteinander leicht, es war der große Fluss aus Wollust und Vergessen, an den ich nie wirklich geglaubt habe …

Unter all den Austauschbaren – ein Einzigartiger: Paul, du bedeutest mir sehr viel …

Deine Paula

Was sagen wir denn nun dazu?

Das ganze Wochenende hat sie mit ihm verbracht. Ich konnte es mir gar nicht genau erklären, aber ich wurde das beängstigende Gefühl nicht los, dass die Frau sich mit der Geschwindigkeit eines Formel-1-Rennwagens in sein Leben katapultierte. Und dann diese Sprache. War das etwa der Tonfall, mit dem man Zugang zu Pauls Herz finden konnte? Für meinen Geschmack hörte sich das alles ein bisschen zu gedrechselt an.

Und Kopfschmerzen hat die Arme gehabt. Pochte also schon jetzt auf sein Mitgefühl, die Lady. Meistens sind das die Frauen, die mit vierzig gar nicht mehr aus dem Bett kommen. Außer, der Gatte hat eine Urlaubsreise gebucht oder lädt zum Shopping ein. Obwohl ich das kenne. Kopfschmerzen habe ich nämlich auch von Zeit zu Zeit. Vor allem dann, wenn mein Franz sich wieder mal daran erinnert, dass ich meinen ehelichen Pflichten nachkommen sollte. Das ist ungefähr einmal im Monat und meistens nach einer ausgedehnten Zechtour mit seinem Kumpel Kalle der Fall. Dass ich dann keine Lust habe, ist leicht zu begreifen. Franz Perle kann allerdings sehr hartnäckig sein, wenn er blau ist. Meistens packe ich dann mein Bettzeug, schließe die Schlafzimmertür von außen ab und mache es mir auf dem Sofa bequem. Am nächsten Morgen ist mein Gatte dann stets ziemlich reumütig und verspricht, mich nie wieder zu bedrängen, wenn er besoffen ist. Seit fast dreißig Jahren die gleiche Prozedur.

Seit zwanzig Jahren räche ich mich an ihm, indem ich an den Tagen danach keinen Finger rühre. Ich setze ihn auf Diät und lasse ihn sogar seine Stullen selber schmieren, was er nicht besonders gut kann. Ganz zu schweigen davon, dass er zwei Tage keinen Kaffee kriegt, weil er die Maschine immer noch nicht bedienen kann. Ja, solche Männer gibt es. Das hätten Sie auch nicht für möglich gehalten, was?

Damit ich nicht länger böse auf ihn bin, und damit er wieder ordentlich versorgt wird, kommt Franz Perle abends nach der Arbeit mit einem Topf Alpenveilchen nach Hause. Das weiß der Mann nämlich: Ich kann eine ganze Woche den Küchendienst verweigern und übers Wetter unterhalten muss ich mich schon lange nicht mehr. Obwohl ich ihm hundert Mal gesagt habe, dass ich Alpenveilchen auf den Tod nicht ausstehen kann, verzeihe ich ihm meistens, wenn er treuherzig mit seinem Töpfchen vor der Türe steht und mich lieb anlächelt. Man soll nicht nachtragend sein. Auch das gehört zu einer Ehe.

Als ich eine junge Frau war, hatte ich nie Kopfschmerzen. Das hätte ich mir gar nicht erlauben können bei drei kleinen Kindern. Die Frauen von heute sind verwöhnter, als wir es früher waren. Ist auch kein Wunder, die haben alle einen anständigen Schulabschluss und meistens einen ordentlichen Beruf gelernt. Bei uns hieß es immer: Mädchen müssen nichts lernen, die heiraten ja doch. Und so war’s dann auch. Nach der Volksschule habe ich ein paar Monate in der Fabrik gearbeitet. Schokoladentäfelchen sortiert. Die guten ins Töpfchen, die schlechten in den Einschmelzkorb. Drei Monate später lernte ich beim samstäglichen Tanzvergnügen in »Bauers Ballhaus« Franz kennen. Elf Monate später wurde aus Franziska Schmitz Franziska Perle. Nach der Hochzeit bin ich nicht mehr in die Fabrik gegangen. Mein Mann erzählte jedem, der es hören wollte, dass seine Frau nicht zu arbeiten braucht. Das stimmte zwar nicht, denn als Anstreicher verdiente Franz nicht gerade üppig, aber die Zeiten war nun mal so, dass die Frauen für Kinder und Mann sorgten. Die Herren der Schöpfung mussten in diesen gar nicht lange zurückliegenden Zeiten um Erlaubnis gefragt werden, wenn ihre Frauen arbeiten wollten. Und, glauben Sie mir, das starke Geschlecht war stolz darauf, dass es das Geld für die Familie ranschaffte. Die Männer waren die Ernährer, ohne ihrer Hände oder Köpfe Arbeit würde die Familie am Hungerlaken nagen. Zumindest frönten die Männer diesem Irrglauben. Irgendwie wollten und konnten die Männer zu Beginn der Sechziger Jahre nicht so recht daran glauben, dass Frauen auch Menschen sind. Die meisten hielten es mit dem guten alten Sprichwort: »Eine Frau hat nicht mehr Verstand als ein Hühnerei Haare.« Und manchmal wurde ich das Gefühl nicht los, dass auch die meisten Frauen sich für fehlerhafte oder nicht ganz fertig gestellte Produkte hielten. Durch die Emanzipation hat sich vieles verändert. Wenn Frauen arbeiten, sind sie weniger abhängig von ihren Ehemännern. Das ist übrigens einer der Gründe dafür, warum die Scheidungsrate heutzutage so unglaublich hoch ist.

Paul und Paula hatten jedenfalls ziemlich viel Unordnung hinterlassen. Der Abwasch türmte sich in der Spüle, und drei leere Flaschen Champagner standen in der Wohnung herum (nicht der von Aldi, sondern ein ganz teurer; ich kannte die Marke aus der Werbung). Eine stolze Menge Alkohol für zwei Tage. Naja, »wer kann, der kann, und wer hat, der hat«, sage ich immer.

Ich habe mich damals jedenfalls entschlossen, ein Buch zu schreiben. So eine Art Tagebuch. Die beiden Briefe von Paula hatte ich bereits eingeklebt. Das sollte eine schöne Erinnerung für später sein.

2

Liebster Paul,

wer denkt, verliert.

Diesen Satz habe ich mir nach unserem »ersten Abend« in den Kalender geschrieben. Entspricht er der Wahrheit?

Es geschehen seltsame Dinge: Gestern Nacht bin ich wahrhaftig in deinen Armen eingeschlafen. Ich, die sich seit Jahren vor dem Einschlafen Platz und Raum verschaffen muss. Wehe, wenn ich versehentlich an der Wandseite einschlafe, ohne Fluchtmöglichkeit zur – bitteschön geöffneten – Schlafzimmertür. Es ist merkwürdig, und ich sollte endlich einmal eine Erklärung dafür finden, weshalb ich diesen inneren Fluchttrieb habe und immer nach Ausgängen Ausschau halte. Seit meiner Kindheit bin ich vor nichts und niemandem mehr davongelaufen. Ich habe keinen meiner Freunde und keine meiner Freundinnen von einem Tag auf den anderen »verabschiedet«. Jedes Verlassen ging und geht langsam vonstatten. Ich bin stets mit vorsichtigen Ankündigungen weggegangen und immer nur dann, wenn die Distanz zwischen mir und einem anderen Menschen unüberbrückbar erschien; wenn das innerliche Zur-Seite-Schreiten nicht mehr als Phase interpretiert werden konnte. Wenn gar nichts mehr ging mit dem betreffenden anderen, wenn er mir keinen Platz mehr ließ – für mich und meine Bedürfnisse.

Damit bin ich unweigerlich beim Thema Lebenspartner angelangt, oder besser gesagt, dabei, was dieses Wort für mich bedeutet.

Ich weiß gar nicht genau, ob ein Mann in meinem Leben tatsächlich eine Chance haben kann. Wünsche, Vorgaben, Regeln, Gesetze kann ich nicht benennen und schon gar nicht manifestieren. Ich möchte nicht, dass sich jemand »verhält«, denn ich komme selber nur schlecht mit den Erwartungshaltungen anderer Menschen zurecht. Es genügt, dass wir uns im Beruf – also den ganzen Tag über – mit diesen verlogenen Häuten bedecken müssen. Am Abend möchte ich nackt sein. In meinem Reich will ich mein wahres Gesicht zeigen.

Authentizität heißt das Zauberwort – und (klassisch profan): Was nicht passt, kann nicht passend gemacht, sondern muss getrennt werden. Ich glaube nicht an Topf-und-Deckel-Geschichten. Zugleich weiß ich allzu genau, was ich will. Ich bin eigensinnig und störrisch, wie meine Eltern zu sagen pflegten. Aber ich bin auch ehrlich. Du sollst teilhaben an meinen Empfindungen, an meiner Welt, und nur aus diesem einen Grund schreibe ich dir all diese Sätze. Du sollst verstehen, wer Paula ist.

Bereits nach wenigen Tagen habe ich dich viel besser kennen gelernt als in den vielen Jahren zuvor. Auf einmal begreife ich, dass vieles in dir gärt und schwelt, dass ich dir viel näher kommen muss, um deine Untiefen verstehen und vielleicht dazu beitragen zu können, dass sie ausgeglichen werden. Bislang lebte ich – trotz unserer freundschaftlichen Nähe – nur mit halbbewussten Ahnungen von dem, was in dir vorgeht. Jetzt will ich verstehen, wer Paul ist, aber ich will auch wissen, was es bedeutet, jemanden zu lieben. Der Satz »ich habe mich verliebt« ist einfach und (streng genommen) banal, zumal man zu Anfang einer Beziehung wahrhaftig nicht weiß, ob der andere Mensch oder ob das Bedürfnis nach der Entwicklung des eigenen Gefühls im Vordergrund steht. Es ist wundervoll, verliebt zu sein. Es tut gut. Es macht schön, ausgeglichen und zufrieden. Leider gehört die Frau, in die du dich verliebt hast, nicht zu den glücklichen Menschen, für die es leicht ist, einen Übergang zwischen Verliebtheit und Lieben zu finden. Komisch, ich bin empfindlich, viel zu kritisch und überdies fehlt mir stets und bei allem das Maß. Ich kann nicht Haus halten mit Worten, mit Kräften, mit dem Leben. Aber vielleicht lerne ich es ja noch … Ich möchte, dass wir in Freiheit miteinander leben. Ich möchte nicht, dass wir uns zu sehr (auf Gedeih und Verderb) aneinander binden. Ich will die Intensität unserer Beziehung bewahren. Ohne Bindungsängste, ohne Verlustgefahr, ohne Zwänge. Lieber süßer Freund, du hättest vielleicht eine jüngere Frau an dein Herz nehmen sollen. Die wäre vermutlich weniger kompliziert als ich. Aber ob sie dich auch genauso leidenschaftlich lieben könnte wie deine Paula?

Gute Nacht, Liebster – ich werde gewiss von dir träumen. Deine »letzte Frau«, die manchmal gerne ein wenig unbeschwerter, ein wenig leichter wäre …

Was ist das denn für ein Satz: »Wer denkt, verliert.« Wozu bitte ist der Mensch denn da? Zum Denken? Oder etwa nur zum Pinkeln, zum Beischlafen, zum Ausscheiden? Das ganze Elend in der Welt kommt doch nur daher, dass die Menschen zu wenig oder das falsche denken. Und da schreibt eine angeblich gestandene Frau einen solchen Satz. Am liebsten hätte ich einen Stift genommen und zwischen das »wer« und das »denkt« ein NICHT geschrieben. »Wer nicht denkt, verliert.« Aber hier lag und liegt das Problem. Ich darf mich nicht einmischen. Ich muss meine Meinung für mich behalten. Fanny Perle darf fast nie sagen, was sie von der Welt und von den Menschen hält. Also, wenn ich Paul Nett gewesen wäre, hätte ich die Öhrchen gespitzt, wenn mir jemand etwas derart Seltsames geschrieben hätte. Und dann dieses Gerede über das Verstehen. Verstehen tut man sich, wenn man dem anderen zuhört. Das gilt zumindest für die ersten Monate einer Beziehung. Wenn Kinder die Familie zu dem machen, was sie sein soll, ist frau ohnehin den ganzen Tag beschäftigt; am Abend hat man dann keine Zeit mehr für Verstehen und Verständnis. Da ist man froh, wenn man die Beine hochlegen kann und wenn das Fernsehprogramm einigermaßen erträglich ist.

Diese Lektion würde Paula wohl noch lernen müssen, dachte ich damals. Jedenfalls konnte man anhand dieser Zeilen unschwer erkennen, was den Leuten alles einfällt, wenn sie zu viel Zeit zum Nachdenken haben und wie sie alle Dinge unnötig verkomplizieren, wenn sie das Leben nicht richtig einschätzen können. »Pure Verschwendung von Hirnmasse«, wie mein Sohn August früher immer zu sagen pflegte.

Dann musste ich mich aber schleunigst wieder an die Arbeit machen, um vier wollte Helga mich vor Pauls Haustür abholen. Wir mussten nämlich noch schnell zu »Charme & Anmut«, weil Helgas Jüngste am nächsten Sonntag heiraten wollte und wir beiden Hübschen bei solchen seltenen Gelegenheiten Schick und Geschmack unter Beweis stellen konnten. Schließlich und endlich kenne ich Marion seit ihrer Geburt, also war auch ich so etwas wie eine Brautmutter für das Mädel.

Am Abend hatte ich dann wieder Zeit zum Nachdenken. Ich lag mit hinter dem Kopf verschränkten Armen auf unserem Ehebett und dachte wie so oft, dass das Leben seltsame Wege geht. Alles ist vom Entwicklungsprozess abhängig. Und das bedeutet: Je älter man wird, umso bescheidener wird man auch. Diese jungen Hühner, die wollen die ganze Welt besitzen, und was das Schlimmste ist: Sie glauben auch noch, dass der Kosmos ihnen zusteht. Dass sich die Erde um ihre kleine nichtige Existenz dreht. Die wollen sich binden und frei sein, die wollen sich hundert Jahre lang lieben wie am ersten Tag und solche Sachen. Dabei gerät jede Liebe mit dem Alltag aneinander, das ist der Lauf der Welt. Langweilig wird’s in Ehen immer, aber dafür hat man zum Ersatz Freundinnen und Bekannte. Mit denen kann frau reden, wenn sie dem Partner nichts mehr zu sagen hat oder ihm nichts mehr sagen möchte – kann ja auch vorkommen. Allerdings, und das vergessen die meisten, ist es natürlich auch ganz angenehm, wenn man auf zwei, drei, vier Jahrzehnte Eheleben zurückgucken und sehen kann, was man alles zu zweit durchgestanden hat.