... und zerstreute sie in alle Winde - Hans Schellbach - E-Book

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Hans Schellbach

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Beschreibung

'. und zerstreute sie in alle Winde' ist ein spannend geschriebenes Antikriegsbuch, doch es würdigt den deutschen Frontsoldaten, der sein Vaterland bis zum bitteren Ende 1945 verteidigt hat. – Karl Grzibowski hat das Schauspielstudium beendet und hofft, auf den 'Brettern, die die Welt bedeuten', Karriere zu machen, da erreicht 1943 den gerade achtzehn Jahre alt Gewordenen der Gestellungsbefehl. Während der Ausbildungszeit wird er von den Ausbildern auf jede nur erdenkliche Weise schikaniert. Er erlebt die Härte der soldatischen Ausbildung. Aus Verzweiflung meldeter sich freiwillig an die Front. Vielleicht geht es dort menschlicher zu, hofft er. In vorderster Linie, in der konsequenten Vernichtung von Mensch und Material, erfährt er die Bedeutung des Wortes 'Krieg'. Der junge Soldat, der in der Hitlerjugend indoktriniert und diszipliniert worden war, vergleicht Worte und Taten der nationalsozialistischen Machthaber und stellt fest, daß vermitteltes Wissen und die eigene Erfahrung nicht übereinstimmen. Als der genesende Soldat in seinem Geburtsort Beuthen 0/S in Stellung liegt und seine Mutter mit vier Geschwistern vor den einrückenden Russen die Heimat verlassen muß, sagt er den nationalsozialistischen Machthabern den Gehorsam auf. – Karl Grzibowski denkt und handelt, wie viele seines Alters gedacht und gehandelt haben …

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Hans Schellbach

… und zerstreute sie in alle Winde

 

Roman

»Pieron, wo bist du…?«

7. Teil

 

 

Laumann-Verlag

 

 

 

 

 

 

Die Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

 

 

2. Auflage

© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

 

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

Postfach 1461, 48235 Dülmen

 

ISBN 978-3-89960-449-8

 

[email protected]

www.laumann-verlag.de

 

 

Junge, Junge, ich sehe dich auch noch Soldat werden!

 

 

Karl Grzibowski, siebzehn Jahre alt, Absolvent der Schauspielschule zu Breslau, dem vor wenigen Tagen noch eine große Zukunft, »Auf den Brettern die die Welt bedeuten«, vorhergesagt worden war, näherte sich, an einem Tag im August des Jahres 1943, mit müdem Schritt der Kaserne Guben-Mückenberg II, wo die Sanitäts-Ersatz- und Ausbildungsabteilung der Division Großdeutschland, zu der er einberufen worden war, um für Führer, Volk und Vaterland zu kämpfen, ihren Standort hatte.

»Junge, Junge, ich seh dich auch noch Soldat werden …« hatte der Viehhändler Willi Friedel, der Bruder des Bauern, bei dem Karl 1939 als Landjahrjunge im Broteeinsatz gewesen war, zu ihm gesagt, und er, der »Deutsche Junge«, hatte die Worte des Mannes, der für den Führer und das nationalsozialistische Deutschland nichts übriggehabt hatte, mit Empörung aufgenommen – sich sogar mit dem Gedanken getragen, den »Feind des deutschen Volkes« dem Lagerführer zu melden …

»Der Dicke hat doch recht gehabt«, murmelte Karl, »Fast alles, was er damals gesagt hat, ist eingetroffen, ist Wirklichkeit, erschreckende Wirklichkeit geworden … « Er erinnerte sich der Auseinandersetzungen zwischen den so ungleichen Brüdern …

»Dein Führer will den Krieg!« hatte der Viehhändler immer wieder gesagt.

»Der Führer will keinen Krieg – er war nämlich Frontsoldat!« hatte der mit dem goldenen Parteiabzeichen dekorierte alte Kämpfer, Alphons Friedel, stereotyp erwidert. Den Argumenten des kritischen Bruders – zum damaligen Zeitpunkt muteten diese wie Hirngespinste an – hatte der »Deutsche Bauer« nur den einen Satz entgegenzusetzen, und dieser Umstand hatte Willi, den Viehhändler, nicht nur einmal in Rage gebracht. Bei so manchem Streit zwischen den politisch so verschieden engagierten Brüdern war Karl ungewollter Zuhörer gewesen – und nachdenklich geworden. Bis zum heutigen Tag hatte er nicht vergessen, was der Dicke gesagt hatte, als die deutschen Truppen nach Polen einmarschiert waren und im Radio Siegesmeldung um Siegesmeldung verkündet worden war: »Seid ihr denn meschugge«, hatte er den Bruder und die Schwägerin angefahren, »ihr glaubt doch nicht etwa, daß wir den Krieg gewinnen können … ? – Herrgott noch mal, schlagt doch mal den Atlas auf! Seht euch doch mal an, wie groß Deutschland sich auf der Weltkarte ausnimmt!! – Vielleicht geht euch dann ein Licht auf?!«

Und nach einer längeren Pause – er war erregt im Zimmer auf und ab gegangen – hatte er hinzugefügt: »Und darauf wette ich meinen Kopf: der Amerikaner wird sich auch noch einmischen – und dann machen die uns fertig wie noch nie!!«

Karl dachte: »Ob der dem Führer so ergebene Bauer Alphons Friedel noch so denkt wie damals … ? Inzwischen hat sich ja vieles geändert … Stalingrad war die erste bittere Pille, die wir, die sieggewohnten Deutschen, zu schlucken hatten. Und schon bald darauf, im Mai, mußten die Streitkräfte der Achse Berlin-Rom in Nordafrika kapitulieren – vorläufig wenigstens war der Traum, wieder eine Kolonialmacht zu werden, ausgeträumt … Der Verlust Stalingrads, die vielen Gefallenen und die fast 100000 Mann, die in Gefangenschaft geraten waren, all dies ernüchterte, war schmerzlich. Und auch die Kapitulation des Afrikakorps tat weh – aber da waren noch die Luftangriffe der alliierten Bomber, die in verstärktem Ausmaß, seit dem Frühjahr 1943, der deutschen Zivilbevölkerung maßloses Leid zufügten.«

Karl meinte, seinen Lehrherrn, den Baumeister, sprechen zu hören … »Fliegende Eisenbahnzüge werden Feuer über Deutschland abwerfen! Ganze Städte werden vernichtet, Millionen Menschen den Tod finden … Hier steht es geschrieben, mein Junge, in diesem astrologischen Kalender!« hatte der komische Kauz gesagt, und als er, Karl, ihn mit Augen angesehen hatte, in denen der Spott zu lesen war, da hatte Jonas hinzugefügt: »Lach nur, mein Junge – hoffentlich wird es uns nicht vergehen … « – »Er hat recht behalten … « murmelte Karl. Er erinnerte sich der Gefühle, die ihn davon abgehalten hatten, dem Baumeister einen Besuch abzustatten, als er sich, anläßlich des Todes seiner Großmutter in Beuthen befunden und an dem Haus, in dem der komische Kauz wohnte, aber auch sein Geschäft betrieb, vorbeigegangen war. Er hatte gedacht: »Mit absoluter Sicherheit ist anzunehmen, daß Jonas wieder von der Astrologie und den Vorhersagen sprechen würde und es wäre mir, dem ungläubigen Thomas – so hatte der Baumeister ihn genannt –, nicht recht gewesen, ihm meinen Irrtum eingestehen zu müssen. – Aber sowohl die Aussagen des Viehhändlers als auch die Vorhersagen des astrologischen Kalenders hatten dem Wahrheitsbeweis standgehalten – daran führte kein Weg vorbei … Hoffentlich vergeht uns das Lachen nicht …«

 

Sein Einmarsch in die Kaserne stand unter einem ungünstigen Stern. Zwei Faktoren zeichneten für die höchst ungünstige Konstellation verantwortlich: der Aufschub von drei Tagen, den das Kreiswehrkommando Karl gewährt hatte, um die Abschlußprüfung vor dem Prüfungsausschuß der Reichstheaterkammer vornehmen zu können und sein höchst individuelles Einrücken zum Ehrendienst mit der Waffe, das von der sonstigen Übung abwich; denn zu den Normalitäten zählte der Gruppeneinmarsch der Rekrutierten in die Garnison. Die zu Karls Einheit einberufenen Wehrpflichtigen hatten schon vor drei Tagen den geöffneten Schlagbaum am Kasernentor passiert, waren in der Marschkolonne einmarschiert – und die Individuen waren fürs erste anonym geblieben; was für sie von unschätzbarem Vorteil war.

Zu guter Letzt nahm schon das Erscheinungsbild des Karl Grzibowski, insbesondere das lange, bis auf die Schultern herabfallende Haar, jeden Dienstgrad der deutschen Wehrmacht gegen den Fremdkörper im Kasernenbereich ein … Schon zum zweitenmal klopfte Karl Grzibowski zaghaft an die Tür des Kompaniegeschäftszimmers. Der Aufforderung: »Eintreten!« kam er augenblicklich nach, schloß die Tür, begab sich zur Barriere, die das etwa 40 Quadratmeter große Zimmer teilte, sagte: »Guten Tag!« und wartete auf eine Anrede. Doch der korpulente, vielleicht 40 Jahre alte Mann, der ohne Uniformjacke am Schreibtisch saß, nahm von seiner Anwesenheit keine Notiz. Karl ließ einige Sekunden verstreichen und sagte dann: »Ich melde mich zur Truppe!« Nun reagierte der am Schreibtisch Sitzende. Er blickte Karl flüchtig an und fragte leise, mit drohendem Unterton: »Wer meldet sich zur Truppe … ?«

»Ich heiße Karl Grzibowski und melde mich zur Truppe!« Karl hatte den Satz kaum ausgesprochen, da fuhr der korpulente Mensch ihn an: »Was heißt hier: mein Name ist Grzibowski! – Merken Sie sich; hier heißt es: Soldat Sowieso meldet sich zur Truppe! – Verstanden!?«

»Ja, ich habe verstanden!«

»Jawoll, heißt das, Mann!!«

Karl sagte nun: »Soldat Grzibowski meldet sich zur Truppe!«

»Herr Soldat, das heißt: Herr Hauptfeldwebel!!«

»Kann der brüllen!« dachte Karl, antwortete jedoch sogleich: »Jawoll, Herr Hauptfeldwebel!«

Dann erhob der Hauptfeldwebel sich von seinem Platz, ging langsamen Schrittes auf die Barriere zu, hinter der Karl, wie er meinte, in strammer Haltung stand, blickte ihn von Kopf bis Fuß an, und der lauemde Unterton, der in der Frage: »Wo kommen Sie her?« mitschwang, warnte Karl, hieß ihn auf der Hut sein. »Aus Breslau, Herr Hauptfeldwebel!« antwortete er. Was nun erfolgte hielt Karl nicht für möglich. Der Dicke begann unvermittelt zu brüllen: »Nein, da kommen Sie eben nicht her! – Das können Sie mir doch nicht weismachen!« Dann ging er ganz nah an Karl heran und flüsterte ihm in die linke Ohrmuschel hinein: »Wissen Sie, wo Sie herkommen … ?« Und als Karls Blick, den die Ratlosigkeit prägte, ihn traf, schrie er: »Sie kommen aus dem Urwald! – Aus dem Urwald kommen Sie her! – Mit solch langen Haaren laufen nur die Zulukaffer herum – und Sie!!« Die Röte, die das Gesicht des Hauptfeldwebels überzogen hatte, schien Karl bedenklich. Er dachte: »Hoffentlich trifft ihn der Schlag!« Doch er vermochte sich nicht weiter mit seinen Wünschen zu beschäftigen, denn der Schreihals legte wieder los. Karl kam aus dem Staunen nicht heraus, er dachte: »Daß ein Mensch so falsch und so laut zu brüllen vermag, daß die Stimme dies aushält ist ein Wunder!« Er hatte immerhin zwei Jahre Sprechtechnik während seiner Ausbildung als Schauspieler studiert und verstand etwas von diesen Dingen. »Hauen Sie ab, Mann! Ich will Sie nicht mehr sehen! – Kommen Sie erst wieder, wenn Sie beim Friseur waren!« Noch als Karl ratlos im Flur der Kaserne umherlief und vor sich hin sprach: »Wo finde ich bloß einen Friseur … ?« vermeinte er den Hauptfeldwebel brüllen zu hören. Ein Unteroffizier bereitete seinem Irrlauf ein Ende. »Wo wollen Sie denn hin, Sie komischer Heini?« fragte er. »Vielleicht können Sie mir sagen, wo ich einen Friseur finde?« erwiderte Karl und bemühte sich um eine korrekte soldatische Haltung. »Wo kommen Sie her?«

»Vom Geschäftszimmer! – Ich darf mich erst wieder sehen lassen, wenn ich beim Friseur gewesen bin!«

»Mann, Mann, da sind Sie aber beschissen dran … Gleich am ersten Tag auffallen, das kann auch nicht jeder! – Kommen Sie mit!« Karl folgte dem Unteroffizier in angemessenem Abstand. Nachdem sie etwa 30 Schritte gegangen waren, klopfte der Unteroffizier an eine Tür und ging, ohne die Aufforderung einzutreten abgewartet zu haben, in das Zimmer hinein. »Kommen Sie!« rief er Karl zu, der unschlüssig vor der Tür stehengeblieben war.

»Otto, Kundschaft!« sagte der Unteroffizier zu einem Gefreiten. »Aha!« bemerkte der.

»Der Spieß will ihn erst wieder sehen, wenn du seine Tolle abgeschnitten hast«

»Alles klar!« erwiderte Otto, und mit den Worten: »Dann mal los«, forderte er Karl auf, sich auf einen Schemel zu setzen.

»Das ist mal ’ne Tolle«, sagte der Gefreite und machte sich an die Arbeit. Während er tätig war, redete er unentwegt. »Mann, du hast dem Spieß den ganzen Tag verdorben – das vergißt er dir nie! Der hat ja Bauchschmerzen bekommen, als er dich gesehen hat! … Für ihn sind Menschen mit langen Haaren Affen! – Das Haar des deutschen Soldaten wird streichholzlang getragen! sagt er jeden Tag! – So, jetzt bin ich fertig!«

Karl mahnte sich zur Vorsicht und sprach den Friseur mit seinem Dienstgrad an. »Herr Gefreiter, haben Sie mal einen Spiegel?« fragte er. »Guck in die Fensterscheibe!« lautete die Antwort.

»Ja … »murmelte Karl und begab sich zum Fenster. Das Gesicht, das sich im Fensterglas widerspiegelte, war ihm fremd, und ihm war zum Heu1en zumute, als er seinen fast kahlen Schädel sah.

»Jetzt sehen Sie wieder wie ein Mensch aus, wird der Spieß sagen, wenn du dich bei ihm meldest!«

Der Gefreite lachte und betrachtete Karls Haarschnitt wohlgefällig.

»Ja … « sagte der deprimierte Karl und begab sich zur Tür.

»Wo willst du denn hin … ?« rief der Gefreite.

»Zum Spieß!«

»Und was ist damit?« Der Friseur wies auf den Fußboden. Karl blickte verständnislos.

»Du denkst doch nicht etwa, daß ich den Dreck hier wegräume?!« fuhr der Gefreite Karl an. Es dauerte einige Sekunden, ehe der Rekrut Grzibowski: »Ach soo … « sagte und fragte: »Wo finde ich einen Besen?«

»In dem Schrank ist alles drin!«

Der Friseur wies auf einen Spind. Karl spürte Wut aufsteigen, doch nach den bisher gemachten Erfahrungen hielt er es für ratsam, sich nichts anmerken zu lassen. Als der Gefreite sagte: »Bei mir brauchst du nichts zu bezahlen, aber den Dreck, den mußt du schon selber wegräumen!« dachte Karl: »Du kannst mich mal … «

Auf dem Weg zum Geschäftszimmer tastete Karls rechte Hand immer wieder den frischgeschorenen Kopf ab, und als er die Nacktheit des Schädels fühlte, empfand er höchstes körperliches Unbehagen. Karl schlug die Absätze seiner leichten Sommerschuhe aneinander; doch der Knall, die von ihm erhoffte Wirkung, blieb aus. Der Mißerfolg bewirkte ein verstärktes, krampfhaftes Bemühen um eine korrekte soldatische Haltung. Er streckte die Brust so weit wie möglich heraus, legte die Hände an den Hosennähten an, und blickte den Spieß, der sich zwischenzeitlich den Uniformrock angezogen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken an, als er meldete: »Befehl ausgeführt! Haar schneiden lassen!!«

»Herr Arsch … !« brüllte die Mutter der Kompanie, und Karl wußte wirklich nicht warum. »Was will er denn jetzt von mir?« dachte er, doch er wich dem Blick des Vorgesetzten nicht aus. Der Spieß ging auf den zur Salzsäule erstarrten Karl zu, sah sich genüßlich die Arbeit des Kompaniefriseurs an, murmelte: »Hat Otto gut gemacht … « und brüllte plötzlich wieder los: »Befehl ausgeführt, Haar schneiden lassen, Herr Arsch!! – Das wollten Sie doch sagen, Sie komischer Heini, Sie!!«

Wie aus der Pistole geschossen antwortete Karl laut und deutlich: »Das wollte ich nicht sagen, Herr Hauptfeldwebel!!« Karls rasche und bestimmte Entgegnung schien das Mißfallen des Hauptfeldwebels hervorgerufen zu haben, denn noch lauter als vordem brüllte er: »Widersprechen Sie mir nicht, Sie komischer Soldat!!« In völlig anderer Tonart sagte er nun: »Natürlich haben Sie das gedacht! – Oder können Sie mir sagen, warum Sie meinen Dienstgrad vergessen haben?!«

»Ich weiß es nicht, Herr Hauptfeldwebel!«

»Sie wissen das nicht? – Aber ich weiß es!! – Soll ich Ihnen sagen, was Sie gedacht haben?!«

»Ich habe –«

»Sie haben die Klappe zu halten, Sie Weihnachtsmann! – Haben Sie verstanden?!«

»Jawoll, Herr Hauptfeldwebel!«

»Sie haben gedacht: Der Arsch, der kann mich mal! – Genau das haben Sie gedacht! – Aber merken Sie sich: der Spieß weiß alles – und er kann auch Gedanken lesen! – Haben Sie verstanden?!«

»Jawoll, Herr Hauptfeldwebel!!« In freundlichem Tonfall sagte der Spieß nun: »Jetzt tun Sie sich leid, Grzibinski, nicht wahr?!«

»Grzibowski, Herr Hauptfeldwebel!«

»Das ist mir völlig wurscht, ob Grzibinski oder Grzibowski! – Merken Sie sich das, Sie traurige Figur!!«

Just in diesem Moment trat ein Unteroffizier in das Geschäftszimmer ein. Mit größter Selbstverständlichkeit passierte er die Schranke, und während er sich an den Schreibtisch setzte, der dem des Hauptfeldwebels gegenüberstand, sagte er: »Hauptfeld, der Alte läßt Ihnen sagen, es ist in Ordnung so.«

»Hab ich mir gedacht«, murmelte der Spieß, doch laut und akzentuiert sagte er: »Neumann, das ist der Mann, dem die Extrawurst gebraten wurde, der drei Tage Aufschub erhalten hat. – Sehen Sie sich diesen Trauerkloß mal genau an: das will ein Schauspieler sein … «

Dann wandte er sich wieder Karl zu, der es nicht gewagt hatte sich zu rühren, und murmelte: »Mann, Mann, so sieht also ein leibhaftiger Schauspieler aus …«

Unvermittelt brüllte er wieder los: »Herr, Sie sind hier nicht auf der Bühne! – Merken Sie sich das! – Und das schreiben Sie sich hinter Ihre Ohren: hier wird anders Theater gespielt, das werden Sie bald merken!!« Der Spieß wandte sich von Karl ab, begab sich an seinen Schreibtisch und bemerkte nebenbei: »Neumann, geben Sie ihm einen Laufzettel … und Sie«, er blickte Karl an, »ziehen auf Stube 214 ein und melden sich bei Ihrem Zugführer, Feldwebel Niemeyer, verstanden?!«

»Jawoll, Herr Hauptfeldwebel!« Als Karl den Laufzettel in der Hand hatte, brüllte der Spieß: »Raus!!«

Karl hatte die auf dem Laufzettel aufgeführten Stationen, mit mehr oder weniger unangenehmen Begleiterscheinungen, durchlaufen. Wie ein Lastesel bepackt stand Karl vor der Tür der Stube 214, in die der Spieß ihn eingewiesen hatte. Als er den Raum betrat und die vielen übereinanderstehenden Bettstellen sah, dachte er: »Hier hausen mindestens 30 Mann und hier ist überhaupt kein Bett mehr frei … « Doch dann blickte er sich aufmerksam um und fand in der dunkelsten Ecke des Raums, wo selbst bei schönstem Sonnenschein kein Lichtstrahl einzudringen vermochte, einen überzogenen Strohsack. »Gott sei Dank, es ist das untere Bett!« sprach er leise vor sich hin, doch er wußte auch, daß es ein billiger Trost war, den er sich zugesprochen hatte; in dieser Ecke hätte er sich unter normalen Umständen nie und nimmer niedergelassen. Während er mit einem Seufzer der Erleichterung die Klamotten – so hieß er in Gedanken die Uniform und die Ausrüstung des Soldaten, den Karabiner 98 eingeschlossen – auf dem Strohsack ablegte, drang die Stimme des Hauptfeldwebels bis in den im zweiten Stockwerkgelegenen Raum ein. »Kompanie – Achtung! Melde Herrn Oberarzt: Kompanie beim Exerzierdienst!« Die Stimme des Oberarztes vermochte Karl nicht zu vernehmen, was er in Gedanken so kommentierte: »Der wird wohl wie ein Mensch gesprochen haben …«

Karl war froh, niemanden in der Stube angetroffen zu haben; denn er benötigte dringend einige Minuten, um zu sich selbst zu finden. Er hatte die erste, höchst unangenehme Begegnung mit dem Spieß zu verkraften und den Verlust seines Kopfschmucks zu verschmerzen. Mechanisch führte er die notwendigen Handgriffe aus. Zu dem Zeitpunkt, da er den Strohsack mit dem Laken bezogen hatte, war das Aufschlagen vieler, rasch sich nähernder nägelbeschlagener Schuhe in dem mit Fliesen ausgelegten Flur zu vernehmen, aber auch stetig anschwellendes Stimmengewirr drang in seine Ohren ein. Zwei, drei Sekunden noch befand Karl sich allein in der Stube 214, dann wurde die Tür aufgestoßen. Die beiden Rekruten, die als erste in das Quartier eintraten, denen das Gros der Stubengenossen auf dem Fuße folgte, schienen einen bereits auf dem Flur geführten Dialog fortzusetzen, denn der eine sagte: »Herbert, das sag ich dir noch mal, Feldwebel Niemeyer ist ein Sadist! – Wie der dich herumgejagt hat, das ist schon unmenschlich!«

»Der hat einen Pik auf mich – dem kann ich auch gar nichts rechtmachen!« entgegnete Herbert.

Karl stand unschlüssig neben seinem Bett und stellte Überlegungen über das eben Gehörte, aber auch über sein weiteres Verhalten an. Er dachte: »Soll ich vorerst in der Ecke bleiben und abwarten oder gehe ich nach vorn und sage: Ich bin Karl Grzibowski, soeben angekommen … ?« Aber er wurde der Mühe, sich entscheiden zu müssen, enthoben.»Was machst du denn hier … ?«Der große, schwarzhaarige Soldat, der die Frage an ihn stellte, hatte die Dienstbrille, die ihn entstellte, noch nicht abgelegt. Nach einer kurzen Überlegungspause antwortete Karl: »Dasselbe wie du und die anderen. Aber ich bin eben erst eingetroffen, ich habe drei Tage Aufschub erhalten!«

»Ja, Mensch, dann bist du der Schauspieler, auf den die Ausbilder schon warten! – Hört mal her! Der Schauspieler ist da!« rief der Soldat und schob Karl aus der Ecke.

»Karl Grzibowski, ich heiße Karl Grzibowski!« Karl war mit seinem Auftritt unzufrieden.

»Warum bin ich so gehemmt«, dachte er – doch seine Überlegungen fanden ein jähes Ende. »Mensch – Karlik!!«

»Das ist doch nicht möglich«, dachte Karl Grzibowski, als er den Rekruten erblickte, der »Karlik" gerufen hatte, doch im gleichen Atemzug rief er: »Albert – Albert Scholz aus Karf!« Dann stellte er die blödsinnige Frage: »Wie kommst du denn hierher?« Scholz drängte sich durch die herumstehenden Stubengenossen. Als er vor Karl stand, reichte er ihm spontan die Hand und sagte: »Das darf doch nicht wahr sein … «

»Ich kann es auch noch nicht fassen … « erwiderte Karl.

»Ihr scheint euch ja gut zu kennen!« sagte der Soldat, der Karl nach vom geschoben hatte. »Das kannst du laut sagen – « erwiderte Karl und wollte hinzufügen: Wir waren schon im Jungvolk zusammen und in der HJ war er Gefolgschaftsführer … Doch die Worte blieben unausgesprochen, denn Scholz war ihm ins Wort gefallen. Was er sagte, ließ Karl aufs höchste erstaunen. »Ich werde doch meinen Cousin kennen!!«

»Das ist ja toll«, sagte irgend einer, und der hochaufgeschossene Soldat sprach in salbungsvollem Tonfall: »Gottes Wege sind wunderbar …«

»Der spricht ja wie ein Priester«, dachte Karl und: »Hat Albert eben gesagt, wir sind Cousins?«

»Ich sage noch einmal: Gottes Wege sind wunderbar!« war der Soldat wieder zu vernehmen. »He, Pastor, kommst du schon wieder mit der Bibel!«

»Auch du, Soldat Korditschke, kannst Gott nicht leugnen!« entgegnete der salbungsvoll redende Soldat.

»Ich hab doch gleich gemeint: der spricht wie ein Priester«, dachte Karl. »Korditschke, laß Lux, unseren Pastor, doch in Ruhe, ja!«

»Laß Lux, unseren Pastor, doch in Ruhe, ja! – Aber ja doch, Soldat Kleischmantut, ich laß ihn schon in Ruhe!« äffte der Soldat Korditschke die feminine Sprechweise des Kleischmantut nach – und erntete schallendes Gelächter.

»Komm, Karlik, wir gehen mal raus!« sagte Albert, schob den Jugendfreund auch schon zur Tür hinaus und gab seiner Verwunderung unentwegt Ausdruck. »Mensch, Karlik, ich kann es immer noch nicht fassen«, sagte er in einem fort.

»Mir geht’s genauso. Ich bin auch –«

»Und ich erst!« Albert war Karl ins Wort gefallen. »Du, das ist Schicksal!« sagte Karl.

»Meinst du … ?«

»Na, was denn sonst?!«

»Da kannst du recht haben, Karlik!«

»Sag mal, wie lange haben wir uns eigentlich nicht gesehen?« Albert dachte ein, zwei Sekunden nach und sagte: »Ich meine, zweieinhalb Jahre müssen es sein!«

»So lange … «,

»Wie die Zeit vergeht, nicht …«

»Mensch, Mensch … « murmelte Karl. Dann wandte er sich Albert zu und fragte: »Willst du noch immer Arzt werden?« Karls Frage schien dem Jugendfreund willkommen zu sein; denn er beantwortete sie spontan: »Na klar – deswegen bin ich ja auch hier, bei einer Sanitätsabteilung! – Ich wollte zu einer Sanitätseinheit! !«

»Ach so … « Karl nickte zustimmend.

»Ich habe doch in Beuthen im Krankenhaus gearbeitet, stundenweise, vor dem Abitur, um praktische Erfahrungen zu sammeln.«

»Hm …« machte Karl.

»Du, ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg.«

»Das glaub ich auch«, erwiderte Karl.

»Ich habe viel gelernt im Krankenhaus.«

»Das finde ich Klasse, Albert.«

»Die Ausbildung hier wird für mich ein Kinderspiel sein – in der Klinik habe ich sogar schon Tabletten verabreicht und viele andere Dinge selbständig machen dürfen.«

»Da bin ich aber platt«, sagte Karl, und der Blick, mit dem er den Jugendgespielen maß, drückte höchste Bewunderung aus. »Hast du vielleicht gedacht, nur bei dir ging es weiter?«

»Nein, nein … »murmelte Karl, doch dann fragte er mit klarer Stimme: »Sag mal, wie ist denn das hier?« Und als Albert nicht sogleich antwortete, drückte er sich klarer, unmißverständlicher aus: »Ist die Ausbildung sehr hart?«

»Ach so«, entgegnete Albert, »Das meinst du … Also, die schleifen uns von morgens bis abends … !«

Während die Freunde sich unterhielten, gingen sie im Flur auf und ab. Nun blieb Albert stehen, faßte Karl am rechten Arm und fragte: »Sag mal, das ist dir doch recht?«

»Was?«

»Daß ich in der Stube gesagt habe: wir sind Cousins!!«

Karl antwortete nicht gleich, sagte dann aber mit Nachdruck: »Auf jeden Fall ist das ein Mordsspaß.«

»Weißt du, Karlik, man weiß nie, wozu etwas gut sein kann – und beim Barras schon gar nicht!«

»Du hast bestimmt recht!«

»Hör mal«, sagte Albert und blieb wieder vor Karl stehen, »hör mal, ich muß dir noch was Wichtiges sagen.« Albert Scholz, Jugendfreund und auch »Cousin« des Grzibowski, der auch in Karf, der nahe der Großstadt Beuthen, im »Ruhrgebiet des Ostens«, gelegenen Ortschaft, das Licht der Welt erblickt hatte, sprach nun in sachlichem Ton: »Karlik, die Ausbilder sind alle neugierig auf dich, auf den Schauspieler! – Ich glaube, sie sind scharf auf dich: weil du eine Extrawurst gebraten bekommen hast!«

»Was … ich … ?«

»Ja, du … Du durftest doch drei Tage später einrücken!«

»Na und?«

»Das ist eben die Extrawurst!« Karl erinnerte sich der ersten Begegnung mit dem Hauptfeldwebel. Was hatte der zu dem Unteroffizier in der Schreibstube gesagt?

»Neumann, das ist der Mann, dem die Extrawurst gebraten wurde, der drei Tage Aufschub erhalten hat!«

»Hast du mich verstanden?« fragte Albert, als der nachdenklich gewordene Karl schwieg.

»Und ob … «

»Sei vorsichtig und fall nicht auf, Karlik! – Die Schleifer machen dich fertig!!« Zwei, drei Sekunden schwiegen die Freunde, dann sagte Karl: »Ich bin schon aufgefallen!!«

»Das ist doch nicht möglich, du bist doch noch gar nicht richtig da!!« »Es ist aber so …« Nach einer kleinen Pause, in der Albert den Jugendfreund eingehend gemustert hatte, fragte er: »Wie konnte denn das passieren?«

»Ich weiß es nicht, Albert … Der Spieß hat mich aus der Schreibstube rausgeschmissen!«

»Und warum?« »Mein Haarschnitt hat ihm nicht gefallen! ’Sie kommen mir erst wieder mit einem vernünftigen Kopf unter die Augen! Sie sehen aus, wie ein Wilder aus dem Urwald – wie ein Zulukaffer!!’ hat er gebrüllt!« »Mensch … du bringst auch alles fertig.«

»Das hat ein Unteroffizier auch gesagt: ’Mann, da sind Sie beschissen dran … gleich am ersten Tag auffallen, das kann auch nicht jeder …’ hat er gemeint!«

»Künstlerpech, Karlik … «

»Bestimmt … « Albert blickte Karl mit weitgeöffneten Augen an, in denen Besorgnis zu lesen war. Ob er bereits bedauerte, sich als Karls Cousin ausgegeben zu haben? Das Mißfallen, das der Jugendfreund in so kurzer Zeit in der Kompanie zu erregen vermocht hatte, ließ Albert für die Zukunft nichts Gutes ahnen: ja, er fürchtete, daß auch über ihn, den »Verwandten« des »schwarzen Schafes«, sowohl der Spieß als auch die ihm hörigen unteren Dienstgrade die Schale des Zorns ausgießen könnten; quasi in einem Aufwasch, wie der Volksmund sagt. Albert brachte nur ein gehauchtes: »Mensch … « über die Lippen, und als Karl fragte: »Hast du was gesagt?« murmelte der Freund: »Junge, das sind ja schöne Aussichten …!«

 

 

Der Blick zurück

 

Karl war hundemüde, fühlte sich wie durch den Wolf gedreht und sehnte den Zapfenstreich herbei. Doch als er sich im Bett ausstreckte, wollte der Schlaf, den er so sehr herbeiwünschte, nicht über ihn kommen. Zum erstenmal in seinem Leben nächtigte er mit 27 Schlafgenossen in einem Raum, und die ungewohnten Geräusche, die die Stube erfüllten, trugen nicht dazu bei, ihn in Morpheus Arme zu treiben. Auch stank es in dem Raum wie in einem Schweinestall, obwohl ein Fenster weit geöffnet war. Daß die zum Wehrdienst einberufenen jungen Männer allen Schichten des Volkes entstammten und sich ihrer genossenen Erziehung entsprechend benahmen, dafür traten die Schlafenden den Beweis an; viele schienen an der Blähsucht zu leiden und ließen die Winde lind, aber auch kräftig wehen. Karl meinte, die Luft sei so dick, daß man sie schneiden könne, und haderte mit seinem Geschick, das ihn, den sensiblen Künstler, in die brutale Wirklichkeit geschleudert hatte, vor der er, in den letzten zwei Jahren zumindest, die Augen geschlossen, die er, wie ein lästiges Übel, abzuschütteln sich bemüht hatte.

Die Gedanken, die in seinem Kopf herumschwirrten, denen der müde Körper sich entgegenstemmte, forderten mit immer größer werdender Eindringlichkeit Beachtung, und er ergab sich zunächst dem Selbstmitleid. Er fand, das Schicksal sei höchst unfreundlich mit ihm verfahren; denn es hatte ihn, Karl Grzibowski, den begabten, hoffnungsvollen Schauspieler, dem, »Auf den Brettern, die die Welt bedeuten«, eine große Zukunft vorausgesagt worden war, schnöde im Stich gelassen. Und nicht nur das: es hatte sich sogar gegen ihn verschworen. Doch auch mit den Musen Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie) war er höchst unzufrieden. Sie hätten, wie er meinte, ganz gleich mit welchen Mitteln, letztlich sogar mit List und Tücke, seine Einberufung zum Wehrdienst verhindern müssen …

Nichts, aber auch gar nichts hatten sie sich einfallen lassen, um ihn, den Musensohn, vor dem Kommißstiefel zu retten. Sang- und klanglos hatte er seine Welt, die einzige, in der zu Leben und zu Wirken er vermochte, verlassen müssen, um in dem Heer der graugekleideten Namenlosen eine Lücke zu füllen, die der Tod eines für Führer, Volk und Vaterland gefallenen Volksgenossen gerissen hatte. Der todmüde Karl murmelte: »Lieber Gott, laß mich doch endlich einschlafen … « Doch sein Wunsch erfüllte sich nicht, und er verspürte Angst. Angst vor der unheimlichen, unbekannten Kraft, die ihm mit allen Mitteln den Schlaf verwehrte, ihn zu denken zwang, sein Bewußtsein hellwach werden ließ. Er flüchtete in die jüngste Vergangenheit, und die Phantasie, sein allzeit treuer Gefährte, begleitete ihn nur allzuwillig in jene Welt, in der er glücklich gewesen war.

Die letzten zwei Jahre seines Lebens schienen ihm der schönste Traum, den er je geträumt hatte, und die vielen kleinen Schwierigkeiten, die Bagatellen, die ihm mitunter die Stimmung verdorben hatten, waren keiner Erinnerung wert – als hätte es sie nie gegeben. Doch in kräftigen, leuchtenden Farben projizierte sein Gedächtnis, auf einer Leinwand von gewaltigen Ausmaßen, Bilder der glücklichen, ihn erfüllenden Studienzeit in Breslau …

Mit einer Genauigkeit, die ihn verblüffte, erinnerte er sich vieler Begebenheiten, die er bereits vergessen wähnte, und als er an den Papagei der Tante dachte, an das »Miststück«, wie er den Exoten in Gedanken genannt hatte, da war er von seiner Reaktion überrascht; denn er empfand keinen Groll mehr gegen den Vogel, der ihm das Leben sauer gemacht hatte. Auch die Tante, die ihn mitunter grausam schikaniert hatte, erschien ihm in einem anderen, angenehmeren Licht; denn auch sie war Bestandteil einer verklärten Vergangenheit. Karl erinnerte sich seines ersten Studientages …

Als er das Haus in der Agnesstraße, in dem die Schauspielschule sich installierte, betreten hatte, war er sich vorgekommen »wie einer vom Lande«. Dumm war er herumgestanden und einem jeden dankbar gewesen, der kein Wort an ihn gerichtet hatte. »Was habe ich hier zu suchen … ?« hatte er gedacht. Er lächelte, als er sich des Anzugs erinnerte, den er zu dem feierlichen Anlaß getragen; zur Hebung seines Selbstvertrauens hatte das Kleidungsstück nicht beigetragen. Die viel zu kurzen Ärmel der Jacke, die hatte er noch in den Griff bekommen; er hatte sie heruntergezogen und war mit eng am Körper anliegenden Armen und zu Fäusten geballten Händen herumgegangen – wie ein Körperbehinderter war er sich vorgekommen. Mit der langen, aber viel zu kurzen Hose hatte er kein, wie immer auch geartetes, Arrangement treffen können; und die »Hochwasserhosen«, wie die Leute in Karf, seinem Geburtsort, sagten, hatten ihm die Schamröte in die Wangen getrieben. Auch die ersten drei Monate seines Aufenthalts in Breslau, in denen er sich recht und schlecht durchgeschlagen hatte und ihm nichts, aber auch gar nichts geschenkt worden war, erschienen ihm nun in anderem Licht.

»Ich habe mich nicht unterkriegen lassen … « murmelte er, »und daß ich mein Mittagessen als Tellerwäscher in der Gaststätte Haase verdient habe, darauf bin ich heute stolz!« Die Angst, die er vor der ersten Semesterprüfung empfunden, belächelte er nun. Doch wie wichtig es gewesen war, diese Hürde zu nehmen, gestand er sich auch ein; denn schon bald war er mit einer kleinen Rolle besetzt worden, was er seinem Lehrer, dem Schauspieldirektor, zu verdanken hatte. In der Komödie Was ihr wollt von William Shakespeare hatte er den Kavalier des Herzogs Curio gespielt und zum erstenmal in seinem Leben auf der Bühne des Schauspielhauses, auf den »Brettern, die die Welt bedeuten«, gestanden. Eine glückliche, die schönste Zeit seines Lebens hatte ihren Anfang gefunden und der Student der Schauspielkunst Karl Grzibowski war restlos erfüllt gewesen. Daß die Kommilitonen, denen er voreingenommen, mißtrauisch, trotzig und mit geballten Fäusten in den Hosentaschen gegenübergetreten war, ihm nichts Böses wollten, daß er sich alles nur eingebildet hatte, war eine höchst erfreuliche Erkenntnis, und er verlor die Komplexe, die ihm das Leben erschwert hatten. – Und dann hatte er Freunde gefunden, gute Freunde. Karl dachte an Dieter. »Er war begabt und hatte so eine schöne Stimme … » sprach er leise vor sich hin, »nun ist er tot … « Und er dachte daran, daß der Freund für Großdeutschland gestorben war, diesen unersättlichen Moloch, der nach Menschenopfern gierte. Die Tränen drangen in Karls Augen … Dann fiel ihm Martin ein, und er dachte: ,»Wie mag es ihm gehen … ?« Auch der Studienkollege war von einem Tag auf den andern einberufen worden, obwohl er, wovon er nie gesprochen hatte, auf einem Auge nichts zu sehen vermochte …

»Die werden auch noch die Krüppel einziehen«, hatte er des öfteren gesagt, »wir werden es noch erleben!«

»Du bist ein Schwarzseher, Martin … « hatte er dann dem Freund entgegnet. »Nein, du Optimist! Nein, bestimmt nicht!« hatte Martin geantwortet und seinem Zorn freien Lauf gelassen. »Wenn ich nur daran denke: da flattert dir so ein Wisch ins Haus und das ganze Leben wird von einem Augenblick zum andern völlig verändert – wird so sinnlos!!« Karl dachte: »Wie recht er doch hatte … « und vermeinte den dritten im Bunde der Freunde, Horst Feierabend, sagen zu hören: »Aber das Leben geht trotzdem weiter, Martin!« Horsts Worte hatten Gewicht; denn der Halbjude, der Verfemte im nationalsozialistischen Deutschland, drosch keine leeren Phrasen. Das wußte auch Martin. Er bewunderte Horst, denn der klagte nie, machte andere für sein Unglück nicht verantwortlich. »Die kleinen Freuden zählen, Freunde, denkt daran! Die Größenordnungen verschieben sich. Dinge, die vordem wichtig waren, werden unwichtig – und das Erleben wird bewußter! – Es geht immer weiter, das Leben, glaubt es mir, solange das Feuer der Hoffnung brennt.«

So hatte Horst mehr als einmal gesprochen. »Ob er sich noch frei bewegen kann?« dachte Karl, und er vermeinte den Freund wieder sprechen zu hören: »Die Luft, die mir zum Atmen bleibt, wird immer dünner!« Mit dieser Aussage hatte er die Situation, in der er lebte, haarscharf umrissen. »Ich mag Abschiednehmen nicht!« hatte er auf dem Bahnhof gesagt und sich rasch zurückgezogen. »Ob Horst deshalb so schnell weggegangen war, weil er Dore und mich allein lassen wollte?« dachte Karl – und nun war er doch bei Dore angelangt, seinem wunderschönen, lieben Mädchen …

Seit dem Augenblick, da er die Kaserne betreten, hatte er sich wirklich bemüht, nicht an sie zu denken; denn er wollte das Wesen, das in seiner Empfindung, in seiner Vorstellung, besser, schöner, reiner war als alle Menschen dieser Erde, nicht einmal in Gedanken in diese rüde, gemeine Welt einbeziehen. »Und nun tue ich es doch … « murmelte er vor sich hin und war aufs höchste überrascht, als er kein Gefühl der Schuld empfand, als er wohlig entspannt an Dore zu denken, sich nach ihr zu sehnen vermochte; nach der siebzehn Jahre alten Tänzerin, die so gar nichts mit dem von der NSDAP propagierten Idealbild des deutschen Mädchens, dem blonden Gretchen, gemein hatte. Karls erste große Liebe hatte eine gelbbraune Hautfarbe, schwarze Augen und tiefschwarzes Haar, das bis auf die Schultern herabfiel. Zum erstenmal an diesem Tag war Karl entspannt, und als er Dore zum Greifen nah vor seinen Augen sah, da wußte er nicht, welchem ihrer Attribute sein Blick den Vorzug geben sollte; den makellos weißen Zähnen, die allein schon des Betrachtens wert waren, der einzigartigen Figur oder ihren langen, gerade gewachsenen Beinen … Letztlich entschied er sich dafür, die blendende Erscheinung als Ganzes zu erfassen, womit er seiner schönen Geliebten die größte Gerechtigkeit widerfahren ließ. Karl lächelte versonnen: Dore hatte Empfindungen in ihm wachgerufen, die er nicht einzuordnen gewußt hatte; die schmerzlich, aber auch schön gewesen waren. Wie ein wertvolles Bild, von dem alles fernzuhalten war, was seine Schönheit beeinträchtigen könnte, hatte er Dore betrachtet und war ihr, der von ihm Vergötterten, auch so begegnet. Nie war er ihr zu nahegekommen, nie hatte er versucht, sich ihr körperlich zu nähern – obwohl er sich immer danach gesehnt hatte. Dore war für ihn jederzeit der Inbegriff der Reinheit und Unschuld gewesen. Mit dieser Einstellung hatte er sich das Mißfallen seiner Freunde zugezogen. Insbesondere der realistisch denkende Martin hatte aus seinem Herzen keine Mördergrube gemacht und nicht mit Worten gespart, um den »Bis über beide Ohren Verliebten wieder auf den Teppich zurückzubringen«; so hatte er sich ausgedrückt. Und dann war Martin zu weit gegangen … Karl erinnerte sich nicht gern der Auseinandersetzung mit dem Freund, die dazu geführt hatte, daß sie sich eine Zeitlang aus dem Wege gegangen waren. – »Auch in der Erinnerung kann ich nicht gutheißen, was Martin damals über Dore gesagt hat«, dachte Karl und vergegenwärtigte sich jene Szene, die zum zeitweiligen Bruch der Freundschaft geführt hatte …

»Karl, Dore ist ein Mensch wie jeder andere auch, begreife das doch endlich! – Sie ist ein wunderschönes Mädchen, darüber braucht man überhaupt nicht zu reden, aber sie ist – sie kann doch keine Heilige sein!« hatte Martin eines Tages gesagt. Empört hatte er dem Freund geantwortet: »Ich höre dir überhaupt nicht mehr zu, wenn du von Dore sprichst!!« Aber Martin hatte an diesem Tag den Konflikt gesucht. Er hatte draufgesetzt und gesagt: »Dore ist beim Ballett und nicht im Kloster!«

»Was willst du damit sagen?!«

»Nichts, Karl! – Wirklich nichts!!«

»Das ist auch gut so … « hatte seine, des Verliebten, Antwort gelautet. Und dann hatten sie geschwiegen. Doch er, Karl, war nicht zur Ruhe gekommen. Unentwegt hatte er an die Worte des Freundes denken müssen und war wütend geworden. Er hatte Martin gefragt: »Du magst Dore nicht … ?«

»Unsinn, ich finde sie sehr nett?«

»Ja, ja, ich weiß schon! – Du findest sie nett, aber du magst sie nicht!« hatte er entgegnet.

»Das hast du gesagt, .Karl!« Und nach einer kleinen Pause hatte der Freund eindringlich gesprochen: »Ich möchte nicht, daß du dich lächerlich machst, Karl … «

Was Martin gesagt, hatte er als Ungeheuerlichkeit empfunden und in aggressivem Ton erwidert: »Was … ? – Ich mich lächerlich machen … ?!« »Ja, du, Karl Grzibowski! – Manchmal kommst du mir schon richtig kindisch vor! – Mach doch die Augen auf, Karl! Die Welt ist nicht so, wie du sie sehen willst! – Und Dore auch nicht!!«

Doch damit hatte Martin es nicht bewenden lassen, denn nun, da er schon dabei war, dem »restlos Verschossenen« die Meinung zu sagen, wollte er es auch gründlich tun. Er sagte: »Das grenzt doch wirklich schon ans Kindische, wie du dich Dore gegenüber benimmst –« Er war Martin ins Wort gefallen, hatte ihm zugerufen: »Hör auf!!« Doch der hatte weitergeredet und erwidert: »Ich denke nicht daran – auf diese Gelegenheit habe ich schon lange gewartet! – Und jetzt wirst du dir anhören, was ich dir noch zu sagen habe!!« Und dann hatte Martin Dore entweiht, so hatte er die Worte, die der Freund gesprochen hatte, aufgenommen und empfunden. »Meinst du, Dore hält sich die Ohren zu oder verschließt sie mit Watte, wenn irgend jemand einen zweideutigen Witz erzählt? … Und das sage ich dir auch: Sie muß auch aufs Klo gehen!! – Und nun laß mich in Ruhe!!« Dann war er gegangen, und in den nächsten Wochen waren beide bestrebt gewesen, sich aus dem Weg zu gehen … Karl dachte: »Ich habe Martin damals nicht verstanden – und kann es heute auch nicht … Ob er was gegen die Mädchen hat … ?« Diese Überlegung hatte er damals angestellt; er erinnerte sich noch ganz genau. Auch in der Erinnerung noch übten Martins Worte: »Sie muß auch aufs Klo … « eine starke Wirkung auf ihn aus, und er murmelte: »In diesem Punkt ist Martin eine Pfeife … «

Er dachte an Dieter, der sich nicht so gewöhnlich über Dore geäußert hatte. Dann aber dachte er an das letzte Zusammensein mit Dore und schwelgte im Glück.

»Ich möchte mit dir allein sein … Komm, bitte, in meine Wohnung … »hatte Dore gesagt, und er war selig gewesen. Fassungslos hatte er sie angeblickt und wollte in der übergroßen Freude, die er empfunden, seine Zustimmung mit Stentorstimme geben, doch Dore hatte den Zeige- und den Mittelfinger ihrer rechten Hand auf seinen Mund gelegt und ihm die Lippen verschlossen. Auch an diesem Abend, dem letzten vor seiner Abreise, war er Dore mit Rücksicht und jener Distanz begegnet, mit der er ihr immer gegenübergetreten war, obwohl er, im Wissen um die bevorstehende Trennung, sich mehr denn je danach sehnte, das geliebte, vergötterte Mädchen in die Arme zu schließen.

»Karl, du sitzt da wie bestellt und nicht abgeholt … « hatte sie gesagt und sich neben ihn gesetzt; und der angenehme Geruch ihres langen, bis auf die Schultern herabfallenden Haares hatte seine Sinne verwirrt. Als sie ihn dann mit sanfter Gewalt an sich herangezogen und gesagt hatte: »Du bist ja völlig verkrampft …« und mit ihrer Hand seine Wange gestreichelt hatte – da wäre er am liebsten davongelaufen; doch dazu war er nicht fähig, weil alles um ihn herum sich gedreht hatte … Mit leiser Stimme und stockend hatte sie gesagt: »Karl … weißt du eigentlich … daß ich mehr für dich empfinde … als ich mir je eingestehen wollte?«

»Ich habe mich verhört«, hatte er gedacht, und sein Gesichtsausdruck mußte dümmlich gewesen sein …

»Sehr gescheit siehst du nicht gerade drein«, hatte Dore gesagt, doch er war bemüht gewesen, ihre Worte in der ganzen Tragweite zu begreifen.

»Ist das wahr … Ist das wirklich wahr … ?« Lange, lange hatte er benötigt, um seine Freude artikulieren zu können.

»Ja, Karl … « Die Zustimmung, die ihn glücklich machende Zustimmung, hatte Dore nur gehaucht – doch sein Puls hatte schneller zu schlagen begonnen und in seinen Ohren hatte es gedröhnt: »Dore liebt mich! – Sie liebt mich, liebt mich, liebt …«

»Karl, du hast immer gesagt: ich bin für dich ein Idealwesen, etwas Unwirkliches … Das ist doch alles Unsinn! – Ich bin nicht anders als andere Mädchen auch –«

»Nein, du bist nicht wie die anderen!« hatte er entschieden entgegnet. »Warum machst du es mir so schwer, Karl … Gerade heute, in diesen Augenblicken, empfinde ich es mehr denn je, daß du mich nicht richtig siehst … «

»Und warum gerade heute, gerade jetzt?«

»Weil uns die Trennung bevorsteht, weil wir Abschied voneinander nehmen … weil wir nicht wissen, ob wir uns je wiedersehen werden … « »Ach so … «

»Weißt du, Karl, heute ist es mir nicht mehr egal, wie wir voneinander Abschied nehmen … « hatte Dore gesagt, und er hatte tiefe Traurigkeit in ihren Augen gelesen …

»Ich werde dich nie vergessen«, hatte er geflüstert und war nahe daran gewesen, den Tränen freien Lauf zu lassen. Dann hatte Dore leise auf ihn eingesprochen und ihn liebkost. »So muß man sich im siebenten Himmel fühlen«, hatte er gedacht und gewünscht, die Zeit möchte stehenbleiben. Wie oft und wie lange schon hatte er sich nach ihren Zärtlichkeiten, nach einer so intensiven Zweisamkeit mit dem von ihm geliebten Mädchen gesehnt – doch an eine Erfüllung dieses Wunschs hatte er nicht mehr zu hoffen gewagt. Vieles von dem, was Dore gesprochen, hatte er in der Erregung nicht mehr wahrgenommen, doch mit jedem Atemzug vergrub er seinen Kopf tiefer in den Schoß des geliebten Mädchens – sog er Dore in sich ein …

»… ich möchte nicht mit Bedauern an die Zeit einer wunderbaren Freundschaft zurückdenken müssen, Karl, der die letzte, die schönste Erfüllung versagt geblieben ist … « hatte Dore ihm ins Ohr geflüstert … dann schlugen die Wogen einer unbeschreiblich schönen Empfindung über Karl zusammen – und ein neues, noch nie empfundenes Erleben hatte ihn reicher und glücklicher gemacht …

Auf seinen Zügen lag der Ausdruck der Verträumtheit, und er flüsterte: »Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt’s: Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen …« Was Hamlet, der Neffe des Königs von Dänemark, noch zu sagen hat, blieb unausgesprochen; Karl schlief ein.

 

 

Es ist so schön Soldat zu sein …

 

 

Vier Wochen schon war Karl Grzibowski Soldat. Er wußte nun, was es bedeutete, das »Ehrenkleid der Nation« tragen zu dürfen … Er war zum Kriegsdienst eingezogen worden, zur Verteidigung des Vaterlandes mit der Waffe, wie so viele andere junge und ältere Männer auch. Daß er zur Division Großdeutschland, einer Eliteeinheit des Heeres, einberufen worden war – war sein persönliches Mißgeschick Während die anderen in Guben-Mückenberg lI stationierten Truppenteile, mehr oder weniger leger, sich mit der Ausbildung der Rekruten an den Waffen begnügten, sahen die Ausbilder der Sanitätsabteilung der Division Großdeutschland ihre Hauptaufgabe darin, aus dem ihnen anvertrauten Menschenmaterial perfekt funktionierende Marionetten zu machen. Die Rekruten mußten das Exerzierreglement aus dem Effeff beherrschen lernen, um es mit kaum zu überbietender Präzision aus- und vorführen zu können. Karl konnte sich nicht erklären, wie er zu der Auszeichnung, in einer Elitedivision dienen zu dürfen, gekommen war. Auch warum er sich bei der Sanitäts- und Ausbildungsabteilung in Guben und nicht in Cottbus hatte melden müssen, wo die anderen Einheiten der Division stationiert waren, war ihm ein Rätsel, das er nicht zu lösen vermochte. Unteroffizier Häberle, der Schwabe, brachte es verbal so zum Ausdruck: »Here Se, Se gehöre doch einer Berufsgrupp o, mit der man überhaupt nix afanga ka! Von Schauspielern und all dene die auf der Bühne herumhopse weiß mer doch, daß se unpraktisch sin on zwo linke Händ habe – da steckt ma diese halbe Mensche ebe zu die Sanitäta!« Karl dachte: »Er wird wohl recht haben, bei mir hat er den Nagel auf den Kopf getroffen, denn ich habe zwei linke Hände … «

In den vergangenen vier Wochen hatte Karl nur Männner zu sehen bekommen, die Uniform trugen, und er hatte die Erkenntnis gewonnen, daß der gewöhnliche Soldat mit dem Rindvieh gleichzusetzen war; denn beide wurden mit Gebrüll angetrieben. Er hatte sich an vieles gewöhnen müssen: an das ständige Zusammensein mit 27 jungen Männern in einem Raum; an die Plärre, die Kaffee genannt wurde; an die Pellkartoffeln, die an den Wochentagen zu jeder Mittagsmahlzeit verabreicht wurden; an die ekelerregenden Witze einiger Stubengenossen, die sie während des Essens erzählten, um in den Genuß der Rationen jener zu gelangen, deren Appetit zu verderben ihnen gelungen war; an allnächtlichen Fliegeralarm und daran: daß es den Ausbildern Vergnügen bereitete, ihn, Karl Grzibowski, zu schikanieren …

In der Abteilung hatte es sich schnell herumgesprochen, daß der Spieß rot sah, wenn er auch nur den Namen des Rekruten Grzibowski vernahm. Für die Ausbilder, die sich der besonderen Wertschätzung der »Mutter der Kompanie« versichern wollten, war es daher eine Selbstverständlichkeit, der Autorität gefällig zu sein. Schon als nächster Vorgesetzter, ein unbedeutender Oberschütze, der gern den Gefreitenwinkel am linken Ärmel seines Uniformrocks gesehen hätte, erschwerte ihm das Leben wann immer er konnte. Und Unteroffizier Häberle zeigte sich bereits von seiner unangenehmsten Seite, wenn Karl auch nur in sein Blickfeld geriet. Wie sein Zugführer, Feldwebel Niemeyer, über Karl dachte, hatte der Mann, der als Zivilist den Beruf des Melkers ausübte, dem Neuzugang Grzibowski, als dieser sich zum Dienstantritt bei ihm meldete, unmißverständlich zu verstehen gegeben. Von dem Ausmaß und der Intensität der Antipathie, die ihm der Feldwebel entgegenbrachte, war Karl bestürzt. »Was sind Sie … ? – Schauspieler?! – Was ist denn das … ? Sie sind also ein Kasperle!« hatte er gesagt und dann gebrüllt: »Für mich sind Sie ein Kulissenschieber, ein Tingeltangelfritze und sonst nichts, Sie Kulissenschieber!! – Los, verschwinden Sie und nehmen Sie sich vor mir in acht!!«

Und der Spieß handelte im Sinn des Ausspruchs: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen! Er redete Karl »Herr Schauspieler« an, doch aus der Art und Weise wie er, vor versammelter Mannschaft, »Herr« und »Schauspieler« betonte, war die Absicht herauszuhören, den Rekruten der Lächerlichkeit preiszugeben; was ihm auch immer gelang …

Was Albert Scholz, der »Cousin«, zu Karl bei der ersten Begegnung gesagt hatte: »Die Ausbilder sind scharf auf dich!« konnte der Rekrut Grzibowski nach den gemachten Erfahrungen nur bestätigen So vermochte er sich kaum noch zu erinnern, wann er zum letztenmal in normalem Schritt über den Kasernenhof gegangen war. Die Art, in der es ihm ziemte, sich im Kasernenbereich fortzubewegen, war der Laufschritt. Wehe, wenn einer seiner Ausbilder ihn gehen sah. »Sie sollen laufen, laufen, Kulissenschieber – und damit Sie es lernen, umkreisen Sie gleich mal die Reitbahn!« wurde dann gebrüllt. Karl war schon froh, wenn er nur zehnmal den Flachbau zu umlaufen hatte und nicht gleich 50 Runden drehen mußte; wie Feldwebel Niemeyer zumeist befahl. Auch konnte Karl sich des Eindrucks nicht erwehren, daß mancher Charge noch nie ein Schauspieler begegnet, daß die darstellende Kunst für viele der Dienstgrade ein Buch mit sieben Siegeln war. Ihre Vorstellung über diese Berufsgruppe mochte beim Harlekin, beim Clown, beim Alleinunterhalter oder, wie bei Feldwebel Niemeyer, beim »Kasperle« angesiedelt sein. Diese Vollidioten, so nannte Karl die Ausbilder in Gedanken, kamen sich aber wie Götter vor; was er aufbeschämende Weise erfahren mußte: Eines Nachts, gegen 2 Uhr, wurde er von Feldwebel Niemeyer, der offensichtlich volltrunken war, aus dem Schlaf gerissen. »He, aufwachen, Kulissenschieber! – Los, Aufwachen! – Stehen Sie schon auf und ziehen Sie sich an!« lallte er. Ohne Rücksicht auf die Schlafenden zu nehmen rief er: »Kommen Sie rauf in meine Stube! – Aber machen Sie schnell!«

»Wer war denn das … ?« fragte schlaftrunken Karls Bettnachbar, der Theologiestudent Lux, der Pastor genannt wurde.

»Niemeyer …« Karl zog sich die Hose an. »Und was will der Idiot?«

»Was weiß ich … ich soll mich bei ihm melden, in seinem Zimmer …« sagte Karl.

»Der war doch betrunken … «

»Der war voll, Pastor!« antwortete Karl.

»Da wird er nicht allein sein … da trinken die schon wieder … «

»Gehen muß ich wohl … «

»Das glaube ich auch«, sagte Lux und drehte sich auf die andere Seite. Als Karl vor der Tür von Niemeyers Quartier stand, hörte er lautes Stimmengewirr, und da auf sein wiederholtes Klopfen keine Reaktionn erfolgte, trat er in das Zimmer ein. Zigarettenrauch schlug ihm entgegen, und ehe er sich zur Stelle melden konnte, rief Niemeyer schon: »Da ist ja unser Kasperle!«

»Er soll uns was vormachen … « lallte einer der Anwesenden. »Ja, er soll mal herumhopsen, wie so einer vom Zirkus!« rief ein anderer. Karl stand wie angewurzelt und war aufs peinlichste berührt. Sechs Männer hatte er gezählt. Es waren Unteroffiziere und Feldwebel, die alle schon reichlich dem Alkohol zugesprochen hatten; was mit einem Blick zu sehen, aber auch ihrem Verhalten zu entnehmen war.

»Schneide doch mal eine Grimasse … so eine!« forderte ihn ein Unteroffizier auf, und als Karl keinerlei Anstalten machte, seinen Wunsch nachzukommen, steckte der den Mittelfinger der rechten und der linken Hand in seinen geöffneten Mund, zog ihn, so weit es ihm möglich war, auseinander und sprach: »Ssoo, ssoo: mach das nach, du Pfeife!«

»Der kann doch nichts!« lallte ein Feldwebel und trank sein Glas, aus Verdruß, leer. »Er soll eine Bodenrolle machen, eine Bodenrolle und die Beine spreizen!«

»Quatsch, Anton, der ist doch kein Exzentriker!« sagte Feldwebel Baizer, der die Rekruten des 2. Zugs ausbildete. Der mit dem Vomamen Anton angeredete war Unterofftzier Neumann, vom 2. Zug, dem Karl schon des öfteren begegnet war.

»Willi, was ist denn das ein Exe … gentriker … ?« fragte der trunkene Neumann den Feldwebel Baizer.

»Ach, Mensch, du kannst das Wort ja nicht einmal aussprechen! – Sag doch mal Artist!«

»Al tiist … Gut … ?«

»Nein, nicht gut! Artist heißt das! – Morgen machen wir weiter«, sagte Feldwebel Baizer und wandte sich Karl zu. »Singen Sie uns was! – Heimat deine Sterne oder so … «

Mühsam brachte Karl den Satz: »Ich kann nicht singen, Herr Feldwebel!« über seine Lippen.

»Was … ? Sie können nicht singen … Ich denke, Sie sind Schauspieler … Hat er doch gesagt!« Baizer deutete auf Feldwebel Niemeyer.

»Sagt er, er sagt, er ist Schauspieler … Ich hab ihm das nie geglaubt … « erwiderte Niemeyer.

»Ich bin kein Sänger!« sagte Karl. »Gar nichts sind Sie … Sie sind Kulissenschieber!« lallte Niemeyer.

»Können Sie denn überhaupt was?« fragte Feldwebel Balz er.

»Ich kann rezitieren … ein Gedicht oder eine Ballade vortragen …«