Erinnerungen an Breslau - Hans Schellbach - E-Book

Erinnerungen an Breslau E-Book

Hans Schellbach

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Beschreibung

Zu einer Reise in die unvergessene, schöne Stadt Breslau lädt Hans Schellbach mit seinem Buch ein. Die von deutscher Geschichte geprägte Metropole Schlesiens, deren geisteswissenschaftliche und kulturelle Bedeutung unbestritten war, erweckt er zu neuem Leben. Viele vertraute Gestalten der Romane von Hans Schellbach begegnen uns wieder. Mit Karlik Grzibowski, der von Beuthen kommend in Breslau die ersten Schritte auf der Bühne macht, erleben wir die kulturelle Szene Breslaus der Jahre 1941 bis 1943. Die bedeutendsten Aufführungen des Schauspiel- und des Opernhauses, die in der gesamten deutschen Theaterlandschaft größte Beachtung fanden, erwachen aufs neue vor unseren Augen. Den 80. Geburtstag des großen schlesischen Dichters Gerhart Hauptmann im Jahre 1942 feiern Leser und Autor in der Gerhart-Hauptmann-Woche noch einmal. Wir besuchen unvergessene Gastspiele berühmter Schauspieler wie Heinrich George, Willy Birgel, Ewald Baiser, doch wir finden uns auch wieder im einmalig schönen Konzertsaal der Universität. Ganz Breslau ist Schauplatz der 'Erinnerungen an Breslau'. Mit Karlik sitzen wir im 'Cafe Hutmacher', im 'Vaterland' und im 'Zirkus Busch'. Er bestellt mit uns bei 'Pedro CoII' eine Schale Fruchtsalat, steht mit uns an der 'Liebichhöhe', 'schwooft' mit uns auf der Schweidnitzer Straße. Bei der Lektüre dieses Buches ist der Leser in Breslau wieder 'Zuhause'!

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Hans Schellbach

Erinnerungen an Breslau

 

 

 

Laumann-Verlag

 

 

 

 

Die Handlung ist frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen wäre rein zufällig und vom Autor nicht beabsichtigt.

 

 

 

2. Auflage

 

© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

 

Gesamtherstellung:

Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,

Postfach 1461, 48235 Dülmen

 

ISBN 978-3-89960-453-5

 

[email protected]

www.laumann-verlag.de

 

 

 

Die Heimkehr

 

 

Der Schnellzug Berlin-Beuthen 0/S fuhr am 9. Dezember 1939, wie eh und je, durch das schlesische Land. Sechzig Hitlerjungen, die in ihre Heimat zurückkehrten, konnten das Ende der langen Bahnfahrt kaum erwarten. Im April desselben Jahres waren die im oberschlesischen Industrierevier, in der näheren Umgebung der Stadt Beuthen, beheimateten Jungen aus der Volksschule entlassen worden, und im gleichen Monat noch, die gerade vierzehn Jahre alt gewordenen Knaben, in das Landjahr gefahren. (Für das Landjahr wurden Kinder, die mit gutem Abschlußzeugnis aus der Volksschule ausschieden, ausgewählt. In einem Jugendlager, das von Hitler-Jugend-Führern geleitet wurde, wurden sie im Sinne der Nationalsozialistischen-Deutschen-Arbeiter-Partei erzogen.) Die Heimkehrenden hatten acht Monate im Landjahrausleselager Friedersdorf verbracht, das in der Mark Brandenburg, im Landkreis Beeskow-Storkow, seinen Standort hatte. Dort waren die »Garanten der deutschen Zukunft« – ein Ausspruch Adolf Hitlers – mit soldatischem Drill diszipliniert und im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie indoktriniert worden.

 

Karlik Grzibowski dachte: »Nun sind es nur noch wenige Minuten, dann wird der Zug den Hauptbahnhof Beuthen erreicht haben … « Und die Erregung, in der er sich befand, vermochte er kaum noch zu verbergen. Mittlerweile hatte die Lokomotive die Geschwindigkeit mehr und mehr gemindert und fuhr nun in gemächlichem Tempo in den Zielbahnhof Beuthen ein. Karlik hatte sich so weit als möglich zum Fenster hinausgelehnt, um den Bahnsteig, auf dem der Schnellzug einfuhr, überblicken zu können. In der Menge der wartenden Menschen erblickte er erst seine Mutter, ein wenig später aber auch Bruno, seinen jüngsten Bruder, den die Mutter an der Hand hielt. Der Anblick der beiden rief eine zwiespältige Empfindung in ihm wach: er verspürte Freude – aber auch Furcht …

In der Hoffnung, von der Mutter oder dem Bruder gesehen zu werden, winkte er ihnen zu. Als Karlik seiner Mutter gegenüberstand, hatte er Mühe, die Tränen, die ihm in die Augen hineinschossen, zu unterdrücken. Als er Gruppenführer Enster in nächster Nähe sprechen hörte, dachte er: »Was würde der von mir denken, wenn er sähe, daß ich weine …«

Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, dann sagte Anna Grzibowski: »Moy Synek … « und drückte den heimgekehrten Sohn an ihre Brust. Und während sie Karlik ein um das andere Mal mit ihrer Rechten über den Kopf strich, murmelte sie in einem fort: »Moy Synek … « Auf den Befehl des Gruppenführers: »Lager Friedersdorf, in der Bahnhofshalle sammeln!« löste Karlik sich sachte aus der Umarmung seiner Mutter und sagte leise: »Wir müssen noch mal antreten, Mutti …«

»Groß bist du geworden, mein Junge!« sprach Anna Grzibowski, und nachdem sie Karlik von Kopf bis Fuß betrachtet hatte: »Aber mager bist du, wie ein Sledz (Hering)!« Karlik waren die Tränen in den Augen der Mutter nicht verborgen geblieben, und er vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Er dachte: »Sie soll bloß aufhören zu weinen!« und wandte sich seinem Bruder zu. Doch da er nicht wußte, was er diesem sagen sollte, sprach er, mehr aus der Verlegenheit heraus, in die ihn die Mutter mit ihrer Begrüßung gebracht hatte, als aus Überzeugung: »Groß bist du geworden, Bruno!« Doch er kam sich blöd vor, denn er hatte dieselben Worte gebraucht, die die Mutter zu ihm gesprochen hatte.

»Wir müssen in die Bahnhofshalle, die anderen sind bestimmt schon da!« drängte Karlik. Die Mehrzahl der Personen, die sich in der Bahnhofshalle aufhielt, hatte einen Halbkreis um die angetretenen Landjahrjungen gebildet und folgte einem selten gebotenen Schauspiel mit großer Aufmerksamkeit. Gruppenführer Enster hielt seine Ansprache mit lauter Stimme. »Hitlerjungen, Landjahrjungen«, sagte er, »hier, an dieser Stelle, endet für euch ein Abschnitt eures Lebens, den ihr nicht so schnell vergessen werdet … In den vergangenen acht Monaten seid ihr wahre Hitlerjungen geworden, wie unser heißgeliebter Führer Adolf Hitler euch wünscht! Zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl und flink wie die Windhunde! – Doch darüber hinaus seid ihr zu Bannerträgern der nationalsozialistischen Idee geformt worden! … Denkt in jeder Minute, in jeder Stunde, an jedem Tag, daran: daß der einzelne nichts – das Volk aber alles ist! … und daß ihr die jüngsten Soldaten des Führers seid! … Ihr müßt mutig, stolz und jederzeit bereit sein, für Deutschland zu sterben! – Der rassereine Deutsche ist ein Herrenmensch, dem die Schwachen zu dienen haben! Nur der Starke hat ein Recht aufLeben!!«

Mit einem dreifachen: »Sieg-Heil!« auf Adolf Hitler, den Führer und Obersten Befehlshaber, den genialen Heerführer, beendete der Gruppenführer die Ansprache. Das letzte von Enster, auf dem HauptbahnhofBeuthen, gegebene Kommando lautete: »Weggetreten!!«

Daß die Monate April bis Dezember wie im Traum vergangen waren, daß das Landjahrausleselager Friedersdorf nur noch in seiner Erinnerung existieren würde, war Karlik nie bewußter als in den Augenblicken, da er das Bahnhofsgebäude verließ. Zum erstenmal wieder – nach langer Zeit – tat er etwas aus eigenem Impuls heraus, und ein eigenartiges Gefühl beschlich ihn, als er sich ohne die Kommandos: Im Gleichschritt – marsch! oder: Ohne Tritt – marsch! vernommen zu haben, in Bewegung setzte, die Straße überquerte …Es war gegen 17 Uhr, als Karlik in der Begleitung seiner Mutter und des Bruders die Bahnhofstraße entlangging, um die Straßenbahnhaltestelle an der Trinitatiskirche zu erreichen. Karlik hatte die Straße, die eine der beliebtesten Geschäftsstraßen der Großstadt Beuthen war, in besserer Erinnerung, als sie sich ihm an diesem späten Nachmittag im Dezember darstellte. Die Schaufenster der großen, mittelgroßen und kleinen Geschäfte, die früher im hellsten Licht erstrahlt waren, schienen nur notdürftig beleuchtet, und aus den Fenstern der Wohnungen drang kaum ein Lichtschein heraus. Als Bruno die Verwunderung seines großen Bruders bemerkte, sagte er: »Daran ist nur die Verdunklung schuld!« In rascher Gangart hatten sie die Bahnhofstraße durchschritten und befanden sich bereits auf dem Adolf-HitlerPlatz. »Im Hindenburg ist viel Betrieb … « dachte Karlik, der im Vorübergehen durch die großen Scheiben des beliebten Cafes blickte. Vor den Schaukästen des Intimen Theaters, eines Kinos, das nur wenige Meter vom Cafe entfernt gelegen war, blieb Karlik stehen, um sich die Fotos anzusehen. Doch er vermochte nur einen flüchtigen Blick auf die Bilder zu werfen, denn Bruno drängte; und die Mutter sagte: »Kommt, sonst fährt uns die Straßenbahn weg!« Erst an der Trinitatiskirche, während sie auf die Straßenbahn warteten, wurde Karlik bewußt, daß zwischen der Mutter und ihm nur die notwendigsten Worte gewechselt worden waren. Nun erst bemerkte er auch, daß die Mutter ihren besten Mantel angezogen hatte, den sie nur zu besonderen Anlässen zu tragen pflegte, und er meinte, es wäre an der Zeit ihr etwas Nettes zu sagen. »Dein Mantel ist aber schön, Mutti … « hörte er sich sprechen, und er war über die Reaktion, die seine Worte bei der Mutter auslösten, verwundert. Das schüchterne Lächeln, mit dem sie ihm für seine Worte dankte, ließ für wenige Augenblicke den Ausdruck der Strenge, der zumeist ihr Gesicht beherrschte, vergessen. »So lächelt sie selten … « dachte Karlik. Und während sein Blick unauffällig auf ihr ruhte, erinnerte er sich der Worte, die sie so oft zu ihm gesprochen hatte. »Karlik, vielleicht wirst du ein Lehrer … Sieh zu, daß sie dich im Landjahr auf die Lehrerschule schicken … « Und er dachte: »Ob sie mir die Enttäuschung, die ich ihr bereitet habe, je vergeben wird?«

»Die Straßenbahn kommt!« rief Bruno und bereitete Karliks Überlegungen ein jähes Ende. Als die Brüder in der Straßenbahn nebeneinander standen, stieß Bruno den großen Bruder in die Seite, und als dieser sich ihm zuwandte, zeigte er auf seinen linken Arm. »Willst du ihn sehen?« fragte er, und als Karlik ihn erstaunt anblickte, erklärte er: »Das is doch der gebrochene Arm – der is nich richtig wieder zusammengewachsen …«

»Ach so … « sagte Karlik, und seinen Gesichtsausdruck prägte die Erinnerung. Nachdem er mit einem Blick auf die anderen Fahrgäste wies, fragte er Bruno: »Ist es nicht besser, wenn ich mir den Arm gründlich zu Hause ansehe?«

»Du hast recht, Karlik, da zeig ich dir alles ganz genau!« Die Straßenbahn war am Hallenbad vorbei und in den schattigen Stadtpark hineingefahren, wo bald die Schrotholzkirche in das Blickfeld der Fahrgäste trat. Die Elektrische schien es an diesem späten Nachmittag im Dezember besonders eilig zu haben, denn schon erblickte Karlik die Carsten-Zentrum-Grube und die riesigen Kohlehalden, die an einen schlafenden Vulkan erinnerten, wenn die Feuerschlangen sich des Nachts durch die schwarzen Berge fraßen. Die Halden der ältesten Grube in der Beuthener Mulde (auf der Carsten-Zentrum-Grube war bereits im Jahre 1870 mit dem Abteufen des ersten Schachtes begonnen worden) hatte die Straßenbahn schon hinter sich gelassen und durchfuhr nun den Viadukt, über dem die Eisenbahn nach Tarnowitz fuhr. In gemächlichem Tempo zuckelte die Trambahn nun an dem Haus des Karfer Bahnhofsvorstehers »Bulla« vorbei. »Gleich sind wir da, gleich werden wir bei Schikora & Gerdes aussteigen!« dachte Karlik, da erblickte er auch schon die kleine Fabrik, und nur wenige Sekunden später hielt die Straßenbahn. Während Karlik seiner Mutter beim Aussteigen behilflich war, zuckten in der Werkshalle bläulichrötliche Flammenzungen auf, die im Verbundglas des Dachs reflektierten. Schwaches Licht drang durch die großen Fenster der Schikora & Gerdes gegenübergelegenen Drahtseilfabrik Bode. Als Karlik, nach der langen Abwesenheit, in den Hausflur des Hauses Wilhelmstraße Nr. 10 eintrat, konnte er nicht umhin, festzustellen, daß in seinem Geburtshaus alles beim alten geblieben war. Das schummerige Licht, das sowohl den Flur als das Treppenhaus mangelhaft ausleuchtete, ließ ihn unwillkürlich an seinen Großvater, den Hausbesitzer, denken, und er murmelte: »Der Opapa spart noch immer am Licht! Bis jetzt hat er aber Glück gehabt! Daß sich bei dieser miesen Beleuchtung noch kein Mensch die Knochen gebrochen hat – ist ein Wunder!«

»Papa, der Karlik ist wieder da!« rief Bruno, als er die Küche der Grzibowskischen Wohnung betrat. Karlik blieb an der Küchentür stehen und dachte: »Hier hat sich auch nichts verändert!« Dann nahm er mit einem umfassenden Blick den Eß- und Wohnraum der Familie auf. Der Kohleherd, auf dem, wie eh und je, gekocht wurde, verströmte eine wohltuende Wärme. Das zweiteilige Küchenbüfett, das er bereits aus seiner frühesten Kindheit kannte, stand noch immer an der gleichen Stelle, und auch das Eckbrett, wo die Arbeitskleidung des Vaters verstaut wurde, und vieles mehr, gab es noch. »Papa, der Karlik ist da!« rief Bruno zum zweitenmal und bewirkte, daß Karlik auf seinen Vater, der in der Mitte der Küche stand, zuging. Er bemerkte, daß der Vater – »Sicher zur Feier des Tages … « dachte er – ein weißes Hemd und die Sonntagshose angezogen hatte. Zwei, drei Sekunden standen der Vater und der Sohn sich gegenüber, dann sagte Paul Grzibowski: »Da bist du ja wieder, du Pieron!«

»Ja, da bin ich … « erwiderte Karlik mit leiser Stimme. Er blickte seinem Vater in die Augen, doch dieser wich dem Blick aus und flüchtete in betonte Forschheit. »Los, setzt euch an den Tisch, ich hab alles fertig!« sagte er, ging geschäftig zum Herd und legte eine Schaufel Kohlen auf die Glut auf. Dabei bemerkte er beiläufig: »Franzek muß auch gleich kommen!« Die frischgebrühten Oppelner Würstchen, die Paul Grzibowski in einer Schüssel auf den Tisch stellte, verströmten einen appetitanregenden Geruch.

»Eß dich mal wieder richtig satt, Karlik!« sagte die Mutter und erinnerte Karlik augenblicklich an ihre Äußerung auf dem Bahnhof: »Aber mager bist du, wie ein Sledz (Hering)!«

Die Mahlzeit verlief ziemlich wortkarg, und als Franzek nach Hause kam, fühlte Karlik sich erleichtert. »Mensch, riecht’s hier gut, wie am Sonntag!« sagte der älteste Sohn des Ehepaares Grzibowski, als er in die Küche eintrat, schnurstracks auf Karlik zuging und ihm die Hand reichte. Er begrüßte seinen heimgekehrten Bruder mit den Worten: »Da bist du ja wieder, du Tromba (Trompete)!«

»Na, hör mal, Franzek«, entgegnete Karlik lächelnd.

»Ich hab einen Kohldampf wie zwei!« sagte Franzek, griff in die Schüssel hinein, nahm ein paar Würstchen heraus und legte diese auf seinen Teller. Während des Essens wurde über belanglose Dinge gesprochen. Karlik war froh, denn sein älterer Bruder verlor kein Wort über das Landjahr. Fragen wie: Warum bist du nicht auf die Napola oder auf die Lehrerbildungsanstalt gegangen? wären ihm außerordentlich unangenehm gewesen … Nachdem Franzek mit Heißhunger ein paar Würstchen verzehrt und eine Tasse Kaffee getrunken hatte, erhob er sich von seinem Platz und sagte: »So, ich geh jetzt ins Heim!« Und an Karlik stellte er die Frage: »Kommst du mit?« Franzeks Frage kam Karlik sehr gelegen. Allzugern wäre er mit dem Bruder in das HJ-Heim gegangen, auch anderswohin, um sich der unterschwellig gespannten Situation zu entziehen – doch ehe er sein Einverständnis mitzuteilen vermochte, sagte die Mutter: »Der Karlik ist doch eben erst angekommen, da braucht er doch nicht gleich ins Heim zu laufen!«

»Mein Gott, er ist doch jetzt für immer hier!« entgegnete Franzek.

»Und du, du läufst mir auch zuviel in das Heim! – Du bist ja kaum noch zu Hause!«

»Und was soll ich hier? – Soll ich mich vielleicht unter deiner Schürze verstecken?!«

»Sei nicht so frech, das rat ich dir!« wies Anna Grzibowski ihren erstgeborenen Sohn zurecht. Dann sagte sie zu ihrem Mann: »Paul, sag ihm, er soll nich so frech zu mir sein!«

»Pieronie … « Mehr sagte Paul Grzibowski nicht, wofür er von seiner Frau getadelt wurde.

»Pieronie ist alles, was du sagen kannst … « giftete sie ihn an.

»Was soll ich denn sonst noch sagen … « murmelte Paul Grzibowski.

»Na, was ist? – Kann der Karlik mitkommen oder nicht?« fragte Franzek.

»Nein, er bleibt hier, und damit basta!« erwiderte Anna Grzibowski entschieden.

»Dann hau ich ab!« sagte Franzek und ging zur Tür.

»Verschwinde bloß, du Hetzer!« rief ihm die Mutter nach. Franzek, der schon mit der rechten Hand die Türklinke umfaßt hatte, drehte sich um und sagte: »Also, so einen Quatsch hab ich noch nicht gehört … da kann man doch nur lachen, Mutti!«

»Sitz nicht da wie ein Taubstummer, Paul, stopf ihm sein freches Maul!« fuhr Anna Grzibowski ihren Mann an, und als dieser noch immer keinen Ton über die Lippen brachte, sagte sie: »So kann doch ein Kind nicht mit seiner Mutter reden!«

»Pieronie, du sollst dein Maul endlich halten, Franzek!« brüllte Paul Grzibowski.

»Ach, reg dich doch nicht künstlich auf, Papa!« entgegnete Franzek seinem Vater.

»Und das läßt du dir von dem Jungen gefallen?« giftete Anna Grzibowski aufs neue.

»Irrenhaus!« sagte Franzek, verließ die Küche und schlug die Tür hinter sich zu. Einige Sekunden lang herrschte Stille, dann sagte Anna Grzibowski: »Das ist deine Erziehung!« Der Vorwurf seiner Frau brachte Paul Grzibowski in Rage, und nun brüllte er sie an: »Wenn du für mich arbeiten gehen wirst, werde ich die Kinder erziehen – aber besser als du!« Karlik dachte: »Mein Gott, alles ist genauso wie es früher war … «

»Was brüllst du hier wie ein Stier! – Wir sind doch nicht taub!« fuhr Anna Grzibowski ihren Mann an. Karlik bedauerte seine Rückkehr in das Elternhaus, zum erstenmal bedauerte er auch die von ihm getroffene Entscheidung – die Oppelner Würstchen lagen ihm schwer im Magen. Dannhörte er sich sprechen: »Ich denke, ich sollte jetzt zu der Omama und zum Opapa gehen … «

»Da kannst du gleich hingehen!«

»Dann geh ich jetzt, Mutti«, sagte er und erhob sich. Zwei, drei Augenblicke verharrte er in abwartender Unentschlossenheit, doch als die Mutter ihn keines Wortes würdigte, ging er. Als er die Tür hinter sich geschlossen hatte und in dem mangelhaft erleuchteten Flur stand, murmelte er: »Die leben immer noch wie Hund und Katze zusammen … Am liebsten möchte ich sofort wieder wegfahren … Ich kann den Franzek verstehen … «

Dann blickte er auf die Stufen, die zur Laube hinunterführten, und erinnerte sich der Stunden, die er bitterlich weinend in jenem Vorbau, der sich auf der Hofseite des Hauses befand, gesessen hatte, und wie weh der Zank der Eltern ihm getan hatte, und er sprach leise vor sich hin: »Ich bin kaum eine Stunde da … « Karlik war entschlossen, die notwendigen Besuche so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Nur wenige Schritte trennten ihn von der Wohnung der Großeltern, denen er seine Aufwartung machen wollte. Just in dem Augenblick, da er sich in Bewegung zu setzen gedachte, wurde die Tür geöffnet, und er stand seiner Tante Frieda gegenüber, die mit ihren Söhnen Ite und Buscheen, die als Früchte der Sünde das Licht der Welt erblickt hatten, bei den Großeltern lebte, da sie noch nicht verheiratet war.

»Tante Frieda, ich … ich … bin wieder da«, sagte er, und er ärgerte sich über sich, er dachte: »Warum habe ich gestottert … und warum ist mir nichts Besseres eingefallen, als so etwas Dummes …« Die Tante schien weder überrascht noch erfreut, als sie den zweitgeborenen Sohn ihrer Schwester Anna zu Gesicht bekam. Mürrisch sagte sie: »Ich seh ja, daß du da bist!« und Karlik dachte: »Die könnte auch ein wenig freundlicher sein … schließlich war ich ja lange weg gewesen«, doch er fragte: »Sind Ite und Buscheen da?«

»Nein, die treiben sich irgendwo herum!« erwiderte die Tante.

»Und die Omama und der Opapa?«

»Die sind in der Stube!«

»Dann geh ich jetzt mal zu ihnen!«

»Von mir aus«, sagte die Tante, und kurzangebunden forderte sie Karlik auf: »Laß mich mal vorbei, ich muß in den Keller!« Karlik trat zur Seite und dachte: »Die ist aber giftig! – Ob sie sich wieder mit der Mutter gestritten hat … ?«

Als Karlik in die Küche eingetreten war, erblickte er die in der Wohnstube sitzenden Großeltern und vergaß über dem Bild, das sich seinen Augen bot, die Tür zu schließen. Die Situation, in der er die geliebten Menschen antraf, war ihm eine sehr vertraute, in seiner Erinnerung gespeicherte. Der Großvater saß an seinem angestammten Platz an der Stirnseite des ovalen Wohnzimmertischs und las. Karlik dachte: »Er liest bestimmt wieder in der Bibel, und immer dasselbe, das Kapitel vom verlorenen Sohn. Seitdem er zu Emil, seinem Lieblingssohn, gesagt hat: ›Du bist nicht mehr mein Sohn – ich will dich nicht mehr sehen!‹ liest er immer wieder diese Geschichte und legt die Bibel nicht mehr aus der Hand. Und das alles war passiert, weil Emil aus der Kirche ausgetreten war, weil er eine Todsünde begangen hatte, ja, aber auch deswegen, weil der Onkel SA-Mann gewesen war. Alt sieht er aus, sehr alt, und ob er überhaupt noch hören kann?« Die immer tätige Omama, die auf dem Sofa saß, erblickte Karlik zuerst. Sie nahm die Brille von der Nase und legte sie auf den Tisch, neben ein pilzförmiges Nadelkissen. Dann fragte sie: »Ist da wer?«, wartete die Antwort aber nicht ab, setzte die Brille wieder auf und wiederholte die Frage: »Ist da wer?«

»Ja, ich bin es, Omama«, sagte Karlik und ging in die Stube hinein.

»Jessus Maria! Jessus Maria … Karlik, moy Synek, bist du es wirklich?« fragte die alte Frau, und nachdem sie Karlik zu Gesicht bekommen hatte, rief sie: »Stephan, Stephan, der Karlik ist wieder da!!« Unwillig murmelte Stephan Micha: »Co jest … ?« und las weiter. Doch Maria Micha ließ nicht locker, lauter als vordem und auch akzentuierter wiederholte sie: »Stephan, der Karlik ist wieder da!« Nun erst schien der Schwerhörige sie verstanden zu haben. Er legte die Bibel auf den Tisch, hob den Kopf, sah seine Frau an und fragte: »Wo is der Karlik?«

»Hier bin ich, Opapa«, antwortete der Enkel, der vor dem Tisch stand, mit lauter Stimme. Der Großvater musterte Karlik von Kopf bis Fuß und murmelte in polnischer Sprache: »On chudy jak sledz … i on Hitlerosch … (Er ist mager wie ein Hering, und er ist ein Hitlerjunge … )«

»Der Karlik ist wieder da, und das ist die Hauptsache!« sagte Maria Micha mit Nachdruck. Danach forderte sie den Enkel auf, sich zu setzen. Als Karlik Platz genommen hatte, fragte sie: »Hast du schon was gegessen?« und als dieser bejahend genickt hatte, sagte sie: »Und nun erzähl mal, mein Synek …«

 

Was nun …

 

Karlik hatte sich bei den nächsten Verwandten, bei näheren und entfernteren Bekannten und bei seinen Freunden zurückgemeldet. Zwei ganze Tage hatte er darüber verloren. Leute hatte er besuchen müssen, die ihn überhaupt nichts angingen, weil die Mutter daraufbestanden hatte, aber ins HJ-Heim, wo es ihn hinzog, war er noch nicht gekommen: obwohl er sich, sofort nach der Rückkehr, beim Gefolgschaftsführer aus dem Landjahr zurückzumelden hatte. Als Karlik an den Gefolgschaftsführer dachte, murmelte er: »Der wird mich bestimmt anscheißen!« Ein Gutes hatte das unentwegte »Auf der Achse sein müssen« doch gehabt: für die Mutter hatte sich keine Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen mit ihm ergeben – dem er mit Ängsten entgegensah. Doch als er, am dritten Tag nach seiner Ankunft, allein mit ihr in der Küche war, hielt sie den Zeitpunkt für gekommen, ihn zu fragen: »Was wird nun? – Was wirst du nun machen?«

»Wie meinst du das, Mutti?« erwiderte er, doch er wußte, daß die Mutter mit seiner nichtssagenden Antwort nicht zufrieden war, daß sie keine Ruhe geben würde. »Wie ich das meine? – Na, so wie ich das gesagt habe! Was du jetzt machen wirst, hab ich dich gefragt! … Hast du dir schon was überlegt?« fragte sie, und die Gereiztheit, in die sie die Antwort ihres Sohnes gebracht hatte, schlug sich im Tonfall nieder. Erst nach drei, vier Sekunden quengelte Karlik: »Hab ich noch nicht, Mutti … «

»Dann wird es aber langsam Zeit! – Findest du nicht auch?«

»Hm …« Mehr gestand Karlik nicht ein.

»Ist das alles, was dir einfallt?« fragte nun die mehr und mehr verärgerte Anna Grzibowski. Und als sie zur Kenntnis nehmen mußte, daß Karlik stumm wie ein Fisch blieb, fuhr sie ihn an: »Denk ja nicht, daß schon alles erledigt ist! – Wenn der Papa auch noch nichts gesagt hat, eines schönen Tages fängt er an zu stänkern. Dann haben wir den Zirkus – und was dir dann blüht, weißt du ja – die Grube!«

»Auf die Grube geh ich nie!« entgegnete Karlik.

»Sollst du auch nicht, Karlik«, erwiderte die Mutter. Und in völlig veränderter Stimm- und Tonlage sagte sie: »Da hast du aber einen Riesenblödsinn gemacht, mein Junge … So was, nein, so was … Ich kann doch nicht überall sein!« Und dann sprach sie mit sich selbst: »Da kann er was werden, noch mehr werden als Lehrer, und da benimmt er sich wie einer, der einen Vogel hat. Jessus Maria, wenn ich gewußt hätte, wie dämlich der ist … «

Dann wandte sie sich wieder Karlik zu und seufzte: »Du bist soo dämlich, so dämlich …« Karlik dachte: »Ob ich ihr sage, warum ich nicht auf die Napola wollte?« Doch seinen Überlegungen bereitete die Mutter ein Ende. Mit Schärfe in der Stimme sagte sie: »Und denk ja nicht, daß du dich jetzt ausfaulenzen kannst. – Mach, daß du bald aufs Arbeitsamt gehst!!«

 

Der Gefolgschaftsführer befand sich in seinem Dienstzimmer, aber er war nicht allein. Zwei BDM-Mädchen waren bei ihm, was aber den achtzehn Jahre alten HJ-Führer nicht davon abhielt, Karliks Meldung: »Hitlerjunge Grzibowski meldet sich aus dem Landjahr zurück!« entgegenzunehmen.

»Setz dich, Grzibowski!« sagte der Gefolgschaftsführer. Karlik blickte auf die beiden Mädchen und sagte: »Wenn ich nicht störe?«

»Ach Quatsch, du störst nicht!« widersprach der Gefolgschaftsführer und wandte sich dann dem in seiner nächsten Nähe stehenden vollbusigen blonden Mädchen zu, das er fragte: »Stört er uns, Steffi?« Das Mädchen Steffi sagte: »Wir sind doch nur hier, um zu blödeln!« Das zweite Mädchen, dessen Namen Karlik noch nicht kannte, ging schnurstracks auf ihn zu, reichte ihm die Hand und sagte: »Ich heiße Ruth!«

»Und ich K … Karlik«, stotterte der Landjahrjunge Grzibowski.

»Wie ich heiße, weißt du ja bereits", sagte das Mädchen, das der Gefolgschaftsführer angesprochen hatte. »Ja … ja … « sagte der verwirrte Karlik. Daß der Gefolgschaftsführer ihn zusammenstauchen würde, der verspäteten Meldung wegen, hatte er erwartet, aber nicht, die Bekanntschaft zweier Mädchen zu machen. Ruth, das Mädchen mit dem vollen schwarzen Haar, gefiel Karlik auf den ersten Blick. Während der Gefolgschaftsführer und Steffi sich übermütig und ausgelassen neckten, kam Karlik sich völlig überflüssig vor. »Ich verzieh mich … « dachte er, doch Ruth schien seine Gedanken erraten zu haben. Das Mädchen setzte sich ihm gegenüber auf den Schreibmaschinentisch und fragte: »Erzählst du mir vom Landjahr? Ich bin sehr neugierig … « Karlik, der vor Verlegenheit intensiv den Fußboden anstarrte, blickte auf und errötete bis unter die Haarwurzeln, denn er sah Ruth, von seinem niedrigen Sitzplatz aus, unter den Rock. Augenblicklich richtete er seine Augen wieder zu Boden und flüchtete in die Frage: »Ja … was … was möchtest du denn wissen?«

»Mensch, drucks doch nicht so herum«, sagte Ruth, »du hast doch sicher eine Menge erlebt?!«

»Ja, das schon … «

»Na, dann erzähl doch!« forderte das Mädchen den Karlik erneut auf. Karlik dachte: »Jetzt muß ich ihr was erzählen, sonst denkt sie sonst was von mir", und er begann: »Also, ich muß dir sagen, leicht war das nicht … leicht war das bestimmt nicht!« Er nahm eine bequemere Haltung in dem Sessel ein und blickte Ruth nun ungeniert an. Dabei dachte er: »Ich darf ihr nicht zeigen, wie mir zumute ist und daß ich schüchtern bin: sonst lacht sie mich noch aus … « Und er steigerte sich in Gedanken in die Rolle des Selbstbewußten, Tod und Teufel nicht Fürchtenden, hinein. Er sprach vom harten Lagerleben, von der eisernen Disziplin, von der vorbildlichen Kameradschaft, und mit geschwellter Brust sagte er: »Ich kann dir nur eines sagen: Eisenhart bin ich im Landjahr geworden, das kannst du mir glauben!« Karlik war mit sich aufs höchste zufrieden. Er fühlte sich wohl und hatte vergessen, daß es eine Rolle war, die er spielte. »So möchte ich immer sein, so voller Selbstbewußtsein, so sicher«, dachte er, als er Ruth unter den Rock sah, so lange, bis sie es bemerkte und in höchster Verlegenheit die Beine übereinanderschlug. Als Karlik die Unsicherheit des Mädchens aufnahm, wuchs er in seiner Rolle über sich hinaus. Er erhob sich, ging auf Ruth zu, sah seine Hände nach dem Lederknoten greifen, der das schwarze Halstuch über der Brust zusammenhielt, und er hörte sich sprechen: «Der Knoten muß auf der Knopfleiste aufliegen – das haben wir auch im Landjahr gelernt!« Doch ehe er den Lederknoten ergriff, fühlte er sich unsicher werden und zögerte einen Moment. Da sagte Ruth: »Jetzt traust du dich nicht mehr!« Ihre Worte ließen ihn augenblicklich reagieren. »Nicht trauen?! – Warum sollte ich mich nicht trauen?!« sagte er sehr laut, und griff nach dem Knoten mit der rechten Hand, die aber, da das Mädchen sich plötzlich bewegte, auf der Stelle ihrer weißen Bluse zu liegen kam, unter der sich ihre rechte Brust befand. Die Wölbungen unter der Bluse hatten es Karlik von dem Moment, da er Ruth zu Gesicht bekommen hatte, angetan – und um diesen nahe zu kommen, sie vielleicht berühren zu können, hatte er einen Vorwand benötigt, den ihm der angeblich unkorrekt aufliegende Knoten geboten hatte. Nun, da er sein Ziel so schnell erreicht hatte, fühlte er sich unbehaglich, kam er sich schmutzig vor, und als ihm der Angstschweiß aus den Poren brach, wäre er am liebsten davongelaufen. In seinem Kopf klopfte das Blut, und er dachte immerzu: »Das ist eine Schweinerei, was ich mache – und was würde Enster von mir denken.« Anders als Karlik reagierte Ruth auf die Berührung ihrer Brust. Das Mädchen zuckte kurz zusammen, doch es wehrte Karliks Hand nicht ab. Es glitt vom Schreibmaschinentisch herab, stand ihm gegenüber, Brust an Brust, doch damit nicht genug: es schob sich ganz nah an Karlik heran. Er spürte die Wärme ihres Körpers – und ihm wurde schwarz vor Augen. Er war völlig hilf- und wehrlos, denn er verspürte plötzlich eine Empfindung, die er nicht einzuordnen wußte, die sein Blut zum Rasen brachte. »Herrgott, was ist denn das?« dachte er, als er bemerkte, daß Ruths Nähe eine ihm völlig unbekannte Regung seines Körpers hervorrief, die ihm außerordentlich peinlich war, ihm Verlegenheit bescherte … Ruth jedoch war keineswegs peinlich berührt und nicht einen Schimmer verlegen. Als sie den harten Widerstand verspürte, drängte sie sich noch näher an Karlik heran, ja, sie schien für einige wenige Augenblicke seine Erregung in sich aufzunehmen. Abrupt trat sie dann einen Schritt zurück und sagte: »Gefolgschaftsführer, da fällt mir ein … frag ihn doch, ob er den ›Hans mit der Flöte‹ spielen will – ich würde ihn gern zum Partner haben.«

Der Gefolgschaftsführer, der sich mit Steffi unterhielt, blickte sofort auf und sagte spontan: »Mensch, Ruth, das wäre die Lösung! – Aber ob er das kann und will?« Karlik hatte von der plötzlichen Wende der Situation noch keine Kenntnis genommen; er stand da, wie vor den Kopf geschlagen, und war keines Gedankens fähig. Was ihn vor wenigen Augenblicken noch in Verwirrung gebracht, hatte sich gelegt, wie der Wind nach einem großen Sturm, und nur eine vage, unterschwellige Erinnerung an etwas, was er vordem noch nie empfunden, war ihm geblieben …

»Möchtest du Theater in der Spielschar spielen?« fragte der Gefolgschaftsführer und brachte Karlik in die Realität zurück. »Wer … ich …?« stammelte Karlik.

»Ja, du! – Wir wollen im Januar ein Theaterstück aufführen! – Ruth spielt die Hauptrolle … Willst du ihren Mann spielen?« Es dauerte einige Sekunden, dann sagte Karlik: »Ob ich das überhaupt kann …«

»Mensch, du kannst es bestimmt! – Hab nur keinen Schiß! Außerdem, Ruth wird dir bestimmt helfen, und dann ist da noch der Spielscharführer Polok, der führt die Regie. Also Angst brauchst du keine zu haben! – Probier es mal, und wenn es nicht geht, hörst du nach ein paar Tagen auf! – Dann gibst du die Rolle halt wieder ab!« Karlik wußte noch immer nicht, wie er sich entscheiden sollte …

»Ach was, du spielst meinen Mann und keine Widerrede!« sagte Ruth.

»Na ja, wenn du meinst … « Mehr sagte Karlik nicht, aber er hätte jubeln mögen: »Ich werde Ruth also wiedersehen … «

»Jetzt hab ich aber einen Blödsinn gemacht … « dachte Karlik, als er aus dem HJ-Heim ging. »Weihnachten steht vor der Tür … und ich muß arbeiten … Text lernen. Warum hab ich nicht klipp und klar gesagt: ich kann das nicht?!« Doch er wußte, daß er, hätte er sich anders entschieden, auch nicht zufrieden gewesen wäre; denn er vermochte das Mädchen und das Geschehen, das sich im Büro des Gefolgschaftsführers zugetragen hatte, nicht aus seinem Kopf zu bannen. Er verspürte Verlangen nach der hautengen Zweisamkeit mit Ruth, nach der Berührung ihres Körpers, die in ihm einen Aufruhr der Empfindungen entfacht hatte, und er sah dem kommenden Tag, da er dem Mädchen bei der Theaterprobe wieder begegnen würde, mit Ungeduld entgegen. Doch je größer die Entfernung zum HJ-Heim wurde, um so lebhafter wurde in Karlik die Erinnerung an das Gespräch mit seiner Mutter, in welchem sie den ersten Anlauf genommen hatte, ihm ihre Ansicht über seinen Geisteszustand, und über das was zu tun sei, mitzuteilen. Karlik wußte, daß dies erst der Anfang war – nun war das Eis gebrochen, und die Rücksichten, die sie auf den Heimkehrer zu nehmen sich befleißigt hatte, würde sie nicht mehr üben. »Wenn sie wieder damit anfängt, werde ich mich verdrücken! – Ich muß zur Theaterprobe, werde ich dann sagen …« sprach Karlik leise vor sich hin. Bereits eine halbe Stunde vor der verabredeten Zeit, um 16 Uhr 30, machte Karlik sich auf den Weg in das HJ-Heim. Seine Erwartungen, Ruth bereits auf dem Weg oder vor der Probe im Heim zu begegnen, erfüllten sich nicht. Kurz vor 17 Uhr betrat ein Kameradschaftsführer der Hitler-Jugend den Saal, in dem Karlik wartete. Er fragte: »Bist du der, der den ›Hans mit der Flöte‹ spielen will?«

»Ob ich den ›Hans mit der Flöte‹ spielen kann, weiß ich nicht … aber ich heiße Grzibowski, wenn du das noch nicht wissen solltest …« sagte Karlik.

»Und ich heiße Polok! Ich leite die Spielschar«, sagte der Kameradschaftsführer, gab Karlik die Hand und übergab ihm ein dünnes Buch. Karlik blätterte sofort die Seiten um und murmelte: »Das ist aber viel, was ich da zu lernen habe …« Polok war Karliks Einwurf nicht entgangen, er sagte: »Mensch, Grzibowski, das ist eine schöne Rolle! – Das ist doch die Hauptsache!«

»Du, hör mal, ich glaub, das kann ich nicht … « murmelte Karlik.

»Du kannst, Grzibowski! Und außerdem bin ich ja da … und Ruth Joschko, die deine Frau spielen wird, die hilft dir auch!« erwiderte Polok mit Nachdruck. Nach der flüchtigen Information über den Umfang der Rolle hatte Karliks Angst vor dem Versagen sich noch gesteigert. Er war felsenfest davon überzeugt, daß er den Anforderungen nicht gewachsen sein würde. »Ich sag ihm gleich, daß ich den ›Hans … ‹ nicht spielen werde«, dachte Karlik, doch als der Leiter der Spielschar Ruth erwähnte, wurde er in seinem Entschluß wankend. »Sie wird dir helfen, sie hat viel Talent! – Ach so, das habe ich dir auch noch nicht gesagt, ich habe Ruth gebeten, eine Viertelstunde später zu kommen, ich wollte mich erst mit dir unterhalten, um dich kennenzulemen!« Poloks Mitteilung ließ Karlik im Nu anderen Sinnes werden. Nun, da er den Umstand kannte, der die von ihm sehnlichst erwünschte Begegnung mit Ruth vor der Probe vereitelt hatte, war er erleichtert und verbannte die Vermutungen und Zweifel, die ihm die letzten 45 Minuten vergällt und ihn unsicher gemacht hatten, aus seinen Gedanken. Er dachte: »Mit mir und Ruth ist alles in Ordnung!«, und zum Spielscharführer sagte er: »Hör zu, ich spiele den ›Hans mit der Flöte‹! – Du hast recht, ich werde es schon schaffen!!«

Karlik ging nun an jedem Wochentag, des Nachmittags, zur Probe, die bis in den späten Abend hinein andauerte. An der Rolle, die er zu spielen hatte, fand er von Tag zu Tag mehr Gefallen und lernte mit wachsender Begeisterung den vielen Text. Für Karlik wäre es eine glückliche Zeit gewesen, wenn da nicht die täglichen Vorwürfe der Mutter, mehr und mehr aber auch die »Stänkereien« des Vaters, wie Karlik die übellaunigen Äußerungen seines Erzeugers nannte, ihm zeitweilig die Laune verdorben hätten. Wenn Paul Grzibowski nach der Schicht in die Küche eintrat, fragte er sogleich: »Anna, war er –« und er warf einen flüchtigen Blick auf Karlik, der zumeist in einer Ecke saß und sich mit der Rolle beschäftigte – »auf dem Arbeitsamt?«

»Frag ihn doch selbst!« sagte Anna Grzibowski, denn sie wußte, daß er Karlik nicht fragen – und fürs erste Ruhe herrschen würde. Auch ihr gefiel das Verhalten ihres Sohnes nicht, der zur Zeit nur das Theaterspielen im Kopf zu haben schien, doch sie war bemüht, das Schlimmste zu verhüten: einen ungezügelten Ausbruch ihres Mannes. Im Gespräch unter vier Augen war es ihr immer gelungen, dem Jähzornigen ihre Argumente als die seinen unterzuschieben und ihn zu besänftigen.

 

 

Da wird einem ja angst und bange …

 

Die Aktivitäten, die die Mutter mehr und mehr entfaltete, brachten Karlik ins Bewußtsein, daß das Weihnachtsfest unmittelbar bevorstand, aber auch, daß seit seiner Rückkehr aus dem Landjahr bereits zwei Wochen vergangen waren. Seine Freude auf die Festtage wäre ungetrübt gewesen, wenn auch an den Feiertagen probiert worden wäre, er auf das Zusammensein mit Ruth nicht hätte verzichten müssen. Die Weihnachtsfeiertage waren so verlaufen, wie Karlik sie in der Erinnerung behalten hatte. Eine betrübliche Ausnahme stellte lediglich das Fest »Christi Geburt« im vergangenen Jahr dar, als die Bewohner des Backsteinhauses Wilhelmstraße 10 um den in der Haft verstorbenen Nachbarn Skollnik getrauert hatten – da war keine rechte Weihnachtsstimmung aufgekommen. Karliks Großeltern Stephan und Maria Micha waren von Zufriedenheit erfüllt, denn ihre Söhne und Töchter waren, mit oder ohne ihre Lebensgefährten, in das Elternhaus gekommen, um gemeinsam mit Vater und Mutter das große Familienfest zu feiern – wie es der Brauch in Oberschlesien war. Den weitesten Weg hatten Tante Else und der Koch, wie ihr Mann im Kreise der Verwandten genannt wurde, zurückgelegt; das Ehepaar Scholz hatte sich nicht gescheut, die Strapazen der langen Reise von Berlin auf sich zu nehmen. Karlik fiel ein, daß die Berliner während der Weihnachtsfeiertage des Jahres 1938 in Berlin verblieben waren, da sie keinen Urlaub erhalten hatten. Auch Onkel Norbert, der in Leipzig wohnte, war mit der Eisenbahn angereist. Zu jedem, der es hören und nicht hören wollte, sagte er: »Mein Auto ist requiriert worden, und es geht mir sehr gut, so gut wie noch nie!« Nobun, wie Norbert von seinen Eltern, den Geschwistern und im Freundeskreis genannt wurde, war ohne seine Frau, aber mit seinem Bruder Josef gekommen, der in Norberts Betrieb, einer Schuhfabrik, arbeitete. Die Großmutter war über alle Maßen erfreut, daß ihr jüngster Sohn, wenn auch nur für kurze Zeit, bei ihr war. Sogar Tante Sofie hatte sich aufgerafft und Breslau für einige Tage verlassen. Nach dem Tode ihres Mannes war dies der erste Besuch im Elternhaus. Onkel Paul, Tante Mika und das Nesthäkchen Klara, die »Siemjanowitzer«, wie die Verwandten po tantje Stronie (von der anderen Seite) von dem in der Ortschaft Karf lebenden Teil der Michaschen Sippe genannt wurden, waren am ersten Weihnachtsfeiertag bei den Großeltern eingetroffen. – Nun waren sie wieder Deutsche … Karlik erinnerte sich: Über die Eltern war im Sommer 1938 plötzlich die Reiselust gekommen. Mit Kind und Kegel, wie der Volksmund sagt – Franzek ausgenommen, denn er befand sich im Landjahr –, hatten sie erst den Brüdern der Großmutter, Vincent und Kleophas, die in Woyska lebten, einen Besuch abgestattet und waren bald darauf nach Siemjanowitz gefahren, um Onkel Paul und seine Familie zu besuchen. So schnell würde er den kurzen Aufenthalt, die zwei Tage, die er in der Polska gewesen war, nicht vergessen. Schon am Bahnhof hatte er herumlungernde Burschen und Männer gesehen, die sich um das Gepäck der von »drüben« Angekommenen bemühten, um einige Zloty verdienen zu können. Auch als sie den Bahnhof verlassen hatten, waren sie unentwegt von Bettlern belästigt worden. Der Mann, der immerzu gehustet und Mutter weinend um eine kleine Gabe gebeten hatte, drängte sich in Karliks Erinnerung, und auch die Begebenheit mit Onkel Paul, zu dem er, Karlik, gesagt hatte: »Das gibt es in Deutschland nicht!«

Der Onkel hatte sehr unfreundlich reagiert und ihn einen Quatschkopf geheißen. Mit der Cousine Klara war er sehr viel herumgelaufen. Ihr hatte er zu verdanken, daß er über Land und Leute Eindrücke gewonnen hatte, die bis in die Gegenwart in seinem Gedächtnis haftengeblieben waren. Er hatte Menschen gesehen, die in den Notschächten (Biedazyby) am hellichten Tag, im Tagbau, die Kohlen abbauten, weil sie zu arm waren, sich welche kaufen zu können … Und er hatte die brutale Miliz bei der Ausübung ihrer unmenschlichen Pflicht gesehen. Noch heute vermeinte er die von den Polizeihunden gehetzten Männer, Frauen und Kinder um Erbarmen flehen zu hören.

»Und wie geht es euch, Klara?« hatte er die Cousine nach der Polizeiaktion gefragt.

»Ons gäht äs gut … « hatte sie in einem Deutsch geantwortet, in welchem das ä dominierte.

»Hör mal, Klara«, hatte er zu der Cousine gesagt, »in Deutschland hat jeder zu essen, zu trinken und auch Arbeit. Da leidet niemand Not und den Leuten geht es gut!«

Klara hatte protestiert. »Das stimmt nichl Das stimmt nich, was du sagst. Das weiß ich bässä, on weißt du von wäm ich das weiß?!« hatte sie gefragt. »Na sag schon, wer solche Lügen verbreitet!« hatte er geantwortet – und war empört gewesen.

»Gut, dann will ich äs dir sagän«, hatte Klara ihn angefahren, »vom Kozändär weiß ich das!«

»Was ist das …?« hatte er gefragt.

»Dä Kozändär, dä spricht immä in Radio Kattowitzä, on dä sagt: ›In Deutschland, da is äs sähr schlächt! Da wäm die Leutä vähaftät on eingäspärrt, on wissän nich wofir, on da gäht auch kein Mänsch mähr in die Kirchäl – In Deutschland glaubt niemand mähr an dän liebän Gott!‹«