Unfair Fashion - Dana Thomas - E-Book

Unfair Fashion E-Book

Dana Thomas

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Beschreibung

»Was soll ich anziehen?«, fragen wir uns jeden Morgen. »Etwas Neues!«, sagt die Bekleidungsindustrie. Sie produziert dafür jährlich 80 Milliarden Kleidungsstücke. Immer billiger und ohne Rücksicht auf die Umwelt und die etwa 1,3 Milliarden Menschen, die sie beschäftigt. Tag für Tag kaufen Abermillionen Menschen Kleidung, ohne dabei einen einzigen kleinen Gedanken an die Folgen ihres Kaufes zu verschwenden. Seit der Erfindung der Webmaschine vor fast 250 Jahren hat sich die Mode zu einem schmutzigen, skrupellosen Geschäft entwickelt, bei dem auf Kosten der Menschen und der Erde reichlich Gewinne eingefahren werden. Und immer waren Sklaverei, Kinder- und Gefangenenarbeit ein fester Bestandteil ihrer Wertschöpfungskette – bis zum heutigen Tag. In ihrem akribisch recherchierten Buch analysiert Dana Thomas messerscharf die Sünden der globalen Fashionindustrie. Und sie beschreibt die sich formierende Gegenbewegung zur »Fast Fashion«: visionäre Unternehmen, die Mode nachhaltig produzieren und mit ihren Innovationen die Branche in eine positivere Zukunft führen können. Es ist dafür noch nicht zu spät!

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Seitenzahl: 451

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

1. Auflage 2020

© 2020 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Copyright © 2019 by Dana Thomas. Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei Penguin Press, ein Imprint von Penguin Random House, LLC, New York, unter dem Titel Fashionopolis: the price of fast fashion and the future of clothes. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Übersetzung: Gerrit ten Bloemendal

Redaktion: Simone Fischer

Umschlaggestaltung: Laura Osswald

Umschlagabbildung: Shutterstock/Pinar Alver

E-Book-Konvertierung: Carsten Klein, Torgau

ISBN Print 978-3-7423-1363-8

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1059-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1060-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Für Hervé

und

unser Licht,

Lucie Lee

Aber siehst du denn nicht,

was für ein missgestalteter Schelm diese Mode ist?

William Shakespeare, Viel Lärm um Nichts,

dritter Aufzug, dritte Szene

Inhalt

Einleitung

Teil 1

1. Prêt-à-porter

2. Der Preis der rabiaten Mode

3. Schmutzige Wäsche

Teil 2

4. Vom Feld bis zur Form

5. Rightshoring

6. Mein blauer Himmel

Teil 3

7. We Can Work It Out

8. Es geht rund in der Modebranche

9. Rage Against the Machine

10. Kaufen oder nicht kaufen

Danksagung

Literatur

Bildnachweis

Einleitung

Als sich die amerikanische First Lady Melania Trump 2018 auf den Weg zu einem Auffangzentrum für Flüchtlingskinder in Texas machte, trug sie einen olivgrauen Parka der spanischen Fast Fashion-Kette Zara, auf dessen Rücken die folgende in Weiß gekritzelte, graffitiähnliche Aufschrift stand:

I REALLY DON’T CARE, DO U?

(Es ist mir wirklich egal, und euch?)

Nach Meinung von Experten trug Frau Trump unmissverständlich zur Schau, was sie von den eingesperrten Kindern hielt. Oder von ihren Aufgaben als First Lady. Oder von ihrer Ehe. Ihr Mann twitterte dazu, es wäre ihre Art, ihre Meinung über die »Fake-News-Media« zum Ausdruck zu bringen. Ihre Pressesprecherin behauptete: »Es gab keine versteckte Botschaft.«

Sie hatte damit durchaus recht, denn die Botschaft war laut und deutlich. Und sie zeichnete ein niederschmetterndes Bild unserer heutigen Gesellschaft.

In Wirklichkeit war die Jacke das existenziellste Kleidungsstück, das jemals entworfen, hergestellt, verkauft und getragen wurde.

Zara ist die weltweit größte Modemarke und produzierte 2018 nicht weniger als 450 Millionen Kleidungsstücke. Das Mutterunternehmen, das in Spanien ansässige Inditex1, erzielte 2017 einen Jahresumsatz von 25,34 Milliarden Euro, zu dem Zara zwei Drittel, in etwa 16,5 Milliarden Euro, beitrug2.

Die Jacke aus der 2016er Zara Frühlingskollektion kostete umgerechnet gut 34 Euro3. Um Kleidung preisgünstig, aber dennoch gewinnbringend anbieten zu können, findet die Produktion in unabhängigen Fabriken in Entwicklungsländern statt, in denen kaum oder gar keine Sicherheitsstandards gelten, die Arbeitsbedingungen schlecht sind und die Löhne der Armutsgrenze entsprechen oder noch darunter liegen.

Zum Zeitpunkt, als die Arbeiter Frau Trumps Jacke schnitten und zusammennähten, war Amancio Ortega, der 80-jährige Mitbegründer und ehemalige Firmenchef von Inditex, der zweitreichste Mann der Welt (nach Bill Gates): Sein Vermögen wird auf umgerechnet knapp 67 Milliarden Dollar geschätzt4.

Die Jacke selbst wurde aus Baumwolle gefertigt. Konventionell angebaute Baumwolle zählt zu den umweltschädlichsten landwirtschaftlichen Erzeugnissen überhaupt: Für den Anbau von einem Hektar Baumwolle wird fast ein Kilogramm gefährliche Pestizide benötigt5.

Gefärbt und beschriftet wurde die Jacke mit Farbstoffen, welche, wenn sie auf Mülldeponien zerfallen, nicht nur den Boden, sondern auch das Grundwasser verschmutzen.

Durchschnittlich wird ein Kleidungsstück nur sieben Mal getragen, bevor es weggeworfen wird – ganze sieben Mal! Ungeachtet der Kritik, welche Frau Trump vorhielt, die Jacke zu dieser Gelegenheit bewusst getragen zu haben, dürfte die Wahrscheinlichkeit gering sein, dass sie die Jacke ein weiteres Mal tragen wird. Und somit ereilt diesem Kleidungsstück das gleiche Schicksal wie die meisten anderen Kleidungsstücke auch: Es landet im Abfall.

»Es ist mir wirklich egal, und euch?«

Wenn wir morgens aufstehen, stellen wir uns immer wieder diese eine elementare Frage: »Was ziehe ich heute an?«

Eine Entscheidung, die gut überlegt sein will: Wie fühle ich mich? Wie ist das Wetter? Was steht an? Wie will ich wirken? Wie will ich mich darstellen?

Kleidung ist unser erstes und wichtigstes Kommunikationsmittel. Mit Kleidung transportieren wir unseren sozialen und wirtschaftlichen Status, unseren Beruf, unsere Anliegen, unser Selbstwertgefühl. Kleidung kann uns Kraft und Sinnlichkeit verleihen. Sie kann unserer Hoch- oder Missachtung vor Gepflogenheiten Ausdruck verleihen. »Die Kleider, mögen sie als noch so eitle Nebensächlichkeiten erscheinen«, schrieb Virginia Woolf in Orlando, »sie verändern unsere Sicht auf die Welt und die Sicht der Welt auf uns.«6

Während ich das hier schreibe, trage ich ein in Bangladesch hergestelltes, schwarzes Etuikleid aus Baumwolle mit einem Spitzkragen und Manschetten. Ich entdeckte es in einer Facebook-Werbung, bestellte es, und nur wenige Tage später wurde es zu mir nach Hause geliefert. Es ist figurbetont und sehr modisch. Aber habe ich daran gedacht, wo es herkommt, als ich es bestellte? Habe ich überlegt, wieso es mich nicht mal 35 Euro kostete? Habe ich das Kleid überhaupt gebraucht?

Nein. Nein. Und noch mal nein.

Und da bin ich nicht die Einzige.

Tag für Tag kaufen Abermillionen Menschen Kleidung, ohne dabei einen einzigen kleinen Gedanken an die Folgen ihres Kaufes zu verschwenden – von Gewissensbissen ganz zu schweigen. 2013 berichtete das US-amerikanische Media Research Center, dass Shoppen zur beliebtesten Freizeitbeschäftigung der Amerikaner geworden sei. Es wurden im Schnitt fünf Mal mehr Kleidungsstücke gekauft als 19807. 2018 erwarb jeder US-Amerikaner im Schnitt 68 Kleidungsstücke8, alle Weltbürger zusammen 80 Milliarden9.

Sollte die Weltbevölkerung, wie es Experten voraussagen, bis zum Jahr 2030 tatsächlich auf 8,5 Milliarden Menschen angewachsen sein und das Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt in den Industrieländern bis dahin um jährlich 2 Prozent und in den Entwicklungsländern um 4 Prozent pro Jahr ansteigen, werden wir bei gleichbleibendem Kaufverhalten 63 Prozent mehr Kleidungsstücke kaufen als heute – eine Steigerung von 62 Millionen Tonnen auf 102 Millionen Tonnen. Eine Menge, die laut einer Berechnung der Boston Consulting Group und der Global Fashion Agenda »500 Milliarden T-Shirts« entspricht10.

Und all dies ist gewollt. An Flughäfen kann man sich auf dem Weg zum Gate völlig neu einkleiden. In Tokio gibt es Maßanzüge aus dem Automaten11. Habe ich ein hübsches Kleidungsstück auf Instagram gesehen? Klick, klick, und schon ist es meins. Wer einen Modeladen betritt, findet sich in einer von Technobeats, glänzenden Oberflächen, grellem Licht und Angeboten beherrschten Welt wieder, in der man leicht in einen fieberhaften Zustand gerät. In einer Welt, in welcher der Preis seltsamerweise nebensächlich erscheint. Man ist so verzaubert und so überreizt, dass Grundsätzliches wie etwa Qualität belanglos wird. »Es ist wie in einem Sexshop«, wie es eine ehemalige Modejournalistin formulierte, als wir uns eines Tages in Paris zum Mittagessen trafen. »Oder in einer Spielbank in Las Vegas«, fügte ich hinzu. Man gibt freiwillig und völlig unbekümmert Geld aus, und obwohl man vermutlich betrogen wurde, fühlt man sich trotzdem so, als hätte man ­gewonnen.

»Die Erwartungshaltung hält mit den ständig wechselnden Trends Schritt – um der ewigen Stimme nachzugeben, die sagt: ›Komm, kaufe noch etwas‹«, wie es Dilys Williams, Geschäftsführerin des Centre for Sustainable Fashion (Zentrum für nachhaltige Mode) des London College of Fashion, mir erklärte. »Ursprünglich, also vor der Industriellen Revolution, bedeutete der Begriff ›Mode‹ die gemeinsame Fertigung von etwas – als Kollektiv, in einem geselligen, ungezwungenen Prozess, in dem man miteinander kommunizierte. In der heutigen Definition geht es um Herstellung, Vertrieb und Kauf von Kleidung – ein industrialisiertes System zur Geldschöpfung.«12

Und dieses System ist keineswegs nachhaltig, ganz im Gegenteil.

Seit der Erfindung der Webmaschine vor fast 250 Jahren hat sich die Mode zu einem schmutzigen, skrupellosen Geschäft entwickelt, bei dem auf Kosten der Menschen und der Erde reichlich Gewinne eingefahren werden. Und immer waren Sklaverei, Kinderarbeit und Gefangenenarbeit ein fester Bestandteil jener Wertschöpfungskette – bis zum heutigen Tag. Manchmal wurden Missstände gesetzlich oder auf Druck von Gewerkschaften korrigiert, aber schließlich unterminierten Handelsverträge, Globalisierung und Gier diese Errungenschaften.

Bis in die späten 1970er-Jahre produzierte die US-amerikanische Textilindustrie noch mindestens 70 Prozent des Inlandabsatzes selbst13. Und – dank des New Deal – hatten sich Marken und Hersteller fast das ganze 20. Jahrhundert hinüber an die strengen nationalen Arbeitsgesetze gehalten. Doch dies dauerte nur bis zum Ende der 1980er-Jahre an, als ein völlig neues Segment der Bekleidungsindustrie geboren wurde: »Fast Fashion«, die Herstellung von trendigen, preisgünstigen Kleidungsstücken in großen Mengen und in Lichtgeschwindigkeit durch Subunternehmer, die dann für die Verbraucher in Abertausenden von Filialen zur Verfügung standen. Um die Preise niedrig zu halten, mussten die Herstellungskosten reduziert werden – mithilfe von billigen Arbeitskräften. Und genau die gibt es in den ärmsten Entwicklungsländern. Zu Beginn der Globalisierung fing die Bekleidungsindustrie an, ihre Produktionen zu verlagern. Was zunächst als Nische begann, entwickelte sich unausweichlich und schnell zu einer großen Erfolgsgeschichte und bestimmt seitdem, wie Kleidung – von Luxusmode bis hin zu Sportkleidung – entworfen, beworben und verkauft wird. Die Folgen waren dramatisch: In den letzten drei Jahrzehnten wandelte sich die Modebranche von einer Industrie mit überwiegend inländischen Produktionsstätten und einem weltweiten Jahresumsatz von 500 Milliarden Dollar zu einem globalen Koloss, der jährlich 2,4 Billionen Dollar umsetzt14.

Die Auswirkungen waren enorm.

Der erste Schlag ins Kontor war die Produktionsverlagerung in Billiglohn- beziehungsweise Entwicklungsländer. 1991 stammten 56,2 Prozent aller in den USA verkauften Kleidung aus heimischer Produktion15, 2012 nur noch 2,5 Prozent. Nach Angaben des US-amerikanischen Bureau of Labor Statistics (Büro für Arbeitsmarktzahlen) gingen zwischen 1990 und 2012 1,2 Millionen Arbeitsplätze in der US-amerikanischen Textilindustrie verloren. Somit wanderten drei Viertel aller Arbeitsplätze der gesamten Branche nach Lateinamerika und Asien ab. Vormals florierende Textilzentren entlang der Ostküste und im Süden der USA verwandelten sich in Geisterstädte – mit verwaisten Fabriken und hoher Erwerbslosigkeit16. Beschäftigte die Textilindustrie in Großbritannien 1980 noch 1 Million Menschen, sind es heute nicht einmal mehr 100 000. Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich auch in den meisten anderen westeuropäischen Ländern17, wenngleich sich die Zahl der Beschäftigten in der weltweiten Textilindustrie bis heute fast verdoppelt hat – von 34,2 Millionen auf 57,8 Millionen Menschen.

In den westlichen Ländern führte die Produktionsverlagerung ins Ausland zu massiven, lähmenden Handelsdefiziten. Während die US-amerikanischen Bekleidungsexporte sich 2017 grob auf 5,7 Milliarden Dollar beliefen, betrugen die Bekleidungseinfuhren etwa 82,6 Milliarden Dollar18. Großbritannien importierte im Jahr 2017 ungefähr 92,4 Prozent seines gesamten Textilabsatzes19. In der EU gelang es lediglich Italien, sich diesem Trend zu entziehen – die Marke »Made in Italy« steht nach wie vor für Qualität und gilt vor allem im Luxussegment der Modebranche als schick.

Gelegentlich tauchte der ein oder andere Skandal in den Schlagzeilen auf. Im Sommer 2012 stand Ralph Lauren in der Kritik, nachdem bekannt geworden war, dass er die von ihm entworfenen Anzüge für das US-amerikanische Olympiateam in China fertigen ließ20. Forbes nannte dies »ein veritables PR-Desaster«. Harry Reid, ein Demokrat aus Nevada und Mehrheitsführer im US-Senat, sagte daraufhin, dass die USA die Anzüge »verbrennen« sollte. John Boehner, Sprecher des Repräsentantenhauses und Republikaner aus Ohio, klagte an, dass Ralph Lauren und seine Führungskräfte »es besser hätten wissen müssen«.

Was in den Umfragen zwar Wellen schlug, ließ die Verbraucher aber ziemlich kalt. Wie Lauren war auch ihnen klar, dass die Kostenfrage wichtiger ist als alles andere.

Einer Umfrage im Jahr 2016 zufolge gaben 67 Prozent der Befragten an, dass sie, wenn sie sich zwischen einer 45-Euro-Hose aus dem Ausland oder einer 75 Euro teuren Hose aus heimischer Herstellung entscheiden müssten, die billige wählen würden. Diese Antwort gaben sogar diejenigen, deren jährliches Haushaltseinkommen über 90 000 Euro lag.21

Die Fast Fashion-Revolution hat sich als lukrativ für beinahe die gesamte Industrie erwiesen: 2018 waren fünf der 55 reichsten Personen der Welt Inhaber von Modemarken – die drei Waltons von Walmart nicht mitgerechnet.22

Die nächsten Opfer des Fast Fashion-Zeitalters waren die Menschenrechte in den Entwicklungsländern – und sind es nach wie vor. Weltweit arbeitet jeder sechste Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie23, und damit ist sie der größte Arbeitgeber der Welt, noch vor der Landwirtschaft und der Rüstungsindustrie. Dabei bekommen jedoch weniger als 2 Prozent aller Beschäftigten ein Gehalt oberhalb des Existenzminimums24.

Die meisten Beschäftigten in der Bekleidungsindustrie sind Frauen, aber auch Kinder arbeiten in den Fabriken. 2016 kam ans Licht, dass H&M, Next sowie Esprit Kleidung von Subunternehmern in der Türkei fertigen ließen, die syrische Flüchtlingskinder beschäftigten. (Die Marken erklärten, die Missstände beendet zu haben.) Manche Fabriken sind in einem derart desaströsen Zustand, dass Brände und, schlimmer noch, Einstürze an der Tagesordnung sind. Wegen der ungeheuer schlechten Bezahlung sehen sich die meisten Arbeiter gezwungen, zusätzlich anderen, weniger ehrenwerten Beschäftigungen nachzugehen, um über die Runden zu kommen.

»In Sri Lanka trafen wir eine Arbeiterin mit Zahnschmerzen. Da sie von ihrem Lohn niemals einen Zahnarzt hätte zahlen können, musste sie einen Kredit aufnehmen«, erzählte ein NGO-Mitarbeiter vor einem vollen Saal während der SOCAP17-Konferenz in San Francisco, die sich »der Beschleunigung eines neuen globalen Marktes an der Schnittstelle zwischen Geld und Sinn verschrieben hat«.

»Da sie den Kredit nicht zurückzahlen konnte«, fuhr der Sprecher fort, »musste sie ihren Körper verkaufen, um das nötige Geld aufzutreiben. Und das alles neben ihrer Tätigkeit als Näherin von Kleidung, die Sie und ich tragen und die von einer bekannte Marke hergestellt wird.«

Das dritte Opfer ist die Erde. Die Entwicklung in der Modebranche und ihre Profitsucht haben in jeder Hinsicht zur Umweltzerstörung geführt. Schätzungen der Weltbank zufolge gehen fast 20 Prozent der weltweiten jährlichen Gewässerverschmutzung25 und 10 Prozent der CO2-Emissionen auf das Konto der Modebranche: Die Produktion von einem Kilogramm Kleidung geht mit der Freisetzung von 23 Kilogramm Klimagasen einher.26

Die Modeindustrie verschlingt ein Viertel der weltweit produzierten Menge an Chemikalien27. Für die Herstellung eines einzigen Baumwoll-T-Shirts werden gut 150 Gramm synthetische Düngemittel und 25,3 Kilowattstunden elektrische Energie benötigt28, und für den Anbau der benötigten Baumwolle bis zu 2700 Liter Wasser, so der WWF (World Wildlife Fund)29.

Beim Waschen von synthetischen Stoffen, sowohl zu Hause als auch in der Fabrik, gelangen Mikrofasern ins Abwasser30. Bis zu 40 Prozent dieses Abwassers gelangen in Flüsse, Seen und Ozeane, werden dort von Fischen und Weichtieren aufgenommen und landen über die Nahrungskette auf unserem Teller, wie Forscher der Universität von Kalifornien in Santa Barbara 2016 berichteten. Im gleichen Jahr enthielten 90 Prozent aller 2000 von der Global Microplastics Initiative untersuchten Süß- und Meerwasserproben Mikrofasern. 2017 entdeckte Greenpeace sogar Mikrofasern in antarktischen Gewässern.

Von den mehr als 100 Milliarden Kleidungsstücken, die alljährlich produziert werden, werden 20 Prozent nicht verkauft – der Müll des »Skaleneffekts«31. In der Regel werden diese Überbleibsel entsorgt, zerkleinert oder verbrannt, wie die Luxusmarke Burberry 2018 peinlich berührt eingestand.

In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat sich die Menge an Kleidungsstücken, welche die Amerikaner wegwerfen, verdoppelt: von 7 Millionen auf 14 Millionen Tonnen. Das entspricht 36 Kilogramm pro Person pro Jahr32. Die Europäer bringen es zusammen auf 5,8 Millionen Tonnen pro Jahr33. Weltweit trennen sich die Verbraucher von insgesamt 2,1 Milliarden Tonnen von Altkleidung. Das meiste davon wird nach Afrika verschifft, mit der Begründung, dass der ärmste Kontinent dringend kostenlose Kleidung braucht. 2017 berichtete das US-amerikanische Ministerium für Entwicklungshilfe, dass die Ostafrikanische Gemeinschaft (EAC), ein Zusammenschluss der ostafrikanischen Staaten Kenia, Uganda, Tansania, Burundi, Ruanda und Südsudan, jährlich Altkleidung in Wert von 274 Millionen Dollar importiert34. Allein Kenia führt jedes Jahr 100 000 Tonnen ein35. Ein Teil davon wird in Secondhandläden zu Schnäppchenpreisen verkauft – am Gikomba Market in Nairobi gibt es eine Jeans beispielsweise für umgerechnet 1,30 Euro. Nur hat unsere Gier nach Mode ihren Preis: Um den weiteren Niedergang der afrikanischen Bekleidungsindustrie zu verhindern, einigten sich die EAC-Staaten 2016 auf ein dreijähriges Importverbot für Altkleidung. In Reaktion drohte die Trump-Administration den EAC-Ländern 2018 mit einem Handelskrieg, da das Verbot ihrer Meinung nach 40 000 Amerikaner den Job kosten würde. Schließlich gaben die EAC-Staaten nach – außer Ruanda, das sich anschließend weiteren Drohungen von amerikanischer Seite ausgesetzt sah36.

Und was passiert mit dem restlichen Produktionsüberschuss?

Der landet auf der Mülldeponie.

Die US-amerikanische Umweltschutzbehörde EPA berichtete, dass die Amerikaner im Jahr 2015 10,5 Millionen Tonnen Textilien, überwiegend Kleidungsstücke, in den Müll steckten37. (Seit Donald Trumps Amtsantritt als Präsident hat die Behörde noch keine aktuellen Zahlen vorgelegt.) In Großbritannien werden alle fünf Minuten 9513 Kleidungsstücke entsorgt38; Textilien zählen zum am schnellsten wachsenden Abfallberg des Landes39. Die meisten Kleidungsstücke enthalten synthetische Fasern, die in den meisten Fällen nicht biologisch abbaubar sind. So wie im Falle der Zara-Jacke von Frau Trump enthalten die zersetzten Stoffe Chemikalien, die in den Boden und das Grundwasser gelangen.

Einige Marken proben die Wende. So schaltete der umweltbewusste amerikanische Outdoor-Ausrüster Patagonia am sogenannten Black Friday 2011, dem Tag nach Thanksgiving, der traditionell den Beginn der Weihnachtssaison einläutet, eine ganzseitige Anzeige in der New York Times, in der eine Fleecejacke mit Reißverschluss mit dem Text »Kauft diese Jacke nicht!« zu sehen war. In der Anzeige hieß es, die Herstellung der Jacke würde »135 Liter Trinkwasser verschlingen, was dem täglichen Bedarf (drei Gläser pro Tag) von 45 Menschen entspricht, einen CO2-Ausstoß von beinahe 900 Kilogramm erzeugen und zwei Drittel ihres Gewichts als Müll verursachen.  … Die Kosten dieser Jacke für die Umwelt übersteigen ihren Preis.« (Und das war vor der Entdeckung von Mikrofasern in unseren Gewässern.) »Deshalb unsere Bitte: Kaufen Sie weniger und überlegen Sie gut, ob Sie Geld für diese Jacke oder etwas anderes ausgeben wollen.«

Die Aktion ging um die Welt, aber die Botschaft, welche sie enthielt, traf auf taube Ohren. Wie der US-amerikanische Einzelhandelsverband berichtete, kauften die Amerikaner in jenen vier Tagen für eine Rekordsumme von über 52,4 Milliarden Dollar ein, eine Steigerung von 16 Prozent gegenüber 2010.40

»Es ist mir wirklich egal, und euch?«

Im alten Griechenland bedeutete das Wort Polis »Stadt«. In seinem Dialog mit Sokrates bringt der griechische Philosoph Platon hervor, dass eine ideale Polis vier Grundtugenden umfasst: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Fallen all diese Tugenden zusammen, erreicht eine Stadt eine perfekte Egalität – eine »gerechte Stadt«.

Im 18. Jahrhundert war die englische Stadt Manchester die Geburtsstätte der Industriellen Revolution und der Bekleidungsindustrie, wie wir sie heute kennen. Wegen ihres enormen Produktionsvolumens bekannt geworden, entwickelte sich »Cottonopolis«, wie die Stadt genannt wurde, zum weltweit ersten Industriezentrum, in dem Industriemagnaten ganze Arbeiterbataillone wie Sklaven beschäftigten.

Wie schädlich eine solche soziale und wirtschaftliche Schieflage ist, zeigte der deutsche expressionistische Filmemacher Fritz Lang ein Jahrhundert später in seinem Stummfilm Metropolis. Der monumentale Science-Fiction-Film zeichnet eine Schreckensvision einer Zukunft, in der eine Unterschicht in düsteren unterirdischen Fabriken zugunsten des Profits einer glücklichen Minderheit in glänzenden Wolkenkratzern malocht. Unsere Technologie hat sich weiterentwickelt, unser Ethos aber nicht.

Cottonopolis und Metropolis verkörperten zu ihrer Zeit einen Kapitalismus, der nur eines kannte: Profitgier. Im heutigen »Fashionopolis« sehen wir Manchester und Lang in globalem Maßstab.

Die Geschichte der Bekleidungsindustrie ist zwar düster, aber das war sie nicht immer. Mitte des vergangenen Jahrhunderts gab es eine kurze Zeit, in der die Bekleidungsindustrie einiges richtig machte – als die Menschen wussten, wer ihre Kleidungsstücke schneiderte und nähte. Alle gingen zur gleichen Kirche, die Kinder gingen zur gleichen Schule oder waren sogar miteinander verwandt. Natürlich ging es nicht immer nur gerecht zu, aber gerechter als heute. Denn die damalige Nähe sorgt dafür, dass die Verbraucher nicht wegsahen. Das ist heute anders.

Wir bilden uns ein, gebildeter, egalitärer, menschlicher als unsere Vorfahren zu sein. Erleuchteter. Es kann sicher nicht schädlich sein, uns T-Shirts für knapp 4 Euro und Jeans für 15 Euro anzuschaffen. Im Gegenteil, denn schließlich bieten wir den Ärmsten aller Armen am anderen Ende der Welt doch gute Arbeitsplätze. Nachdem ich dort diverse Fabriken besucht und mit zahlreichen Arbeitern gesprochen habe, kann ich sagen, dass dies keineswegs der Wirklichkeit entspricht.

Dennoch erfuhr ich in dieser Zeit auch einiges, das mich hoffnungsfroh stimmte. Dank der Herkulesarbeit von mutigen Anwälten, Designern, Unternehmern, Vordenkern, Investoren und Händlern und der ungeheuchelten Nachfrage einer wachsenden Generation von gewissenhaften Verbrauchern, sieht sich die Bekleidungsindustrie gezwungen, den Weg zu einem Wertesystem mit Grundsätzen einzuschlagen.

Weltweit verwandeln Visionäre das bestehende Geschäftsmodell um in eines, das von »Hyperlokalismus« in ländlichen Gegenden wie dem Süden der USA beherrscht wird. Es erfolgt eine Rückkehr der (intelligenteren) Fertigung nach New York, Los Angeles und auch nach Europa sowie ein sauberer Herstellungsprozess von Denim – von Baumwollanbau bis hin zu den Produktionsstätten. Ein ganzheitliches Verständnis wird sich von Luxusbekleidung durch alle Ebenen der Modebranche hindurchziehen – von den Laufstegen in Paris zu den Händlern im Internet. Wir werden wissenschaftliche Durchbrüche, die wirklich wiederverwendbare Stoffe kreieren, sehen und technologische Fortschritte, welche die heutigen Fertigungsprozesse radikal ändern werden. Und wir sind auf dem Weg zu einem umfassenden, schnellen Umdenken darüber, was wir kaufen und was wir tragen.

Vor über einem Jahrzehnt spornten uns die Slow Food- und Naturkost­bewegung dazu an, uns mehr darüber zu informieren, was wir essen, und über die Folgen der Industrialisierung unserer Lebensmittelproduktion nachzudenken. In der Modeindustrie fand Gleiches bislang nicht in einem solchen Ausmaß statt. Noch nicht.

Wie bei dem Streben nach mehr Nachhaltigkeit in der Lebensmittelproduktion, ist es auch das Bestreben der Mode-Erneuerer, Rohstoffbeschaffung und Produktion menschlicher zu machen – modern und verträglich. Dabei sind sich viele einig, dass die Lösung in einem vertikal integrierten System liegt, bei dem der ganze Prozess an einem Standort stattfindet. Somit würden sich die Schwierigkeiten, die mit einer weltumspannenden, intransparenten Lieferkette einhergehen, vermeiden lassen. Die Fashionopolis der Zukunft kann gut und womöglich sogar gerecht werden.

Und darin spielen wir als Verbraucher eine Schlüsselrolle. Es wird Zeit, auch beim Einkaufen den Verstand einzuschalten und zu überlegen, was wir da gerade tun, sowohl kulturell als auch ideell. Wer den Wandel vorantreiben will, muss verstehen, wie der heutige Zustand entstanden ist.

Lassen Sie uns daher einen Blick auf das werfen, was sich Fashionopolis nennt.

Erst dann können wir einiges besser machen.

Wenn wir uns die Frage stellen: »Was ziehe ich heute an?«, sollten wir in der Lage sein, sachkundig und mit ein wenig Stolz zu antworten.

Lange Zeit war uns Kleidung irgendwie gleichgültig, doch wir können uns auch mit Bedacht ankleiden.

Es ist höchste Zeit, die Gleichgültigkeit abzulegen.

1 »Inditex’s Net Sales Rise 9 Percent to €25.34 Billion in Fiscal 2017«, Inditex, 14. März 2018, https://www.inditex.com/article?articleId=552792

2 Inditex Annual Report, 2017, S. 16, https://static.inditex.com/annual_report_2017/assets/pdf/memoria_en.pdf

3 Gabriella Pailla: »Is Melania’s Infamous Zara Jacket a Ripoff of Another Designer?« The Cut, 22. Juni 2018, https://www.thecut.com/2018/06/melanias-zara-jacket-r13-ripoff.html

4 Chase Peterson-Withorn: »The Full List of Every American Billionaire 2016«, Forbes, 1. März 2016, https://www.forbes.com/sites/chasewithorn/2016/03/01/the-full-list-of-every-american-billionaire-2016/

5 »The Deadly Chemicals in Cotton«, Environmental Justice Foundation, 2007, http://www.cottoncampaign.org/uploads/3/9/4/7/39474145/2007_ejf_deadlychemicalsincotton.pdf

6 Virginia Woolf: Orlando – die Geschichte eines Lebens, Insel-Verlag, Leipzig, 1929

7 »Brick by Brick: The State of the Shopping Center«, Nielson, 17. Mai 2013, https://www.nielsen.com/us/en/insights/reports/2013/brick-by-brick-the-state-of-the-shopping-center.html

8 Alexandra Schwartz: »Rent the Runway Wants to Lend You Your Look«, New Yorker, 22. Oktober 2018, https://www.newyorker.com/magazine/2018/10/22/rent-the-runway-wants-to-lend-you-your-look

9 Andrew Morgan: The True Cost, Dokumentarfilm (Life Is My Movie Entertainment, 2015)

10 John Kerr und John Landry: »The Pulse of the Fashion Industry«, Boston Consulting Group und Global Fashion Agenda, Mai 2017, S. 8

11 Claire Press: »Why the Fashion Industry Is Out of Control«, Australian Financial Review, 23. April 2016, https://www.afr.com/lifestyle/fashion/why-the-fashion-industry-is-out-of-control-20160419-goa5ic

12 Dilys Williams, Interview mit der Autorin, London, 16. Dezember 2016

13 Stephanie Vatz: »Why America Stopped Making Its Own Clothes«, KQED News, 24. Mai 2013, https://www.kqed.org/lowdown/7939/madeinamerica

14 Schwartz: »Rent the Runway«

15 Stephanie Clifford: »U.S. Textile Plants Return, With Floors Largely Empty of People«, New York Times, 12. September 2013, https://www.nytimes.com/2013/09/20/business/us-textile-factories-return.html

16 Kate Abnett: »Does Reshoring Fashion Manufacturing Make Sense?« Business of Fashion, 9. März 2016, https://www.businessoffashion.com/articles/intelligence/can-fashion-manufacturing-come-home

17 »Global Fashion Statistics— International Apparel«, Fashion United, 2018

18 »Value of the U.S. Apparel Trade Worldwide from 2007 to 2017«, Statista, o. D., https://www.statista.com/statistics/242290/value-of-the-us-apparel-trade-worldwide/

19 UK Fashion und Textiles Association, per E-Mail, 4. März 2019

20 Steve Denning: »Why Are the US Olympic Uniforms Being Made in China?«, Forbes, 23. Juli 2012, https://www.forbes.com/sites/stevedenning/2012/07/23/why-are-the-us-olympic-uniforms-being-made-in-china

21 Diana Verde Nieto: »What Does ›Made in America‹ Luxury Really Look Like?«, Luxury Society, 20. März 2017, https://www.luxurysociety.com/en/articles/2017/03/what-does-made-america-luxury-really-look/

22 Luisa Kroll und Kerry Dolan: »Meet the Members of the ThreeComma Club«, Forbes, 6. März 2018, https://www.forbes.com/billionaires/#720a681d251c

23 Morgan: The True Cost

24 Maxine Bédat und Michael Shank: »There Is a Major Climate Issue Hiding in Your Closet: Fast Fashion«, Fast Company, 11. November 2016, https://www.fastcompany.com/3065532/there-is-a-major-climate-issue-hiding-in-your-closet-fast-fashion

25 Julia Jacobo: »How Sustainable Brands Are Turning Their Backs on Fast Fashion Trend«, ABC News, 13. September 2016, https://abcnews.go.com/US/sustainable-brands-turning-backs-fast-fashion-trend/story?id=39590457

26 Nathalie Remy, Eveline Speelman und Steven Swartz: »Style That’s Sustainable: A New Fast-Fashion Formula«, McKinsey & Company, Oktober 2016

27 Kate Abnett: »Three Years After Rana Plaza, Has Anything Changed?«, Business of Fashion, 19. April 2016, https://www.businessoffashion.com/community/voices/discussions/can-fashion-industry-become-sustainable/-years-on-from-rana-plaza-has-anything-changed-sustainability-safety-worker-welfare

28 Marianna Kerppola et al.: »H&M’s Global Supply Chain Management Sustainability: Factories and Fast Fashion«, University of Michigan, 8. Februar 2014

29 »The Impact of a Cotton T-Shirt«, World Wildlife Fund, 16. Januar 2013, https://www.worldwildlife.org/stories/the-impact-of-a-cotton-t-shirt

30 Echo Huang: »The Once Pristine Waters of Antarctica Now Contain Plastic Fibers«, Quartz, 7. Juni 2018, https://qz.com/1299485/antarcticas-waters-now-contain-plastic-fbers/

31 Alexandra Schwartz: »Rent the Runway«

32 Alden Wicker: »Fast Fashion Is Creating an Environmental Crisis«, Newsweek, 1. September 2016, https://www.newsweek.com/2016/09/09/old-clothes-fashion-waste-crisis-494824.html

33 Kerr und Landry: »Pulse of the Fashion Industry«, S. 12

34 »Overview of the Used Clothing Market in East Africa«, United States Agency for International Development, Juli 2017

35 »Global Business of Secondhand Clothes Thrive in Africa«, Africa News, 26. April 2018, https://www.africanews.com/2018/04/26/global-business-of-secondhand-clothes-thrive-in-africa-business-africa/

36 Abdi Latif Dahir und Yomi Kazeem: »Trump’s >Trade War< Includes Punishing Africans for Refusing Second-hand American Clothes«, Quartz Africa, 5. April 2018, https://qz.com/africa/1245015/trump-trade-war-us-suspends-rwanda-agoa-eligibility-over-secondhand-clothes-ban/

37 »Textiles: Material-Specifc Data«, epa.gov., o. D.

38 Press, »Why the Fashion Industry Is Out of Control«

39 Anat Keinan und Sandrine Crener: »Stella McCartney«, Harvard Business School, 22. November 2016

40 Jessica Dickler: »Black Friday Weekend: Record $52.4 Billion Spent«, CNN Money, 27. November 2011, https://money.cnn.com/2011/11/27/pf/black_friday/index.htm

Teil 1

EinsPrêt-à-porter

Am dritten Abend der 71. Ausgabe der Filmfestspiele in Cannes im Mai 2018 schwebte die australische Schauspielerin und Jury-Vorsitzende Cate Blanchett in einem atemberaubenden ärmellosen Ballonkleid über den roten Teppich. Das üppige Blumenmuster begann auf dem Oberteil als schwarz-weiße Strichzeichnungen, die sich schließlich im unteren Bereich farbenfroh entfalteten. Ausnehmend schön ausgeführt hat dieses gewagte, komplizierte Kleid Mary Katrantzou, eine griechischstämmige, in London wohnhafte Damenmode­designerin, von der die meisten Menschen noch nie etwas gehört, aber eventuell schon einmal eine Kopie eines ihrer Designs getragen haben.

Katrantzou zählt zu jenen Talenten, die mit ihrer Kreativität die Fashionopolis-Maschine befeuern: Die originellen Schnitte, die sie sich in ihrem kleinen Atelier in London ausdenkt, werden ausschließlich in limitierten Stückzahlen hergestellt und in Luxusboutiquen in einigen Großstädten dieser Welt verkauft. Sie steht an der Spitze der Modepyramide, dem Platz, an dem sich auch Guccis Chefdesigner Alessandro Michele, Louis Vuittons Menswear-­Designer Virgil Abloh, Givenchy-Designerin Clare Waight Keller und andere Haute-Couture-Designer befinden. Die Mode, die Katrantzou und ihre Designerkollegen entwerfen, werden von Fast Fashion-Labels kopiert und in Filialen der Ketten zu Billigpreisen feilgeboten – dies ist die Masse, welche die breite Basis der Pyramide bildet. Mit den Billigkopien machen diejenigen, die sie verkaufen, groß Kasse. Katrantzou jedoch profitiert in keinster Weise von diesem unerlaubten globalen Geschäft mit ihrer Arbeit: kein Geld, kein Ruhm, keine Anerkennung für sie als Trendsetterin und für ihren Beitrag zum Mode-Dialog. Sie macht die Arbeit, andere den Profit, und wir alle tragen es. Klingt unfair? Das ist es auch. Nur dieser sogenannte Trickle-down-Effekt (Pferdeäpfel-Effekt), den Meryl Streep in der »plumpen blauen Pullover«-Szene des Kinofilms Der Teufel trägt Prada erklärt, zeigt genau, wie die Modeindustrie funktioniert.

Eher unspektakulär nimmt das Ganze seinen Anfang in einer ziemlich nüchternen halbjährlich stattfindenden Fachmesse namens Première Vision Paris, die etwas außerhalb von Paris, nahe dem Flughafen Charles de Gaulle, veranstaltet wird. An drei Tagen im Februar und September wird in den Messehallen in Villepinte die weltgrößte Auswahl an Stoffen und Textildesigns, Lederwaren, Accessoires und Fertigungsinnovationen an einem Ort gezeigt. Dort treffen sich mehr als 60 000 Vertreter der Bekleidungsindustrie aus 120 Ländern, um einzukaufen. Für die Auflage im Februar 2019 hatten sich 1900 Aussteller gemeldet. Eine der Hallen ist Garnen, Stoffen und Einkaufslösungen gewidmet, eine andere Designs und weiteren Stoffen – insgesamt 20 000 verschiedenen. In einer dritten Halle dreht sich alles um Leder – es gibt 10 000 verschiedene Sorten. Eine weitere Halle widmet sich Accessoires. Die endlosen Reihen von grauen Verkaufsständen werden lediglich von In­stallationen unterbrochen, welche die Saisontrends von Garnherstellern oder Farbproduzenten wie Pantone beleuchten, sowie von einem Heer von auf Trendforschung spezialisierten Beratern. Die Première Vision ist der Ort, an dem sich die Konturen der neuen Saison einer jeden großen – und auch kleinen – Modemarke abzuzeichnen beginnen.

Im Winter 2018 begleitete ich Katrantzous Stoffexpertin Raffaella Mandriota1, eine 27-jährige Italienerin und Heavy-Metal-Fan mit einem Faible für Schuhwerk von Maison Margiela Tabi, auf ihre zweitägige Entdeckungsreise durch die Hallen der Première Vision – im Modejargon »PV« genannt. Sie war auf der Suche nach Artikeln für die Frühjahrs- und Sommerkollektion 2019, die neun Monate später auf dem Laufsteg in London präsentiert werden würde.

Ihren ersten Stopp machte sie bei Canepa, dem renommierten Stofffabrikanten aus Italien, der zu ihren festen Lieferanten zählt. Nach einer schnellen Begrüßung und einem Espresso flitzte sie vorbei an Regalen voller Jacquards, Prints und festen Stoffen, betrachtete sie kurz, manchmal nur für einen Sekundenbruchteil, und berührte sie, um die Textur und Biegsamkeit zu erfassen. Wenn sie einen Stoff für geeignet hielt, zog sie ihn heraus und legte ihn auf ihren Stoß – auf ihre »Auswahl« – auf dem Tisch. Als sie nach maximal 10 Minuten fertig war, nahm ein Firmenmitarbeiter ihre Bestellung auf.

Mandriota macht dies zwölf-, 13-mal pro Tag auf der PV, was auch ihren Kaffeekonsum erklärt; ihre To-do-Liste war extrem lang. Es zeichneten sich bereits einige Trends ab – natürliche Farbstoffe, Seersucker, bonbonähnliche Farben, Lurex, Hanf, changierende Seidenstoffe –, aber Mandriotas Auswahl hatte eine große Bandbreite: orangefarbener Ausbrenner auf schwarzem Chiffon, leuchtend gelbgrüne Viskose, weißes Waffelgewebe aus Polyester, mit Inkjet bedruckte graue Seide mit einem Wolkenhimmel, marineblaue, schwarze und grüne plissierte Seide im Fortuny-Stil mit grünen und blauen Korallenmotiven. »Herrlich, die hier«, sagte sie, als sie das Stoffmuster mit den Korallen auf ihren Stapel legte. »Mary liebt Plissier.«

Mandriota agierte sehr budgetbewusst. »Chinesische Seide ist sehr teuer geworden«, erzählte sie mir. »Allein in dieser Saison hatte sie einen Aufschlag von 20 Prozent. Die Nachfrage im eigenen Land ist stark angestiegen, also wird weniger exportiert. Und die Umweltverschmutzung rafft die Kokons der Seidenraupen dahin.«

Während der Jagd überschüttete Mandriota ihre potenziellen Lieferanten mit Fragen: »Gibt es eine Mindestbestellmenge?«, »Habt ihr biologisch oder nachhaltig produzierte Ware?«, »Sind noch andere Farbkombinationen verfügbar?«, »Lässt sich dieser Stoff bedrucken?«, »Lässt sich die Wolle prägen?«, »Können Sie Marys Entwurf mit der gleichen Jacquard-Technik machen?« Während der beiden Tage auf der Première Vision, an denen wir jeweils zehn Stunden unterwegs waren, bestellte sie mindestens 1000 Muster.

Sechs Wochen später trudelten die ersten Muster im Atelier von Mary Katrantzou in einem Vorkriegsloft in Islington ein. Sie und ihre Assistenten führten eine erste Bewertung aus, dann eine zweite und so weiter, bis das Ganze auf eine beherrschbare Menge geschrumpft war, mit der sich die Geschichte der kommenden Saison erzählen lassen würde.

Katrantzou, eine hellenistische Schönheit mit dunkelbraunen Augen und dunklen Haaren, die bis zu ihren Ellbogen reichen, wurde 1983 als Tochter einer Einzelhändlerfamilie in Athen geboren2:

Ihr Großvater gründete Katrantzou Spor, das sich zum größten Warenhaus der Stadt entwickelte, bevor es während der politischen Unruhen in den 1970ern bis auf die Grundmauern niederbrannte. Ihr Vater war in der Sicherheitsbranche tätig, und ihre Mutter betrieb ein Einrichtungsgeschäft sowie eine Möbelfabrik.

2003 zog Katrantzou in die USA, um an der Rhode Island School of Design in Providence Innenarchitektur zu studieren. Auf halber Strecke ihres zweiten Jahres siedelte sie als Austauschstudentin nach London um und studierte dort Textil- und Interior Design am Central Saint Martins College of Art and Design. »Ich liebte die Idee von mit Textilien verkleideten Oberflächen«, erzählte sie mir. »Es hat eine Unmittelbarkeit, die ich im Architekturstudium vergeblich gesucht habe.«

Begeistert beschließt sie zu bleiben und macht den Bachelor in Textildesign und den Master in Mode mit dem Schwerpunkt Prints. Ausgerechnet zu dem Zeitpunkt, als der eher handwerkliche Siebdruckprozess – bei dem ein Stück Stoff (ursprünglich Seide) mit einem Motiv bedruckt wird, indem man es auf einen Holzrahmen spannt und die Farbe mit einer Rakel durch das Gewebe streicht – im Begriff ist, von einem volldigitalisierten Prozess abgelöst zu werden. Für die Abschlussausstellung im Rahmen ihrer Masterarbeit im Februar 2008 hatte Katrantzou zehn vollkommen identische Kleider mit überdimensionalen Schmuckmotiven in Trompe-l’œil-Stil bedruckt3, und seitdem sind Prints von stark vergrößerten Alltagsgegenständen zu ihrem Leitmotiv geworden. Mit finanzieller Unterstützung des NEWGEN-Fonds des British Fashion Council zur Förderung von talentierten Modedesignern lancierte sie während der Londoner Modewoche im September jenes Jahres ihr erstes eigenes Label, mit dem sie sofort die Aufmerksamkeit einiger einflussreicher Einzelhändler wie Browns in London, Joyce in Hongkong oder Colette in Paris auf sich zog.

2011 gewann Katrantzou den britischen Fashion Award in der Kategorie Nachwuchstalente Damenmode. Sie wurde den hochgesteckten Erwartungen gerecht – sogar so sehr, dass sie Anfang 2018 einen Firmenanteil an die in Hongkong ansässige Yu Holdings, einem Start-up-Fonds der ambitionierten, erst 27-jährigen chinesischen Mode- und Technologie-Investorin Wendy Yu, verkaufte4. (Wochen später kündigte Yu an, ihre Firma würde auch die Kosten für die Stelle des leitenden Museumsdirektors des Metropolitan Museum of Art’s Costume Institute übernehmen.5) Die Geldspritze für Katrantzous Firma betrug beinahe 20 Millionen Dollar6 – Geld für die Weiterentwicklung der Marke. »Ich bin der Meinung, dass Mary sich in den kommenden zehn bis 20 Jahren zu einer globalen Lifestyle-Marke entwickeln kann«, sagte Yu.

Die Kollektion für das zehnte Jubiläumsjahr sollte, so Katrantzou, eine Art »Best of« werden – was bedeutete, dass sie die früheren Printmuster und Umrisse überarbeiten würde, um sie etwas moderner und reifer wirken zu lassen. Bei den Themen entschied sie sich für mundgeblasene Parfumfläschen, alte Briefmarken, Naturobjekte wie Insekten, Schmetterlinge und Muscheln sowie Kunst. Bei einigen der Stofflieferanten fragte Mandriota an, die Jacquardmuster, die sie während der »PV« ausgesucht hatte, für Katrantzous neue Printdesigns zu überarbeiten.

Anfang Mai sah sich Katrantzou die überarbeiteten Muster zusammen mit Mandriota und Gregory Amore, dem Leiter der Abteilung Damenmode, an einem Holztisch von IKEA an. Ein Jacquard, ein steppdeckenähnlicher Brokat des italienischen Stofffabrikanten Ostinelli Seta, wurde für die Chrysanthemen in unscharfen Blautönen vorgeschlagen. Mit gleichem Stoff und gleicher Technik ersetzte Katrantzou die Blumen durch eine von ihr selbst entworfene Kollage: Berge von Edelsteinen, Weihnachtskugeln und Perlenketten, wie aus der Schatztruhe eines Piraten, auf einem Bett von Korallen in den Farbschattierungen orange, azurblau, altgold und weiß-irisierend.

Um zu sehen, wie die kräftigen Stoffe die Farbe aufnahmen, lagen Katrantzou Popelin-Schnipsel aus Baumwoll-Stretch verschiedener Stofffabrikanten vor, die kundenspezifisch gefärbt oder mit Pantone-Farbtönen »lab dipped«, waren – sie entschied sich für Sandbeige, Tiffany-Blau und Sonnengelb. Richtig begeistert war sie vom ersten Versuch allerdings nicht: Die Farbtöne wirkten ein wenig stumpf, als wären sie mit schmutzigem Spülwasser abgespült worden. Für einen anderen Stoff eines anderen Herstellers konnte sie sich aber sofort erwärmen: Die Farben wirkten echter, und die Stoffqualität war deutlich besser. »Alles an diesem Stoff fühlt sich leichter, aber auch etwas dicker an«, sagte sie, als sie eines der Muster mit der Hand berührte. »Es fühlt sich sehr fest an.«

»Es ist edler «, sagte Mandriota.

»Kostet aber das Doppelte«, erwiderte Katrantzou.

»Ja.«

Als die endgültigen Stoffe eintrafen, zog Katrantzou einige Muster heraus, um sie zum Einsticken nach Mumbai zu schicken. (Da Handarbeit in Indien nach wie vor hoch angesehen ist, ist das Land auch heute noch ein Zentrum für handgefertigte Verzierungen.) Musterkleider wurden entweder im hauseigenen Atelier oder von einer Vertragsfabrik angefertigt – sie vertraut auf zwei Fabriken in Italien, eine in Portugal und drei kleine, familiengeführte Werkstätten in Großbritannien, die Kleinserien von 20 bis 50 Stück herstellen. Sechs Wochen lang probierte ihr langjähriges Hausmodel Julia, eine langbeinige Blondine aus Schweden, die Ergebnisse an. »Julia hat ein gutes Gespür für Ästhetik«, sagte Katrantzou. »Sie versteht etwas von Passformen und berät uns.«

Ende Juni, während der Herrenmode-Woche in Paris, stellte Katrantzou ihre fertige »Vorkollektion«, die eine etwas kommerziellere Handschrift trägt, lokalen Einzelhändlern in einem angemieteten Verkaufsraum vor. (Potenzielle Käufer besuchen die Herrenmodenschauen und Damen-Vorkollektionen während der gleichen Dienstreise.) Der Raum im herrlichen Pariser Belle-Époque-Stil befand sich in einer einstöckigen Etagenwohnung mit patinierten Eichenholz-Täfelungen, Fischgrätparkett und Bogenfenstern und bot einen Blick auf den Place des Victoires. Die gefertigten Kleidungsstücke, die an Kleider­ständern hingen und von den Models zwanglos präsentiert wurden, waren farbenprächtig und verführerisch. Die Einzelhändler prüften sie bedachtsam und gaben ihre Bestellungen bei Kaffee und Petits Fours an kleinen Tischen ab. Katrantzou gesellte sich zu ihnen und lauschte ihren Meinungen und Beobachtungen. Manchmal nahm sie sich ihren Rat so sehr zu Herzen, dass sie ihre Entwürfe sogar noch etwas anpasste.

Die auffälligsten Stücke, die auch fotografisch am meisten hermachten – wie jene, die Blanchett in Cannes trug –, bewahrte Katrantzou für ihre »Schau-Kollektion« auf, die sie während der London Fashion Week im September präsentierte. Pünktlich um 20 Uhr an jenem Samstagabend fanden sich die Einzelhändler, Redakteure, Blogger und andere Schreiberlinge im Roundhouse, einer Location für Rockkonzerte im Londoner Norden, ein, um der Schau beizuwohnen. Nacheinander betraten 35 Models langsam den Laufsteg und gingen im Kreis umher. Musikalisch begleitet wurden sie von himmlischen Tönen, die Katrantzous Freund, Landsmann, Oskar-Preisträger und Elektro-Jazz-Komponist Vangelis speziell für sie komponiert und eingespielt hatte. Als die Models vorbeikamen, erkannte ich einige Materialien, die Mandriota während der »PV« ausgesucht hatte: Organza-Stoff für todschicke Alltagskleider, auf den das Briefmarkenmotiv gedruckt war, sowie ein feiner, durchsichtiger Kunststoff, den Mandriota in Japan in geometrischen Schichten hatte plissieren lassen, und ein weißer, mit kaskadenförmig angeordneten Wildblumen bestickter Tüllrock für ein romantisches Trapez-Midi-Kleid. Das Publikum jubelte, als Katrantzou den Laufsteg betrat und sich verbeugte. Am Morgen danach überschlugen sich die Kommentare vor Begeisterung. So schrieb Vogue.com: »Eine laufende Wunderkammer von einer Kollektion«7, und die The New York Times: »opulente Mosaiken aus Print und polygonen Formen«.8Women’s Wear Daily hielt fest: »Ein Vergnügen«, vor allem die »fantastischen Stücke« wie das »schimmernde, bodenlange Kleid mit einer aus Pailletten aufgenähten Parfümflasche auf der Vorderseite« und »wallende, mit berühmten Kunstwerken bedruckte Nylonkleider …«9

Bereits vor der Veröffentlichung all dieser Kritiken hatten Katrantzous Schaugäste Fotos und Videos von den Kleidungsstücken in den sozialen Medien hochgeladen und gepostet, oft sogar live. Designteams von Fast Fashion-Labels sahen sich die Aufnahmen genauestens an, registrierten die Zahl der »Likes« – eine kostenlose Marktstudie in Echtzeit – und wählten jene Entwürfe aus, die sie stehlen, uminterpretieren und zu minimalem Stückpreis im Ausland fertigen lassen wollten. (Als ich die Schau verließ, grübelte ein Führungsangestellter eines namhaften Modehändlers lautstark: »Wetten, dass Topshop schon an dem Schmetterlingsprint bastelt.«) Katrantzous Entwürfe münden in globale Trends, ob sie will oder nicht, und ohne dass sie daran irgendwie mitverdient.

»Ganze drei Monate dauert es, um die 40 Prints herzustellen, die wir jede Saison entwerfen«, erfuhr ich von Katrantzou. Aber es bedarf nur eines einzelnen Klicks einer Smartphone-Kamera, um sie ihr wegzunehmen. Das schadet ihrem Geschäft. Aber es schadet auch »all jenen Designern, die mit digitalen Prints arbeiten, da das Abkupfern von digitalen Prints zu einfach geworden ist«, fügte sie hinzu. Sie weiß aber auch, dass ein besserer Schutz der Designer und deren Arbeit – Wörter, Bilder und Entwürfe gleichermaßen – sich im Umkehrschluss nachteilig auf die Herstellung biologischer Produkte und auf neue Ideen in diesem Bereich auswirken wird. Nur wenige Wochen wird es dauern, bis die Katrantzou-Imitate von schlecht bezahlten Arbeitern als Teil einer zersplitterten globalen Lieferkette aus billigen, bunten Stoffen gefertigt und schließlich für weniger als 90 Euro in zahllosen Filialen verkauft werden – ein Zehntel oder gar weniger dessen, was die aufwendigeren und luxuriöseren Originale kosten.

Tonnenweise Kleidungsstücke, die nur kurz getragen und dann weggeworfen werden. Was länger als ein bis zwei Wochen in den Regalen liegen oder hängen bleibt, wird so lange herabgesetzt, bis es am Ende höchstens noch 3 Euro kostet – und dabei immer trauriger und schlaffer aussieht, je öfter es vom Kleiderbügel gezogen wird. Am Ende zieht der Vertrieb die Reste aus dem Verkehr und lässt sie schreddern oder verbrennen. So macht es die Modebranche schon seit mehr als 250 Jahren, und zwar im großen Stil: Diebstahl von geistigem Eigentum, Apathie gegenüber anderen, Korruption, Umweltverschmutzung. Und nur, weil ein englischer Unternehmer einst beschloss, dass schneller besser ist.

Niemand mochte Richard Arkwright.10 Der Friseur und ausgebildete Perückenmacher war ein Wichtigtuer, streitsüchtig und widerwärtig. »Eine schlichte, etwas korpulente, pausbackige, dickbäuchige Person aus Lancashire«, schrieb der schottischer Historiker Thomas Carlyle 1839, »mit gequältem Ausdruck und lautstarker Verdauung«.11

Schlimmer noch, Arkwright hatte die Angewohnheit, Ideen anderer zu stehlen – wie Lewis Pauls Kardiermaschine oder James Hargreaves’ »Spinning Jenny« –, diese weiterzuentwickeln und zu verwenden, um damit Gewinne zu erwirtschaften. (Zahlreiche seiner Patente wurden später vor Gericht angefochten.) 1771 trug er einige dieser neumodischen Maschinen im englischen Cromford, Derbyshire, zusammen und eröffnete dort die weltweit erste mit Wasserkraft betriebene Textilfabrik. Es sollte die Geburtsstunde der Indus­triellen Revolution werden – der Wandel von Handarbeit zu maschineller Fertigung – und der Anfang eines Fabrikwesens, auf das wir auch heute noch setzen.

Mit rhythmischem Klackern brüllten die Maschinen und ließen das fünfstöckige Gebäude erzittern. Wie Schneeflocken tanzten Baumwollfäden in der Luft. Die Arbeitstage waren lang: 13- bis 14-Stunden-Schichten mit zwei kurzen Essenspausen12. Nur eine Stunde lang waren die Maschinen nicht in Betrieb. Die Arbeiter wohnten in firmeneigenen Backstein-Reihenhäuschen auf dem firmeneigenen Gelände und besuchten den Gottesdienst in der firmeneigenen Kirche. Aus den anfänglich nur 200 Arbeitern waren zehn Jahre später 1000 geworden13. Zwischen 1770 und 1778 beobachtete der örtliche Textilfabrikant William Radcliffe, »eine enorme Veränderung beim Spinnen von Garnen … Wolle ist vollends verschwunden … Baumwolle ist das neue universelle Material«.14 1790 besaß Arkwright landesweit fast 200 Spinnereien, und Manchester erhielt den Spitznamen »Cottonopolis«.15

1810 unternahm der namhafte Geschäftsmann Francis Cabot Lowell aus Boston eine Reise nach Europa, angeblich aus gesundheitlichen Gründen. In Wahrheit hatte er aber nur ein Ziel: Arkwrights System zu stehlen.16 In einem der größten Fälle von Industriespionage17 besuchte Lowell die Fabriken in Manchester, merkte sich die Konstruktion der Webmaschinen und kehrte nach Massachusetts zurück, um dort die Maschinen nachzubauen. Drei Jahre später eröffnete er am Charles River in Waltham, etwas westlich der Stadt, die Boston Manufacturing Company, um heimische, von Sklaven gepflückte Baumwolle spinnen und weben zu lassen.

Die Einführung der Doppelsteppstich-Nähmaschine in den 1830er-Jahren führte zu einer erheblichen Beschleunigung in der Produktion von Konfektionskleidung. Nur war die Nachfrage zu dem Zeitpunkt sehr gering, da die meisten Menschen ihre Kleider nach wie vor lieber selbst herstellten. Ändern sollte sich die Situation mit dem Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs, denn plötzlich benötigten sowohl die Südstaaten als auch die Nordstaaten robuste Uniformen in Standardgrößen, sprich Konfektionsware, die sich mit den neumodischen Nähmaschinen schnell anfertigen ließ. Fabriken entstanden und expandierten, um die Nachfrage zu befriedigen. Den Soldaten gefiel der Tragekomfort und die Passform ihrer Uniformen gar so sehr, dass sie nach dem Krieg vorzugsweise in ähnlicher Weise gefertigte Kleidung kauften und trugen. Fabrikanten reagierten prompt und fingen an, in großem Stil Bekleidung herzustellen, erst für den Mann, dann auch für die Frau. Es war die Geburtsstunde der US-amerikanischen Bekleidungsindustrie.

In jenen frühen Tagen ließ sich die US-amerikanische Bekleidungsherstellung in zwei Kategorien einteilen: einerseits die weniger feinen Stücke wie Arbeitskleidung und Unterwäsche, die in großen, standardisierten Auflagen in großen Fabriken in Massachusetts und Pennsylvania gefertigt wurden. Und anderseits die stilvolle, hochwertige Kleidung, bekannt als »Mode«, die zu kleinen Stückzahlen in Werkstätten an der Lower East Side in New York zugeschnitten und genäht wurde.18

Warum New York? New York war nicht nur Amerikas größte Hafenstadt, wo Wolle und Seide aus Europa eintrafen, sondern auch das Finanzzentrum des Landes. Hier befanden sich jene Banker, die eifrig in die stetig wachsende Bekleidungsindustrie investierten. Darüber hinaus war New York auch die Stadt, die Woche für Woche Tausende von Emigranten aus Europa begrüßte, die hier auf Arbeitssuche waren. Viele von ihnen waren Juden aus Ungarn, Russland und dem heutigen Polen – Ländern, in denen Handarbeit eine angesehene Tradition war.19 Im späten 19. Jahrhundert war mehr als die Hälfte der Bewohner der Lower East Side in der Bekleidungsproduktion tätig, und drei Viertel von ihnen waren Juden.

Der Großteil der Kleidungsstücke, die sie herstellten, war von dem inspiriert – oder gar abgekupfert –, was die Pariser Haute-Couture-Häuser zeigten. Das einflussreichste Haus war das an der Rue de la Paix ansässige Worth. Gegründet hatte es der gebürtige Engländer und Wahlpariser Charles Frederick Worth, jener Mann, der gemeinhin als Vater der Haute Couture angesehen wird, in den 1850er-Jahren. Bis dahin gingen die Pariserinnen zu ihren Couturiers und gaben Kleider nach ihren Vorgaben in Auftrag. Worth änderte dieses System, indem er »Kollektionen« von Modellen entwarf, die er seinen Kundinnen – einschließlich der einflussreichen und stilprägenden Kaiserin Eugénie – präsentierte. Dann nahm er Bestellungen entgegen und fertigte jedes Kleid nach Maß. Seine Entwürfe erschienen in Modemagazinen und waren Trendsetter; er mischte die Modewelt gehörig auf. Das Trickle-down-System des Modedesigns, an dessen Spitze sich Katrantzou befindet, begann mit Worth.

Infolge des stetigen Wachstums der New Yorker Bekleidungsindustrie breitete sich die Produktion nach Midtown Manhattan im Norden der Stadt aus, wo Industriegebäude im Stahlskelettbau entstanden.20 Dieser als »Garment District« bekannt gewordene Stadtteil erstreckte sich von der 30th Street bis zur 42nd Street und von der 5th Avenue bis zur 10th Avenue. In dessen Mitte wurde die Pennsylvania Station errichtet, sodass auswärtige Einzelhändler die Showrooms leichter besuchen konnten. Die Zahl der Unternehmen wuchs so schnell, dass der Garment District 1931 mehr Bekleidungsfabriken zählte als andernorts in der Welt.21

Bis auf einen kurzen Einbruch zu Beginn der Wirtschaftskrise in den USA waren die 1930er-Jahre eine Blütezeit des amerikanischen Einzelhandels. »Jeder warf sich in Schale«, erinnerte sich der New Yorker Designer Bill Blass etwa sechs Jahrzehnte später.22 Und er übertrieb nicht: Es war eine viel formellere Zeit, in der es für Männer und Frauen gleichermaßen undenkbar war, das Haus ohne richtigen Hut zu verlassen. »Manche Frauen verbrachten ganze Tage in Umkleidekabinen und kleideten sich speziell für das Mittagessen, für Cocktails, für das Abendessen ein, während die heutige Frau die gleiche schwarze Kostümhose in der Arbeit, zum Mittagessen und zum Abendessen trägt.« Ihre Einkäufe tätigten sie in den großen Kaufhäusern wie Macy’s und Bergdorf Goodman in New York, Neiman Marcus in Dallas, Selfridges & Co. und Harrods in London, den Galerien Lafayette und Le Bon Marché in Paris oder in Fachgeschäften wie dem von Hattie Carnegie in der 42 East 49th Street.

Miss Carnegie hatte ein gutes Näschen. Denn in ihrer Stadthaus-Boutique verkaufte sie neben Pariser Originalen auch deren Imitate aus eigener Fertigung, die zum Stückpreis von 79,50 bis 300 Dollar über die Ladentheke gingen. »Schwarze, körperbetonte Kleider, die hinten kurz unterhalb der Knie gerafft waren, mit rosa Rosen« und »gerade, enge Kleider mit vollen Schößchen«, berichtete die Zeitschrift The New Yorker 194123. Joan Crawford würde einfach telegrafisch mitteilen: »Schickt mir etwas, was mir gefällt.«24 Miss Carnegie hatte auch eine eigene Kleiderkollektion namens »Spectator Sports« im Sortiment, die sie im Vorort Mount Vernon fertigen ließ, mit Kleidern zu erschwinglichen Preisen von 16,50 Dollar das Stück.

Bill Blass traf 1939 als 17-Jähriger aus Fort Wayne im Bundesstaat Indiana in Manhattan ein. »In jenen Tagen stand die Aufregung einer teuren Broadway-Eröffnung in direkter Konkurrenz mit dem kostenfreien Erlebnis, am Donnerstagabend, wenn die Kaufhäuser ihre neuen Fenster enthüllten, die 5th Avenue rauf und runter zu gehen«, erinnerte er sich. »Man fing bei Altman’s in der 34th Street an und lief nach einem Abstecher zu Hattie Carnegie in der East 49th Street weiter in Richtung Bergdorfs in der 57th Street. Die Schaufenstergestalter übertrumpften sich gegenseitig mit immer originelleren und zügelloseren Einfällen. Bonwit Teller engagierte sogar berühmte Künstler wie Dalí zum Dekorieren der Schaufenster.«

Erst im Zweiten Weltkrieg schwächte sich diese Entwicklung ab – vorbei die Zeiten der Etuikleider mit Schößchen. »Wir trugen Anzüge«, erzählte mir die treue Mode-Followerin Olivia de Havilland einmal. »Sogar zur Hochzeit.« Die Fabriken verlagerten ihren Schwerpunkt auf Uniformen und andere Kriegsausrüstung. Doch mit dem Wirtschaftsboom der Nachkriegszeit kehrte auch die amerikanische Bekleidungsindustrie mit Eifer zur Mode zurück: Allein in den Bekleidungsfabriken des Garment District arbeiteten 200 000 Menschen und produzierten 66 Prozent der heimischen Damenkleidung25. Blass war damals einer von ihnen: »Von uns wurde erwartet, einfach nur unsere Arbeit zu machen« und »dankbar zu sein, dass man die Chance bekommen hatte, Kopien von Dior-Kleidern zum Stückpreis von etwa 79 Dollar zu entwerfen«.26

Ende der 1950er-Jahre verlagerte sich die Bekleidungsindustrie und damit auch die Arbeitsplätze von Manhattan in andere New Yorker Stadtteile wie Bronx, Queens und Brooklyn, ins Hinterland nach Rochester und nach Pennsylvania und Chicago.27 Es war, wenn man so will, eine Art inländische Ausgabe der späteren Produktionsverlagerung ins Ausland. Der Grund dafür war ein rein wirtschaftlicher: Wegen der gestiegenen Immobilienpreise und Arbeitskosten lagen die Produktionskosten für ein Kleid in New York City 17 Prozent höher als im nordöstlich gelegenen Bundesstaat Pennsylvania.28 Die Folgen bekamen die Arbeiter in Manhattans Bekleidungsindustrie zu spüren: Zwischen 1947 und 1956 sanken deren Löhne um 20 Prozent.29

Firmen, die dem Standort im Garment District treu blieben, vollführten einen radikalen Wechsel in ihrer Geschäftspolitik: Zwar wurde der Stoff noch in Werkstätten in Manhattan geschneidert, danach aber zu Fabriken außerhalb der Stadt transportiert, um dort zu Kleidungsstücken zusammengenäht zu werden. Anschließend wurden die fertigen Kleidungsstücke wieder zu den Showrooms in Midtown und den Lagerhäusern im Zentrum verfrachtet, von wo sie an Einzelhändler verkauft wurden. Vereinfacht wurde der Transport durch das neu eröffnete Fernstraßennetz, das unter der Präsidentschaft von Dwight D. Eisenhower entstanden war. Dennoch war das Ganze extrem kompliziert – und das alles wegen ein paar weniger Kröten. Nichtsdestotrotz war es erfolgreich und wurde somit zur Geburtsstunde der heutigen, äußerst zersplitterten globalen Lieferkette.

Als die Bekleidungsfabriken anfingen, dem Garment District den Rücken zuzukehren, wurden sie durch etwas viel Kreativeres ersetzt: Modedesign. Blass und seine Kollegen eröffneten Ateliers an oder nahe der 7th Avenue und boten ihre Entwürfe den Fabriken in unmittelbarer Nähe feil, was dem Garment District einen neuerlichen Aufschwung bescherte. Midtown-Arbeiter rollten Kleiderständer mit fertiger Kleidung die Bürgersteige entlang zu den Showrooms und Versanddepots in der Stadt. 1973 waren dort 400 000 Menschen beschäftigt, doppelt so viele wie in den 1950er-Jahren.30 Da der Platz im Garment District nicht mehr reichte, dehnte sich die New Yorker Bekleidungsindustrie wieder in Richtung Innenstadt aus, insbesondere nach Chinatown, wo Immobilien und Arbeitskräfte – jetzt Einwanderer aus Hongkong mit Führungsqualitäten und Nähkenntnissen – deutlich billiger waren. 1965 gab es an der Lower East Side 35 Werkstätten in chinesischer Hand, 1980 waren es 430 mit etwa 20 000 Beschäftigten31. Zu diesem Zeitpunkt wurden noch 70 Prozent aller Kleidung, welche die Amerikaner kauften, in den USA gefertigt.32

Dann trat die Politik auf die Bühne, und alles änderte sich.

Ronald Reagan war es, der während des Auftakts seiner Kampagne für die Präsidentschaftswahl 1980 erstmals die Idee eines nordamerikanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) lancierte. Er betrachtete ein solches Abkommen als einen gemeinsamen Markt, »in dem die Völker und der Handel von drei starken Nationen freier die gegenwärtigen Grenzen passieren würden als heute«.33

Handelsabkommen, insbesondere für Textil und Bekleidung, waren auch damals nicht neu.

Nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss die US-Regierung auf Druck der amerikanischen Baumwollerzeuger, Japan bei dem Wiederaufbau der Textilindustrie zu unterstützen. Dazu führte Präsident Harry S. Truman sogenannte Handel-statt-Hilfe-Maßnahmen mit niedrigen Zöllen ein. Aber bereits Ende der 1950er-Jahre bekam die US-amerikanische Textilindustrie diese billigen Importe aus Japan und auch aus Südkorea, Hongkong, Singapur sowie Taiwan – den asiatischen »Tigerstaaten«, wie sie wegen ihrer kräftigen durch Exportüberschüsse befeuerten Volkswirtschaften genannt wurden –, schmerzlich zu spüren.34 Washington reagierte, nicht nur für die Zeit von Eisenhowers Präsidentschaft, sondern auch für die anschließenden Jahrzehnte, und zwar mit höheren Zöllen und komplizierten Importquoten und Ausnahmen.35

Doch den höheren Zöllen zum Trotz erkannten die Modemanager, dass es immer noch billiger war, im Ausland zu produzieren als zu Hause, und so fingen sie an, einen Teil der Produktion nach Asien zu verlagern. Der deutlich höheren Durchlaufzeit – der Transport per Schiff dauerte mehrere Wochen –, standen wesentlich höhere Gewinnmargen gegenüber.36 1960 wurden etwa 10 Prozent der in den USA verkauften Damenbekleidung importiert.37 Mitte der 1970er-Jahre war Hongkong zum größten Bekleidungsexporteur der Welt geworden und hatte sich auf westliche Billigkleidung spezialisiert.

»Niemals!«38 Die New Yorker Damenmodedesignerin Liz Claiborne rastete aus, als ihr Geschäftspartner Jerome Chazen zum ersten Mal vorschlug, die Produktion ins Ausland zu verlagern. »Wie wollen wir die Arbeit kontrollieren, wenn diese Tausende von Kilometern entfernt durchgeführt wird? Das ist ja völlig unmöglich.« Aber Chazen insistierte, er könne schließlich nicht genügend Produktionskapazitäten in den USA finden, um die stark gestiegene Nachfrage zu befriedigen. Bevor Chazen zu Claiborne kam, war er als Einkäufer für das Kaufhaus Winklemans in Detroit tätig gewesen und hatte dort manchmal auch Produkte aus Asien beschafft. Vielleicht wäre das die Lösung, dachte er. »Ich fühlte mich eigentlich ziemlich wohl bei dem Gedanken«, erinnerte er sich Jahre später in seinen Memoiren.

Claiborne dagegen ganz offensichtlich nicht. Deshalb schlug Chazen vor, nur eine etwas schwierige Bluse in Taiwan fertigen zu lassen, quasi als Test. »Einige Wochen später traf die erste Charge per Flugzeug bei uns ein, und Liz war völlig aus dem Häuschen«, so Chazen. »Sie war schöner als alles andere, das wir im eigenen Land gemacht hatten, und kostete weit weniger.« Gute Qualität, geringe Fixkosten: Chazen hatte die magische Formel für den wirtschaftlichen Erfolg gefunden.

Schon bald ließ auch Liz Claiborne Inc. den Großteil ihrer Bekleidung in Asien fertigen39 – was eine entsprechende Anpassung des Produktionszeitplans erforderte. »Die Ware musste mindestens sechs Monate vor der Verschiffung an unsere Kunden bestellt werden«, erklärte Chazen. Um dies zu erreichen, »reisten Liz und Art alle zwei bis drei Monate nach Hongkong und wohnten in jener Zeit in ihrer Suite im Peninsula Hotel«40, der luxuriösesten Unterkunft weit und breit, erinnerte sich Robert Zane, Liz Claibornes Vizevorsitzende für Herstellung und Beschaffung. »Und sie kehrten erst zurück, wenn die Arbeit erledigt war, was bedeutete, dass die Kollektion für die nächste Saison entworfen und die Produktionstermine fix gemacht worden waren.«

Dann kam die »Reagan-Revolution« und damit – wie im Wahlkampf versprochen – eine Wirtschaftsagenda, die stark auf Freihandel setzte. Allerdings waren die Vereinbarungen für die Bekleidungsindustrie oftmals kompliziert – wie damals, als die USA den karibischen Ländern nur unter der Prämisse, dass der Stoff in den USA gewebt und geschnitten sein musste, erlaubten, unbegrenzt Kleidung für den amerikanischen Markt zu exportieren. Dennoch ermutigten sie auch andere Marken, dem Beispiel von Liz Claiborne zu folgen.

Die daraus resultierende Verlagerung von Arbeitsplätzen bereitete den amerikanischen Gewerkschaften so große Sorgen, dass sie den Kongress – erfolgreich – dazu drängten, den Dezember 1986 zum »Made in America Month« auszurufen. In der gemeinsamen Entschließung wurde betont, »wie wichtig es sei, amerikanische Produkte zu kaufen« und davor gewarnt, dass die Importschwemme die Produktionskapazitäten des Landes dauerhaft schrumpfen lassen könnte.41