Ungebunden - Kathrin Wilsmann - E-Book

Ungebunden E-Book

Kathrin Wilsmann

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Beschreibung

Leilas Herz will nur eines: frei sein und selbst bestimmen dürfen! Völlig entzückt malt sich Leila aus, sie dürfte so viele Männer begehren, wie sie wollte. Als gäbe es in all den Liebesdingen und Facetten der Lust keinerlei Auflagen. Als könnte sie ganz und gar losgelöst ihrem Herzen folgen, wann immer es zu hüpfen beginnt. Nur, was würde passieren, wenn sie es einfach täte? Wäre ihr Mann noch ihr Mann? Würde er bei ihr bleiben? Sie weiterhin lieben? Mit ihr gemeinsam diesen Weg gehen? Oder würde ihr diese Sehnsucht am Ende zum Verhängnis werden? »Ungebunden« ist eine Reise mitten ins Herz, in eine Welt voller Möglichkeiten. Mutig, sinnlich und unverblümt verführt die Autorin ihre Leserschaft dazu, wieder der eigenen inneren Stimme lauschen zu wollen, um in den intimsten Winkeln nach versteckten Sehnsüchten und verlorengegangenen Träumen zu forschen.

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Seitenzahl: 399

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Für meine Liebsten. Für das Locken und An-mir-Ziehen meiner Seele. Für die Enge in meiner Brust, die mich immer wieder dazu antreibt, weit zu werden, um zu einer besseren, größeren und wahrhaftigeren Version meiner selbst heranzureifen. Für alle Menschen, Visionäre, Freigeister, Künstler und Aus-der-Reihe-Tänzer, welche mich auf meinem Lebensweg inspiriert, berührt und bestärkt haben, meiner Bestimmung zu folgen!

Meine geliebte Leila ist rebellisch, intensiv und herausfordernd, ein Fass ohne Boden, ein wandelnder innerer Dialog, ein offenes Buch. Sie kann stürmisch wie der Wind daherkommen, Ordnung in Chaos verwandeln oder, zäh wie ein alter Kaugummi, an Dingen haften bleiben, während sie sich in den unergründbaren Tiefen ihrer selbst verliert. Ohne Umschweife trägt Leila ihr Herz auf der Zunge. Ein Herz voller Schätze, Sehnsüchte und Visionen. Ein Herz, das nach Wahrhaftigkeit strebt und von einem wirklich großen Verlangen durchdrungen ist: ebenbürtige Herzen aufzuspüren!

Doch, als wäre dieses Ansinnen nicht schon anspruchsvoll genug, vereinen sich auch noch viele Gegensätze in Leilas Brust. Gegensätze, die sie antreiben, ihr zusetzen und die sie manchmal vergessen lassen, aus welchen Teilen dieser vielen Teile sie sich gerade zusammensetzt. Es ist ein bisschen so, als ob sie kurz vor ihrer Geburt bei allem »HIER« geschrien hätte, um ein möglichst bewegtes Leben leben zu können. Unaufhörlich kratzt sie seither am Schein, den Etiketten, Regeln und Marotten der gesellschaftlichen Konventionen, um zwischen all dem auferlegten Wahnsinn Platz zu finden – bunt und anders sein zu dürfen. Denn ihr Traum sitzt tief. Inmitten ihrer Seele. Und er fordert sie nicht nur dazu auf, pur, frei und ehrlich zu leben, sondern vor allem pur, frei und ehrlich zu lieben.

Doch verlangt die Welt nicht nach solchen Menschen und ihren Geschichten?

Inhaltsverzeichnis

Teil I: Vom Flüstern und vom Zuhören

Hinterzimmer

Status

Der Tag X

Der Schuh wollte passen

Dr. Schön

Discjockey & Ralf Büttner

Teil II: Von der Theorie und der Praxis

Der Schuh wollte passen II

Kinderfrei

Der Fremde

Der Bekannte

Teil II: Von der Theorie und der Praxis

Traumasitzung

Under the umbrella

Der erste Episodenmann

Druckstellen

Seelenbruder

Leila trug ihren Seelenbruder und all die gemeinsa

Musenzimmer

Der Nachbar

Die Kluft

Fuck

Das Dilemma

Florenz

TEIL I

Vom Flüstern und vom Zuhören

HINTERZIMMER

Leicht irritiert und dennoch voller Drang, diesen neuen Aspekt ihres Sean Miller-Traumas ganz genau zu durchleuchten, bahnte sich Leila, beladen mit zwei Gin Tonics, gerade einen Weg zurück über die Tanzfläche, vorbei an der Bühne, in den kleinen, seltsam verlassenen Nebenraum. Alles passte zu ihrer Stimmung. Das aufgebracht klopfende Herz in ihrer Brust, der bizarre Laden, das umfunktionierte Hinterzimmer, der schäbige, als Sichtschutz dienende Vorhang und die laute, dröhnende Musik. Welch ein wunderbar perfektes Bühnenbild für eine außerordentlich sonderbare Szene eines weltentrückten Gemütszustands!

Leila liebte es, wenn etwas scheinbar aus heiterem Himmel passierte – sie regelrecht überfuhr. Die Magie des Ungewissen, ohne Absicht in einem Film zu sein, den sie nicht besser hätte drehen können. Sie liebte es, in den stets steigenden Spannungsbogen einzutauchen, mit Haut und Haar das zuzulassen, was sich ihr gerade offenbarte. Und vor allem liebte Leila das unbeschreiblich weite Gefühl der Freiheit in ihrer Brust, solche Momente einfach aufsaugen zu dürfen.

Unverkennbar laut und verdorben klang Seans Lachen zu ihr durch. Seine mittlerweile stark angegrauten Haare standen ihm verwegen zu Berge – was den Eindruck drastisch untermalte, in welch berauschter und ausgelassener Stimmung er sich gerade befand. In all den vorangegangenen Begegnungen hatte Leila ihn damit aufgezogen, dass er ein ganzes Stück jünger war. Fünf Jahre Unterschied erschienen in manchen Lebensphasen viel. Ja, nahezu unüberbrückbar. Besonders wenn man ein Faible für reifere Männer in sich trug. Und obwohl ihm gerade alles scheißegal war, er es sichtlich genoss, ein Narr zu sein, hatte er sich das gemerkt.

Er saß auf einer alten, zerschlissenen Ledercouch, die vor einem in die Ecke geschobenen Kicker stand. Die Stangen des Kickers ragten stellenweise über die Rückenlehne hinaus, und wer dort Platz nehmen wollte, musste sich schon fast hinlegen oder den Kopf so exakt postieren, um sich nicht an ihnen zu stoßen. Von dem kleinen Beistelltisch, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, fehlte plötzlich jegliche Spur. So, als wäre er in den letzten fünf Minuten in ein unsichtbares Erdloch gefallen. Während Leila beschloss, diese augenblickliche Irritation mit keiner Silbe zu erwähnen, malte sie sich doch im Stillen aus, wohin er wohl verschwunden war. Lag er entsorgt vor dem kleinen Fenster im Innenhof? Oder versteckt unter dem Kicker hinter der Couch? Innerlich amüsiert und von den für sich sprechenden Indizien angestachelt, setzte sie sich schließlich neben ihn auf die Couch, als wäre ihr nichts aufgefallen.

Er sprach über seine vergessenen Manieren, über weniger Saft in den Lenden, seit er die 30 überschritten habe. Dafür habe er aber mehr Schwungkraft. Schallendes Gelächter. Außerdem sei er jetzt kein Amateur mehr. Wieder schallendes Gelächter. Anhand der Vorgeschichte fiel es Leila sehr leicht, in sein Spiel einzusteigen. Sie wusste, dass er unwahrscheinlich gerne provozierte und polarisierte.

Eingesunken in dieser abgefuckten Couch, rauchten sie heimlich selbstgedrehte Zigaretten und schlürften ihre mit Gin Tonic gefüllten Gläser leer. Geredet wurde ausschließlich kreativer Schwachsinn. Dazu passend absolvierten die beiden an den überstehenden Kickerstangen Turnübungen. Der Elektroswing drang bis zu ihnen vor, die Discolichter schummelten sich durch die Ritzen des Vorhangs. Schließlich verschwamm dieser Spaß immer mehr zu körperlicher Nähe. Köpfe und Gesichter steckten irgendwann sehr nah beieinander – so nah, dass Leila nur noch völlig gebannt seine Lippen anstarren konnte, sie auffordern, berühren und schmecken wollte. Und indes sie sich in der gefühlten Unendlichkeit jenes Moments verlor und sich die Wahrheit dieses surrealen Wimpernschlags in einer Art Zeitlupenmodus aufzulösen schien, hielt Leila einfach inne …

Sie hielt inne, bis der unverschämte Nichtamateur damit begann, seine Hand provokant und zuversichtlich ihren Schenkel entlangzuschieben. Um ihrem Pulsieren allen Grund zu geben. Den Blick aus dieser unmittelbaren Nähe auf sie gerichtet, berührte er rhythmisch und verheißungsvoll ihr Geschlecht.

Luftanhaltend und zutiefst beeindruckt verweilte Leila in diesem ihr unwirklich erscheinenden Zustand. Solange, bis ihr schließlich vor Lust der Kragen platzte und sich ihre Hände völlig selbstbestimmt in seine zerzausten Haare gruben. Damit sie ihn endlich an sich reißen und küssen konnte.

Blöderweise fielen Leila ab einem gewissen Zeitpunkt dieser imaginären Szene weitere Fakten ihres Lebens wieder ein. Erstens saß ihre beste Freundin seit geraumer Zeit alleine an der Bar und kämpfte wohl seit gefühlten fünf Stunden gegen eine Horde verzweifelter Flirtversuche. Zweitens waren sie gemeinsam mit einem Auto da und wohnten außerhalb einer normalen Taxidistanz. Zudem übernahm ihre Freundin den Fahrdienst. Und drittens hatte sie mit ihrem Mann wegen diverser gemeinsamer Eskapaden zum Thema freie Liebe ohnehin eine sehr emotionale und anstrengende Zeit hinter sich. Was bedeutete: Musste sie dem gleich dermaßen eins draufsetzen?!

Und da zeigte sie sich wieder: die vermeintliche Existenz von Raum und Zeit! Dicht gefolgt von dem Hauch eines Gewissens und der Loyalität zu diversen antrainierten Funktionsweisen im Leben. Leilas ÜBERICH warf ihr ES zu Boden. Freud hätte seine Freude gehabt. Und ihr Sean Miller-Trauma war größer denn je …

45 Minuten später stand sie zu Hause vor dem Bett und starrte auf ihren schlafenden Mann.

***

Das mit der freien Liebe ist so `ne Sache. Leila hörte sie alle ganz wichtigtuerisch daherreden: »Ich habe es doch gesagt: Theorie und Praxis!«

Oder: »Klingt durchaus nett und verlockend, ist aber unmöglich.«

Und so, wie sie dastand und auf ihren Mann starrte, auf ihre leere Seite im gemeinsamen Bett, hätte man meinen können, Leila würde sich gerade tief versunken mit eben genau diesen negativen Facetten ihres Beziehungsstatements, ihrer Art zu lieben, beschäftigen. Doch das war ein Irrtum.

Sie hatte nie behauptet, es sei ein Kinderspiel, aus all den anerzogenen, gesellschaftlich geprägten Mustern auszusteigen. Sie hatte nie behauptet, es gäbe nicht eine Menge Hürden, für deren Überwindung sie ihren ganzen Mut zusammennehmen musste. Sie hatte nie behauptet, dass diese Nächte nicht existierten, in denen sie sich ein zweites Schlafzimmer herbeisehnte oder so voller Zweifel steckte, dass die Kapitulation näherlag als alles andere. Das Spiel mit offenen Karten war schließlich kein leichtes und bedurfte vieler Phasen der intensiven Reibung. Man verlor dabei an Oberfläche, gewann aber deutlich an Kontur. Und man wurde echt. Echt echt. Was für ein wundervolles und unbeschreiblich tolles Gefühl! Ein Gefühl, dem selbst all diese Stimmen in ihrem Kopf nichts entgegensetzen konnten …

Und so beschloss Leila in dem Moment, als sie ihre Seite im Bett füllte und sich zu ihrem Mann gesellte, den Dingen, Erlebnissen und Geschenken in ihrem Leben mehr mit schlichter Dankbarkeit zu begegnen. Sie zu leben, wenn sie sich zeigten, und sie loszulassen, wenn sie vorübergingen. Das ewige Festhalten und Wiederhaben wollen befeuerte lediglich den Großteil ihres selbst kreierten Verderbens. Sie beschloss, mehr zu duschen und weniger zu baden. Um nicht stets im eigenen Dreck zu sitzen. Das Leben fließen zu lassen, war die neue Devise. Weg mit den Altlasten, weg mit längst überholten Paradigmen, weg mit Dingen, die sie glaubte, irgendwann unbedingt erleben zu müssen. Und falls Sean Miller noch einmal ihren Weg kreuzen sollte, dann wäre sie frisch geduscht, im Fluss und würde aufs Neue das leben, was sich ihr als Geschenk offenbarte.

STATUS

Wenn Leila ihren aktuellen Beziehungsstatus zu beschreiben versuchte, sagte sie gerne etwas zynisch: »Wir befinden uns gerade auf Entdeckungsreise zwischen Trennung zwei und Trennung drei.« Trennung drei ist natürlich erst mal hypothetisch, schließlich hatte sie sich nicht umsonst mit ihrem Mann in die Freiheit gerieben. Seit bald 12 Jahren lebte sie mittlerweile in dieser turbulenten Partnerschaft. Und doch hatte alles ganz klassisch angefangen. Damals, ganz zu Beginn ihrer Beziehung, flüsterte er ihr – wenn auch betrunken – eines Nachts ins Ohr: »Solltest Du mich einmal betrügen, ist alles vorbei.« Und Leila, die seine Worte zu diesem Zeitpunkt nicht verstehen konnte und sich, so durch und durch verliebt, auch nichts dergleichen vorzustellen vermochte, schüttelte lediglich irritiert den Kopf. In der festen Annahme, dass das niemals passieren würde …

Überhaupt war das ihre erste tatsächliche Beziehung zu einem Mann, auf die sie sich wirklich eingelassen hatte und einlassen wollte. Und mit Sicherheit lag diese erstmalige Beziehungs-Bereitschaft an ihrem 2-jährigen Sohn. Ein völlig überraschender und doch heiß geliebter Zuwachs, der ihrem Leben eine völlig andere Richtung verpasst hatte. Eine Richtung, die ihre Prioritäten, Bedürfnisse und Werte umformte und neu definierte. Leila konnte förmlich spüren, wie sich, seit sie Mutter geworden war, die Ausrichtung ihrer Antennen veränderte. Wie sich ihr Radar wandelte. Und wie sie sich urplötzlich nach einem männlichen Part, nach einer Vaterfigur, nach Beständigkeit und nach Familienleben sehnte. Das brachte die Natur wohl mit sich …

Auch wenn der Satz hart klingen mag, so entspricht er dennoch der Wahrheit: Leila hätte ohne ihren Sohn und die dazugehörigen inneren Veränderungen niemals zu ihrem Mann gefunden. Sie wären nie ein Paar geworden.

So, jetzt bin ich an der Reihe. Zeit, ein bisschen aus dem Nähkästchen zu plaudern – denn genau das ist es, was ich überwiegend tue, damit sich zu dem Wirrwarr des Lebens neue Perspektiven gesellen und der Wahrheit anhand ihrer vielen Gesichter nichts mehr bleibt, woran sie sich festhalten kann. Doch bevor ich loslege, möchte ich die Gelegenheit nicht verpassen, mich vorzustellen: Ich bin Leilas Seele. Tief und allwissend. Nackt und verbunden mit dem »Großen Ganzen«. Die Brücke zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein. Die Quelle ihres Wesens, ihres Daseins, ihrer Reise. Die Mutter all ihrer Emotionen, Sehnsüchte und Utopien. Ich bin ihr Antrieb. Ihr Navigationssystem. Ihr Entwicklungsmanagement. Ihr Knotenpunkt. Ich bin die tiefe, leise Ahnung, die ihr stets auf den Schlichen ist. Ihr Licht, ihr Schatten, ihr Wegbegleiter in allen Lebensphasen. Zu jeder Zeit. Tag und Nacht.

Voller Hingabe lege ich die wunderbarsten, intensivsten und buntesten Bilder in ihre Träume. Damit diese dann in ihrer Phantasie wie kleine Keimlinge zu den kühnsten und schönsten Visionen heranwachsen können. Augenblickliche Finsternis und anhaltende Tristesse übermale ich in den herrlichsten Farben. Und am Ende eines jeden noch so dunklen Tunnels knipse ich zu guter Letzt das Licht an.

Wenn sie schläft oder nicht ganz bei der Sache ist, diene ich ihr als Weckruf, und wenn sie zu zerbrechen droht, stehe ich wie ein Fels in der Brandung inmitten des Schlamassels. Oft werfe ich ihr auch Steine in den Weg und sehe dabei zu, wie sie stolpert und hinfällt. Denn mein Wissen ist tiefer, als dass ich das Stürzen und Wiederaufstehen, das sich neu Ausrichten und ein darin Wachsen und Weitwerden nicht als notwendig erachten würde. Jene gezielte Fallen sind nichts weiter als wesentliche Elemente meiner Arbeit.

Im gleichen Maß schmücke ich aber voller Liebe und Leidenschaft ihren Lebensweg mit unendlich vielen Geschenken. Ich lasse beglückende Schriftsteller, Poeten und Musiker in ihrem Leben erscheinen. Ihre tiefe Verbundenheit zur Natur nutze ich als Sprachrohr. Durch die Bäume, die Blumen, den Wind hinweg, durch alle Jahreszeiten, im Regen, in tosenden Stürmen, klärenden Gewittern und in den wärmenden Strahlen der Sonne lehre ich sie die unterschiedlichsten Lektionen.

Tiefe Demut auf dem Gipfel eines Berges. Unendlichkeit im Horizont des Ozeans. Das Gefühl des Getragenseins in der Strömung eines Flusses. Göttliche Harmonie im Herzen eines Waldes. Faszination unter einem sich ausbreitendem Sternenhimmel. Und während der Mond entlang des Firmaments wandert und alles in sein silbriges Licht taucht, breitet sich das ganze Mysterium namens Leben in ihr aus.

Tiefgreifende Momente sind mein Lieblingswerkzeug. Ich nutze jede Möglichkeit, mir Wege in ihr Bewusstsein und ihr Herz zu bahnen. Dafür schicke ich die unterschiedlichsten Menschen in ihr Leben. Man könnte auch sagen: Ich lasse sie von Engeln umkreisen, die eine »Leila-Botschaft« in sich tragen. Oft sind diese Begegnungen sehr herausfordernd und werden deshalb als unangenehm oder schmerzhaft empfunden. Aber genauso oft erwecken sie einen so zuckersüß verlockenden und viel zu köstlichen Anschein, als dass Leila ihre Finger von ihnen lassen könnte. Und in einem sind sie immer gleich: sie inspirieren!

Die Liebe als solche ist die einzige Energie, die das überhaupt möglich macht. Um diesem Gefühl den Schleier abzuziehen, muss ich gelegentlich ganz schön penetrant vorgehen. Manchmal bedeutet das, ihr über Jahre hinweg denselben Floh ins Ohr zu setzen, bis sie ihm gebührend Beachtung schenkt. Manchmal muss ich sie in immerwährenden, gleichen Runden in ihrer Lebensspirale gefangen halten, um ihr die Notwendigkeit der Veränderung einzutrichtern.

Doch wenn sie weint, dann trockne ich ihre Tränen. Und wenn sie lacht, dann lache ich mit ihr. Nicht sie ist mein Gefäß, sondern ich bin ihres. Es ist meine Aufgabe, ihr Flügel zu schenken und ihre Wurzeln zu festigen. Es ist meine Pflicht, sie immer und immer wieder so tief zu berühren, dass sie sich daran erinnert, mit allem verbunden zu sein und dabei dennoch die Einzigartigkeit ihres Seins als etwas unglaublich Wertvolles und kollektiv Bedeutsames begreift.

Das ist das höchste Maß meines Tuns. Denn ich liebe sie und ich werde nichts unversucht lassen, sie dorthin zurückzutragen, wo sie fühlen kann, dass sie, verbunden mit mir, all ihre Träume nicht träumen, sondern leben wird.

Da die Anfänge dieser jetzigen abenteuerlichen Spur viel weiter zurückliegen, werde ich Leilas Geschichte begleitend aufrollen. Dafür muss ich stets ein bisschen ausholen. Denn bevor sie aus ihrer Sicht plötzlich und unerwartet Mutter wurde, und das Chaos dieser vielen Umbrüche wieder eine neue Struktur und Klarheit in ihr Dasein bringen sollte, wirkten ganz andere Kräfte auf sie ein. Sie lebte wild und ungebremst. Zu frei, zu stürmisch, zu selbstsüchtig und zu impulsiv, um je den Wunsch in sich zu spüren, sich in eine dieser klassischen, normalen Mann/Frau-Beziehungen begeben zu wollen. Nahezu alle Paare, die Leila aus ihrem Umfeld kannte und intensiv beobachtet hatte, besaßen für sie keinerlei ansprechende Komponenten. Um nichts in der Welt hätte sie ein Teil davon sein wollen. Diese Beziehungen erschienen ihr zu eng, zu klebrig, zu selbstaufgebend und vor allem viel zu langweilig. All das war ihr ein Graus. Um dem nicht versehentlich zu begegnen, betrieb Leila insgeheim und leidenschaftlich eine Art Vorsorge: Sie verliebte sich ausnahmslos in unnahbare Männer!

Doch dieses ihr eigene Schema lag noch ganz und gar unerkannt und unerforscht in den Tiefen ihres Unterbewusstseins, was dazu führte, dass Leila im Zuge ihrer Verliebtheit blind und verschleiert darum kämpfte, diese Männer an sich zu binden, da sie allen Ernstes glaubte, mit ihnen eine Beziehung führen zu wollen. Welch ein Paradoxon! Wenn ich nicht gewusst hätte, dass diese irrsinnige Vision dazu beitrug, ihre ganzen Kräfte zu mobilisieren, um sich in diese so lehrreichen Begegnungen zu stürzen, dann hätte ich, so wie alle anderen um Leila herum, nur noch Kopfschütteln für sie übriggehabt. Denn das, was sie verkörperte und gleichzeitig lebte, stellte eine ausschließliche Aneinanderreihung von Widersprüchen dar. Es kam einem breiten, völlig undefinierten Experimentierfeld gleich, in dem sie sich forsch und furchtlos ausprobierte.

Je unerreichbarer und desinteressierter ein Mann also auf Leila wirkte, desto interessanter erschien er ihr. Sie stand auf Machos, wollte sich aber nichts gefallen lassen. Sie hasste Oberflächlichkeiten, bekam aber die Krise, wenn ihr jemand sagte, was er für sie empfand. Sie wollte verstanden werden, tat aber alles dafür, dass es die wenigsten konnten. Sie kramte ausgiebig und hingebungsvoll in den dunklen, geheimen Ecken dieser verirrten Seelen herum und erstarrte, wenn plötzlich irgendwo ein Licht anging. Sie liebte es, eine Schauspielerin aus sich zu machen und doch verletzte es sie, wenn man sie verkannte. Sie stand absolut auf diesen hochemotionalen, undefinierten, wilden Sex, vermisste aber die Verbindlichkeit darin. Wenn sie eine Art Verbindlichkeit erfuhr, hatte sie keine Lust mehr und fühlte sich frigide. Sie benutzte Männer, um sich selbst zu begegnen, und während sie das tat, fühlte sie sich von ihnen benutzt. Das klingt nicht nur nach einer anstrengenden Zeit – es war eine anstrengende Zeit! Eine Zeit, in der ich wirklich alles dafür gab, sie irgendwie zusammenzuhalten. Denn wenn etwas niemals aus diesen Verbindungen hätte entstehen können, dann » lebenstaugliche« Beziehungen! Schließlich brachten diese Männer ihre eigenen verkorksten Geschichten und ihre eigenen Vermeidungstaktiken und Versteckspiele mit sich. Mal präsent, mal unauffindbar. Mal warm, mal kalt. Mal liebevoll, mal grob. Mal offen, mal total verschlossen. Doch eines waren jene heißbegehrten Kerle immer: rätselhaft, zweifelhaft und ungewiss. Und zwar auf eine so ähnliche Art und Weise, dass es den Verdacht erregte, Leila würde sich auf einer größeren, noch nicht begreifbaren, persönlichen Mission befinden.

Doch als wüsste sie instinktiv um diesen Weg, so, als würde sie eine Art emotionalen Intensivkurs belegen, der als Voraussetzung nötig und als Grundlage für weitere aufbauende Studienzwecke unumgänglich war, warf sich Leila mit allem, was sie in sich trug, in diese Begegnungen. Sie ließen sie hoch fliegen und sehr tief fallen. Wie schwere Kost lagen sie im Magen, ehe sie verdaut werden konnten. Und so oft sie sich auch die Zähne an ihnen ausbiss, so sehr sie auch mit ihrem ewigen Scheitern, dem andauernden Hinfallen und dem Lecken ihrer Wunden zu kämpfen hatte, so sehr regten sie all diese gemachten Erfahrungen dazu an, innerlich weit zu werden. Bisherige Grenzen wurden niedergerissen und ausgedehnt. Pförtner vor verschlossenen Türen überfahren und nicht wieder aufgestellt. Erfahrungspaletten überarbeitet und im Sortiment erweitert. Einstige Meinungen revidiert und neu definiert – wodurch ihr Horizont in regelmäßigen Abständen einen neuen, individuelleren Anstrich genoss. Mich faszinierte an dieser Stelle vor allem eins: wie unerschrocken sie stets damit fortfuhr, sich immer und immer wieder auszuprobieren.

Mit meinem Abstand und Weitblick betrachtet, therapierte sich Leila natürlich in all diesen Begegnungen selbst. Sie litt unter einer Art Zwangsneurose: Sie musste anderen Menschen den Unterschied zwischen ihrem Schein und ihrem Sein aufzeigen. Die Männer mit der größten Differenz zogen sie förmlich an. Und Leila hatte Zugang zu ihnen, weil sie selbst von so einem Schein-und-Sein-Konflikt bestimmt wurde. Während sie also hingebungsvoll an den Fassaden anderer kratzte und nach dem Punkt suchte, wo der hübsch aufgelegte Putz zu bröckeln begann, legte sie selbst, Schritt für Schritt, Teile ihrer eigenen Maske ab.

Und irgendwann tat sie das plötzlich nicht mehr allein, sondern mit einem kleinen, wachsenden Fötus im Unterleib. Sie wurde Mutter. Natürlich hatte ich meine Finger mit im Spiel. Schließlich geschieht nichts ohne meine Zustimmung. Ich wusste zwar, dass das eine ungemeine Herausforderung für Leila werden würde, doch ich wusste auch, dass es an der Zeit war, ein neues, beständigeres Experimentierfeld zu betreten, um sich weiterzuentwickeln. All diese irren, intensiven Erfahrungen benötigten jetzt unbedingt einen bekömmlicheren und konstanteren Nährboden, damit sie sich in etwas Gesundes und Lebensfähiges transformieren konnten. Andernfalls hätte sie diese Tendenz in ihrem Herzen wohl kaputtgemacht. Und diese Mutterliebe, die sie von jetzt auf gleich durchströmte, schenkte ihr nicht nur eine Mitte – sie zwang sie auch auf die nächste Stufe ihrer Entwicklung. Denn die in ihrem Herzen wohnende Vorstellung, wie ihr Kind aufwachsen sollte, veranlasste sie dazu, Verantwortung zu übernehmen. Und das tat sie alleine, denn der leibliche Vater wollte von der ganzen Sache nichts wissen und ließ sie im Stich …

DER TAG X

Seit ihrer Jugend kannten sich die beiden. Kurzweilig verliebt als Teenager, auf jeweilig unterschiedlichen Pfaden aus den Augen verloren, kreuzten sich ihre Wege vor ein paar Monaten wieder. Während er innerlich mit der Situation rang, dass sie inzwischen ein Kind bekommen hatte und nur noch im Doppelpack erhältlich war, schmiedete er doch im Stillen einen Master-Plan, um ihr Herz zu erobern. Sie, mit »alleinerziehende-Mutter«Umbrüchen beschäftigt, sah in ihm einen Freund. Doch in jener Nacht sollte sich alles ändern …

Langweilig nieselte es den ganzen Tag vor sich hin. »Welch ein tristes Wetter«, dachte Leila, indes sie sich mit ihrer Unentschlossenheit zu duellieren begann: Sollte sie sich jetzt wirklich aufraffen und zum Stadtfest gehen? Oder wäre es besser, ihm abzusagen? Sich einfach ins Bett zu verkriechen?! Diesen kinderfreien Abend verstreichen zu lassen?

In ihren Gefühlen gab es nicht viel zu lesen. Sie hatte nicht den Hauch einer Ahnung, dass in jener Nacht etwas Bahnbrechendes in ihrem Leben passieren sollte. Sie wusste nicht, dass sich bereits ein ungeahnter, einschneidender, magischer Moment auf seinen Auftritt vorbereitete und nur ein paar Stunden später seine Bühne dafür bekommen sollte. Während Leila damit haderte, sich überhaupt auf den Weg zu machen, keinerlei Kapazitäten verspürte, sich zu duschen und aufzuhübschen, plante das Universum im Feinschliff etwas, das sie selbst am wenigsten vermutete.

Auf dem Platz hinter der Kirche, umsäumt von dieser malerischen, kleinen Altstadt, herrschte bereits ein reges Treiben. Das Nieseln hatte aufgehört, die Menschen drückten nach draußen, saßen unter freiem Himmel beisammen, lachten, unterhielten sich, während verschiedene Melodien aus der Ferne das Szenario untermalten.

Jedes Mal, wenn Leila diesen damaligen Moment Revue passieren ließ und sich in ihn zurückversetzte, stand die Zeit noch immer für einen kurzen Augenblick still. Sie sah dann diesen bunten Platz vor sich, die Bänke voller Menschen. Sie spürte die kühle Sommernacht, die leichte Brise, die sachte durch die Altstadtgassen zog. Sie roch den Regen. Sie fühlte, wie unbeschwert sie damals an einem dieser Tische saß und sich mit ein paar alten Freunden unterhielt, die sie hier zufällig getroffen und schon länger nicht mehr gesehen hatte.

Er saß nur ein paar Tische weiter. Ebenso bei ein paar alten Freunden. Die Dynamik des Kleinstadtfestes, überall auf alte Bekannte zu stoßen, hatte die beiden für kurze Zeit getrennt. Ihre Blicke trafen sich über einige Tische hinweg. Er lächelte. Spitzbübisch, so, als wüsste er, was jetzt gleich vor sich gehen würde. Diesen Ausdruck in seinem Gesicht würde Leila niemals vergessen.

Und dann blieb, wie aus dem völligen Nichts, die Zeit stehen. Unbeirrt packte der Moment seine Zauberkiste aus. Für Leila verschwamm alles um sie herum zu einem unwirklichen Bild. Es war, als wäre sie vom Blitz getroffen worden, ganz ohne ein Gewitter. Als hätte ihr Amor einen Pfeil ins Herz geschossen, ganz ohne die bekannten klassischen Vorankündigungen. Als hätten die Menschen aufgehört zu reden, die Musik aufgehört zu spielen, die Welt aufgehört, sich zu drehen, ihr Herz aufgehört, das Zepter in der Hand zu halten. Für einen Bruchteil jedenfalls stand ihre Welt still. Und zwar in echt! Leila fühlte sich ausgeknockt, in Gänsehaut gebadet, mit Liebespfeilen beschossen, und ohne dass sie es auch nur im klitzekleinsten Ansatz nachvollziehen konnte, wusste sie plötzlich: Der da drüben – das ist ER!

Bevor die beiden in dieser Nacht zusammenfanden, philosophierten sie wild über erste Küsse, deren entscheidende Bedeutung und bereits über die freie Liebe, wenn auch sehr naiv und nichtsahnend. Sie schlenderten durch Altstadtgassen, durch Trauben von Menschen, Klänge von Musik. Sie tranken sich Mut an, um in dieser angerauschten Stimmung im Hier und Jetzt zu bleiben. Sie wollten es genießen, unbeschwert sein, sich treiben lassen … Und bevor sich die Nacht in einen Morgen verwandelte, lagen sie zusammen in Leilas Bett. So neu, so staunend, so euphorisch. Der erste Kuss hatte eingeschlagen. Der magische Moment nicht zu viel versprochen. Und so selbstverständlich dieser alle Tore öffnete, so selbstverständlich war es auch für Leilas Begleiter gewesen, sie nicht mehr loszulassen. Nicht nach den ersten vereinten Stunden, nicht nach der ersten gemeinsamen Nacht und nicht nach den ersten Krisen.

DER SCHUH WOLLTE PASSEN

Sie bauten sich ein gemeinsames Nest und wuchsen zu einer kleinen Familie heran. Natürlich waren dafür außerordentlich viele Brücken nötig. Wie hätte es auch anders sein sollen? Um völlig reibungslos und über Nacht in eine neue Vater- und Familienrolle schlüpfen zu können, wären wohl übernatürliche Kräfte vonnöten gewesen. Das Gleiche galt natürlich auch für Leila: Von einem Tag zum nächsten ihre ganze bisherige Lebensweise, ihre Suche, ihre Träume, ihr Grenzgängertum, ihr Streben nach stetiger Entwicklung in einem klassischen und doch eher unspektakulären Familienmodell vereint vorzufinden, dafür hätte wohl jemand eine Leila-Reset-Taste drücken müssen. Und so sehr sich die beiden auch bemühten, im Miteinander heranzureifen, ohne großen Kraftaufwand passierte gar nichts.

Um diesen Prozess überhaupt überstehen zu können, kam ihnen schließlich eine ihrer größten Ressourcen zur Hilfe: die Fähigkeit, sich miteinander, aneinander und wegen einander zu reiben! Und das taten sie unaufhörlich, um in die jeweiligen Rollen zu finden, eine kleine Einheit herauszubilden und die Familie als gemeinsame Priorität anzunehmen. Sie rieben sich durch Erwartungen, ein gewisses Entgegenkommen und notwendige Absprachen, um eine ausgewogene Basis zu schaffen, auf der sie alle Platz fanden, damit ihre bisherige Unabhängigkeit und Freiheit zu einem Teil dieser neuen Gemeinschaft werden konnte. Rücksicht, Fairness und das Gegenüber sehen lernen, rückte hierbei gewaltig in den Vordergrund. Sie rieben sich durch Freundeskreise, die dafür kein Verständnis hatten. Und durch diverse Verluste, Lücken und Neuorientierungsphasen, die dieses fehlende Verständnis mit sich brachte.

Doch der Wunsch war da, es zu schaffen. Der Schuh wollte passen. Trotz der Reibereien, oder vielleicht auch gerade deshalb, fühlte es sich so richtig an, dieser Spur zu folgen. Im Eiltempo drehte sich Leilas Rad, um die Zusammengehörigkeit zu manifestieren. Während er noch von dem neuen, familiären Zusammenleben auf Trab gehalten wurde, wollte Leila insgeheim schon heiraten und gemeinsame Kinder. Dieses Mal lag ihr so viel daran, alles richtig zu machen. Es in Stein zu meißeln. Sie wünschte sich einen Platz im Club der Normalen, im Verein der angesehenen Töchter, die endlich ihren Weg gefunden hatten. Sie wünschte sich, zu erkennen, dass Glück auch so einfach sein konnte, und dass sie, die Grenzgängerin, genug auf Patrouille gewesen war und im Hier und Jetzt ankommen, sich zur Ruhe setzen durfte. Ein bisschen früh für derartige Wünsche, oder?

Doch je mehr sich Leila in diese neue Vision ihrer selbst hineinbegab, sich dafür entschied, die nötigen Schritte ging, Aufgaben übernahm, ihre Rolle erfüllte und alles managte, je mehr die Euphorie der Gewohnheit wich, das neue Leben zum Alltag wurde, umso mehr tat sich in verborgenen Winkeln, in der Stille ihrer Tiefen, diese Sehnsucht auf. Sehnsucht nach Abenteuer. Nach Leichtigkeit. Nach Bewegung. Nach Input. Nach fremden Eindrücken. Nach neuen Düften, neuen Geschmäckern, Händen, Lippen und Zungen, die sie nicht kannte und die sie erforschen und fühlen wollte. Sie spürte, wie es immer näher und näher an sie heranrückte: dieses Flüstern, das sie nicht hören wollte:

»Hallo? Jemand zuhause?«

»Ist Abendessen kochen und Alltagssex das, was Du in Deinem Leben willst?«

»Kannst Du Dich überhaupt noch fühlen?«

»Soll es das jetzt etwa gewesen sein?«

»Unter welchen Illusionen liegt denn Dein wildes Herz begraben?«

»Langweilst Du Dich nicht zu Tode?«

»Wo ist Dein Hunger?«

»Merkst Du etwa nicht, dass Du drauf und dran bist, zu verkümmern?«

»Leila … Leila … Leila …«

An dieser Stelle würde ich gerne aufstehen, mich räuspern und solange mit einem kleinen Dessertlöffel feierlich gegen mein Weinglas klimpern, bis mir jeder im Raum seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Schließlich ist das Thema wichtig. Aber auch komplex. Oder besser: Es scheint komplex zu sein! Wie alle Dinge auf dieser Welt. Ganz besonders hart trifft diese irdisch fabrizierte Verkompliziertheit allerdings die Liebe! Und das ist in Anbetracht ihrer Kraft kein Wunder! Denn wie sähe eine Welt aus, die nicht unter massivem Liebeskummer leiden würde? Für wen wäre diese Welt dann profitabel? Welche Wirtschaft könnte da noch auf Kosten anderer wirtschaften oder auf Kosten der endlichen Ressourcen wachsen? Wo sollte der Müll abgeladen werden? Wer würde überhaupt für all diese Konzerne arbeiten wollen? Geld ranschaffen? Sich fünf Mal die Woche morgens aus dem Bett quälen, um einem stupiden Job nachzukommen? Dessen Bezahlung am Ende eines jeden Monats dazu reicht, sich Lebensmittel zu kaufen, die mit Schadstoffen verseucht und in Plastikfolie verpackt im Supermarktregal landen? Oder um sich Billigklamotten, welche »Made in Taiwan« für einen Hungerlohn von Kinderhänden gefärbt und genäht wurden, an den Körper zu hängen? Wie würde so ein Schweineschnitzel aus der Massentierhaltung noch Platz auf einem Teller finden? Und welche Bombe könnte je voller Liebe auf einen Landstrich dieser Erde abgeworfen werden? Kinder, Frauen und Männer töten?

Nein, eine Welt, in der die Liebe im großen Maße existieren dürfte, würde anders aussehen. Ganz anders!

Doch wie soll der Mensch das je verstehen, ohne dabei schmerzlich auf die Tatsache zurückgeworfen zu werden, dass all diese Bedingungen, unter denen er lebt und liebt, das Resultat seines Bewusstseinszustands sind? Dass er mit jedem Einkaufszettel eine Stimme abgibt? Dass jeder Akt seines Tuns eine kollektive Bedeutung hat und dass der eigene Wirkungskreis ausschließlich das Feld ist, auf dem er was verändern kann?

Da die hier herrschenden Systeme nicht einmal vor den Kindern Halt machen, um sie kleinzukriegen und kleinzuhalten, scheint leider vieles, was derart grotesk, brutal, abstrus und durch und durch verabscheuungswürdig ist, für ein daran gewöhntes und darauf trainiertes Auge normal zu sein. Wenn wir Seelen hier nicht Not und Sehnsucht in die Menschen pflanzen würden, wäre die Welt bereits dem Untergang geweiht. Schließlich ist das menschliche Bewusstsein so konzipiert, dass es ungern freiwillig größere Sprünge macht oder ein differenziertes Auge auf die geläufigen Begebenheiten wirft. Und genau deshalb bleibt uns Seelen auch nichts anderes übrig, als diese Bedingungen für uns zu nutzen.

So drehen wir an den Rädchen der Kulissen und Schauplätze eines jeden Lebens. Erzeugen Enge, wenn wir nach Weite streben, Krankheiten, wenn wir Luft holen müssen, fesseln an Betten, um innezuhalten. Wir bauen Sackgassen, um das Umdrehen zu erleichtern. Wir bilden Seelengemeinschaften, damit die richtigen Erfahrungen erzeugt werden können. Liebe, Glück, energetische Felder, Schmerz, Leid und Elend – all das entspringt unserem tiefen Anliegen, das menschliche Bewusstsein zu erhöhen. Selbst der menschliche Tod – die Endlichkeit der Existenz – ist nichts weiter als eine Illusion. Er soll lediglich daran erinnern, dass jeder Tag unendlich kostbar ist. Dass das Leben aus einer einzigen Augenblick-Aneinanderreihung besteht und es nie etwas anderes hergeben wird können, als jenes wertvolle, gerade existente JETZT, das tagein, tagaus verplempert wird. Denn genau das ist, was so viele Menschen tun, obwohl sie davon ausgehen, STERBLICH zu sein! Interessant, oder?!

Die meisten Menschen haben aufgehört, ihren Träumen zu folgen. Nein, sie haben aufgehört, überhaupt groß zu träumen! Schließlich ist das den Spinnern vorbehalten. Und wenn es andere wagen, ihren Traum zu leben, damit womöglich auch noch erfolgreich sind, dann ist es ihnen entweder in den Schoß gefallen oder sie haben es nicht verdient. Doch diese Menschen vergessen etwas ganz Grundlegendes: Die Bilanz ihres Lebens wird ihnen früher oder später alle erdenklichen Missstände unter die Nase reiben. Spätestens dann, wenn aus den wunderbarsten Träumen Not geworden ist, werden sie qualvoll begreifen, dass sich niemand selbst entkommen kann und dass ihre Seelen nie etwas anderes wollten, als dieser Bitterkeit entgegenzuwirken!

Und genau deshalb schlich ich mich als Flüstern in Leilas Ohr. Als Enge in ihre Brust. Als Sehnsucht in ihr Herz. Als Entdeckerlust in ihren Geist. Ich drängte, ich drückte, ich schubste. Ich lockte, ich verführte, ich bezirzte. Wie ein scheinbar endloses, wiederkehrendes Verlangen legte ich mich in ihre Welt. Ein Verlangen nach größeren Visionen und Lebensformen, nach Entwicklung, Selbstverwirklichung und Potenzialentfaltung. Ein Verlangen, das sich nicht mit dem Lauf der Dinge zufriedengab, sondern sich eigener Wege bedienen wollte. Um zu verändern, was nicht gefällt. Um zu bewegen, was längst festgefahren schien. Um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und um, von den richtigen Fragen geführt, diese Reise ins eigene ICH überhaupt erst antreten zu können.

Denn tiefe, neue Erfahrungen erzeugen immer tiefes, neues Verständnis. Für alles und jeden. Wie soll es möglich sein, vom Schmerz zu sprechen, ohne ihn schmerzlich erfahren zu haben? Wie entwickelt jemand die Fähigkeit, aufrichtig lieben zu lernen, ohne diesem Gefühl und seinen Färbungen eingehend begegnet zu sein? Und wer könnte je tolerant und empathisch durch die Welt gehen, ohne vorher selbst genau an diesen Stellen ausgebildet worden zu sein?

Ich sag Dir, Leila: Niemand lernt fliegen, ohne zu fallen. Loslassen, ohne festzuhalten. Geben, ohne zu nehmen. Verzeihen, ohne zu verletzen. Es gäbe keine Wahrheit ohne die Lüge! Kein Gut ohne ein Böse! Kein Innen ohne ein Außen! Keine Authentizität ohne Masken! Keine Individualität ohne Norm! Und kein Mensch auf dieser Welt würde sich je weiterentwickeln ohne Seele …

Wieso, geliebte Leila, wehrst Du Dich dennoch so vehement, mir zuzuhören? Hast Du etwa kein Vertrauen in mich? Glaub mir, die Zeit ist reif, mir, Deinem inneren Ruf, zu folgen …

Lass los, und ich verspreche Dir, ich werde Dich tragen und zwar dorthin, wo Du zu Hause bist!

DR. SCHÖN

Es dauerte zwei Jahre, bis ihr der erste fremde Mann über den Weg lief, der sie so tief berührte und ansprach, dass eine ganze Welt für sie zusammenbrach. Denn Leila konnte nicht anders, als diesem Gefühl zu folgen. Sie musste, sie wollte eintauchen in diesen Menschen. Ihn schmecken, fühlen, in seine Seele schauen und zu einem Teil seiner Geschichte werden. Auch wenn das die Apokalypse ihrer kleinen, heilen Welt bedeutete.

Um sie geschehen war es eines Nachts im Zuge ihrer Arbeit. Während Leila als Krankenschwester ihren Tätigkeiten nachging, tat das ebenso ein junger Arzt. Sie hatten zur gleichen Zeit Nachtdienst. Er stolperte in ihren »Stützpunkt«, und er stolperte in ihr Herz. Nicht nur, dass Dr. Schön seinem Spitznamen alle Ehre machte, da floss auch etwas durch seine Adern, das Leila sogleich berührte und sich in der ersten Sekunde ihres Aufeinandertreffens auf diese unerklärbare Weise mitten in ihr Herz bohrte: wunderbar kreative Energie!

Und wie das Leben so spielt, hatten die beiden plötzlich auffällig oft gemeinsam Nachtdienst. Sind das die kosmischen Gesetze der Anziehung? Schreiben sie auch Dienstpläne?

Leila spürte jedenfalls sehr deutlich, wie jede dieser neuen Schnittstellen unzählige interessante Kerben in ihrem Innersten hinterließ und zusehends einen ganzen Sektor von ihr vereinnahmte. Als hätte Dr. Schön die Türe zu einem weiteren Zimmer ihres Herzens aufgestoßen. Zu einem kleinen, abenteuerlichen Raum, der nur ihm gehörte. Und dort, in diesem geheimen Winkel ihrer selbst, hielt sich Leila zunehmend oft versteckt. Denn an jenem Ort durfte sie völlig frei und ungeniert von ihm träumen, ihn erforschen, mit ihm reden und sich dabei alle erdenklichen Szenen ausmalen! Und obwohl diese Szenen fiktiv waren, nahmen sie doch einen gehörigen Einfluss auf die weitere Dramaturgie der Begegnung …

Eines Nachts gegen 2.00 Uhr trafen sich die beiden auf einer Bank im Freien. Sie nutzten die Pause, rauchten eine gemeinsame Zigarette und sinnierten über Gott und die Welt. Leila erzählte, dass sie eigentlich in einer Beziehung sei. Das darin enthaltene »eigentlich« hatte sich völlig unbewusst und unbemerkt in ihren Satz hineingemogelt. Und doch schaffte es dieses kleine, belanglose Füllwort, eine bedeutungsvolle Botschaft zu übermitteln. Eine Botschaft, die sogleich auf Gehör stieß.

Zweifelsohne ritt Leila in jener Nacht der Teufel. Niemals sonst wäre sie auf die Idee gekommen, derart tollkühn anzugreifen. Doch dieses Gefühl, etwas wagen zu wollen, kreiste so vehement in ihrem Innersten umher, dass Leila gar nichts anderes tun konnte, als diesem Impuls zu folgen. Natürlich wusste sie, dass diese Momente heißer Ware gleichkamen. Sie wusste, dass sich in ihnen wilde, selbst ausgedachte Szenen verselbstständigen durften. Szenen, die sich bereits mehrfach vor ihrem inneren Auge abgespielt hatten. Szenen, in denen ein gewisses Risiko verborgen lag, da sie von ihr verlangten, aus der klassischen Komfortzone herauszutreten. Und genau eine solche Szene schwirrte ihr schon die ganze wertvolle Pausenzeit durch den Kopf. Da die beiden gerade aufbrachen, drängte die Zeit. »Besser jetzt als nie«, muckte Leilas innere Stimme auf. Also gut, sie würde es wagen. Kurz vor der Eingangstüre wand sie sich schließlich ihrem attraktiven Kollegen zu. Und während sie sich einen letzten Ruck verpasste und ihr wild klopfendes Herz beiseiteschob, offenbarte sie ihm einen Teil ihrer geheimsten Dr.-Schön-Visionen …

Er wusste gar nicht, wie ihm geschah, und doch spürte er sehr deutlich, dass ihm die Frau gegenüber genau in dem Moment ihrer überraschenden Kehrtwende einen tiefen Blick in ihr Innerstes gewährte. Vielleicht lag es an der funkelnden Begeisterung in ihren Augen oder an der charmanten Verlegenheit in ihrem Lächeln, das ihn so ganz und gar in ihren Bann zog, als sie derart leidenschaftlich ihre fiktive Szene vor ihm auszubreiten begann. Und wie ihm Leila dann erklärte, dass sie so unwahrscheinlich gerne ganz alleine, heimlich, still und leise seine Wohnung erkunden wolle, schlug sein Herz sogleich Alarm. Dieses nahezu fremde Wesen, das da vor ihm stand, steckte nicht nur »eigentlich« in einer Beziehung, sondern es erwischte ihn auch ziemlich unvermittelt an diversen Stellen, die noch nicht ausgeheilt schienen. Ihre Offenheit, ihr Mut und ihre dennoch spürbare Verletzbarkeit erzeugten gefährlich starke Ausschläge in seiner Brust. Fühlte er sich dazu schon bereit?

Doch dieser Frage blieb nicht viel Zeit. Denn an Ort und Stelle toste eine wunderbar ungebändigte Energie. Und diese Energie erzeugte einen Sog. Einen Sog in ihre Richtung. Einen Sog bis hin zu eigenen inneren Bildern und Sehnsüchten. Einen Sog, dem er nicht widerstehen konnte, da diese Anziehung ein derart schönes Gefühl heraufbeschwor. Was sollte daran schon verkehrt sein?! Und so verwandelte sich sein zunächst stutzender Gesichtsausdruck in ein fasziniertes Grinsen. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, nahm er den Schlüsselbund aus der Tasche seines Arztkittels und drehte den richtigen Schlüssel vom Ring. Dann kramte er einen kleinen Zettel und einen Stift aus seiner Kitteltasche hervor und notierte seine Adresse auf dem Stück Papier. Schließlich legte er Schlüssel und Zettel, verschmitzt lächelnd, in ihre Hände.

Mit dieser Trophäe in der Tasche tanzte Leila die verbleibende Zeit ihres Nachtdienstes wie eine Geisteskranke über die Station. Außer Rand und Band und völlig aufgekratzt stand sie schlussendlich am frühen Morgen in dem zum Schlüssel gehörenden Treppenhaus. Seine Schicht dauerte ein paar Stunden länger, und das bot ihrer Neugier nun die Möglichkeit, sich ungestört auszuleben und in der Intimsphäre des Mannes zu kramen, mit dem sie sich trotz der Umstände so verbunden fühlte. Total gespannt und aufgebracht steckte sie schließlich den Schlüssel in seine Haustüre und drehte ihn sachte nach links. All das fühlte sich so unglaublich verboten an. So, als würde sie sich, wie ein Einbrecher, unerlaubten Zugriff verschaffen. Und während sie mit einem hämmernden Herzen nach dem Lichtschalter suchte, offenbarte ihr der erste Blick in seine Wohnung einen echt sonderbaren Eindruck.

Leila, die es so liebte, in Wohnungen die Persönlichkeiten der darin lebenden Menschen zu lesen, war enttäuscht und irritiert: Wie konnte ein Mann wie er nur so hausen? Während sie eintrat, die Türe hinter sich schloss, begann sie wie der Mentalist alle kleinen Details aufzusaugen.

Der zerschlissene, dunkle Teppich, der sich durch die ganze Wohnung zog, die zusammengewürfelten Möbel, die den Anschein erweckten, irgendwo anders ausrangiert geworden zu sein, die fühlende Lieblosigkeit in der Anordnung all dieser Dinge passten nicht mit dem zusammen, was sie ihn ihm sehen konnte. Behutsam durchstreifte sie alle Zimmer. Ihr Blick fiel auf eine Gitarre im Eck, eine Staffelei mit einem selbstgemalten Bild, umsäumt von Farben, Pinseln, interessanten Büchern und CDs. Eine benutzte, schlichte Espressotasse stand noch auf dem Tisch. Bemalte Leinwände lehnten entlang der Wände. Sie blieb stehen und studierte die Gemälde. All diese kleinen Details deuteten auf diesen Menschen, den sie hier vermutet hatte. Nur der Rest? Ein Freigeist mit schlechtem Möbelgeschmack? Ein Künstler, dem sein Zuhause scheißegal war? Leila schmunzelte und zuckte mit den Schultern, während sie ihren Weg aufnahm und ins Schlafzimmer abbog.

Sein Bett bestand aus einer Matratze am Boden. Leila legte sich hinein, tauchte ihre Nase in sein Kopfkissen – sie fing seinen Duft ein und stellte sich vor, wie es wohl wäre, mit ihm hier nackt zu liegen. Einander Haut auf Haut riechen, schmecken und fühlen zu können. Liebe zu machen. Bis all ihre Gerüche und Körpersäfte zu einer ultimativen »Leila-und-Dr.-Schön-Mischung« verschmelzen würden. Sie überlegte, einfach liegenzubleiben. Dem Funktionieren zu entsagen und ihrem Leben eine völlig abgedrehte Richtung zu verpassen. Doch die Flut an Konsequenzen rollte sogleich wie ein Tsunami über all diese Gedanken und drängte sie zur Heimfahrt, schließlich würde es auffallen, wenn sie derart spät nach Hause kam.

Bevor sie die Türe erneut hinter sich zuzog und den Schlüssel in den Briefkasten schmiss, sprühte sie noch etwas von seinem Parfüm auf ihr Handgelenk. Daran roch sie, bis sie geraume Zeit später in ihr Bett fiel und einschlief.

***

Der monatliche Dienstaushang für die Ärzte in nächtlicher Bereitschaft erfreute sich ab diesem Zeitpunkt über ein noch nie vorhandenes Interesse. Pünktlich zur nächsten herbeigesehnten Überschneidung brach Leilas inneres Fieber überfallartig in ihrem ganzen Körper aus. Eine schwere Grippe fesselte sie trotz gewaltigen Widerstandes ans Bett. Und obwohl nahezu alle klaren Gedanken von Halluzinationen in Beschlag genommen wurden, bekam sie das Gefühl nicht los, dass genau das der Plan bei der ganzen Sache gewesen war. So, als hätte die Zentrale ihres Unterbewusstseins den Ausnahmezustand ausgerufen und in Anbetracht der notwendigen Evakuierung beschlossen, dass ein K.o.-Schlag durchaus unter der Rubrik einer vertretbaren, dienlichen Notfallmaßnahme verzeichnet werden durfte.

Während ihr Freund ausnahmsweise mal zu Hause blieb und sie pflegte, träumte Leila wirres Zeug und wand sich in all dem Verlangen. Von rechts nach links. Vom Schwitzen ins Zittern. Von der Realität in den Wahn. Von der Aussicht der Vereinigung in die Ausweglosigkeit ihrer Lebenssituation. Doch so sehr sie sich auch wand: Sie wusste, dass es kein Zurück mehr gab.

Im Zuge ihrer Not wollte Leila jedoch nichts unversucht lassen. Das scheinbar Unabwendbare abzuwenden stand auf dem Programm, auch, wenn es dem Greifen nach dem letzten rettenden Strohhalm gleichkam. Und wie sie dann ein paar Tage später mit ihrem Freund in einem Lokal zusammen beim Essen saß und ihn darum bat, eine Woche mit ihr wegzufahren, liefen ihr sogleich die ersten Tränen übers Gesicht. Denn sie kannte seine Antwort, ehe er überhaupt ein einziges Wort gesagt hatte. Es war einfach zum Verrücktwerden, dass er es nicht schaffte, über seinen Arbeits-Tellerrand zu schauen. Und obwohl ihm seine Freundin weinend gegenübersaß und ihn fast schon bekniete, einen gemeinsamen Urlaub zu machen, da sie es ganz offensichtlich, aus welchen Gründen auch immer, emotional sehr nötig hatte, wies er sie, wie so oft, zurück.

Im Nachhinein wirkte es fast so, als wäre das der alles entscheidende Moment gewesen. Der Moment, in dem der Startschuss fiel …

Im zarten Alter von fünf Jahren ging Leila eines Morgens in den Kindergarten. Es schien ein Tag wie jeder andere zu sein, und doch war er es nicht. Ihre kleine, brotzeitgefüllte Tasche hing quer über ihrem schmalen, mädchenhaften Brustkorb. Bei jedem ihrer Schritte hüpfte diese leicht auf und ab und klopfte gegen ihre Hüfte. Sommerlich von dieser frischen, klaren Luft umgeben, bog diese kleine Leila verträumt in die erste Querstraße ab, um sich ihrem Ziel zu nähern. Während ihre Kinderfüße unbeirrt den vorgegebenen Anweisungen folgten, tat sich plötzlich – wie aus dem Nichts – eine andere, komplett neue und sehr seltsame Perspektive in ihr auf. So, als würde sie sich für einen Moment lang selbst verlassen und von oben auf diese Szene herabblicken. So, als wäre nicht sie dieses Wesen, das da die Straße entlang marschierte, sondern als wäre das nur eine Art Hülle, ein Kleidungsstück, ein Gefäß, das ihr, durch diese anderen Augen blickend, auch unglaublich fremd erschien.

»Warum laufe ich gerade diesen Weg entlang? Was soll das alles? Wo bin ich hier gelandet? Und wer ist das da unten überhaupt?«

Jene drängelnden Fragen durchfuhren sie in diesem Augenblick derart intensiv und so wahrhaftig, dass sie sich wie eine Saat in ihr Bewusstsein einpflanzten. Eine Saat, die im Zuge ihres Heranwachsens nach Nahrung und Licht verlangte, um keimen und wachsen zu dürfen. Eine Saat, die ihr dieses große Gefühl vermachte, dass sie von etwas viel Größeren getragen wurde und sie zu diesem Größeren nach Hause zurückkehren wollte. Und diese Saat erzeugte Heimweh. Dubioses Heimweh. Ein Heimweh, das sie dazu anhielt, auf die Suche zu gehen …

Dieser erste bewusste magische Moment ließ die kleine Leila deutlich wahrnehmen, dass sie nicht das war, was sie zu sehen glaubte, wenn sie sich im Spiegel betrachtete, sondern dass sie vielmehr das war, was sie im Spiegel nicht sehen konnte. Unausweichlich tief brannte sich dieses wundersame Gefühl sogleich in ihrem Geiste ein. Und so plötzlich dieser Augenblick Klein-Leilas-Welt auf den Kopf gestellt hatte, so plötzlich verschwand er auch wieder von der Bildfläche. Woraufhin sie, als wäre nichts dergleichen vorgefallen, einfach weiter ihren Weg in Richtung Kindergarten aufnahm …

Doch so manch späterer, längerer Blick in den Spiegel legte ihr diese Hülle wieder bloß. So manchen inneren Dialog führte sie irgendwann nicht mehr nur mit sich selbst. Und so manches Heimweh erinnerte sie daran, dass ihre Existenz ein übersinnliches Mysterium darstellte. Sie spürte, dass es einen Grund gab, warum sie, dieses rätselhafte Wesen, hier auf dieser Welt lebte. Und diesen Grund ihres Menschseins, ihrer Mission, wollte Leila erfahren!

Zweifelsohne war genau das der tiefere Impuls, warum sie sich immer und immer wieder auf den Weg machte …

Ein paar wenige Wochen später schnitt sich Leila schließlich eine Nacht aus den Rippen. Moderne Mittel und Techniken hatten sich der »Arzt-Krankenschwester«Affäre als dienlich erwiesen und die beiden per Skype miteinander verbunden. Aus Skype wurde allerdings in Windeseile »Parship« und aus dem Chatverlauf ein Date! Hoch lebe das Klischee!

Zwecks Alibibeschaffung erfand Leila eine Faschingsparty im Kollegenkreis, auf der sie auch was trinken wolle und somit über Nacht bleiben würde. In Anbetracht der Tatsachen, dass Leila Fasching hasste, sie mit ihren Kollegen nicht viel am Hut hatte und es ganz prinzipiell vermied, auswärts zu schlafen, stank die Sache bereits an dieser Stelle bis zum Himmel. »Welch unsinniger Plan«, brummte etwas tief drinnen. Doch davon wollte Leila nichts wissen …

Zuhause hatte sie sich sehr stark zurückgezogen, dem Überlebensprinzip und Selbsterhaltungstrieb zuliebe eine Trennmauer errichtet. Ihr Freund nahm diese Veränderungen zwar wahr, konnte sie aber nicht lokalisieren. Und während sie völlig durchgedreht auf dem Weg zu dieser ersehnten ersten Nacht mit einem anderen Mann war, stand er etwas verloren inmitten vieler maskierten Menschen bei einem wilden Faschingstreiben an einer Bar und spürte, wie sich in seinem Bauch etwas zusammenbraute. Etwas, das er nicht wahrnehmen wollte.

Leila hingegen betrat zum zweiten Mal die Wohnung. Nur dieses Mal betätigte sie die Klingel. Ihre Pulsfrequenz war ähnlich hoch, ihr Herz klopfte bis zum Hals, und obwohl sich das Interieur noch aus genauso unpersönlichen und hässlichen Gegenständen zusammensetzte, sah sie es nicht mehr. Schließlich stand Dr. Schön strahlend im Raum. Und so traf sein Strahlen auf ihr Sprühen. Eine fatale Kombination, die sich im Laufe des Abends zunehmend entfaltete, so dass Leila und Dr. Schön irgendwann nur noch einen sehnsuchtsvollen Wunsch in sich verspürten: auf ewig in diesem Gefühl verweilen zu wollen!

Und während die zwei, von diesem Zauber umhüllt, auf dem Sofa saßen und quatschten, Musik hörten und Texten lauschten, sich ihre Blicke trafen und wieder voneinander lösten, Stille einkehrte und jeden gleichermaßen kitzelnde Verlegenheit überkam, zeigte sich vor allem immer deutlicher noch eins: dass diese Mischung früher oder später auf allen menschlichen Ebenen zum Ausdruck gebracht werden wollte.