Unser Haus - Christina Hug - E-Book

Unser Haus E-Book

Christina Hug

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Beschreibung

Herbst 2002, Paul ist neunzehn und frustriert. Seine alten Schulfreunde sind auf Reisen und er drückt immer noch die Schulbank, weil er sitzengeblieben ist. Als er mit einer Gruppe Freaks ein Geschäftshaus mitten in Zürich besetzt, ahnt er noch nicht, welche Abenteuer ihn dort erwarten: Während die Lehrer sich an Pauls «Horrorklasse» die Zähne ausbeissen und die Weltpolitik auf einen dritten Golfkrieg zusteuert, entsteht in der bunt zusammengewürfelten Hausgemeinschaft ein ganz eigenes Biotop mit wilden Partys, uferlosen basisdemokratischen Sitzungen, ungewöhnlichen Freundschaften – und so einigen Komplikationen. Paul versucht mehr oder weniger erfolgreich, im Chaos den Überblick zu behalten, sich den Grabenkämpfen zu entziehen und ganz nebenbei das Herz der Punk-Sängerin Ronja zu gewinnen. Und irgendwann im Sommer hat er auch noch die Matur zu bestehen …

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Inhalt

Cover

Impressum

Titel

1

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6

7

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Epilog

Glossar

Über die Autorin

Über das Buch

Christina Hug

Unser Haus

Autorin und Verlag danken für die Unterstützung:

Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur miteinem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2023 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, BaselAlle Rechte vorbehaltenLektorat: Alisa ChartéUmschlagfoto: Rebecca Hug

Christina Hug

Unser Haus

Roman

Übertreiben ja, aber so nicht.

Zimmer 24

1

Ganz wohl war es Paul bei der Sache nicht. Aber es versprach immerhin, interessant zu werden. Er zählte elf Leute, sich selbst inbegriffen. Ausser Lucas und Lou, seinen momentanen Lieblingsmenschen, waren da Michi und Nando, zwei sympathische Dudes aus dem Realgymnasium, die er vom Kiffen auf dem Olymp kannte. Und diese seltsame Rita, eine Punkerin, die häufig im Ego rumhing. Die anderen kannte er nicht.

«Also», sagte Lucas, «dann wollen wir mal. Ich habe die Bude heute Morgen nochmals rekognosziert. Sie steht definitiv leer und es gibt einen einfachen Zugang von der Rückseite her. Wir gehen jetzt zu Fuss dahin. Bis wir drin sind, verhaltet euch unauffällig.»

Nichts leichter als das, dachte Paul. Nicht auffallen mit einer Prozession von Freaks diverser Gattungen, die bepackt sind, als gehe es zu einem Open-Air-Festival. Doch es lag eine solche Ernsthaftigkeit in der Luft, nahezu sakral, dass er sich einen blöden Kommentar verkniff. Nur nicht gleich von Anfang an unbeliebt machen, sagte er sich. Sie zogen los.

Nach einer Viertelstunde, in der sie von Polizisten unbehelligt geblieben und von Passanten höchstens blöd angeschaut worden waren, stand die Truppe zusammengedrängt und nervös vor einem ebenerdigen Fensterchen im Hinterhof eines mittelgrossen Geschäftshauses. Lucas bastelte mit einem Schraubenzieher am Fensterrahmen rum. Dann knirschte es, er hob das kleine Fenster aus seiner Verankerung, reichte es Lou und verkündete: «Wir sind drin!»

Er verschwand in der Fensteröffnung, und einer nach dem anderen folgten sie ihm. Mit den Füssen voran liessen sie sich ins Dunkel plumpsen und fanden sich in einem kleinen, feuchten Kellerraum wieder. Es roch ein bisschen modrig, wie in einem alten Keller halt. Lucas packte eine Taschenlampe aus seinem Rucksack und leuchtete umher, fand eine Tür und machte sie auf. Wie Schäfchen trippelten ihm die anderen hinterher. Es folgte eine Reihe weiterer, ineinander verschachtelter Kellerräume, zuletzt ein ziemlich grosser, und von dort eine Treppe hoch ins Erdgeschoss. An deren oberem Ende befand sich wieder eine Tür, und dahinter das riesige Ladenlokal mit Bar und Fensterfront, in das sie vorher schon von der Hauptstrasse aus hineingespienzelt hatten. «Unser Café!», rief Lucas euphorisch.

Aber es blieb gar keine Zeit, den Raum angemessen zu bestaunen, denn Lucas war schon an dessen anderem Ende durch die nächste Tür ins Treppenhaus und damit in den eigentlichen, als solchen vorgesehenen Hauseingang weitergehetzt. Die Glastür zur Strasse hin war natürlich abgeschlossen, wie die des Ladenlokals auch. «Die Eingänge kriegen wir dann schon noch auf», sagte Lucas beiläufig, während er schon anfing, die Treppen hochzusteigen, die zu vier weiteren Stockwerken führten. In diesen gab es jede Menge kahle Zimmer in allen möglichen Grössen und Formen – Büroräume eigentlich, Sitzungs- und Wartezimmer. In manchen gab es Einbauschränke, in anderen Waschbecken. Es hatte in jeder Etage eine Toilette, in der obersten sogar zwei, und ausserdem gab es hier eine richtige Küche mit Kühlschrank und Elektroherd, vor der sich der Korridor zu einem grösseren Raum ausbreitete. Dort versammelten sie sich schliesslich, und als alle da waren, sagte Lucas: «Das hier wird dann wohl die gute Stube.»

Wieder fing er an, in seinem Rucksack herumzuwühlen. Diesmal brachte er ein weisses Stoffbündel zum Vorschein und schüttelte es auf. Es war ein Leintuch, auf dem in grossen schwarzen Lettern geschrieben stand:

Dieses Haus ist BESEZT.

«Da fehlt ein ‹T›», sagte Paul.

Lucas machte ein leicht irritiertes Gesicht. Er studierte ein paar Sekunden lang sein Transpi, das ausgebreitet auf dem Boden lag, und kratzte sich am Kopf. Dann erklärte er: «Das ist Absicht.»

«Ach so», sagte Paul. «Na dann.»

Er half Lucas, das Transpi an die Fassade hinauszuhängen. Als es solide festgezurrt war, schaute sich Lou die Sache an. Sie streckte den Kopf aus einem der vielen Fenster und sagte: «Das hängt verkehrt herum.»

Lucas stellte sich neben sie und folgte ihrem Blick.

«Das passt schon», sagte er. «Das sieht doch gut aus.»

Er wandte sich wieder dem Rest der Gruppe zu: «Ich schlage vor, jetzt suchen sich alle erst mal ein Zimmer aus und dann treffen wir uns wieder hier und trinken auf unsere neue Bleibe!»

Und so machten sie es.

Paul nahm sich ein mittelgrosses Eckzimmer im vierten Stock, von der guten Stube aus links den Korridor runter bis an dessen Ende. Es hatte, wie alle Räume in diesem Haus, viele Fenster, ausserdem einen grossen Einbauschrank. Ein weiterer Vorteil war, dass sich gleich gegenüber eine Toilette befand. Er warf seine neue, erstaunlich bequeme Campingmatte und den uralten Schlafsack hinein, zum Zeichen, dass es besetzt war, und gratulierte sich zu seiner Wahl.

Als er in die gute Stube zurückkam, lief Ska-P und die Stimmung war ausgelassen. Offenbar war die Nervosität von seinen neuen Schicksalsgenossen abgefallen. Er setzte sich auf den Boden, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, und Rita, die schräge Ego-Tante, setzte sich neben ihn. Erst als alle anfingen, ihren Proviant aus den Rucksäcken zu packen, realisierte Paul, dass er idiotischerweise kein Bier mitgebracht hatte. Aber bevor er sich richtig darüber ärgern konnte, reichte ihm Rita auch schon eine Hülse und sagte: «Paul, gell?»

«Ja», antwortete er. «Danke schön, Rita.»

Er knackte die Dose auf und prostete der Punkerin feierlich zu. Sie lachte. Ihr Lachen war laut und hart. Ihr Schädel war auf der einen Seite kahl rasiert, die andere Seite ein Busch aus violetten und blauen Strähnen. Sie trug ein zerfetztes schwarzes Kleid und schwere Springerstiefel. In ihrer Unterlippe hingen links und rechts je ein Ring. Ihre ganze Erscheinung erinnerte Paul ein bisschen an einen gruseligen Clown.

«Und was machst du so, Paul?»

Er überlegte eine Sekunde. «Ich besetze ein Haus.»

Wieder lachte sie. «Ja, das hab ich mitbekommen! Aber sonst, was machst du denn sonst so im Leben?»

Gute Frage, dachte Paul. Rita grinste ihn an und neigte sich etwas näher zu ihm herüber, wie um ihn besser hören zu können, was Paul aber trotz der lauten Musik nicht wirklich nötig fand. Er wich etwas zurück, nahm einen grossen Schluck Bier. Es fiel ihm keine schlaue Antwort ein. Schliesslich murmelte er: «Na ja, nicht viel ...»

«Ist ja gut.» Rita wirkte plötzlich genervt. «Sag doch einfach, dass du keinen Bock hast, dich mit mir zu unterhalten. Mein Gott, das fängt ja schon mal gut an hier.»

Sie stand auf und verzog sich ans andere Ende des Raums. Paul sah ihr nach und fragte sich, was da gerade schiefgelaufen war. Gratuliere, dachte er, jetzt hast du es doch geschafft, dich gleich am ersten Abend unbeliebt zu machen.

Dann setzte sich Lucas neben ihn und bot ihm seine angerauchte Tüte an. «Alles klar bei dir, altes Haus?»

Paul entspannte sich. Zum ersten Mal an diesem Tag, wie er auf einmal realisierte. «Alles klar. Und bei dir?»

Der gute alte Lucas. Schön, dass es den auch noch gibt, dachte Paul. Er wurde plötzlich fast ein bisschen sentimental und hätte seinen Kumpel aus Kindertagen bei den Roten Falken in diesem Moment am liebsten an sich gedrückt. Stattdessen nahm er erst mal einen Zug von dem Joint.

Es wurde dann noch ein ganz lustiger Abend. Es wurde viel getrunken, geraucht und geschwatzt, und Paul erfuhr einiges über seine neuen Mitbewohner. Michi und Nando, die beiden Jungs aus dem Realgymnasium, deren Signalelement ihre Baggy-Jeans und Run-DMC-T-Shirts waren, hatten am Vortag beim Kiffen auf dem Olymp von Lou von der geplanten Besetzung erfahren und spontan beschlossen, sich anzuschliessen. Sie hatten noch einen alten Freund aus der Primarschule mitgenommen, der Sanitär war, was bei einer Hausbesetzung nur nützlich sein konnte, wie alle fanden, und so wurde der Name von dem armen Kerl von den meisten gar nicht richtig zur Kenntnis genommen, sondern sie nannten ihn einfach gleich den Sanitär. Wie für Paul war es auch für Michi, Nando und den Sanitär die erste Hausbesetzung, und sie waren ganz aus dem Häuschen darüber, wie unkompliziert die ganze Sache bis jetzt verlaufen war. Sie hatten zu dritt das grösste Zimmer im dritten Stock in Beschlag genommen, einen etwa dreissig Quadratmeter grossen Raum, und machten fröhlich Pläne, wie sie diesen aufteilen und einrichten wollten.

Dann waren da Maja und Jan, ein friedliches Hippie-Pärchen Anfang dreissig, das Lucas von einer früheren Besetzung in Wiedikon kannte. Sie waren langjährige und überzeugte Hausbesetzer und sahen aus wie richtige Blumenkinder. Maja glich ein wenig Janis Joplin, ausser dass ihre langen Haare orange und gekraust waren, und Jan war offenbar immer barfuss unterwegs. Die beiden schienen sich über die beduselte Begeisterung ihrer jugendlichen Mitsquatter wohlwollend zu amüsieren. Andi und Rufus schliesslich waren Punks, schräge Vögel wie aus dem Bilderbuch und Freunde von Rita, wenn auch ein paar Jahre älter als sie.

Es schienen alle ganz nett und ziemlich trinkfest zu sein. Allfällige Bedenken über mögliche Schwierigkeiten eines längerfristigen Zusammenlebens ertränkte Paul an diesem Abend in grösseren Mengen Bier. Anderer Leute Bier, wie er durchaus auch im Suff nicht zu stolz war, sich vor Augen zu halten.

Als Rita etwa zwei Stunden nach ihrem ersten merkwürdigen Intermezzo plötzlich wieder neben ihm stand, war sein Missbehagen merklich abgeflaut. Sie hatte eigentlich ein gutes Gesicht, grosse blaue Augen und eine feine Nase, und ihr rotziges Lachen war gar nicht so uncharmant.

«Hör zu, wegen vorhin», sagte Paul. «Das tut mir leid, ich wollte nicht ungehobelt sein. Das war nicht wegen dir. Es ist nur leider so, dass ich im Leben sonst eigentlich gar nichts mache. Die schäbige Wahrheit ist: Ich bin gestern neunzehn geworden und ich gehe immer noch zur Schule, weil ich letztes Jahr sitzen geblieben bin. Meine früheren Schulfreunde sind jetzt auf Reisen, und ich sitze immer noch hier in Zürich rum und drücke die Schulbank. Und das hier, das ist das Abenteuerlichste, was ich seit Langem erlebt habe.»

Jetzt grinste Rita wieder. «Und Abenteuer kann man schliesslich nie genug erleben. Alles Gute nachträglich zum Geburtstag.»

Paul erwachte von einem genüsslichen Seufzer, der durch eine Wand drang, die offenbar aus Karton bestand. Sein Schädel schmerzte und es dauerte einen Moment, bis er realisierte, wo er war. Seine Erinnerung an den Vorabend war ziemlich verschwommen. Er entsann sich noch eines längeren Gesprächs mit Rita, wobei ihm aber nicht mehr einfiel, worum es da genau gegangen war, sondern nur, das wurde ihm plötzlich mit einigem Entsetzen klar, dass sie sich dabei irgendwie seltsam nähergekommen waren. Er war jedenfalls ausserordentlich erleichtert darüber, keinen zerknitterten Gruselclown neben sich auf der Campingmatte vorzufinden. Er drehte sich um und versuchte, wieder einzuschlafen. Aber das Geseufze nebenan ging bald in ein wildes Gepolter über, und kurz darauf klopfte es auch noch geräuschvoll an seine Tür.

«Haussitzung!», rief Lucas, und Paul hörte, wie er den Flur hinaufstampfte und das gleiche Prozedere an der Tür nebenan wiederholte. Die Geräusche aus dem Nebenzimmer nahmen ein abruptes Ende. «Ist ja gut, du Knalltüte!», war jetzt Majas Stimme zu vernehmen, aber Lucas war schon wieder eine Tür weiter. Paul schälte sich aus seinem Schlafsack und ging erst mal aufs Klo.

In der guten Stube roch es wunderbar nach Kaffee. Lou drückte ihm einen dampfenden Pappbecher in die Hand. «Du siehst scheisse aus.»

«Oh, danke, du aber auch», sagte Paul, und es stimmte. Ihr sonst eigentlich schönes Gesicht war aufgedunsen, ihre Augen klein und rot.

«Wie habt ihr das hingekriegt mit dem Kaffee?»

«Na, wie wohl? Der Herd in der Küche läuft einwandfrei. Lucas hat mich um acht geweckt mit seinem nervösen Herumgetigere. Du kannst froh sein, dass er euch bis zehn hat schlafen lassen! Ich habe keine Ahnung, wo dieser Irre seine Energie hernimmt.»

Sie sah verliebt in Richtung Küche, aus der ihr Freund gerade mit zwei weiteren Bechern Kaffee herauskam, und Paul dachte, dass er im letzten Jahr immerhin diese eine Sache richtig gemacht hatte: die beiden einander vorzustellen. Obwohl das ja auch mehr ein Zufall gewesen war.

Als alle mit Kaffee versorgt waren und es sich müde zwischen den leeren Dosen und vollen Aschenbechern der letzten Nacht bequem gemacht hatten, legte Lucas los: «So, ich hoffe, ihr hattet alle eine gesegnete Nachtruhe. Als Nächstes müssen wir die folgenden drei Dinge tun: Erstens, unseren mittelfristigen Verbleib in diesem schönen Haus hier sichern. Für die, die es noch nicht wissen: Das Haus gehört der Alternativen Baugenossenschaft. Für das Land hat sie einen Baurechtsvertrag mit der Stadt. Noch für die nächsten sechzig Jahre oder so – das heisst, das Land gehört eigentlich der Stadt, die es ihr billig verpachtet. Wie ihr sicher wisst, sind die politischen Freunde der Baugenossenschaften die linken Parteien, und die ABG ist sowieso so ein altlinkes Projekt. Mit anderen Worten: Sie kann es sich beim besten Willen nicht leisten, wegen einer Besetzung schwierig zu tun. Ich werde also dort anrufen, die Besetzung melden und versuchen, einen Gebrauchsleihvertrag auszuhandeln.»

«Woher weiss er, wem das Haus gehört?», flüsterte der Sanitär, und Jan, der neben ihm sass, antwortete belustigt: «Vom Grundbuchamt natürlich.»

Es war offensichtlich, dass diese Antwort beim Sanitär eher mehr Fragen auslöste, als dass sie Klarheit schaffte, aber er sagte trotzdem nur «ach so», und Paul konnte ihm das sehr gut nachfühlen. Allerhand, dachte er, wer hätte das gedacht, das Handwerk des Hausbesetzens will gelernt sein! Einfach mal auf dem Grundbuchamt vorbeizugehen, da wäre er auch nicht draufgekommen, und dabei war das ja eigentlich völlig logisch. Aber genau das unterschied wahrscheinlich den richtigen Hausbesetzer vom Mitläufer, wie er selbst einer war, und der Sanitär offensichtlich auch. Doch das würde ja bedeuten, dass sein alter Kumpel Lucas ein richtiger Hausbesetzer war, und obwohl Lucas das Handwerk – oder vielleicht eher die Kunst – des Hausbesetzens offenbar zu beherrschen schien, wollte das Paul dann irgendwie doch nicht so richtig in den Kopf. Lucas kriegte doch sonst nie irgendwas gebacken. Woher wusste der so gut Bescheid über Baurechtsverträge und sowas, und überhaupt, was bitte war ein Gebrauchsleihvertrag?

«Zweitens: Das Haus einrichten. Lou und ich haben heute Morgen auf dem Estrich ein paar Möbel und Lampen gefunden. Die holen wir nachher alle zusammen runter, und jeder kann sich davon nehmen, was er braucht. Falls dann noch was übrig ist, kommt es hier in die gute Stube oder unten ins Café. Diese Sachen werden aber nicht reichen, deshalb bringt bitte alles her, was ihr irgendwie auftreiben könnt. Und nicht nur Möbel, auch anderes Zeugs, zum Beispiel für die Küche Geschirr und Pfannen und so weiter. Und eine zusätzliche Espressomaschine könnte auch nicht schaden.»

Lucas warf einen Blick in die Runde, wie um zu prüfen, ob alle verstanden hatten, und alle nickten eifrig, ausser Jan und Maja, das Hippie-Pärchen, die grinsten einander nur belustigt an.

«Drittens müssen wir uns überlegen, wie wir uns organisieren und das Haus beleben wollen. Ich denke, es ist allen klar, dass es viel zu gross ist für elf Personen. Mehr als die Hälfte der Räume ist ja noch frei, und für den Betrieb des Cafés brauchen wir eh mehr Leute. Wir müssen uns also darüber einigen, wen wir hier noch ins Boot holen möchten und wie, und welche Grundsätze für alle, die dieses Haus nutzen, gelten sollen. Also ich bin ja dafür, dass jeder, der will, hier mitmachen dürfen soll.»

Wieder sah er einen nach dem anderen auffordernd an. Paul wusste nichts zu sagen, und auch die meisten anderen glotzten mehr oder weniger ahnungslos aus der Wäsche.

Maja brach das allgemeine Schweigen: «Also meiner Erfahrung nach ist es umso schwieriger, sich gemeinsam zu organisieren, je mehr Leute involviert sind. Ich schlage deshalb vor, dass wir uns, was das Zusammenwohnen betrifft, so einrichten, dass jeder erst mal für sich selbst sorgt – ich meine, im Sinne von Einkaufen und so. Das soll natürlich nicht heissen, dass wir nicht auch mal was zusammen kochen können oder so. Aber solange jeder für sich selbst verantwortlich ist, gibt es kein böses Blut, wenn irgendwann mal keine Milch oder kein Klopapier mehr da ist. Man muss dann seine Sachen halt auch anschreiben und so, und was nicht angeschrieben ist, gehört der Allgemeinheit.»

Paul fand diesen Vorschlag sehr vernünftig, denn er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es anders funktionieren sollte. Er jedenfalls hatte nicht die geringste Lust auf ein Kommunenleben mit Koch- und Abwaschplan, und deshalb hob er, als Lucas fragte, wer mit Majas Vorschlag einverstanden sei, die Hand und war froh, als alle anderen es ihm gleichtaten.

«Das heisst natürlich auch», meldete sich jetzt Jan, «dass jeder die gemeinsam genutzten Räume jeweils so zurücklässt, wie er sie selbst vorfinden möchte. Sonst wird das schnell unfriedlich. Aber das versteht sich ja von selbst, so unter erwachsenen Menschen.»

In diesem Moment fiel Pauls Blick auf Rita, die zerkrumpelt und leicht gelangweilt an der gegenüberliegenden Wand lehnte und nicht wirklich bei der Sache zu sein schien, und Rufus, einen ihrer zwei Punkerfreunde, der neben ihr hängte und mit den Lippen tonlos das Wort «Bünzli» formte. Aber immerhin, es widersprach niemand hörbar, und somit war das von Jan formulierte Gebot wohl der offizielle Konsens.

«Gut», sagte Lucas, «dann hätten wir diesen Teil schon mal geklärt. Und was machen wir jetzt, um mehr Leute ins Haus zu holen?»

«Na, eine Einweihungsparty natürlich.»

Lous Vorschlag erweckte auch Rita und die restlichen Zombies wieder zum Leben.

2

Röbi hatte Älplermagronen gekocht. Es roch herrlich, und Paul merkte erst jetzt, wie hungrig er war. Bei seinem Kater hatte er den ganzen Tag keinen Bissen runtergekriegt. Dabei hatten sie zwei Stunden lang Möbel vom Dachstock heruntergeschleppt und im Haus verteilt. In der Ecke seines Zimmers, zwischen den Fenstern, stand jetzt ein ausladender alter Polstersessel mit einem kleinen Beistelltischchen. Dann hatte er noch mit Lucas und Lou zusammen die Container hinter der Migros geplündert und die Küche mit noch nicht ganz abgelaufenen Esswaren gefüllt.

«Wo warst du denn das ganze Wochenende?», wollte Verena wissen. «Du hast dich ja gar nie zu Hause blicken lassen.»

«Wir haben ein Haus besetzt», sagte Paul und versuchte, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.

Röbi hob erstaunt die Augenbrauen.

«Ein Haus besetzt!», rief Verena. «Na, das ist doch mal was.» Es schwang ein angemessener Stolz in ihrer Stimme mit, alte POCHlerin, die sie war. Sie schöpfte allen nochmals nach. «Und wer ist wir?»

«Was, wer ist wir?», fragte Paul.

«Na, wer wir ist! Du hast doch gesagt, wir haben ein Haus besetzt, und nicht etwa, ich habe ein Haus besetzt. Was auch logisch ist, denn allein kann man ja wohl kein Haus besetzen – würde ich jedenfalls mal meinen.»

Herrgott, dachte Paul, jetzt muss sie auch noch die Dialektikerin raushängen lassen. Sein Kopf schmerzte.

«Also, wer sind denn nun die anderen, die mit dir zusammen das Haus besetzt haben?»

«Na, Lucas, Lou und noch ein paar andere halt. Und übrigens werde ich jetzt da wohnen.»

Röbi machte grosse Augen.

«Ah, Lucas!», sagte Verena. «Wie schön. Wie geht es dem denn so? Ich finde das ja wirklich sehr schön, dass du wieder mehr Zeit mit Lucas verbringst. Wie kommt denn das eigentlich?»

«Na ja ...»

Paul war mit Lou am See gewesen, sie hatten was zu rauchen gesucht, waren ihren Nasen gefolgt und hatten Lucas gefunden. Er hatte die beiden einander vorgestellt, sie hatten einen lustigen Nachmittag zusammen verbracht und von da an hatte man sich wieder öfter gesehen. Lucas und Lou waren bald ein Paar geworden. Ein gutes Jahr war das jetzt her.

«Wir sind uns halt einfach wieder über den Weg gelaufen.»

«Aha. Na, das finde ich jedenfalls wirklich sehr schön!», sagte Verena jetzt schon zum dritten Mal. «Aber sag mal, was ist eigentlich aus Tommy und den anderen geworden? Mit denen hast du doch auch immer so viel gemacht. Die habe ich jetzt auch schon lange nicht mehr gesehen.»

Pauls Kopfschmerzen wurden genauso schnell stärker, wie seine Laune kippte.

«Ach, Mama, was soll denn das jetzt! Musst du mich jetzt über alle meine sozialen Kontakte ausfragen oder was?»

«Was denn, warum regst du dich denn gleich so auf, Kind? Man wird doch wohl noch fragen dürfen!»

«Was gibt es denn da zu fragen? Du weisst doch genau, dass die alle diesen Sommer die Matur gemacht haben und jetzt über alle Berge sind. Ich bin doch der Einzige, der immer noch wie ein Vollidiot hier herumhängt und die Schulbank drückt, verdammte Scheisse!»

Tatsächlich hatte er Tommy schon während des vergangenen Schuljahrs etwas aus den Augen verloren. Der hatte neue, bessere und fleissigere Mitmusiker um sich geschart und eine richtige, ambitionierte Band gegründet, während Paul sich beim Kiffen mit Lucas und Lou vom Frust des Sitzenbleibens abgelenkt hatte. Aber das seiner Mutter und Röbi erklären zu wollen, das hätte jetzt auf jeden Fall zu weit geführt. Stattdessen schob er energisch den Teller von sich weg und sagte nochmals etwas lauter: «Verdammte Scheisse!»

Röbi legte Paul beschwichtigend eine Hand auf den Arm. «Paul, Verena kann nichts dafür, dass du repetieren musstest. Aber wenn wir schon dabei sind: Findest du das wirklich eine gute Idee, jetzt in ein besetztes Haus zu ziehen? Du hast schon noch vor, nächsten Sommer die Matur zu machen, oder?»

Das war definitiv zu viel. Paul stand so ruckartig auf, dass sein Stuhl nach hinten kippte und auf den Boden knallte. «Ja, aber weisst du was, Röbi?», fauchte er. «Weisst du was? Mit Lucas Häuser zu besetzen macht wenigstens Spass, und irgendwas im Leben darf einem ja auch noch Spass machen, oder?»

Er war aus der Küche raus, bevor sie etwas entgegnen konnten.

Schon im Bus tat ihm sein harscher Abgang leid. Verena und Röbi konnten wirklich nichts dafür, dass er seit dem Sitzenbleiben die meiste Zeit schlecht gelaunt war, und das war jetzt immerhin schon über ein Jahr her. Sie versuchten beide, das Beste aus der Situation zu machen. Und trotzdem: Wo er wohnte und mit wem er rumhing, war seine Sache. Ich bin schliesslich erwachsen, dachte er, ich bin kein Kind mehr, das müssen die auch endlich mal begreifen.

Er wollte sich gerade daranmachen, wieder durch das Kellerfenster ins Haus zu klettern, als Lucas' Kopf darin auftauchte. «Paul! Gut, dass du da bist. Komm mit, wir gehen zur Telefonzelle bei der Post da vorne. Ich habe die Telefonnummer der ABG-Zentrale herausgesucht.»

Er zwängte sich durch die kleine Öffnung und Lou folgte ihm, strahlend wie ein Maikäfer.

«Aber da ist doch jetzt niemand», sagte Paul, «am Sonntagabend!»

«Genau das ist ja der Witz! Wir sprechen denen auf den Telefonbeantworter. Der Typ, der den morgen früh abhört, wird sein blaues Wunder erleben!»

Sie standen zusammengepfercht in der Telefonzelle. Lucas warf einen Einfränkler in den Münzschlitz und wählte die Nummer, die er auf einen Zettel gekritzelt hatte. Paul hörte es leiste tuten. Lou grinste und blickte von Paul zu Lucas und wieder zurück. Das Tuten hörte auf, Lucas horchte konzentriert in den Hörer hinein. Nach zehn Sekunden legte er auf.

«Scheisse.»

«Was ist los?», fragte Lou.

«Da kann man keine Nachricht hinterlassen. Der Telefonbeantworter sagte nur, wann die Telefone besetzt sind.»

Lou fing an zu kichern. Lucas war genervt. «Was ist denn daran lustig?»

Paul merkte erst jetzt, dass die beiden schon wieder ziemlich breit waren.

«Ach komm», sagte Lou, «das ist doch nicht schlimm. Es kann nicht immer alles nach Plan laufen, das wäre doch langweilig!»

Sie strich ihrem Freund die langen Fransen aus dem Gesicht. «Dann rufen wir halt morgen während der Öffnungszeiten nochmal an.»

Lucas entspannte sich. «Na gut. Vielleicht geht das sowieso besser in nüchternem Zustand.»

Zurück im Haus tranken sie noch ein Bier miteinander und innert fünf Minuten war Pauls zäher Kater wie weggeblasen. Da hätte man auch früher draufkommen können, einfach nochmal ein Bier zu trinken, dachte er. Es war erst gegen halb elf, als er sich in seinen Schlafsack einwickelte und es sich auf der Campingmatte bequem machte. Er schlief auf der Stelle ein.

Am nächsten Morgen schwänzten Paul und Lou den Turnunterricht. Um Viertel nach acht standen sie wieder mit Lucas in der Telefonzelle und er wählte noch einmal die Nummer der ABG. Wieder hörte man ein leises Tuten, dann ein Klicken und eine Stimme, aber was die sagte, verstand Paul nicht. Lou hibbelte nervös herum, was sehr ungewöhnlich für sie war.

«Ja, guten Morgen, Fritz Müller hier», begann Lucas. «Wer ist denn bei Ihnen für die Liegenschaftenbewirtschaftung zuständig?»

Lou biss sich auf die Unterlippe.

«Nein, ich habe keinen gewohnten Ansprechpartner auf Ihrer Geschäftsstelle ... Ja, es geht um das Haus, in dem ich wohne, aber es handelt sich dabei um ein Geschäftshaus ... Jaja, ich verstehe schon, dass Sie mir nicht folgen können. Ich kann Ihnen das gerne erklären: Wir haben am Wochenende eine Ihrer Liegenschaften besetzt, und nun würden wir gerne einen Gebrauchsleihvertrag aushandeln.»

Einen Moment lang wurde es still am anderen Ende der Leitung. Dann wieder kurz die Stimme, und dann wieder Lucas: «Ja, gerne, verbinden Sie mich doch mit ihr.»

Ein Grinsen machte sich auf seinem Gesicht breit, und dreissig Sekunden später fing er wieder von vorne an mit seinem Sprüchlein: «Guten Morgen, Fritz Müller hier ...»

Die zuständige Dame von der ABG vereinbarte mit Lucas, dass sie um halb fünf mit einem Kollegen vorbeikommen würde. Lou und Paul gratulierten Lucas zu seinem souveränen Auftritt und nahmen das nächste Tram zur Schule, wo sie zuerst schnell im Sporttrakt duschen gingen und sich in der Mensa noch einen Kaffee holten, bevor sie sich pünktlich für die Geschichtsstunde in ihr Klassenzimmer setzten.

Bei Herrn Metzler zu spät zum Unterricht zu erscheinen, war keine gute Idee, und weil das alle wussten, sassen auch alle schon brav in ihren Bänken, als er das Klassenzimmer betrat. Der alte Metzler war eigentlich kein schlechter Lehrer, er war nur leider ein cholerisches Arschloch. Seine politischen Ansichten waren derart konsequent, dass er selbst Jahrhunderte zurückliegende Ereignisse nicht neutral in ihrer Bedeutung für das Fortschreiten der menschlichen Zivilisation betrachten konnte. Er hatte sich in der zweiten Klasse grässlich darüber ereifert, dass die Gracchen dekadente Cüpli-Sozialisten gewesen seien, und in der vierten hatte er keinen Hehl daraus gemacht, dass er die Französische Revolution für eines der grössten Verbrechen der Menschheitsgeschichte hielt. Im Unterricht war er ein unberechenbarer, sadistischer Tyrann, und die Frage war nie ob, sondern immer nur wann er während der Schulstunde in die Luft gehen würde. Für Paul war es gleich nochmal so frustrierend wie das Sitzenbleiben an sich, dass er auch in seiner neuen Klasse in Geschichte wieder beim Metzler gelandet war.

«Guten Morgen, meine Damen und Herren», eröffnete der jetzt die Stunde. «Nicolas, wo ist Ihr Heft?»

Nicki, der sich von Anfang an wohlweislich klein gemacht hatte an seinem unauffälligen Platz in der zweithintersten Reihe, sank noch mehr in sich zusammen und flüsterte: «Ich habe es zu Hause vergessen.»

«Ah», sagte Metzler in übertrieben freundlichem Ton. «Und was nützt es Ihnen zu Hause?»

Nicki sah ihn verwirrt an und stammelte nach einigen Sekunden kleinlaut: «Äh ... nichts?»

«UND WESHALB IST ES DANN ZU HAUSE?», schrie Metzler und machte mit hochrotem Kopf einen Satz auf Nicki zu.

Heute ist er aber früh dran, dachte Paul.

Nicki, der erschrocken zusammengefahren war, sagte leise: «Es tut mir leid», und starrte vor sich auf die Tischplatte. Aber Metzlers Aufmerksamkeit hatte sich inzwischen sowieso Lou zugewandt. «Und Sie, Louisa, schlafen Sie mir etwa ein?»

Lou, deren Augen tatsächlich eben noch fast zugefallen waren, schreckte auf: «Natürlich nicht, Herr Metzler!»

Metzlers Augen verengten sich zu bösen kleinen Schlitzen. «Oder sind Sie etwa schon bekifft, so früh am Morgen?»

Er bückte sich zu Lou herunter, kam ihr mit dem Gesicht bedrohlich nahe und schnüffelte demonstrativ an ihr.

«Also, entschuldigen Sie mal», hörte sich Paul da plötzlich sagen.

Er hätte sich geisseln mögen dafür. Wie in Zeitlupe nahm er wahr, wie sich Metzlers Gesicht in seine Richtung drehte. Erstaunen und Ekel spiegelten sich darin. Jetzt gab jetzt kein Zurück mehr.

«Entschuldigung, Herr Metzler, aber glauben Sie etwa, wir lernen mehr, je mehr wir uns vor Ihren Erniedrigungen fürchten?»

Metzler schien einen Moment lang um seine Fassung zu ringen. Dann sagte er, seine Stimme ein Eispickel: «Ach, und der Herr Sitzengebliebene möchte sich jetzt als nobler Retter der armen Klasse 6b profilieren? Wie selbstlos von Ihnen! Aber ich kann Ihnen eins verraten, Paul: Diese jungen Leute hier kommen bestens ohne Ihre Hilfe zurecht, Sie ... Sie fleischgewordene ZEITVERSCHWENDUNG!»

Das Klassenzimmer war einen kurzen Moment lang so still, dass man eine Stecknadel hätte zu Boden fallen hören können. Dann sagte Lou: «Das reicht. Paul, wir gehen.»

Sie stand auf, packte ihn am Arm und zog ihn mit sich hinaus.

«Was fällt Ihnen ein!», fauchte Metzler. «Setzen Sie sich sofort wieder hin!»

Aber da hatte die Klasse schon Blut geleckt, und einer nach dem anderen folgten ihre Mitschüler ihnen aus dem Zimmer. Denn eine Gelegenheit, eine Schulstunde frühzeitig abzubrechen, liess sich diese Klasse niemals entgehen. Auf dem Gang draussen hörten sie noch, wie Metzler hinter ihnen her zeterte: «Das wird ein Nachspiel haben, das garantiere ich Ihnen!»

Der Rest des Schultags verlief vergleichsweise ereignislos, und um vier Uhr beeilten sich Paul und Lou, in die Besetzte zurückzukommen. Die Besprechung mit der ABG-Vertretung wollten sie auf keinen Fall verpassen. Paul staunte nicht schlecht über die Menge an Mobiliar, die sich in der Zwischenzeit auf der Strasse vor den Schaufenstern des Cafés angesammelt hatte. Lucas und Rita hatten beim Erkunden der reichen Nachbarschaft etwas oberhalb der Besetzten ein noch kaum benutztes Ledersofa «zum Mitnehmen» auf der Strasse gefunden und mit Hilfe von Maja und Jan zum Haus getragen. Der Sanitär hatte einen kleinen Couchtisch, vier alte Holzstühle, einen Kamelhocker und jede Menge Geschirr aus dem Keller seiner Grosseltern geholt. Und Andi, einer von Ritas Punkern, hatte sogar drei Barhocker aufgetrieben, weiss Gott, wo. Jetzt standen sie nervös auf der Strasse herum, warteten und rauchten.

Um halb fünf tauchten eine Frau und ein Mann vor dem Café auf, die sich in ihren ausgewaschenen Jeans und No-Logo-Oberteilen nicht besonders von der Besetzer-Truppe abhoben und die deshalb auch niemand gleich als die Leute von der ABG erkannte. Als die Frau sich höflich erkundigte, wer von ihnen denn nun Fritz Müller sei, löste das eine gewisse Verwirrung aus, weil ausser Paul und Lou offenbar noch gar niemand mitbekommen hatte, dass Lucas sich für die Verhandlungen diesen Decknamen zugelegt hatte. Aber alle entspannten sich schnell wieder, als Lucas sich zu erkennen gegeben und man sich freundlich die Hände geschüttelt hatte. Die Frau hatte die Schlüssel zum Haus mitgebracht und schloss die Eingangstür zum Café auf. Dann wurden erst mal die ganzen Möbel hineingetragen, wobei der ABG-Mann beherzt mithalf. Schliesslich setzte man sich hin und es ging los.

Die Frau von der ABG hiess selbst tatsächlich Müller, und so sprachen sie und Lucas sich gegenseitig immer mit Herr und Frau Müller an. Es kostete Paul während der ganzen Dauer der Besprechung einige Willenskraft, ein ernstes Gesicht zu machen, obwohl das seine einzige Rolle war. Die Verhandlungen führte Lucas praktisch im Alleingang, mit etwas Unterstützung von Maja und Jan, die noch die eine oder andere Frage einbrachten, die ihnen klärungsbedürftig erschien.

Die ABG hatte offenbar nicht viel Erfahrung mit Hausbesetzungen, weil es selten zu Leerständen kam, aber Frau Müller und ihr Kollege Herr Baumgartner waren sehr nett und unkompliziert, und alles lief sehr freundschaftlich ab. Ein Vertrag wurde nicht unterzeichnet, weil die Genossenschaft die Kosten für Strom und Wasser lieber gleich selbst übernehmen wollte, als ein Vertragsverhältnis mit den Hausbesetzern einzugehen. Das versetze sie, wie Herr Baumgartner erklärte, gegenüber den Behörden in eine weniger verfängliche Position, und die Kosten, die der Betrieb der Liegenschaft verursache, seien ja mehr oder weniger vernachlässigbar. Dafür einigte man sich per Handschlag darauf, dass die Besetzer die Liegenschaft rechtzeitig vor Beginn der Abrissarbeiten freiwillig verlassen würden. Deren Termin stand bisher noch nicht fest, sei aber, versprach Frau Müller, frühestens in einem Jahr zu erwarten. Zum Ende des Treffens überreichte sie Lucas ein grosses Bündel mit Schlüsseln. Zwei davon gehörten zum Ladenlokal und zum Durchgang von diesem ins Treppenhaus, die anderen passten alle für den Haupteingang und zusätzlich für je eines der oberen vier Stockwerke. Von nun an konnten die Bewohner ganz normal durch die Eingangstüren ins Haus gelangen. Nur für die einzelnen Zimmer gab es keine Schlüssel, was Paul etwas bedauerlich fand, aber man konnte halt nicht alles haben.

Am Abend weihten sie das Café ein und begossen ihren Verhandlungserfolg ausgiebig mit Rotwein aus dem Weinkeller vom Grossvater des Sanitärs, den sie aus den Porzellantassen der Grossmutter des Sanitärs tranken. Sie prosteten den Passanten zu, die verwundert von der Strasse aus hineinblickten, und Lou erzählte allen mit einer Begeisterung von der kleinen Revolution, die Paul heute im Geschichtsunterricht angezettelt hatte. Sie löste damit allgemeine Heiterkeit aus, und Paul lachte fröhlich mit, aber das lag wohl vor allem am Suff, denn wenn er ehrlich war, machte er sich schon etwas Sorgen über die möglichen Konsequenzen der Aktion. Aber lieber noch etwas Wein als zu viel darüber nachdenken, sagte er sich.