Unser täglich Blut - Anonymus - E-Book

Unser täglich Blut E-Book

Anonymus

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Beschreibung

Sie nennen sich die Dead Hunters - Profikiller mit einem Hang zur dramatischen Inszenierung. Sie übernehmen nur die wirklich harten Fälle. Ob es um Monster, Vampire oder Untote geht, mit einer gut platzierten Kugel kriegen sie alles klein. Doch ihr neuer Auftrag bringt sie an ihre Grenzen. Sie haben es mit niemand Geringerem als Kain zu tun, dem ersten Psychopathen der Geschichte. Seit Jahrhunderten wandert der Verfluchte mordend über die Erde. Und sein neuester Plan droht, die gesamte Menschheit in den Abgrund zu reißen: Er will die vier Reiter der Apokalypse befreien und mit ihrer Hilfe das Tor zur Hölle öffnen ...

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♦ INHALT

CoverÜber das BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungPrologEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtNeunZehnElfZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnSiebzehnAchtzehnNeunzehnZwanzigEinundzwanzigZweiundzwanzigDreiundzwanzigVierundzwanzigFünfundzwanzigSechsundzwanzigSiebenundzwanzigAchtundzwanzigNeunundzwanzigDreißigEinunddreißigZweiunddreißigDreiunddreißigVierunddreißigFünfunddreißigSechsunddreißigSiebenunddreißigAchtunddreißigNeununddreißigVierzigEinundvierzigZweiundvierzigDreiundvierzigVierundvierzigFünfundvierzigSechsundvierzigSiebenundvierzigAchtundvierzigNeunundvierzigFünfzigEinundfünfzigZweiundfünfzigDreiundfünfzigVierundfünfzigFünfundfünfzigSechsundfünfzigSiebenundfünfzigAchtundfünfzigNeunundfünfzigLynchSechzigDickersonEinundsechzigO’BanyanZweiundsechzigDreiundsechzigVierundsechzigFünfundsechzigSechsundsechzigSiebenundsechzigAchtundsechzigNeunundsechzigSiebzigEinundsiebzigZweiundsiebzigDreiundsiebzigVierundsiebzigFünfundsiebzigSechsundsiebzigSiebenundsiebzigAchtundsiebzigNeunundsiebzigAchtzig

♦ ÜBER DAS BUCH

Sie nennen sich die Dead Hunters – Profikiller mit einem Hang zur dramatischen Inszenierung. Sie übernehmen nur die wirklich harten Fälle. Ob es um Monster, Vampire oder Untote geht, mit einer gut platzierten Kugel kriegen sie alles klein. Doch ihr neuer Auftrag bringt sie an ihre Grenzen. Sie haben es mit niemand Geringerem als Kain zu tun, dem ersten Psychopathen der Geschichte. Seit Jahrhunderten wandert der Verfluchte mordend über die Erde. Und sein neuester Plan droht, die gesamte Menschheit in den Abgrund zu reißen: Er will die vier Reiter der Apokalypse befreien und mit ihrer Hilfe das Tor zur Hölle öffnen …

♦ ÜBER DEN AUTOR

Anonymus hat im Verlauf der Jahrhunderte zahllose Bücher veröffentlicht. Es wäre unmöglich, sie hier aufzuzählen. Was er sonst noch gemacht hat, wo er wohnt, ob er verheiratet ist, Kinder hat und wie er so lange überleben konnte, ist leider unbekannt.

ANONYMUS

Unser täglich Blut

THRILLER

Aus dem Englischen vonThomas Schichtel

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

  

Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen

  

Deutsche Erstausgabe

  

Für die Originalausgabe:

Copyright © The Bourbon Kid 2017

Titel der englischen Originalausgabe: »The day it rained blood«

  

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Titelillustration: © Sandra Taufer, München

Umschlaggestaltung: Sandra Taufer, München

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

  

ISBN 978-3-7325-7794-1

www.luebbe.de

www.lesejury.de

 

»Eines Tages wird so viel Blut vergossen werden, dass der Himmel vollläuft und es als Regen auf uns herabstürzt.«

–  Anonymus

♦ PROLOG

Sanchez verabscheute Karaokemaschinen fast so sehr, wie er es verabscheute, Betrunkene singen zu hören. Er verabscheute auch Hochzeiten, aber zum ersten Mal in der Geschichte veranstaltete seine Kneipe, The Tapioca, einen Hochzeitsempfang. Sanchez hatte widerstrebend eingewilligt, denn das glückliche Paar, Dante und Kacy, waren gute Freunde, und zudem hatte Flake ihm versprochen, dass eine Hochzeit gut für das Geschäft wäre.

Und der Abend war ein Bombenerfolg, ungeachtet der ganzen bekackten Lionel-Richie-Nachahmer. Der Grund für den Erfolg war in Flake zu suchen. Sie hatte ein anständiges Büfett organisiert und die Karaokemaschine gemietet. Seit sie bei Sanchez eingezogen war, hatte sie das Tapioca von einer Kaschemme, in der Leute jeden Abend vermöbelt und umgebracht wurden, in einen Laden verwandelt, in dem die Gäste nur noch vermöbelt wurden.

Typisch war jedoch, dass um Mitternacht alles zum Teufel ging. Wäre Sanchez seiner üblichen Politik treu geblieben, keine Spinner in seinen Laden zu lassen, wäre das nie passiert. Ein gruseliger alter Mann war mit einem Geschenk für die Bardame Beth aufgetaucht. Das Geschenk war zudem Müll, nur irgendein altes Tuch, in das die Buchstaben JD eingestickt waren. Es stellte sich heraus, dass das Tuch von Beths großer Liebe JD stammte beziehungsweise dem Bourbon Kid. Unter diesem Namen kannte Sanchez den Serienmörder, der mehr als einmal die gesamte Kundschaft des Tapioca vernichtet hatte. Kaum hielt Beth das Tuch in Händen, erlitt sie einen emotionalen Zusammenbruch, also gab Flake ihr für die restliche Nacht frei, und um noch Salz in die Wunden zu streuen, gab sie auch sich selbst für heute frei, um Beth trösten zu können. Also blieb Sanchez nichts anderes übrig, als selbst die Getränke zu servieren, und so fand er keinerlei Möglichkeit mehr, den Geräuschen der Karaokesänger zu entrinnen.

Sein Albtraum schien sich um vier Uhr morgens endlich dem Ende zu nähern. Die Braut Kacy, eine schöne Brünette, die anscheinend ihr doppeltes Körpergewicht in Alkohol runtergekippt hatte, war ohnmächtig geworden und hing über einem Tisch in der Ecke, wo sie gelegentlich schnarchte und auf die Tischplatte sabberte oder furzte und für einige Sekunden wach wurde, ehe sie erneut einnickte.

Die einzige Person, die noch wach blieb und soff, war ihr Bräutigam Dante, ein gut aussehender dunkelhaariger junger Mann. Er saß auf einem Hocker an der Theke und trug einen schwarzen Smoking, der bei der Trauung noch so richtig schick ausgesehen hatte, inzwischen aber den Eindruck erweckte, dass Dante ihn schon seit einer Woche trug. Die Hälfte der Knöpfe fehlte, die Krawatte hatte sich geöffnet, und der Smoking war feucht von Bier und Wein. Somit war Sanchez in diesem Augenblick die schickste Person im The Tapioca. Sein hellgelber Anzug hatte sich bislang keine Flecken zugelegt.

Vor Dante stand eine Flasche Shitting-Monkey-Bier auf der Theke. Er saß auf seinem Hocker und starrte die Flasche an, war aber inzwischen so besoffen, dass er nur hin und wieder ihren Rand ableckte, anstatt einen richtigen Schluck zu nehmen.

»Trinkst du das noch, oder inhalierst du nur?«, fragte Sanchez.

Dante wurde munter, als er Sanchez’ sarkastische Bemerkung hörte. »Yeah, ich hab gerade nachgedacht, weißt du?«, sagte er, wobei ein Wort ins andere floss.

»Ich auch«, sagte Sanchez. »Ich hab mir gedacht, dass es Zeit wird, für heute Schluss zu machen.«

»Denkst du, dass die Vampire jemals zurückkommen?«

Sanchez zuckte die Achseln. »Das sollten sie lieber nicht. Ich habe ein Schild über der Tür aufgehängt, auf dem ›Kein Zutritt für Vampire‹ steht, aber man weiß ja nie, oder? Möglicherweise betrachten sie mich als Ziel, weißt du. Weil …«

»Weil du fett bist?«

»Nein.«

»Alt?«

»Ich bin nicht alt.« Sanchez prallte vor dieser Anschuldigung zurück. »Ich bin in den Dreißigern.«

»Das ist alt«, fand Dante. »Ich bin nur …« Er unterbrach sich und starrte ins Leere. »… fünfundzwanzig? Oder sind es sechsundzwanzig?«

»Ich weiß nicht«, sagte Sanchez, »aber es ist vier Uhr, und ich denke, du hattest genug.«

Dante reagierte nicht darauf. Er starrte einfach sein Spiegelbild auf der Flasche Shitting Monkey an. Sanchez hatte schon viele Betrunkene in ähnlicher Verfassung erlebt, kurz bevor sie das Bewusstsein verloren. Dante sackte der Kopf ein paarmal nach vorn, aber wenn es gerade schon danach aussah, er würde einschlafen, ruckte er wieder hoch und blickte zu Sanchez auf. Ein schräges Lächeln stand ihm im Gesicht, die Art, wie es nur ein Betrunkener zeigen kann.

»Möchteste was Dummes hören?«, fragte er.

♦ EINS

Baby betrachtete prüfend ihr Spiegelbild. Sie hatte nie zuvor eine Brille getragen und stellte überrascht fest, wie alt sie damit aussah. Sie war erst zwanzig, aber die Brille machte sie mindestens fünf Jahre älter. Das Ding gehörte zu ihrer Undercover-Staffage. Baby sollte als Psychiaterin in einer privaten Nervenklinik durchgehen können. Auf Empfehlung ihres Freundes Joey (der ein Gutteil seines Lebens als Patient in einem Irrenhaus verbracht hatte) trug sie jetzt einen langen weißen Kittel mit schlichter blauer OP-Kleidung darunter. Die Idee dabei war, keine Aufmerksamkeit zu wecken, damit sie, wenn sie in der Lady-Florence-Nervenklinik auftauchte, ihren Auftrag ausführen konnte, ehe irgendjemand bemerkte, dass sie eine Hochstaplerin war.

Sie wünschte sich, Joey könnte sie begleiten, aber er war auf einen anderen Einsatz geschickt worden. Baby sah sich jetzt ihrer ersten Solomission gegenüber, seit sie Mitglied der Dead Hunters geworden war. Ihre Zeit im Team hatte bislang überwiegend der Ausbildung gedient. Sie hatte den Umgang mit Pistolen und Messern geübt, aber obwohl sie mit diesen Dingern inzwischen recht gut umgehen konnte, war sie nach wie vor in einem Kampf das schwächste Teammitglied. Was sie allerdings gut draufhatte und was einigen anderen abging, das war eine Ader für den Umgang mit Menschen. Und obwohl man mit Fug und Recht behaupten konnte, dass auch ihre Kollegen Jasmine und Elvis das ganz ordentlich beherrschten, bestand diese Fertigkeit bei ihnen überwiegend darin, Angehörige des anderen Geschlechts zu verführen. Baby hingegen brachte Empathie und Verständnis für Menschen aus allen Lebensbereichen mit. Die Leute fühlten sich zu ihr hingezogen.

Als sie mit ihrer Erscheinung schließlich zufrieden war, verließ sie die Damentoilette und ging in den Kneipenraum hinaus, der sich zum Hauptquartier der Dead Hunters entwickelt hatte. Sie waren in einer Bar namens Fegefeuer eingezogen, die man in einer abgelegenen Gegend des Devil’s Graveyard fand, einer weitläufigen Wüste, die man nur mit Absicht oder als Opfer extremen Pechs aufsuchte. Dieser abgelegene Teil war für jeden unerreichbar, der noch nie dort gewesen war. Nur jemand, der schon Scratch begegnet war, dem Inhaber der Kneipe und Torwächter des dampfend heißen Ortes darunter, konnte eine verwunschene Kreuzung passieren, die zum Fegefeuer führte.

Scratch stand hinter der Theke und wartete auf Baby, als sie aus der Toilette zum Vorschein kam. Scratch war ein von lediglich zwei Farben geprägter Mann: Rot und Schwarz. Anzug und Hemd waren hellrot, Haut und Schlips hingegen vom tiefsten Schwarz. Heute trug er eine rote Melone auf dem Kopf, eine von vielen (oft albernen) roten Kopfbedeckungen, die er besaß. Es spielte keine Rolle, wie haarsträubend sie aussahen, denn sie alle passten zum Man in Red.

Baby setzte sich auf einen Hocker an der Theke.

»Du siehst toll aus«, fand Scratch. »Ich denke allerdings, dass du dir einen Pferdeschwanz binden solltest.«

Baby hätte sich in den Arsch beißen können. Sie hatte sich das Haar hochbinden wollen und ärgerte sich jetzt, dass sie es nur aus dem Grund vergessen hatte, weil sie sich dermaßen den Kopf über die Wirkung von Brille und Kittel zerbrach. Man konnte daran erkennen, wie nervös sie war.

»Das wollte ich gerade machen«, sagte sie und band sich die Haare mit einem blauen Band zum Pferdeschwanz.

Scratch schob ihr ein Klemmbrett über die Theke zu. »Damit kannst du Notizen machen, wenn du denkst, dass es hilft«, sagte er.

Baby nahm das Brett zur Hand. Ein paar Bögen weißes Papier waren darauf festgeklemmt. Sie holte einen Kugelschreiber aus der Brusttasche und zog die Kappe mit den Zähnen ab.

»Irgendwelche Tipps, wie ich anfangen sollte, Salvatore Rocco zu befragen?«, wollte sie wissen.

»Komm einfach gleich zur Sache«, sagte Scratch. »Frag ihn, warum er versucht hat, in dieses Landhaus in Colorado einzubrechen.«

»Ja, aber wie stelle ich mich ihm vor?«

»Sag ihm, Gott hätte dich geschickt.«

»Klingt das nicht verrückt?«

»Es ist ein Irrenhaus. Praktisch jeder dort ist verrückt. Rocco ist schon seit zwei Tagen da. Selbst wenn er nicht verrückt ist, denkt er inzwischen vermutlich, er sei es.«

Baby wusste nicht recht, ob das überhaupt Sinn ergab, aber sie nickte höflich. »Okay. Was dann? Was genau soll ich für dich herausfinden? Ich bin ein wenig unsicher.«

Scratch lächelte; er zeigte sich ihr gegenüber ungewöhnlich geduldig. »Nach der Zeitungsmeldung behauptet Rocco, er wäre in einem früheren Leben Julius Cäsar gewesen. Und du sollst für mich herausfinden, ob er vom Geist Kains besessen war.«

»Und wer genau war Kain, ehe er zum Geist wurde? War er jemand Wichtiges?«

»Hast du je das Alte Testament gelesen?«

»Vielleicht als Kind mal?«

»Also kennst du die Geschichte von Adam und Eva, nicht wahr?«

Baby nickte. »Mehr oder weniger.«

»Okay. Kain war der erstgeborene Sohn Adams und Evas. Er hatte einen jüngeren Bruder namens Abel. Abel war ein anständiger Kerl, aber Kain war ein Arschloch und auf Abel eifersüchtig. Er war auch ein Psychopath; tatsächlich war er der erste Psychopath überhaupt.«

»Der erste Psychopath überhaupt?«

»Ja. Und er war ein derartiger Psychopath, dass er Abel aus Eifersucht umgebracht hat.«

»Ich weiß. Ich erinnere mich vage«, sagte Baby.

»Gut, denn indem Kain seinen Bruder umbrachte, wurde er die erste Person, die jemals einen Mord beging. Das führte dazu, dass sein Geist, nachdem er gestorben war, nicht in den Himmel kam wie die Geister aller anderen. Damals gab es aber auch noch keine Hölle. Gott hatte noch nicht die Idee dazu gehabt, denn er dachte nicht, dass er eine brauchen würde. Also wurde Kains Geist dazu verflucht, für alle Ewigkeit auf der Erde umherzustreifen. Nach einiger Zeit fand Kain heraus, dass sein Geist in die Körper anderer Menschen eindringen konnte, und wenn diese Menschen hirntot waren oder im Koma lagen, konnte er sie übernehmen und ihre Gedanken beherrschen. Über viele Jahrhunderte hinweg hat er inzwischen von Hunderten Männern und Frauen Besitz ergriffen, und Julius Cäsar war der namhafteste Fall. In jüngerer Zeit war Kain für viele der einzelgängerischen Amokläufer verantwortlich, die du in den Nachrichten zu sehen bekommst.«

»Echt? Wer zum Beispiel?«

»Mach dir darüber vorläufig keine Gedanken. Es ist nicht wichtig. Was ich sagen wollte: Kain ist seit so vielen Tausend Jahren konstant bei wachem Bewusstsein, dass ihm völlig die Mütze weggeflogen ist.«

»Die Mütze?«

»Bekloppt, verrückt, irre, gaga.«

Baby hatte die Worte »die Mütze weggeflogen« auf dem Klemmbrett notiert. Das strich sie jetzt durch, denn sie wollte die Formulierung nicht später wiedersehen und sich fragen, was es eigentlich hieß.

»Okay, ich hab’s«, sagte sie und blickte zu Scratch auf. »Aber woran erkenne ich, dass Salvatore Rocco von Kain besessen war?«

»Zunächst mal siehst du dir seine Stirn an. Guckst mal, ob er eine Narbe darauf hat, die wie der Buchstabe K aussieht.«

Baby kritzelte die Information aufs Papier. »Und was besagt das?«

Sie blickte zu Scratch auf und konnte seiner Miene entnehmen, dass sie gerade eine weitere dumme Frage gestellt hatte. Scheiße, es lag ja auf der Hand, wofür das K stand! Sie wurde knallrot vor lauter Verlegenheit, und es wurde noch schlimmer, als Scratch entschied, die Frage trotzdem zu beantworten.

»Es wurde als Kainszeichen bekannt. Jeder, der es auf der Stirn trägt, war vermutlich irgendwann im Leben von Kain besessen.«

»Was, wenn Rocco immer noch besessen ist?«

»Das glaube ich nicht. Es sieht so aus, dass er wieder aus dem Koma erwacht ist, als die Sicherheitsleute in Colorado damit drohten, ihn zu erschießen. Vertrau mir, sobald Rocco wieder bei Bewusstsein war, hätte Kain nicht in seinem Körper bleiben können.«

»Aber könnte es nicht sein, dass Kain noch da drin steckt und nur so tut, als wäre er nicht da?«

Scratch schüttelte den Kopf. »Das bezweifle ich. Rocco behauptet, er würde das Leben mit den Augen Julius Cäsars sehen. Das würde Kain nie zugeben. Aber er hatte vor langer Zeit von Cäsar Besitz ergriffen, und es hat den Anschein, als ob Rocco diese Erinnerungen gesehen hat. Entweder das, oder Rocco ist total irre.«

Baby kritzelte ein paar weitere Notizen und hoffte, dass Scratch sie nicht sah, weil ihr wie Kauderwelsch vorkam, was sie da hinschrieb. Als sie mit Kritzeln fertig war, stellte sie eine Frage, die sie von Anfang an beschäftigt hatte.

»Was, wenn Rocco mich angreift?«

Scratch streckte die Hand über den Tresen aus und tätschelte ihr die Schulter. »Dann bringst du ihn um, Baby. Du bist jetzt umfassend ausgebildet. Sollte dieser Mann eine bedrohliche Bewegung machen, werden deine Instinkte übernehmen, glaub mir. Und sollte aufgrund irgendeines schrägen Umstands Kain noch in ihm stecken, wirst du sehen, wie er aus dem Körper weicht, wenn du Rocco umbringst.«

»Ihn umbringen?« Bei diesen Worten zitterte Baby. »Die Menschen lieben Salvatore Rocco!«

»Das haben sie«, pflichtete ihr Scratch bei. »Als er noch ein Rennfahrer war. Seit diesem Crash vor sechs Monaten ist er jedoch Gemüse. Er wird nie wieder Rennen fahren.«

»Die Ärzte hatten auch behauptet, er würde nie wieder gehen«, gab Baby zu bedenken.

»Das ist richtig, aber aus irgendeinem Grund konnte er aufstehen und das Krankenhaus verlassen, ohne dass es irgendjemand bemerkte. Ich würde sagen, das ist schon ein bisschen merkwürdig.«

Baby hatte den Crash im Fernsehen verfolgt. Joey war ein großer Fan von Autorennen, und Salvatore Rocco einer der besten Fahrer überhaupt. Ein sieben Fahrzeuge umfassender Haufen Wracks markierte dann jedoch das Ende seiner Laufbahn.

»Okay, aber bist du dir wirklich absolut sicher, dass ich mit diesem Typ fertigwerde, wenn er mich angreift?«, hakte Baby nach.

»Ziemlich sicher, yeah.« Er reichte ihr eine Schlüsselkarte. »Damit kannst du jedes Zimmer in dem Krankenhaus betreten. Jetzt mach dich aber auf den Weg!«

Ziemlich sicher! Diese beiden Worte vermittelten ihr keine echte Zuversicht, aber Baby wollte nicht schwach erscheinen, also hüpfte sie vom Hocker und nahm Kurs auf die Herrentoilette.

Es war ein komischer Umstand, aber wenn man die Tür zur Herrentoilette im Fegefeuer durchquerte, konnte man in jeder Toilette auf der Welt wieder zum Vorschein kommen. Baby stand im Begriff, die Privattoilette von Salvatore Roccos Zimmer in der Lady-Florence-Nervenklinik zu betreten. Sie hatte das Portal schon zweimal benutzt und dabei durchwachsene Erfahrungen gemacht. Einmal war sie in einem Bad aufgetaucht, wo ein alter Mann gerade zusammen mit dem Hausmädchen duschte. Beim zweiten Mal erschien sie in einem Bad, dessen Fußboden vor Urin förmlich schwamm. Sie hoffte, dass es diesmal besser klappte, und winkte Scratch ein Lebewohl zu und trat durch die Tür. Die schloss sich hinter ihr, und damit war der Rückweg verschlossen.

Sie fand sich in dem piekfeinen Bad einer teuren Privatklinik wieder; mitsamt Dusche, Klo und Bidet. Das erinnerte sie flüchtig an die Badezimmer in Silvio Mellencamps Beaver Palace, jenem abscheulichen Ort, wo sie als Nutte gearbeitet hatte, bis Joey auftauchte und sie rettete. Sie verbannte alle Gedanken an jenen Ort rasch wieder. Es wurde Zeit, sich an die Arbeit zu machen. Sie holte tief Luft und öffnete die Tür, die von dem Bad in Roccos Privatsuite führte.

Salvatore Rocco kauerte auf seinem Bett und hatte die Knie an die Brust gezogen. Der recht freizügige weiße Kittel war rings um den Rumpf hochgerutscht, und Baby sah mehr, als sie wirklich interessierte. Sie erkannte den Mann von seiner Zeit als Rennfahrer kaum wieder; groß, gut aussehend und sonnengebräunt, wie er damals ausgesehen hatte. Der Mann, der jetzt vor ihr kauerte, war ein zitterndes bleiches Wrack mit wirren, ungepflegten Haaren, die ihm übers halbe Gesicht fielen. Er fuhr beinahe aus der Haut, als er Baby aus seinem Bad hervorkommen sah.

»Oh Gott, nein!«, rief er panisch. »Ich war durcheinander. Ich hatte nicht vor, irgendjemandem irgendwas zu verraten. Das schwöre ich!«

Baby legte den Finger an die Lippen, damit er den Mund hielt. »Ist schon okay«, sagte sie. »Man hat mich geschickt, um Sie zu fragen, was Ihnen passiert ist.«

»Gar nichts ist mir passiert! Wie ich Ihren Kollegen schon sagte, habe ich mir alles nur eingebildet. Es geht mir wieder gut.«

»Ist schon okay. Gott hat mich geschickt, um Ihnen zu helfen.«

Salvatore wich in eine Ecke zurück, und Tränen stiegen ihm in die Augen. »Gott? Gott hat Sie geschickt? Was zum Geier reden Sie da?«

»Alles ist gut«, sagte Baby in ihrer beruhigendsten Stimme. »Ich bin nicht hier, um Ihnen etwas anzutun. Die Dinge kommen wieder in Ordnung, versprochen. Sie sind in Sicherheit.«

Salvatore schloss die Augen, als versuchte er, Baby wegzuwünschen, und hoffte, sie wäre nicht mehr da, wenn er die Augen öffnete, womit sein Albtraum vorüber wäre.

Baby setzte sich ans Fußende des Betts und achtete darauf, Salvatore genug Freiraum zuzugestehen, damit er sich nicht bedroht fühlte. »Hören Sie«, sagte sie gelassen. »Ich halte Sie nicht für verrückt. Ich möchte Sie nur fragen, ob Sie glaubten, vom Geist Kains besessen zu sein.«

Salvatore öffnete die Augen. »Ich war von etwas besessen, aber ich weiß nicht, was es war.«

»Tragen Sie ein Zeichen auf der Stirn?«

»Was für ein Zeichen?«

»Eine Narbe in der Form eines K, die auf der Stirn von Menschen erscheint, nachdem Kain von ihnen Besitz ergriffen hat.«

Salvatore hob die schlaffen Fransen an und legte so eine hellrote k-förmige Narbe auf der Haut frei, direkt unterhalb des Haaransatzes. »Ich hatte das früher nie«, sagte er. »Meinen Sie das?«

Baby bemühte sich, keine Aufregung zu verraten, aber es gelang ihr nicht. »Ja, das ist sie!«

»Und was bedeutet sie?«

»Sie bedeutet, dass Sie sich nicht zu schämen brauchen. Kain ist seit Jahrhunderten in Menschen gefahren, die im Koma lagen. Sie gehören zu den Glücklichen, die das überlebt haben.«

»Glücklich? Was? Sie meinen, ich hätte Glück gehabt, weil ich aus dem Koma erwachte, ehe er mich zwingen konnte, Leute zu ermorden? Haben Sie es nicht gehört – ich bin vor diesem großen Haus aufgewacht, wo Sicherheitsleute Waffen auf mich angelegt hatten. Das ist keine schöne Art und Weise, aus dem Koma aufzuwachen, glauben Sie mir.«

»Was wollten Sie, oder genauer, was wollte Kain in diesem Haus?«

»Ich weiß nicht. Ich war die ganze Zeit weggetreten. Aber seit ich aus dem Koma aufgewacht bin, habe ich immer wieder Erinnerungsfetzen von dem, was passiert ist, während er in meinem Kopf steckte. Und noch andere Sachen. Erinnerungen von ihm, denke ich. Ich werde sie nicht mehr los. Gehen die je wieder weg?«

Baby hatte keine Ahnung, aber er tat ihr leid, und so flunkerte sie. »Yeah, gewöhnlich gehen sie nach ein paar Wochen wieder weg.«

»Wer zum Teufel sind Sie überhaupt?«, fragte Salvatore. »Und wie kommt es, dass Sie aus meinem Bad aufgetaucht sind?«

»Ich heiße Baby. Gott hat mich geschickt. Zerbrechen Sie sich darüber aber erst mal nicht den Kopf. Erzählen Sie mir einfach, was Sie noch so alles gesehen haben.«

»Das ist es, was ich den Cops erzählt habe, und deshalb haben Sie mich hier eingesperrt. Es klingt dumm, aber ich habe das Leben mit den Augen von Julius Cäsar angeschaut. Ich habe seine Erinnerungen gesehen.«

»Was für Erinnerungen? Und woher wissen Sie, dass es Cäsar war?«

»Das ist schwer zu erklären. Vor allem sah ich Bilder. Zum Beispiel einen Haufen Verrückter in Togen, die sich mit gezückten Messern an Cäsar angeschlichen haben.« Er zupfte sich an den Haaren und schauderte sichtlich. »Oder vielleicht bin ich wahnsinnig geworden. Woher zum Teufel soll ich wissen, was ich glauben soll?«

Baby schenkte ihm ein gewinnendes Lächeln. »Mein Freund ist wahnsinnig«, sagte sie. »Er scheint damit heutzutage gut klarzukommen.«

Klick!

Eine Tür öffnete sich hinter Baby. Als sie aufstand und sich umdrehte, erblickte sie einen fetten, allmählich kahl werdenden Chinesen in blauem Overall, der mit Mopp und Eimer in Händen rückwärts ins Zimmer trat. Als er sich umdrehte, konnte Baby den Namen Xang auf einem weißen Schild des Overalls lesen. Er schien überrascht, Baby zu sehen.

»Oh, tut mir sehr leid«, sagte Xang. »Ich wollte nur den Boden wischen.«

»Das ist okay«, meinte Baby, die ihre Nerven zu beherrschen versuchte. »Ich bin hier sowieso fertig.«

»Er ist es!«

Salvatore packte sein Kissen und hob es wie einen Schild, während er mit dem Finger auf Xang deutete und ihn anstarrte, die Augen vor Grauen weit aufgerissen. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut kam hervor.

Baby brauchte ein bisschen zu lange, ehe ihr klar wurde, was er meinte. Der Hausmeister warf den Mopp nach Baby und zog eine Pistole aus dem Overall. Während Baby den Griff des Mopps zur Seite schlug, fiel ihr eine Narbe an der rechten Schläfe des Hausmeisters auf. Es war das gleiche Mal wie das auf Salvatore Roccos Stirn. Das Kainszeichen.

Der Hausmeister ignorierte Baby jetzt und zielte mit der Pistole auf die kauernde Gestalt Salvatores auf dem Bett. Er feuerte zwei Schüsse in das Kissen ab, das Rocco als Schild benutzte. Blut breitete sich auf dem Kissen aus, als Rocco gegen die Wand hinter dem Bett sackte.

Das Echo der Schüsse hallte in dem kleinen Zimmer wider, dass Baby die Ohren klingelten. Ihre Ausbildung übernahm jedoch das Kommando, als sie sah, wie der Hausmeister den Arm zu ihr herumschwenkte, bereit, sie als Nächstes zu erschießen. Sie warf sich auf ihn, packte sein Handgelenk und drückte die Waffe von sich weg. Sie setzte dann mit einem Trick nach, den Joey ihr beigebracht hatte. Sie hakte ein Bein hinter ein Knie des Hausmeisters und brachte ihn so aus dem Gleichgewicht. Er stolperte vorwärts und fiel aufs Bett. Baby sprang ihm auf den Rücken und entriss ihm die Waffe, solange er noch benommen war. Sie hatte keine Zeit, mit ihm zu argumentieren oder sich den Kopf über die Folgen dessen zu zerbrechen, was sie im Begriff stand zu tun. Sie presste ihm die Mündung der Schusswaffe an den Hinterkopf und drückte ab.

Blamm!

Die Kugel durchschlug den Schädel und versprühte Blut in der Luft. Der Rückstoß jagte Baby der Länge lang durchs Zimmer und knallte sie an die Wand gegenüber. Xangs lebloser Körper sackte zusammen und rutschte vom Bett auf den Fußboden.

Inmitten all dieses Irrsinns sprang ein schwarzer, mannsgroßer Schatten aus der Leiche des Hausmeisters. Er stand vor Baby und starrte sie an. Sie erkannte gespensterhafte weiße Augen im Zentrum eines dunklen, verzerrten Gesichts. Baby zielte mit der Schusswaffe auf ihn, bereit, eine weitere Kugel abzufeuern, aber ehe sie Gelegenheit dazu fand, blinzelte der Schatten einmal, sprang in die Wand neben dem Bett und war verschwunden.

Baby stand völlig erstarrt da und zielte mit der Waffe auf die Stelle an der Wand, wo die Geistererscheinung verschwunden war. Doch das war erst der Anfang ihrer Schwierigkeiten. Ein Schwarzer im Overall eines Doktors platzte ins Zimmer herein, um zu sehen, worum es bei dem ganzen Getöse ging. Baby richtete instinktiv die Schusswaffe auf ihn, brachte aber das gesunde Urteilsvermögen auf, nicht abzudrücken, als sie sah, dass sie es mit einem Arzt zu tun hatte. Nach seiner Miene zu urteilen, machte er sich beinahe in die Hose. Er starrte in die Mündung von Babys Waffe, drehte sich dann um und riss aus, wobei er brüllte, jemand solle doch die Cops rufen.

Baby holte einige Male tief Luft und schätzte die Lage ab. Salvatore Rocco lag auf dem Bett ausgestreckt, ein blutbeflecktes Kissen auf seiner Brust. Eine Blutlache bildete sich auf dem Bett rings um ihn. Nicht weit davon lag ein toter Hausmeister namens Xang auf dem Fußboden, wahrscheinlich kein echter Mitarbeiter der Klinik, sondern nur irgendein armer Trottel, den Kain irgendwo im Koma vorgefunden hatte.

Als ob Baby nicht schon genug Probleme hätte, ertönte jetzt auch noch ein Feueralarm in der Nähe und jaulte mit einer Lautstärke drauflos, die Tote wecken konnte. Baby wünschte sich, sie hätte durchs Bad ins Fegefeuer zurückkehren können, aber das Portal war verschlossen. Und sie stand allein mit zwei Leichen in einem Zimmer und hielt die Waffe in der Hand, die beide getötet hatte.

♦ ZWEI

»Ich schicke meinen Sohn Thomas auf die Schule in Crimson County.«

Bischof Atlee Yoder hatte gewusst, dass es dazu kommen würde. Er ahnte es schon seit einer ganzen Weile. Die Menschen seiner Amish-Gemeinde in Oakfield waren schon sehr lange unruhig. Besonders im Herbst, oder, wie man ihn seit Jahren nannte, im »Herbst des Bösen«. Und jetzt schickte zum ersten Mal in der Geschichte ihrer Gemeinde eine Frau ihr Kind auf eine Schule auf der anderen Seite der Insel hinter dem Schwarzwald. Die fragliche Frau war Agnes Graber, und sie war um acht Uhr morgens in Yoders Kirche aufgetaucht. Sie zeigte sich in entschlossener Stimmung, und so lud er sie zum Gespräch in sein privates Büro ein. Er trug nach wie vor sein Nachthemd und war somit von Anfang an im Nachteil. Er saß hinterm Schreibtisch, während sie auf der anderen Seite über ihm aufragte, ihre Tirade schwang und ihm dabei mit dem Finger drohte.

»Agnes, ich bitte dich, es dir noch mal zu überlegen«, flehte er. »Die Menschen in Crimson County verstehen uns nicht; das weißt du doch. Und wenn du gehst, folgen dir vielleicht weitere.«

»Genau das fürchtest du, nicht wahr?«

Agnes war die Erste in ihrer Generation, die ihre Religion infrage stellte. Yoder fürchtete, dass sie nicht die Letzte sein würde. Sie war siebenunddreißig, und ein Jahr zuvor hatte sie im Herbst Ehemann und Tochter verloren. Ihre Tochter Elsa gehörte zu den vielen Menschen, zumeist Kinder, die jedes Jahr im Herbst des Bösen verschwanden. Nur wenige Tage nach Elsas Verschwinden hatte sich Agnes’ Ehemann Lyle törichterweise in den Schwarzwald gewagt, um dort nach der Tochter zu suchen. Es war das letzte Mal, dass ihn jemand sah.

»Ich möchte damit nur sagen«, antwortete Yoder, »dass du keine übereilte Entscheidung treffen solltest. Die Prophezeiung sagt, dass Christus zurückkehrt, nachdem die drei Nördlichen Sterne herabgefallen sind.«

»Ich weiß«, sagte Agnes. »Es liegt jedoch zwei Wochen zurück, dass diese Sterne herabgefallen sind, also wo zum Teufel steckt er?«

»Das Evangelium berichtet nichts darüber, wie lange es dauern wird, bis der Erlöser eintrifft, nur dass es nach dem Fall der Sterne sein wird.«

»Ich weiß, was im Evangelium steht!«, blaffte Agnes. »Ich bin jedoch nicht bereit, weitere zwanzig Jahre zu warten. Mein Junge, Thomas, ist alles, was mir verblieben ist, und ich möchte ihn nicht verlieren. Ich möchte, dass er Dinge wie Wissenschaft und Evolution kennenlernt, sodass er sich seine eigenen Vorstellungen von der Welt machen kann, anstatt deinen ganzen religiösen Unsinn einzusaugen.«

Religiöser Unsinn? Wie zum Teufel konnte sie das nur wagen! Unter normalen Umständen wäre Yoder es gewesen, der ihr mit dem Finger drohte und selbst laut wurde. Es war jedoch eine schwierige Zeit für die Kirche, und er war gezwungen, Zurückhaltung an den Tag zu legen.

»Agnes, ich möchte nicht, dass du mit dem Herrn im Streit liegst. Sei vorsichtig mit deinen Lästerungen. Das Evangelium sagt, dass wir uns nicht unter die mischen sollen, die uns zu vernichten trachten.«

»Mit dem Herrn im Streit liegen? Was könnte er mir denn noch antun? Er hat mir schon Mann und Tochter genommen.«

»Es gehört alles zu Gottes Plan.«

»Gottes Plan?« Agnes war entrüstet. »Nach Gottes Plan wird Christus zurückkehren und uns vom Bösen erlösen. Aber jedes Jahr warten wir und hoffen, dass es diesmal so weit sein wird, und es geschieht nie. Soweit wir wissen, kehrt Christus vielleicht noch weitere tausend Jahre lang nicht zurück. Wenn überhaupt je! Wie viele unserer Leute müssen noch in diesem Wald sterben, ehe er sich blicken lässt?«

Yoder nahm ihren Ton und die lästerlichen Zweifel an der eigenen Religion nicht gut auf. Die eigentliche Grundlage ihrer Gemeinschaft war das Evangelium der Heiligen Susanne. Während die meisten Christen mit den Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes vertraut waren, folgten die Menschen von Oakfield dem weniger bekannten Evangelium nach Susanne. Es enthielt dieselben Informationen wie die anderen vier, berichtete aber auch Einzelheiten darüber, was Jesus in seinen frühen Zwanzigern getan hatte, ehe er ein Prophet wurde. Kapitel vierzig des Evangeliums nach Susanne enthielt zudem eine Prophezeiung, welche die Wiederkunft Christi ankündigte, die von Agnes jetzt in Zweifel gezogen wurde. Die Prophezeiung drückte sich sehr klar dahingehend aus, dass nach dem Fall der drei Nördlichen Sterne ein Erlöser erscheinen würde. Und drei Nördliche Sterne waren im frühen Oktober über Oakfield vom Himmel gefallen.

»Zweifel an der Wiederkunft laufen auf Zweifel am Wort Gottes hinaus«, sagte Yoder in der Hoffnung, die zornige Frau vor ihm zu besänftigen.

»Vater, ich zweifle nicht an dir oder dem Evangelium«, entgegnete Agnes und zeigte sich etwas gnädiger als zuvor. »Aber wir haben im laufenden Herbst schon vier Kinder verloren. Wir können so nicht weitermachen. Ich kann ganz sicher nicht so weitermachen. Ich bin mit meiner Kraft am Ende, also habe ich meinen Sohn Thomas an der Highschool in Crimson County eingeschrieben, um nicht verrückt zu werden und um seine Zukunft sicherzustellen.«

»Aber was hoffst du, damit zu erreichen?«

Agnes stützte sich mit den Handflächen auf Yoders Schreibtisch und beugte sich hinüber. »Nur für den Fall, dass du es noch nicht bemerkt hast, Atlee, aber niemand aus Crimson County verschwindet jemals im Herbst des Bösen.«

»Das kannst du nicht wissen.«

»Doch, ich weiß es. Falls nämlich irgendwelche ihrer Kinder vermisst würden, würden sie zu uns kommen und fragen, ob wir sie gesehen haben. So, wie wir ja auch immer zu ihnen gehen, wenn unsere verschwinden.«

»Agnes, setz dich.«

»Das ist nicht nötig. Ich bin hier fertig. Ich wollte nur, dass du es als Erster erfährst.«

Agnes stürmte aus Yoders Büro, knallte die Tür hinter sich zu und ließ den Bischof mit der Aufgabe zurück, über den Vorfall nachzusinnen. Er fürchtete, dass viele weitere Mitglieder der Amish-Gemeinde in den kommenden Tagen und Wochen dazu übergehen würden, ihre Religion anzuzweifeln oder sogar regelrecht abzulehnen.

Yoder war mit seinem Latein am Ende. Es waren dramatische Zeiten, und solche erforderten traditionell drastische Maßnahmen. Er dachte an eine Reise zurück, die er in jüngster Zeit unternommen hatte. Er war früher im Jahr zum Begräbnis Papst Johannes Paul Georgs nach Rom geflogen. Bei diesem Ereignis begegnete er vielen Bischöfen und Priestern aus aller Welt, die zusammenfanden, um das Leben des Papstes zu feiern. Besonders ein bestimmter Priester hatte bei Yoder einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Dieser Priester hieß Vincent Papshmir, und Yoder vergaß später nie wieder das Gespräch, das er mit ihm bei einer Flasche Wein geführt hatte. Papshmir kam aus einer Stadt, die den Namen Santa Mondega trug, von der Yoder noch nie gehört hatte. Im Zuge einer besonders trunkenen Tirade erzählte Papshmir, er kenne die Personen, die den Papst ermordet hatten. Er nannte sie die Dead Hunters, und er behauptete unter anderem, dass sie Vampire, Zombies, Werwölfe und alle Arten sonstiger untoter Monster jagten und töteten, die insgeheim in der modernen Welt hausten.

Obwohl Papshmir im Zuge seiner Begegnung mit Yoder eine Menge Wein trank und sehr viel fluchte (praktisch jeder Satz brachte Wörter wie Arschloch, Drecksack und Pisskopp mit sich), war er doch eine faszinierende Person, im Gegensatz zu vielen anderen heiligen Männern, denen Yoder jemals begegnet war. Papshmir wusste mit allerlei Verschwörungstheorien aufzuwarten, darunter die befremdliche These, dass der Staat die Dead Hunters gar nicht dingfest zu machen trachtete, weil er sie für Einsätze brauchte, die regulären Soldaten und Attentätern nicht übertragen werden konnten. Papshmir hatte Yoder eine Karte mit den Kontaktinformationen von jemandem mitgegeben, von dem er glaubte, dass er den Aufenthaltsort der Dead Hunters kannte. Obwohl es gegen Oakfields strenge Regeln verstieß, Außenstehende um Hilfe zu ersuchen, nahm Yoder die Karte entgegen. Und jetzt war er froh, dass er es getan hatte.

Yoder stöberte in den Schreibtischschubladen, bis er die Karte von Papshmir fand. Die handschriftliche Notiz darauf lautete:

Falls Sie jemals die Dead Hunters anwerben möchten, suchen Sie die Tapioca-Kneipe in Santa Mondega auf.

Fragen Sie nach Sanchez.

♦ DREI

Sechs der sieben Mitglieder von MAWF hatten sich rings um den Esstisch im Brinkman-Zimmer des Riverdale Mansion in Colorado versammelt. Es war ein langer Eichentisch, glänzend poliert und sehr alt, verdammt viel älter jedenfalls als jeder im Zimmer. Die Versammlung war eingerahmt von hoch aufragenden Fenstern, ihrerseits eingefasst in schwere Seidenvorhänge aus tiefstem Indigo, durchwirkt mit vierundzwanzigkarätigen Goldfäden. Der Raum war für reiche Leute gestaltet worden, die den Anblick teurer Dinge liebten. Und genau darum ging es MAWF, um Geld, Macht, teure Dinge und noch mehr Geld. Die Gruppe war es gewohnt, sich nicht häufiger als dreimal im Jahr zu treffen, aber heute war ein besonderer Tag. Es war die erste Notfallkonferenz in sechs Jahren.

Die Mitglieder von MAWF galten als alle gleich, aber Arnold Rothman saß stets am Kopfende des Esstisches. Das M in MAWF stand für Money, und Rothman hatte mehr davon als irgendjemand sonst auf der Welt. Er war Hauptaktionär von neunzig Prozent aller Banken des Planeten. Sein Motto lautete: »Euer Geld ist mein Geld.« Im Alter von achtundzwanzig Jahren und nach dem Tod seines Vaters hatte er das Bankensystem übernommen. Von ein paar Unebenheiten abgesehen, hielt er es nun seit zweiunddreißig Jahren glatt am Laufen.

Das A, das W und das F standen für die englischen Worte für Waffen, Wasser und Treibstoff, die von den übrigen Gruppenmitgliedern kontrolliert wurden. Linda Murdoch besaß als Schattengestalt sämtliche Wasserunternehmen der westlichen Welt. Sie war das Mastermind hinter der Idee, dass Leitungswasser nach Scheiße schmeckte, damit die Menschen den Wunsch hegten, es auch in Flaschen zu erwerben. Vier der übrigen Mitglieder beherrschten die Verteilung von Treibstoff und Energieträgern wie Benzin, Strom und Öl. Damit bliebe noch Rupert Galloway zu erwähnen, das siebte Mitglied von MAWF und der größte Waffenhändler der Welt. Er konnte nicht an dieser Notfallkonferenz teilnehmen, weil er nach einem ernstlichen Autounfall im Koma lag. Sein perverser Humor wurde schmerzlich vermisst.

Nach einer Diskussion bei Frühstück und Kaffee über die schockierende Nachricht von Ruperts Unfall lenkte Rothman das Gespräch auf jenes Thema, das sie alle zusammengeführt hatte.

»Ich vermute, dass alle über den Tod Salvatore Roccos informiert sind?«, fragte er und sah sich am Tisch um.

Alle Übrigen nickten. Die Konferenz war einberufen worden, um über Roccos Versuch zu sprechen, in dieses Landhaus einzudringen. In der Zeit seit Einberufung des Treffens war Rocco ermordet worden.

»Hatte seine Ermordung etwas mit uns zu tun?«, fragte Linda Murdoch, das jüngste Mitglied von MAWF. Angeblich war sie siebenundvierzig, aber sie sah nach Mitte zwanzig aus, weil sie eine Menge ihres Vermögens in die besten Schönheitsoperationen gesteckt hatte, die man kriegen konnte.

Aller Augen wandten sich Rothman zu, als dächten sie, dass er hinter der Sache steckte.

»Das hatte nichts mit uns zu tun«, versicherte er ihnen. »Man hat mir jedoch die Identität der Person genannt, die für den Mord verantwortlich ist, und es handelt sich um einen sehr besorgniserregenden Umstand.«

Rothman hob seine Aktentasche vom Fußboden auf und legte sie auf die lange Holztafel. Er öffnete sie und nahm einen braunen Umschlag heraus, den man ihm vor weniger als einer Stunde überreicht hatte, aus dem er einen Stapel Fotos im Format A4 hervorholte.

Er reichte sie Linda Murdoch, die links von ihm saß. »Erinnern Sie sich an diese Leute?«, fragte er.

Linda sah die Fotos kurz durch. Sie erkannte die Personen darauf sofort.

»Das sind die Leute, die den Papst ermordet haben«, sagte sie und blickte Rothman finster an. »Die Dead Hunters. Was hat all das mit denen zu tun?«

»Eine von ihnen, dieses junge Mädchen namens Baby, war die Attentäterin, die Salvatore Rocco heute Morgen umbrachte. Sie ist einfach in sein Privatzimmer im Lady Florence hineinspaziert und hat ihn erschossen. Dazu noch einen Hausmeister.«

»Warum sollte sie das tun?«, fragte Linda.

»Keinen Schimmer«, antwortete Rothman. »Ich kann mir nur vorstellen, dass Rocco unter Umständen mit den Dead Hunters zusammengearbeitet hat. Als es ihm nicht gelang, hier einzubrechen, hielten sie es vielleicht für nötig, ihn zu beseitigen, damit er sie nicht verrät. Eine bessere Erklärung fällt mir auch nicht ein. Ich habe jedoch schon Leute an der Arbeit.«

»Was für Leute?«, fragte Linda.

»Das Team von General Alexis Calhoon sieht sich die Sache an. Calhoon weiß mehr als irgendjemand sonst über diese Dead Hunters.«

»Könnte es sein, dass sie hinter uns her sind?«, fragte Roland Navarone, ein gebrechlicher alter Mann von neunundsiebzig Jahren, der rechts von Rothman saß. Er war der reichste Ölbaron auf der Welt und wohlbekannt für seinen Verfolgungswahn; ein Wesenszug, der sich mit dem Alter verschlimmerte.

»Das ist möglich«, sagte Rothman. »Sie haben den Papst umgebracht, und es war nicht einfach, zu ihm vorzudringen. Und etwas oder jemand hat gerade Rupert Galloway ins Koma geschickt. Damit ist nach meinem Dafürhalten ein guter Zeitpunkt gekommen, um unsere Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken. Irgendwas ist eindeutig im Busch.«

Innerhalb von Sekunden, nachdem Rothman Rupert Galloway erwähnt hatte, flog die Doppeltür zum Zimmer auf, und es spazierte der achtundfünfzigjährige Waffenhändler herein. Er sah tatsächlich ganz nach jemandem aus, der eigentlich im Koma liegen sollte. Die Haut war grau und die Frisur total zerzaust, Hose und Pullover aufgerissen, blutig und voller Dreck, was alles sehr untypisch für Galloway war. Dazu kamen Schnittwunden und blaue Flecken an den Händen sowie im Gesicht. Unter den Blessuren war eine sehr deutliche k-förmige Narbe auf der Stirn.

»Rupert?«, fragte Rothman und stand auf.

Die anderen folgten seinem Beispiel, und ihre Stühle scharrten alle gleichzeitig über den Marmorfußboden.

»Setzen Sie sich«, sagte Galloway und unterstrich die Aufforderung mit einer Geste. »Sie alle müssen sich das anhören. Etwas Unglaubliches ist vorgefallen.«

»Aber Ihr Unfall!«, wandte Rothman ein. »Was ist passiert?«

»Sie werden es nicht glauben«, sagte Galloway und gestikulierte wie Tom Cruise in einer Gerichtsszene. »Ich war auf der anderen Seite.«

»Der anderen Seite von was?«

Galloway deutete zur Decke. »Ich habe das Leben nach dem Tod gesehen.«

Es war verständlich, dass diese Behauptung auf Schweigen und mehr als nur ein wenig Skepsis stieß.

»Ich weiß, was Sie denken«, sagte er und sah sich unter allen Gruppenmitgliedern um. »Ich kann es jedoch beweisen.«

»Was beweisen?«

»Dass ich eine außerkörperliche Erfahrung hatte. Nach meinem Autounfall von letzter Nacht bin ich dahingeschieden. Ich war etwa eine halbe Stunde lang im Nachleben und bin dem Engel Gabriel begegnet.«

Diese Behauptung verwirrte alle noch mehr. Linda Murdoch schnaubte sogar Kaffee durch die Nase.

»Rupert«, sagte Rothman im besten diplomatischen Tonfall, »ich denke, Sie müssen ins Krankenhaus zurückgehen. Sie hatten einen schweren Unfall.«

Galloway schloss die Augen und trommelte eine Zeitlang mit den Fingern auf die Stirn, ehe er Knall auf Fall wieder in den Tom-Cruise-Modus wechselte. »In Ordnung«, sagte er. »Das wird sich jetzt verrückt anhören, aber haben Sie Geduld mit mir. Ich werde meinen Körper verlassen.«

»Was?«

»Warten Sie einfach ab und sehen Sie zu.«

Rothman neigte zu der Auffassung, dass alle anderen am Tisch das Gleiche dachten wie er. Entweder war Galloway übergeschnappt, oder hier lieferte jemand einen ganz miesen Narrenstreich ab. Das hier war jedoch nicht Galloways Art von Humor, die sich gewöhnlich darum drehte, auf Kosten anderer zu lachen.

Galloway zog einen Stuhl am Kopfende des Tisches hervor und setzte sich. Er legte die Hände auf den Tisch und führte eine Art bizarrer Atemübungen aus, während die anderen besorgte Blicke wechselten.

»Aaagh!«

Galloway schrie vor Schmerzen auf, und auf einmal bebte er am ganzen Körper, als hätte er einen Anfall. Fast ebenso schnell, wie die Zuckungen eingesetzt hatten, erschlaffte der Körper dann jedoch. Das Leben wich aus seinen Augen, und er sackte auf dem Stuhl zurück. Der Kopf kippte zur Seite, und das Kinn hing herab. Und dann sah Rothman es. Alle sahen es. Ein Schatten, eine wirbelnde schwarze Masse stieg hinter dem Stuhl in die Luft, auf dem Galloway zusammengesunken saß.

Der Schatten hatte ein Gesicht. Die Gesichtszüge, die Augen, der Mund und die Nase waren nicht fest platziert, sondern liefen hin und her, während sich der Rauch am Tisch umsah. Das war wirklich mal eine Gespenstererscheinung, oder zumindest war es das, was Rothman von einem Gespenst erwartete.

»Was geht da vor?«

Rothman hatte keine Ahnung, wer die Frage gestellt hatte, aber sie bewegte sicher alle.

Der schwarze Schatten huschte um den Tisch herum, umkreiste die Gruppe wie ein Minitaifun und versetzte die sechs in Angst und Schrecken. Niemand wagte es, sich zu mucksen, aber alle hofften, es möge bald vorbei sein. Der erschreckende Schattentanz dauerte fast eine Minute lang, ehe der Schatten zurück in die schlaffe Gestalt Rupert Galloways huschte. Unmittelbar darauf richtete Galloway sich wieder auf. Er schauderte, als käme er gerade aus dem Regen herein.

»Muss ich das für irgendjemanden noch mal aufführen?«, fragte er.

Rothman wusste nicht recht, wie er darauf reagieren sollte. Er und die anderen glotzten Galloway an und versuchten, aus dem schlau zu werden, was sie gesehen hatten.

»Okay«, sagte Galloway. »Mir ist klar, dass Sie alle etwas erschrocken sind, nachdem Sie das gesehen haben. Also gestatten Sie mir, zu erklären, weshalb ich hier bin. Der Autounfall, in den ich verwickelt war, gehörte zu Gottes Plan. Der Engel Gabriel hat mir erklärt, dass die Welt in großer Gefahr schwebt. Falls wir nicht sofort handeln, wird ein großer Krieg ausbrechen, ein Krieg, der das Ende der gesamten Menschheit bedeutet. Nur wir sieben in diesem Zimmer können das verhindern. Sehen Sie: Gott billigt die Arbeit, die wir im Zuge von MAWF leisten! Die Art, wie wir mit unserem Globalisierungsprojekt die Ordnung auf der Welt wiederhergestellt haben, beeindruckt ihn wirklich und hat ihm gezeigt, dass die Menschheit es wert ist, gerettet zu werden.«

Obwohl Rothman nicht die geringste Scheißidee hatte, was hier ablief oder wovon Galloway da redete, gefiel ihm doch dieser Teil mit Gottes Beifall zu MAWF und ihrem Globalisierungsprojekt. Nicht jeden Tag bekommt man von Gott zu hören, dass man gute Arbeit leistet. In diesem Sinne entschied Rothman also, Galloway und seinen bizarren schwarzen Schatten bei Laune zu halten.

»Ähm, was genau erwartet Gott denn von uns?«, fragte er.

Galloway deutete mit dem Zeigefinger auf ihn und antwortete mit einem Augenzwinkern: »Lassen Sie die Engel frei.«

»Die Engel? Welche Engel?«

Galloway stand auf und deutete mit beiden Händen auf den Fußboden. »Die mumifizierten Leichen im unterirdischen Gewölbe, das sind Engel!«

Die Mumien, von denen Galloway sprach, waren in Sarkophagen verborgen. Es waren vier Sarkophage, jeder mit einer mumifizierten Leiche darin, von Kopf bis Fuß in seltsame Goldfäden gewickelt. Man glaubte, dass diese Personen seit über zweitausend Jahren tot waren. An Arnold Rothmans erstem Tag als MAWF-Mitglied hatte man ihn dort hinabgeführt und sie ihm gezeigt. Das gehörte zum Aufnahmeritual von MAWF. Er erinnerte sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Er hatte auch die Mahnung nicht vergessen, dass die Goldfäden, in die die Leichen gewickelt waren, niemals entfernt werden dürften.

Linda Murdoch sprach genau das aus, was Rothman und die anderen dachten. »Behaupten Sie, zu wissen, wer diese Mumien sind?«

»Ja, das tue ich«, antwortete Galloway. »Wie ich gerade schon sagte, handelt es sich um Engel. Gabriel hat mir alles über sie erzählt. Gott hat sie vor vielen Jahrhunderten auf die Erde geschickt, als die Menschheit in Schwierigkeiten steckte. Das tut sie heute wieder, und so hat man uns befohlen, diese Engel freizusetzen, damit sie ihre Bestimmung erfüllen.«

»Was für eine Bestimmung?«, fragte Rothman.

»Sie haben sie gesehen. Wir alle haben sie gesehen. Überall auf der Welt finden in genau diesem Augenblick Revolutionen statt. Früher oder später wird alles Gute, das wir für die Welt getan haben, zunichtegemacht werden. Also müssen wir die Engel freisetzen, ehe es zu spät ist.«

Es fiel schwer, an das zu glauben, was Galloway sagte. Rothman und die anderen wussten sehr gut, dass sie vielleicht auch das eine oder andere Gute für die Welt getan haben mochten. Trotz allem hatten sie jedoch stets neunzig Prozent alles errungenen Wohlstands für sich behalten. Er machte sich seit jeher Sorgen, dass Gott, wenn er denn real war, diesen Umstand vielleicht nicht für ganz so gut erachtete.

»Wofür genau würden wir diese Engel freisetzen?«, fragte er.

»Um die Leute zu eliminieren, die die Welt zerstören möchten.«

»Welche Leute?«

Galloway trat erneut einen Rundgang durchs Zimmer an und drohte niemand Besonderem mit dem Finger.

»Sie haben schon eine Warnung erhalten«, sagte er. »Salvatore Rocco wurde einer Gehirnwäsche unterzogen. Er kam hierher, um Sie alle zu töten. Aber er war gerade mal der Erste. Ihre Feinde haben Mittel und Wege gefunden, um gewöhnliche Männer und Frauen wie Rocco in Attentäter umzuwandeln. Wo er jedoch gescheitert ist, hat der Nächste vielleicht Erfolg. Eines ist gewiss: Es wird mehr Leute wie ihn geben. Wenn wir diese Engel nicht freisetzen, um uns zu schützen, werden alle an diesem Tisch innerhalb von Wochen tot sein. Und ich verspreche Ihnen, dass Gott, wenn wir dieser Anweisung nicht nachkommen, und zwar unverzüglich, uns alle in die Hölle schicken wird, trotz all des Guten, das wir getan haben.«

♦ VIER

Sanchez verabscheute Amish. Die Bärte, die beschissenen Klamotten, die Art, wie sie mit ihren blöden Pferdekutschen den Verkehr aufhielten, ihre Weigerung, Technik zu akzeptieren – da war nichts, was man mögen konnte.

Der Amish, der eines Donnerstagnachmittags ins Tapioca spaziert kam, sah nach einem der Schlimmsten aus; ein bibelbewehrter alter Mistkerl mit grauem Bart bis zum Hals hinunter.

»Die Amish-Kneipe ist ein Stück die Straße entlang«, sagte Sanchez in der Hoffnung, den Mann in Santa Mondegas kürzlich eröffnete Schwulenkneipe zu lotsen. Der Amish ignorierte ihn und setzte sich. Er nahm den blöden Hut ab und legte ihn auf den Tresen.

»Sind Sie Sanchez?«, fragte er.

»Vielleicht. Wer sind Sie?«

Der Mann griff in seine Jacke und holte eine Geldscheinklammer hervor. Das sah nach etwa fünfhundert Mücken aus.

»Ich bin Vater Yoder«, sagte er.

Sanchez’ Miene hellte sich auf. »Yoda?«

»Es wird Y-O-D-E-R geschrieben.«

»Mir egal ist, wie geschrieben es wird. Lauten es tut trotzdem Yoda.«

Sanchez war enttäuscht, dass er allein klarkommen musste. Wäre Flake hier, dann hätte sie seine lustigen Star-Wars-Wortspiele und Yoda-Impressionen zu schätzen gewusst.

»Ich hätte gern ein Glas Wasser, bitte«, sagte Yoder.

In Zeiten wie diesen machte es Sanchez stinksauer, dass Flake die Flasche mit Pisse weggeworfen hatte, die er hinter dem Tresen aufzubewahren pflegte, um Fremden daraus einzuschenken. Dieser Amish mit seinem blöden Namen hatte es verdient, ein Glas von Sanchez’ Bestem serviert zu bekommen. Diese Zeiten waren jedoch vergangen. Sanchez hatte schon lange niemandem mehr Pisse serviert. Er vermisste diese herrlichen Tage. Stattdessen griff er nach dem Soft-Drink-Spender und goss dem Mann ein Glas frisches Wasser ein.

»Das macht drei Dollar«, sagte er und stellte es auf die Theke.

»Drei Dollar? Für Wasser?«

»Es steigt auf vier Dollar, wenn Sie mir auf den Senkel gehen.«

Yoder reichte ihm eine Fünf-Dollar-Note und steckte die Geldklammer in die Jacke zurück.

Sanchez bongte den Verkauf. »Nebenbei, wir geben kein Wechselgeld heraus«, sagte er.

»Also sind Sie Sanchez?«, fragte Yoder und schnupperte am Wasser.

»Was möchten Sie?«, fragte Sanchez.

»Ich möchte eine Gruppe von Leuten anwerben, die man als die Dead Hunters kennt. Draußen erzählt man, Sie wüssten, wie man zu ihnen Kontakt aufnimmt.«

»Nun, das tue ich nicht.«

»Ich bin bereit, zu zahlen.«

»Wie viel?«

»Zehn Dollar.«

Sanchez grinste höhnisch. »Zehn Dollar! Probieren Sie es mal mit hundert.«

»Abgemacht.« Yoder griff erneut in die Jacke und holte die Geldklammer hervor. Er reichte Sanchez fünf Zwanzig-Dollar-Scheine. »Können Sie für mich ein Treffen mit ihnen arrangieren?«

Sanchez hatte keinen Schimmer, wo die Dead Hunters steckten. Rex und Elvis hatte er vor ein paar Jahren mal kurz auf einer Weihnachtsfeier gesehen, aber davon abgesehen kannte er sie wie alle anderen nur aus den Nachrichten. Als er aber sah, wie dieser Amish-Prediger Bares hinblätterte, entschied Sanchez, den Eindruck zu vermitteln, er wüsste vielleicht, wie man die Dead Hunters erreichte.

»Ich kann in Ihrem Namen mit ihnen reden«, log er. »Kann jedoch nicht garantieren, dass sie Ihnen helfen werden.«

»Mehr verlange ich nicht«, sagte Yoder.

»Wofür möchten Sie sie anwerben?«

»Ich habe einen weiten Weg zurückgelegt, um sie zu treffen. Ich komme aus dem Dorf Oakfield auf Blue Corn Island. Wir haben dort ein Problem von einer Art, auf das Ihre Freunde spezialisiert sind … wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Möglicherweise«, antwortete Sanchez lässig.

»Ich habe gehört, dass sie sich mit Monstern wie Vampiren und dergleichen befassen. Stimmt das?«

»Sind Sie sicher, dass Sie sich mit diesen Leuten abgeben möchten?«, warnte ihn Sanchez. »Denn einer von ihnen bringt Sie vielleicht einfach aufgrund dieses blöden Vollbarts um.«

»Glauben Sie mir, mir bleibt nichts anderes übrig«, sagte Yoder. »Meine Leute kennen sonst niemanden, an den sie sich wenden könnten.«

»Tragen die Frauen dort auch Bärte?«

Yoder runzelte die Stirn. »Nein, für gewöhnlich nicht. Inwieweit ist das relevant?«

»Ist es nicht. Ich habe mich nur gefragt. Also, welche Art Monster macht Ihnen Probleme?«

Yoder nahm einen ganz kleinen Schluck Wasser und schien überrascht, dass es okay schmeckte.

»Die Insel, auf der meine Leute leben, ist hundertfünfzig Quadratmeilen groß«, begann er, was in Sanchez den Eindruck erweckte, der Alte würde ihm gleich die Geschichte seines Lebens erzählen. »Auf einer Seite liegt unser Dorf Oakfield, und auf der anderen Seite, dem Festland am nächsten, gibt es eine Kleinstadt namens Crimson County.«

»Sie langweilen mich schon.«

Vater Yoder machte ts, ts. »Ich erläutere Ihnen die Umstände.«

»Machen Sie sich nicht die Mühe. Ich vergesse das sowieso. Kommen Sie gleich zu den guten Sachen, und ich gebe das an die Dead Hunters weiter.«

»Nun, wir haben einen dichten Wald in der Mitte der Insel. Er ist fünf Meilen tief, und zu dieser Jahreszeit haust dort etwas Böses.«

»Meinen Sie Eichhörnchen?«, fragte Sanchez. »Boshafte kleine Mistviecher, nicht wahr?«

»Nein, keine Eichhörnchen. Eine Kreatur haust im Wald. Sie kommt nachts und schnappt sich jeden, der dumm genug ist, durch den Wald zu laufen.«

»Okay, die möchten Sie also gekillt haben, richtig?«

»So einfach ist es nicht. Dieses Ding ist jahrhundertealt. Es wird nicht leicht umzubringen sein – so viel weiß ich, denn schon viele haben das versucht und nicht geschafft. Jahrhundertelang waren Menschen dumm genug, zu glauben, sie könnten es jagen und zur Strecke bringen. Niemand ist jedoch im Herbst des Bösen jemals in den Schwarzwald gegangen und lebend wieder zum Vorschein gekommen.«

»Dem Herbst des was?«

»Des Bösen. So nennen wir die Zeit von Mitte Oktober bis Ende November. In dieser Zeit taucht das Einäugige Monster auf und schnappt sich unschuldige Menschen. Den Rest des Jahres verbringt es schlafend und zehrt vom Blut jener Menschen, die es sich im Herbst geholt hat. Wir haben bislang im Oktober schon vier Kinder verloren.« Er unterbrach sich. »Sollten Sie das nicht aufschreiben?«

Sanchez holte einen Stift und einen Notizblock unter dem Tresen hervor und fing an zu schreiben, wobei er laut mitsprach, damit Yoder die Einzelheiten bestätigen konnte. »Also, Prediger … sucht … Kinder.«

»Nein«, entgegnete Yoder. »Die Kinder sind schon verloren. Für sie ist es zu spät. Man wird sie nicht finden. Ich möchte, dass Ihre Freunde das Untier erledigen, das sie sich geholt hat.«

»Okay, verstanden«, sagte Sanchez und schrieb weiter. »Um … das … Einäugige Monster … im Wald …zu erledigen.«

»Richtig«, sagte Yoder. »Und teilen Sie ihnen mit, dass ich sie gern entlohne.«

»Aha. Bereit … gutes Geld … zu zahlen.«

»Und es ist entscheidend, dass sie es unauffällig erledigen. Die Menschen von Oakfield sollen nicht erfahren, dass ich Außenstehende eingesetzt habe, um dieses Problem zu lösen«, fuhr Yoder fort.

»Diskretion … wichtig«, setzte Sanchez hinzu und schloss den Satz mit einem Punkt ab. »Sonst noch etwas?«

»Ja, sagen Sie ihnen, dass sie mich in der Kirche aufsuchen sollen, ehe sie irgendetwas unternehmen. Sie ist leicht zu finden. Es handelt sich um das größte Bauwerk im Ort, und es ragt ganz prachtvoll in seiner Mitte auf.«

Sanchez legte den Stift zur Seite. »Das ist okay«, sagte er. »Diesen Teil kann ich mir so merken.«

Yoder griff sich in die Jackentasche und holte ein zusammengefaltetes Papier hervor. »Das ist eine Karte mit Angaben, wie man Oakfield erreicht«, sagte er und schob es über den Tresen zu Sanchez hinüber. »Wie lange, denken Sie, wird es dauern, bis die Dead Hunters eintreffen? Die Angelegenheit ist äußerst dringlich.«

Sanchez faltete die Karte auseinander und warf einen Blick darauf. Sie war von einem Kind gezeichnet worden. In der Mitte sah man einen Kreis mit ein paar Bäumen und dem Wort Schwarzwald.

»Der Wald sieht doof aus«, fand Sanchez.

»Wie ich schon sagte, er ist ungastlich, gefährlich und für Menschen nicht sicher.«

»Haben Sie je überlegt, ihn umzubenennen? Sie könnten ihn Schwarzes Waldgetto nennen.«

»Wieso?«

»Schwarzes Waldgetto, kapiert?«

»Nein.« Yoder sah verwirrt aus. »Können Sie die Nachricht bitte einfach an die Dead Hunters weiterleiten?«

Sanchez faltete die Karte zusammen. »Na gut.«

»Wann werden sie eintreffen, was denken Sie?«

»Sie treffen ein, wenn sie eintreffen«, versetzte Sanchez achselzuckend. »Ich denke mal, Sie haben keine Telefonnummer, unter der sie Sie erreichen können?«

»Wir haben keine Telefone«, sagte Yoder. »Wir benutzen keine Technologie in unserer Gemeinde. Gott verbietet es.«

»Natürlich tut er das«, sagte Sanchez und verfluchte sich dafür, dass er überhaupt gefragt hatte. »Ich erkläre den Dead Hunters einfach, sie sollen der Karte folgen, bis sie vor Ihrem prachtvoll aufragenden Bauwerk stehen, nicht wahr?«

»Das wäre toll«, sagte Yoder und klang aufrichtig dankbar. »Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Dann tschüs.«

Sanchez faltete den Zettel, auf dem er die Einsatzdetails notiert hatte, und packte ihn zusammen mit der Karte unter die Theke, voller Zuversicht, dass er keinen der Dead Hunters in absehbarer Zukunft sehen würde. Er irrte sich natürlich.

♦ FÜNF

Kains Plan lief perfekt ab. Er konnte gar nicht glauben, wie leicht es gewesen war, den Mitgliedern von MAWF weiszumachen, er sei Rupert Galloway und wäre dem Engel Gabriel begegnet. Das war natürlich alles Quatsch. Jeder, der irgendeine Ahnung hatte, wusste, dass Gabriel nicht gerne Leute traf.

Arnold Rothman, der habgierige alte Sack, der reich genug war, um die Armut auf der ganzen Welt zu beheben, willigte ein, den Mann, den er für Rupert Galloway hielt, in das Gewölbe zu begleiten, wo die Mumien lagen. Nur dass sie, wie allein Kain wusste, in Wirklichkeit gar keine Mumien waren. Und sie waren ganz gewiss keine Engel. Ganz im Gegenteil.

Für einen Außenstehenden war es nahezu unmöglich, in den Tresor zu gelangen. Zwei Mitglieder von MAWF mussten eine Reihe von Netzhautscans absolvieren, um die Sicherheitstüren und einen Fahrstuhl zu öffnen. Kain hatte das alles schon vor einigen wenigen Wochen gesehen, als er das ganze Gebäude in seiner Geistergestalt durchsuchte. Wenig später war er im Körper Salvatore Roccos zurückgekehrt und hatte gehofft, einzubrechen und bis zum Tresor vorzudringen. Das hatte sich als eine blutige Katastrophe erwiesen. Zunächst nahm ihn der Sicherheitsdienst fest; und als wäre das noch nicht schlimm genug, gewann Rocco das Bewusstsein zurück, ehe Kain seinen Körper verließ. Diesmal würde alles anders laufen. Nach der Übernahme des Körpers von Rupert Galloway hatte er das Gebäude mühelos betreten können.

»Wissen Sie, wie diese Engel heißen?«, fragte Rothman, während sie nebeneinander in dem Aufzug standen, der sie hinab zum Tresor brachte.

»Zitron, Yesil, Ash und Blanco.«

»Das ist sehr aufregend. Was wissen Sie sonst noch über sie?«

Kain konnte Rothmans Tonfall entnehmen, dass der Mann das, was er ihm erzählt hatte, sehr skeptisch betrachtete. Hätte er die Wahrheit gekannt, hätte er Kain vermutlich noch weniger Glauben geschenkt.

Bei den vier mumifizierten Personen im Tresor unter Riverdale Mansion handelte es sich in Wahrheit um die Unsterblichen, die der Menschheit besser unter dem Begriff »Die Vier Reiter der Apokalypse« bekannt waren.

Kain war ihnen vor Jahrtausenden zum ersten Mal begegnet. Die Vier Reiter hatten damals die Zivilisation der Maya in einem Land erobert, das man heute Amerika nannte. Sie hatten all ihre Feinde in Ghule verwandelt; grünhäutige Kannibalen, die sich vom Fleisch und Blut der Lebenden ernährten. Es kam so weit, dass die Stämme der Menschen auf dem Kontinent nahezu ausgerottet wurden. Damals fand Kain die Reiter und versprach ihnen, sie zu anderen Zivilisationen jenseits des Meeres zu führen, wo sie den Rest der Menschheit bezwingen könnten. Ihre Pläne scheiterten jedoch im Rahmen einer Geschichte, die von aller Welt längst vergessen worden war, abgesehen von jenen, die dem uralten Evangelium nach Susanne folgten.

Susannes Evangelium berichtete von den Taten Jesu in den Jahren, die in der Bibel nie erwähnt werden. Die Jahre, in denen er und seine ersten Jünger nach Amerika segelten und die Ghule bezwangen. Im finalen Showdown mit den vier Unsterblichen war Jesus siegreich geblieben. In einem Akt der Barmherzigkeit tötete er sie jedoch nicht, sondern verurteilte sie zu einem Dasein in Winterstarre, von Kopf bis Fuß in Fäden aus einem goldenen Vlies gewickelt. Als Jesus Amerika wieder verließ, blieben die Jünger, angeführt von Susanne, dort zurück, wachten über die Vier Reiter und gaben ihre Geschichte über die Generationen weiter.

Kain war klar, dass diese Erzählung in Vergessenheit geraten war, denn Arnold Rothman und die übrigen Teilhaber von MAWF hatten ganz offensichtlich keine Ahnung, wozu ihre vier Gefangenen fähig waren.

Die Fahrstuhltüren öffneten sich nach einem Abstieg, der beinahe zwei Minuten gedauert hatte. Hier war man nicht nur unter der Erde, sondern so richtig tief unter der Oberfläche. Die beiden Männer betraten eine große Halle, angefüllt mit antiken Schätzen und Artefakten aus früheren Jahrtausenden. Kain stürmte an allem vorbei, was er sah, und nahm Kurs auf die Rückseite der Halle, wo vier Sarkophage an der Wand standen. Jeder der steinernen Särge wies ein Gemälde dessen auf, der darin lag. Der einzige auffällige Unterschied zwischen den vieren war ihre Haarfarbe. Einer hatte weiße Haare, der zweite grüne, der dritte schwarze. Derjenige, zu dem sich Kain hingezogen fühlte, war der mit dem gelben Haar.

Arnold Rothman hatte Mühe, mit Kain Schritt zu halten. »Rupert«, schnaufte er, »wozu die Eile?«

»Das sehen Sie noch. Helfen Sie mir, den Sarg des Blonden zu öffnen.«

Die beiden stemmten den Sargdeckel auf, was eine Zeitlang dauerte, weil er aus Stein gehauen war und Arnold Rothman nicht dazu gebaut, große Gewichte zu heben. Der Körper Rupert Galloways war nach dem von Kain arrangierten Unfall außerdem ziemlich geschlaucht.