Unsere Überlebensformel - Ulrich Eberl - E-Book

Unsere Überlebensformel E-Book

Ulrich Eberl

0,0
21,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Klimawandel und Abholzung der Regenwälder, Konsumexplosion und Vermüllung der Meere – all das bedroht die Vielfalt des Lebens auf der Erde und mehr noch: unser eigenes Überleben. Die 2020er-Jahre sind die letzte Chance umzusteuern. Viele innovative Ideen geben Hoffnung auf ein besseres Leben nicht gegen, sondern im Einklang mit der Natur. Ulrich Eberl bewertet fachlich fundiert die Lösungsstrategien. Er schildert anschaulich die spannendsten Projekte aus führenden Labors der Welt und stellt die Forscherinnen und Forscher vor, die mit aller Kraft dafür kämpfen, dass sie Wirklichkeit werden.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mehr über unsere Autorinnen, Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für meine Kinder Thomas und Sonjaund alle Menschen, die sich für eine lebenswerte Zukunft im Einklang mit der Natur einsetzen

© Piper Verlag GmbH, München 2022

Vermittelt durch die U.M.G. Literaturagentur, München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Covermotiv: shomos uddin / Getty Images

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Wussten Sie, dass …

Der Wind des Wandels

Das wichtigere Datum als die Mondlandung

Der sechste Zyklus: Gesundheit von Mensch und Umwelt

1 Die Krise der Energieversorgung

Das gab es schon einmal: Palmen am Polarkreis

Kippelemente und Dominosteine des Klimas

Die Entwöhnung vom Karbon-Energydrink

Der effektivste Hebel gegen den Klimawandel

Das neue Stromzeitalter – effizient und umweltfreundlich

Strom aus der Wüste: Afrikas ungenutzte Potenziale

Weltweiter Preissturz: Wind und Solar billiger als Kohle

Intelligente Netze verhindern Blackouts

Element der klimaneutralen Zukunft: »grüner« Wasserstoff

Der Champagner der Energiewende

Pfandflaschen für Wasserstoff

Künstliche Vulkane und CO2-Sauger

Fossile Rohstoffe müssen im Boden bleiben

Was der Wandel kostet – und das Nichtstun

2 Die Krise der Mobilität

Verändert die Pandemie unsere Mobilität?

Der zweitmächtigste Hebel für die kohlenstofffreie Welt

Strom, Synfuels und Wasserstoff

Ironie der Geschichte: Das E-Auto gewinnt zum zweiten Mal

300 Kilometer Reichweite in zehn Minuten nachladen

Seltene Erden sind gar nicht so selten

Zukunftsbatterien nach dem Vorbild von Blutzellen

Fahrzeuge mit Augen und Ohren

Autonomes Fahren: Roboter auf Rädern

Flugtaxis, menschliche Rohrpost und der Weltraumlift

3 Die Krise der Städte

Wenn der Roboter das Wohnhaus druckt

Die erste Megalopolis mit 70 Millionen Menschen

Eine 15-Minuten-Stadt der kurzen Wege

Beton der Zukunft: mit purem Sauerstoff und Kohlefaser

Boom der Holzhochhäuser – Gebäude als CO2-Senken

Kühlen nach dem Vorbild der Termiten

Wärme aus Luft und Erdboden pumpen

Smart Cities à la Gangnam Style

4 Die Krise des Konsums

Mehrere Erden für eine Menschheit

Eine Milliarde Tonnen an Klimagasen aus Müllkippen

Plastik vom Acker – statt aus Erdöl

Ökobilanzen für Wind und Sonne

Chemieindustrie ohne Treibhausgase?

Cradle-to-Cradle: eine Welt ohne Abfall

Roboter mit Elefantenrüssel und selbstheilende Stoffe

Synthetische Biologie: die Ingenieure des Lebens

5 Die Krise des Artensterbens

Von Papuas Korallenriffen in die Serengeti

Seit 1970: zwei Drittel der Tierwelt verschwunden

Radioaktive Nashörner und der Juchtenkäfer

Ein Marshallplan für die Biodiversität

Der bleiche Tod in den Oasen der Meere

Plastikmüll-Schlucker für Flüsse und Ozeane

Wenn die Regenwälder zu Savannen werden

Bäume pflanzen und Moore renaturieren

Der wichtigste biochemische Prozess auf Erden

Enzyme zusammenschalten, um CO₂ zu binden

6 Die Krise der Landwirtschaft

Roboter für die Erdbeerernte, Hydrokultur in der Wüste

Der Bauernhof im Wolkenkratzer

Novel Food: Algen für Rinder, Insekten- und Bio-Trends

Fleischlose Steaks aus dem 3D-Drucker

Neue Pflanzen – gezüchtet oder genetisch modifiziert?

CRISPR/Cas ändert die Spielregeln der Gentechnik

Membranfilter: Trinkwasser für 30 Cent pro Jahr

Pflanzen, die sich ihren Dünger aus der Luft holen

7 Die Krise der Krankheiten

Lassen sich Pandemien frühzeitig stoppen?

Neue Wirkstoffe gegen multiresistente Superkeime

Artilysine lassen Bakterien platzen

Boom der mRNA: von Corona bis zur Krebsimpfung

DNA-Origami und ein Herz aus dem Drucker

Fühlen mit Roboterhänden und Mikrochips im Gehirn

Kranke Zellen in einem Raum mit 20 000 Dimensionen

Roboter als Butler für Senioren

8 Die Krise der Intelligenz

Sie finden vor allem Muster – in Bildern, Texten, Sprache

Nachhaltiger wirtschaften dank Künstlicher Intelligenz

Neue Wege: wissensbasierte KI und neuromorphe Chips

300 Quanten-Bits – mehr Daten als Atome im Universum

9 Die Krise des Wandels

In Umbruchzeiten brauchen wir Ziele und Vorbilder

Die Kippelemente des sozialen Wandels

Klimaneutrales Europa: Entwarnung für Kosten und Jobs

Fazit – die Überlebensformel

Danksagung

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Wussten Sie, dass …

… die Menschheit jedes Jahr mehr an fossilen Rohstoffen verfeuert, als in einer Million Jahren entstanden sind?

… wir den Treibhauseffekt von Kohle, Öl und Gas um fast zwei Drittel senken, wenn wir global auf Wind- und Solarstrom sowie Elektroautos setzen?

… die weltweit 1,4 Milliarden Rinder allein durch das Rülpsen von Methan mehr Treibhausgase verursachen als der Betrieb aller Pkws?

… Rinder, die jeden Tag außer ihrem Grün- und Kraftfutter noch 80 Gramm einer Rotalge verschlingen, 80 Prozent weniger Methan ausstoßen?

… die unüberwachten Müllkippen in ärmeren Ländern weit mehr an Klimagasen emittieren als ganz Deutschland?

… es Bakterien mit nur drei Mutationen eines Enzyms schafften, ein Herbizid, das als biologisch nicht abbaubar galt, als Nahrungsquelle zu nutzen?

… die Zementindustrie – wäre sie ein Staat – bei den Kohlendioxid-Emissionen hinter China, den USA und Indien an vierter Stelle läge?

… Holz Beton ersetzen kann? In Japan ist ein Holzhochhaus mit 350 Meter Höhe geplant. 84 Meter hohe Gebäude stehen bereits.

… seit der Mondlandung zwei Drittel aller wilden Tiere verschwunden sind und Korallenriffe eine zwei Grad höhere Mitteltemperatur nicht überleben werden?

… schon die Wiedervernässung der weltweit trockengelegten Moore jedes Jahr mehr als doppelt so viele Klimagase aus der Luft holen könnte, wie Deutschland emittiert?

… Milliarden von Menschen Mobilgeräte bei sich tragen, die so leistungsfähig sind wie wenige Supercomputer vor 25 Jahren?

… allein die alten Mobilgeräte in deutschen Schubladen sechs Tonnen Gold und zudem 60 Tonnen Silber enthalten – ein bislang ungehobener Schatz.

Mehr dazu in diesem Buch!

Der Wind des Wandels

Neun Krisen unserer Zeit

Binnen Minuten ist der strahlend blaue Himmel verschwunden. Die Wipfel der Bäume schwingen mit dem plötzlich aufkommenden Wind; dunkle Wolkenberge türmen sich, wo gerade noch die Sonne brannte. Die Luft kühlt spürbar ab. Gewitter, Sturm und Hagel drohen. Der heiße Sommer am See endet mit einem Donnerschlag – und im Radio spielen sie »Wind of Change« von den Scorpions. Wie lange habe ich diese Rockballade nicht mehr gehört! Vor 30 Jahren war sie unsere Hymne der Wende gewesen – im Taumel der Freude, nachdem die Mauer gefallen war, als die beiden Deutschlands eins wurden und der Kalte Krieg für immer zu Ende schien.

Wind of Change. Das passt auch heute wieder. Die Luft knistert von den Unwettern, die uns bevorstehen. Der Ost-West-Konflikt ist wieder da, nur dass diesmal China im Fokus steht, das mit Wirtschaftskraft und Machtpolitik dem 21. Jahrhundert seinen Stempel aufdrücken will. Politische Brandherde überall, Nationalisten und Populisten kommen und gehen, Fakten werden verzerrt und ins Gegenteil verkehrt – doch noch heftigere Stürme ballen sich in der Natur zusammen. In Kalifornien, Südeuropa, Brasilien, Indonesien, Australien und sogar in Sibirien brennen die Wälder. Hitzewellen erreichen Temperaturen, wie sie noch nie gemessen wurden. Gletscher schmelzen in unfassbarem Tempo, Wirbelstürme und Überschwemmungen sind heftiger als je zuvor, ganze Orte versinken im Schlamm. Dürren vernichten Ernten, Korallenriffe sterben noch rascher als Regenwälder – und ein Virus verursacht eine Pandemie, die rund um den Globus nicht nur die Gesundheit von Millionen Menschen attackiert, sondern auch Wirtschaft und Gesellschaft extremen Stresstests aussetzt.

Kein Wunder, dass viele raunen: Die Natur schlägt zurück. Sie hätte auch allen Grund dazu. An Warnungen hat es nicht gefehlt. Vor genau 50 Jahren, im März 1972, veröffentlichten Donella Meadows, Dennis Meadows und Jørgen Randers im Auftrag des Club of Rome – einer Vereinigung von Wirtschaftlern, Wissenschaftlern und Politikern – eine Studie mit dem Titel The Limits to Growth(Die Grenzen des Wachstums).[1] Bis heute ist dieses Werk mit Dutzenden von Millionen Exemplaren eines der erfolgreichsten Bücher aller Zeiten – und eines der umstrittensten. Denn die Autoren prophezeien der Menschheit den Kollaps. Nach ihren Simulationen würden Weltbevölkerung und Industrieproduktion noch einige Zeit wachsen, aber dann käme ein abrupter Absturz: verursacht durch knapper werdende Rohstoffe und Nahrungsmittel sowie durch die Umweltverschmutzung. Dieser Zusammenbruch, so ihre Prognose, würde vermutlich zwischen 2030 und 2050 liegen, aber ziemlich sicher fände er vor dem Jahr 2100 statt.

Die Computerleistung, die den Autoren der Studie zur Verfügung stand, war zwar sehr begrenzt, aber auch Berechnungen, die die Forscher in den 1990er- und 2000er-Jahren durchführten, zeigten ähnliche Ergebnisse. Nur massive Maßnahmen zum Umweltschutz, zum Umbau der Wirtschaft sowie die Wiederverwendung von Rohstoffen, hohe landwirtschaftliche Erträge und niedrige Geburtenraten ergaben Szenarien, unter denen die Weltbevölkerung und der Wohlstand langfristig konstant bleiben können. In einem Interview, das wir für das von mir gegründete Zukunftsmagazin Pictures of the Future bereits vor zwölf Jahren mit Dennis Meadows führten,[2] zeigte er sich jedoch wenig zuversichtlich, dass die Menschheit den Wandel schafft: »Ich rechne mit schweren Verwerfungen«, prophezeite er. »Meine Modelle zeigen Spannungen wie in einer Erdbebenzone: Man weiß nicht genau, wann etwas passiert. Aber es ist klar, dass es ein Beben mit schlimmen Folgen geben wird.« Natürlich kann man über Details seiner Modelle streiten. Dennoch scheinen gerade jetzt seine Kassandrarufe aktueller denn je. Haben wir überhaupt eine Chance, dieses Erdbeben noch zu verhindern?

In meiner Jugend hätte ich die Frage mit einem klaren Ja beantwortet. Als kleiner Bub saß ich gebannt vor dem Fernseher, während die Helden der Apollo-Missionen den Mond betraten. »Ein kleiner Schritt für einen Menschen, ein riesiger Sprung für die Menschheit« – als Neil Armstrong in der Nacht zum 21. Juli 1969 etwas ungelenk aus der Mondlandefähre Eagle kletterte, schien alles möglich. Wenn Menschen zum Mond fliegen können, was sollte uns aufhalten? Diese Begeisterung für Naturwissenschaft und Technik brachte mich später dazu, Physik zu studieren und selbst im Labor zu forschen. Doch schon 1969 hätte man auch alles ganz anders sehen können. Selbst Neil Armstrong sagte, als er gefragt wurde, ob er nicht ein Gefühl der Größe gespürt habe, als er auf dem Mond mit seinem Daumennagel die ferne Erde verdecken konnte: »Nein, im Gegenteil – ich fühlte mich in dem Moment verloren und klein.« Und der Astrophysiker Carl Sagan schrieb, als er das Foto unseres Planeten mit der dünnen Hülle der Atmosphäre sah, das die Apollo-Astronauten geschossen hatten: »Dieses Foto zeigt uns, dass von außen keine Hilfe kommen wird, um uns vor uns selbst zu retten.« Auf dieser kleinen, wunderbaren, blauen Murmel existiert alles Leben, das wir kennen – und die Menschheit ist gerade dabei, vieles davon radikal zu zerstören.

Das wichtigere Datum als die Mondlandung

Denn während wir die technischen Großleistungen bewunderten, übersahen wir ein aus heutiger Sicht wichtigeres Datum: Genau zur Zeit der Mondlandungen übertraf nach Berechnungen des Global Footprint Network der ökologische Fußabdruck des Menschen erstmals die Biokapazität der Erde.[3] Seitdem leben wir auf Pump. Heute nutzen wir die Ressourcen des Planeten 1,7-mal schneller, als sie sich regenerieren können. Wir bräuchten bereits 1,7 Erden – und wenn wir so weitermachen wie bisher, müssten wir 2050 drei Erden zur Verfügung haben. Die Gründe für den Raubbau sind offensichtlich: Seit 1970 hat sich die Weltbevölkerung mehr als verdoppelt. 2050 könnten sogar dreimal so viele Menschen auf der Erde leben wie 1962, zur Zeit meiner Geburt.

Noch schneller als die Weltbevölkerung sind die Wirtschaftsdaten gestiegen. Laut einem 2021 erschienenen Bericht des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (UNEP)[4] hat sich die Weltwirtschaft von 1970 bis 2020 fast verfünffacht und der Welthandel verzehnfacht. Unser Rohstoffverbrauch hat sich in dieser Zeit – wie der Energieverbrauch – nahezu verdreifacht, die Herstellung von Kunststoffen sogar verzwanzigfacht. Heute stößt die Menschheit jedes Jahr doppelt so viele Treibhausgase in die Luft wie vor 50 Jahren. Übertroffen werden diese Hiobsbotschaften nur vom Artensterben: Seit 1970 sind laut dem World Wide Fund for Nature mehr als zwei Drittel aller Wirbeltiere – Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien – von der Erde verschwunden.

Viele Wissenschaftler nennen unsere Zeit das Anthropozän, weil der Mensch zur bestimmenden Kraft des Planeten geworden ist. Laut dem UNEP-Bericht verursachen wir massive Veränderungen bei zwei Dritteln der Ozeane und drei Vierteln des eisfreien Landes – bei den Meeren vor allem durch Überfischung und Vermüllung, beim Land, indem wir große Teile in Ackerland, Weideflächen, Nutzwälder, Siedlungen, Straßen und andere Infrastrukturen umwandeln. Doch schon in den 1980er-Jahren waren negative Seiten des technisch Machbaren deutlich sichtbar: 1984 kam es im Pestizidwerk im indischen Bhopal zum schwersten Chemieunfall der Geschichte mit Tausenden von Toten und Hunderttausenden Verletzten. In Deutschland diskutierten wir zur gleichen Zeit vor allem über Waldsterben und sauren Regen. 1985 wurde das Ozonloch über der Antarktis entdeckt, 1986 explodierte der Kernreaktor von Tschernobyl – und das sind nur ein paar drastische Beispiele.

Dennoch schien vieles noch beherrschbar: Grüne Parteien entstanden, Umweltministerien wurden gegründet. Kraftwerke mussten Anlagen zur Rauchgasentschwefelung installieren, für Autos wurden Abgasnormen verschärft und Katalysatoren vorgeschrieben. 1989 trat ein Übereinkommen in Kraft, das die Emission von ozonschädlichen Chemikalien verhinderte, darunter vor allem die als Kühlmittel verwendeten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) – es wurde von allen Staaten der Vereinten Nationen ratifiziert und gilt bis heute als einer der größten Erfolge des Umweltvölkerrechts. Und nach Tschernobyl und vor allem nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 beschloss Deutschland, bis Ende 2022 alle Kernkraftwerke abzuschalten.

Als Teile der radioaktiven Wolke von Tschernobyl über Bayern abregneten, arbeitete ich gerade im Garten meiner Eltern in Regensburg. Noch gab es offiziell gar keine Warnungen, aber am Tag darauf überprüfte ich mit einem Messgerät, das uns Physikstudenten der Technischen Universität München in Garching zur Verfügung stand, meine Kleidung und Schuhe: Das rasende Knattern habe ich noch heute im Ohr; der Zeiger war am Anschlag, die Radioaktivität um ein Vielfaches über der natürlichen Strahlung. Kurz danach war das ganze Land in Aufregung: die Böden verstrahlt; Milch, Gemüse, Beeren, Wild – vieles durfte nicht mehr verzehrt und musste vernichtet werden. Mir gab diese Erfahrung den letzten Anstoß, in die Erforschung neuer Energien einzusteigen. Während meiner Diplom- und Promotionsarbeit untersuchte ich die ersten Schritte der Photosynthese, die Umwandlung von Licht in elektrochemische Energie – meine Vision war, neue Erkenntnisse für künftige biologische Solarzellen beitragen zu können (mehr dazu in Kapitel 5).

Auch als ich danach einige Jahre bei Daimler arbeitete und 20 Jahre lang bei Siemens die Kommunikation über Forschung, Innovationen und Zukunftstrends leitete, standen Ressourcenschonung und erneuerbare Energien immer im Fokus. Nachhaltige Mobilität, Brennstoffzellen, Wasserstoff, Wind und Solar, Energieeffizienz bei Gebäuden, Kraftwerken und Industrien, die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch und die Entwicklung »grüner« Städte – das waren neben Gesundheitsfragen die wesentlichen Themen unserer Zukunftsmagazine HighTechReport und Pictures of the Future. Seit 1992 bei der UN-Konferenz in Rio de Janeiro der Begriff der Nachhaltigkeit wieder ins Bewusstsein gerückt war, war mir klar, dass dies die Aufgabe unserer Generation werden musste: Nachhaltigkeit im umfassenden Sinn, ökologisch, ökonomisch und sozial, also Schutz der Umwelt, Überwindung der Armut und gesellschaftlicher Ausgleich.

1994 konnte ich am Amazonas im Dreiländereck zwischen Brasilien, Kolumbien und Peru noch rosa Flussdelfine, Piranhas, Brüllaffen und Aras erleben, doch beim Flug über den Regenwald sah ich immer wieder dunkle Rauchwolken und Kahlschläge. Ein Jahr später erklärten mir Biologen beim Tauchen am Great Barrier Reef in Australien den ökologischen Reichtum dieser Regenwälder unter Wasser – und zugleich diskutierten sie bereits verheerende Effekte von Umweltverschmutzung und Klimawandel auf die Korallenriffe. Als ich dann im Sommer 1995 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel mit dem Titel »Der bleiche Tod in den Oasen der Meere« veröffentlichte, war dies in den Medien einer der ersten Beiträge über die Zusammenhänge zwischen Klimawandel und Korallensterben. Inzwischen gehört es zum Allgemeinwissen, dass der Tod der Korallen eine der unmittelbarsten Auswirkungen des Klimawandels darstellt. Seit 1995 hat die Menschheit so viel Kohlendioxid in die Luft geblasen, wie in allen Jahren vor 1990 zusammengenommen. Wenn die Emissionen nicht drastisch sinken, sagen Wissenschaftler, könnten heutige Kinder noch eine Welt erleben, die heißer ist, als sie jemals ein Homo sapiens erfahren hat.

Wind of Change. Wir müssen den Umschwung schaffen, denn die Indizien sind eindeutig: Im Anthropozän ist nicht nur die Vielfalt des Lebens auf der Erde bedroht, sondern das Überleben unserer Zivilisation. Wie aber kann der Wandel noch gelingen? Seit 35 Jahren erforsche ich Zukunftstrends. Manches ist gar nicht so schwer vorherzusagen, denn viele Weichenstellungen, die wir heute treffen, prägen die Welt, in der unsere Kinder leben werden. Die Häuser, die jetzt gebaut werden, stehen in Jahrzehnten noch. Viele Kraftwerke werden auch 2050 noch Energie liefern. Die Zahl unserer Kinder legt fest, wie die Alterspyramiden und damit die Sozial- und Gesundheitssysteme aussehen und welche Mengen an Nahrung und Rohstoffen benötigt werden – und was wir jetzt an Treibhausgasen ausstoßen, wird auch 2050 noch das Klima der Erde beeinflussen. Auch Megatrends sind klar zu erkennen: Dabei geht es nicht um schnelle Entwicklungen wie Smartphones oder Hypes wie in der Internetkultur, sondern um langfristige Trends wie Globalisierung, Verstädterung oder den demografischen Wandel, die praktisch unumkehrbar sind.

Als ich vor zwölf Jahren mein Buch Zukunft 2050 schrieb, beschäftigte ich mich zudem mit den sogenannten Kondratieff-Zyklen.[5] Der russische Wissenschaftler Nikolai Kondratieff hatte in den 1920er-Jahren herausgefunden, dass große Wirtschaftszyklen in langen Wellen von 40 bis 60 Jahren ablaufen – beginnend bei Basisinnovationen über den daraus entstehenden Wohlstandszuwachs, bis sie stagnieren und von der nächsten Welle abgelöst werden. Dieses natürlich stark vereinfachte Konstrukt beschreibt sehr anschaulich, was die Welt in den vergangenen 200 Jahren prägte. Ab 1800 waren es die Dampfmaschine und die Textilindustrie, und um 1870 befand sich der zweite Zyklus auf seinem Höhepunkt: mit den Basisinnovationen Eisenbahn und Stahlindustrie.

Von 1900 bis 1950 drehte sich viel um die Elektrotechnik: Kraftwerke und Stromnetze, elektrisches Licht und Straßenbahnen, Radio, Kühlschrank und Fernseher. Die Jahre 1950 bis 1990 waren dann geprägt von der Boomphase des Automobils und der Petrochemie, des Öls und der Kunststoffe. Derzeit befinden wir uns nahe dem Scheitelpunkt des fünften Zyklus, der etwa 1990 startete und durch die Informations- und Kommunikationstechnik geprägt ist: mit Computern, Internet, Mobilfunk und der Künstlichen Intelligenz, die ich im Buch Smarte Maschinen[6] beschrieb, als ich mich 2016 als Wissenschaftsautor, Vortragsredner und Zukunftsforscher selbstständig machte.

Der sechste Zyklus: Gesundheit von Mensch und Umwelt

Den sechsten Kondratieff-Zyklus, der nun langsam hochfährt und der nach meiner Einschätzung die Jahrzehnte zwischen 2030 und 2060 prägen könnte, hat der Forscher Leo Nefiodow schon vor 25 Jahren prognostiziert: Darin sollen die Themen Bio- und Medizintechnik sowie Umweltschutz eine wesentliche Rolle spielen. Ich nenne das Gesundheit im weitesten, ganzheitlichen Sinn: Gesundheit des Menschen ebenso wie Gesundheit der Umwelt. Für unser Überleben ist das der entscheidende Zyklus, und er startet vielleicht gerade noch rechtzeitig!

Wir müssen die beiden Gesundheitstrends zusammendenken und umsetzen. Kaum etwas könnte das deutlicher machen als die Corona-Pandemie und der Klimawandel: Bei der Pandemie dreht sich alles um die Gesundheit des Menschen, beim Klimawandel um die Gesundheit der Umwelt. Beide sind nicht unabhängig voneinander: Der Klimawandel wirkt nicht nur über Hitzewellen auf unser Wohlbefinden, sondern auch über die Änderung von Vegetationszonen und die Ausbreitung von Krankheiten. Und die Pandemie zeigte, wie schnell Politik, Wirtschaft, Finanzwesen und die Gesellschaft reagieren können, wenn alles auf dem Spiel steht. Es bleibt nur zu hoffen, dass nun ein Großteil der billionenschweren Nach-Corona-Aufbauhilfen wirklich in die New Green Deals fließt, die gegen den Klimawandel in Stellung gebracht werden.

Die epochalen Krisen, vor denen wir stehen, erstrecken sich auf viele Gebiete. Wie können wir das weltweite Energiesystem auf eine neue, kohlenstofffreie Grundlage stellen – ohne dass die Energieversorgung leidet und die Preise explodieren? Wie können wir mobil sein, ohne Öl zu nutzen, wie heizen ohne Erdgas und Kohle? Wie sehen lebenswerte Städte aus? Wie schaffen wir nachhaltige Industrien? Wie bauen wir mit möglichst wenig Zement und Beton? Oder nehmen wir die Kunststoffe. Sie waren einst die Verheißung des 20. Jahrhunderts, doch heute verpesten sie Flüsse und Meere und finden sich noch an den entlegensten Stränden und in den Körpern vieler Lebewesen. Wie holen wir das Plastik aus den Gewässern? Wie schaffen wir umweltfreundliche Materialien und eine echte Kreislaufwirtschaft? Wie können wir die Vielfalt der Arten und die Wälder schützen und zugleich bis zu zehn Milliarden Menschen gesund ernähren? Und wie begegnen wir den Herausforderungen der Medizin: den neuen Krankheiten, den Multiresistenzen gegen Antibiotika, den Demenzerkrankungen, die sich bis 2050 verdreifachen könnten? Wie berechtigt ist die Angst mancher, dass die Intelligenz smarter Maschinen die Menschheit gefährden könnte? Und eine der wichtigsten Fragen überhaupt: Wie überwindet man Beharrungskräfte und gewinnt die Menschen für den Wandel?

Genau darum geht es in diesem Buch: um neun globale Krisen und die Lösungen der Wissenschaft. Ich bin überzeugt davon, dass wir Antworten finden können. Denn gerade jetzt ballen sich nicht nur die Unwetter zusammen, sondern es häufen sich auch die Durchbrüche: bei mRNA-Impfstoffen gegen die Corona-Pandemie, in der Synthetischen Biologie, bei lernenden Maschinen, Neurochips und Quantencomputern. Wind- und Solarstrom kosten nun weniger als der aus Kohle, Batterien für Elektroautos sind so leistungsstark, wie es vor 20 Jahren niemand für möglich gehalten hätte, und »grüner« Wasserstoff wird plötzlich eine realistische Option. Kurz: Die 2020er-Jahre könnten das Goldene Jahrzehnt des technologischen Wandels werden, so wie die 1920er-Jahre mit der Quantenphysik, der Entdeckung des Penicillins und des Grabs von Tutanchamun als Goldenes Jahrzehnt der Wissenschaft bezeichnet werden. Es wird jetzt auch wirklich Zeit. Die 2020er-Jahre werden nach allem, was wir wissen, unsere letzte Chance sein, noch umzusteuern und das Ruder herumzureißen – aber ich habe die Hoffnung, dass es gelingen kann.

In den vergangenen Jahren habe ich mit vielen Forscherinnen und Wissenschaftlern gesprochen, sie in ihren Laboren besucht und ihre Publikationen gelesen. Ich habe von Start-up-Unternehmern, Managerinnen und Wirtschaftsführern gelernt, wie aus Entdeckungen echte Innovationen entstehen und was die Hürden sind, die es zu überwinden gilt. Denn Erfindungen, die zwar technisch funktionieren, aber nie den Weg aus dem Labor in die Märkte finden, werden die Welt nicht verändern. Um das große Puzzle an Lösungen, die zusammenpassen müssen, geht es in diesem Buch, um inspirierende Ideen und die Köpfe dahinter. Ich wende mich an alle, die sich um unsere Zukunft sorgen und wissen wollen, was konkret getan werden muss, um die Krisen zu lösen – um ein Leben nicht gegen, sondern im Einklang mit der Natur zu erreichen.

Wir brauchen Ideen und Erfindungskraft und müssen als Gesellschaft entscheiden, welche Technologien wir auf welche Weise nutzen wollen. Solche Entscheidungen dürfen nicht vertagt werden, denn jedes Tun birgt zwar ein Risiko in sich, aber genauso auch jedes Nichtstun. Angesichts der enormen Herausforderungen ist Nichtstun keine Option. Es macht Spaß, neu zu denken, selbst aktiv zu werden und mit der richtigen Idee die Welt zu verändern – auch dazu möchte ich mit diesem Buch auffordern. Die Leserinnen und Leser werden darin viele Zahlen, Daten und Fakten finden, manches Bekannte, aber sicherlich auch einiges Neue. Ich berichte von großen Herausforderungen, spannenden Forschungen und wissenschaftlichen Durchbrüchen, aber vor allem ist mir wichtig, die wesentlichen Zusammenhänge herauszuarbeiten und die Hebel zu identifizieren, mit denen wir die Krisen lösen können. Es geht also um die entscheidenden Weichenstellungen – oder um es plakativ und pathetisch auszudrücken: unsere Überlebensformel.

1 Die Krise der Energieversorgung

Das Ende des fossilen Zeitalters

Das erste Warnsignal schrillte vor über 125 Jahren – wenn es denn jemand gehört hätte. Schon 1896 veröffentlichte der schwedische Physiker und Chemiker Svante Arrhenius einen umfangreichen Fachartikel über die Effekte, die Kohlendioxid (CO2) und Wasserdampf in der Atmosphäre verursachen.[7] Der Forscher ist heute noch Studierenden der Naturwissenschaften ein Begriff: Für seine Arbeiten zu frei beweglichen Ionen in Flüssigkeiten wurde er 1903 als einer der ersten Wissenschaftler mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Nur wenige wissen allerdings, dass er auch die Größenordnung des Treibhauseffekts verblüffend genau berechnet hat.

Dass unsere Atmosphäre wie ein Glashaus wirkt, hatte der französische Mathematiker Joseph Fourier bereits 1824 erkannt. Fast ungehindert dringt das Licht der Sonne durch die Luftschichten und erwärmt den Boden und die Meere. Von dort wird die Energie als längerwellige Wärmestrahlung wieder abgegeben, doch bevor sie ins Weltall gelangt, trifft sie auf Moleküle wie CO2, Wasserdampf, Methan und Lachgas. Sie kommen zwar nur in geringen Mengen vor, haben aber eine enorme Bedeutung, weil sie einen Teil der Wärmestrahlung aufnehmen und erneut nach unten senden – dies ist der Treibhauseffekt. Ein Großteil der Wärme bleibt so auf der Erde gefangen.

Das ist zunächst nichts Negatives, denn ohne Treibhauseffekt wäre unser Planet eine lebensfeindliche Kugel aus Fels und Eis mit einer Temperatur von minus 18 Grad Celsius. Die Treibhausgase erhöhen diesen globalen Mittelwert heute auf angenehme 15 Grad über null. Kohlendioxid gelangte vor allem durch Vulkanausbrüche in die Atmosphäre, von wo es durch Verwitterung, Kalkbildung und die pflanzliche Photosynthese eingefangen und gebunden wurde, bis sich ein Gleichgewicht einstellte. Noch dreimal größer als der Treibhauseffekt des CO2 ist der des Wasserdampfs, der allerdings die Erde nicht nur erwärmt. Denn Wasserdampf kann in Form von Wolken auch das Gegenteil bewirken: Je dichter und dunkler sie sind, desto weniger Sonnenlicht lassen sie überhaupt erst bis zum Erdboden vordringen. Und es gibt verstärkende Rückkopplungen: Je mehr sich die Erde erwärmt, desto mehr Wasser verdunstet aus Meeren und Regenwäldern. In oberen Luftschichten trägt es zum Treibhauseffekt bei, und es verdunstet noch mehr Wasser – ein unheilvoller Kreislauf. Zumal bei höheren Temperaturen zudem die Gletscher schmelzen, was die Erde dunkler macht und ihre Wärmeabsorption erhöht.

Mit den Aktivitäten des Menschen kommt nun vor allem seit Mitte des 20. Jahrhunderts zum natürlichen Treibhauseffekt ein weiterer hinzu, der die Fieberkurve des Planeten nach oben treibt. Etwa ein Fünftel der Wirkung dieser zusätzlichen, »anthropogenen« Treibhausgase entsteht durch Methan, das beim Verfaulen organischer Stoffe, auf Mülldeponien, bei der Förderung von Erdgas, beim Reisanbau und in den Mägen von Rindern gebildet wird: Beim Wiederkäuen stößt jedes Rind pro Tag 200 bis 400 Liter Methan aus. Auch Lachgas, das sechs Prozent der Treibhausgaswirkungen verursacht, geht auf die intensive Landwirtschaft und Überdüngung zurück: Es entsteht vor allem durch die Umwandlung von Stickstoffdünger in sauerstoffarmen Böden. Doch der größte Teil – rund 70 Prozent des Effekts der anthropogenen Treibhausgase – ist auf Kohlendioxid zurückzuführen.

Dieses CO2 entsteht beispielsweise, wenn in einem Kraftwerk Kohle oder Erdgas verbrannt wird, oder in einem Auto, wenn es mit Benzin oder Diesel fährt – beides Stoffe, die aus Erdöl gewonnen werden –, oder wenn Plastikteile durch Mikroorganismen verdaut werden. Denn auch diese Kunststoffe sind immer noch zum größten Teil Produkte der Erdölindustrie. Letztlich verbindet sich der Kohlenstoff, der in den fossilen Energieträgern Kohle, Öl und Erdgas steckt, mit dem Sauerstoff der Luft zu CO2. Hierdurch sowie durch Rodungen von Wäldern und die Trockenlegung von Feuchtgebieten ist seit Beginn der Industrialisierung der Kohlendioxidgehalt der Luft um die Hälfte gestiegen: von 280 auf heute fast 420 ppm.[8] Die Abkürzung ppm steht dabei für parts per million, also 420 Teile CO2 auf eine Million Luftteilchen. Diese 0,0420 Prozent erscheinen wenig, reichten aber, um die globale Durchschnittstemperatur seit den Zeiten von Arrhenius um 1,1 bis 1,2 Grad Celsius zu erhöhen.

In seinem Fachartikel stellte sich Svante Arrhenius schon 1896 die entscheidende Frage, die heute noch die Wissenschaftler umtreibt: Wie hoch ist die Klimasensitivität von Kohlendioxid – das heißt, um wie viel Grad steigt die Temperatur an der Erdoberfläche mit zunehmender CO2-Konzentration in der Atmosphäre? Die Auswertung vieler Messwerte und physikalische Rechnungen führten Arrhenius zu einem Wert von vier bis sechs Grad Temperaturerhöhung pro Verdoppelung des CO2-Gehalts der Luft. Damit liegt er nicht weit entfernt von der Klimasensitivität, die heute als beste Schätzung gilt: drei Grad Celsius pro CO2-Verdoppelung, allerdings mit einer Unsicherheit von 0,5 Grad nach unten und ein Grad nach oben – wobei neueste Forschungsergebnisse den Wert eher wieder ein Stück in Richtung Arrhenius, also nach oben, korrigieren.[9]

Zudem scheint die Empfindlichkeit zuzunehmen, je höher der CO2-Gehalt bereits liegt; sie beschleunigt sich mit steigendem CO2. Ein Grund dafür könnte sein, dass sich bei wärmeren Temperaturen Wolken in unteren Luftschichten eher auflösen und dadurch mehr Licht auf den Boden gelangt und ihn zusätzlich aufheizt. Auch die Frage, wie viel Kohlendioxid und welche Wärmemengen die Ozeane bei welchen Temperaturen aufnehmen und damit als Puffer einer noch stärkeren Erwärmung entgegenwirken, ist nicht abschließend geklärt. Doch über die grundlegenden Fakten besteht wissenschaftlicher Konsens, wie durch die Verleihung des Physik-Nobelpreises 2021 an die beiden Klimaforscher Syukuro Manabe und Klaus Hasselmann deutlich wurde. Hasselmann war es in den 1990er-Jahren als Direktor am Max-Planck-Institut für Meteorologie in Hamburg gelungen, den »Fingerabdruck« des Menschen im Rauschen der natürlichen Klimaschwankungen nachzuweisen – also statistisch zu belegen, dass der Mensch das Klima wirklich verändert. Und der japanische Meteorologe Syukuro Manabe hatte bereits in den 1960er- und 70er-Jahren Klimamodelle erstellt und Computerberechnungen der Klimasensitivität von Kohlendioxid durchgeführt.

Das gab es schon einmal: Palmen am Polarkreis

Warum ist die Klimasensitivität so entscheidend für unsere Zukunft? Um einem Missverständnis vorzubeugen: Es geht nicht um die Frage, ob der Mensch »den Planeten« oder »das Leben auf der Erde« zerstören könnte. Leben gab es auch bei weit höheren CO2-Konzentrationen. Als Triceratops, Velociraptor und Tyrannosaurus Rex vor etwa 70 Millionen Jahren durch tropisch feuchte Farn-, Laub- und Nadelwälder streiften, enthielt ihre Atemluft vermutlich zwei bis dreimal so viel Kohlendioxid wie heute. Die Temperaturen lagen bei 23 bis 26 Grad, ähnlich wie derzeit in Hongkong oder Kalkutta. Recht gut untersucht haben Forschende auch die stärkste Hitzephase seit der Kreidezeit, das Paläozän/Eozän-Temperaturmaximum (PETM) vor knapp 56 Millionen Jahren. Damals erwärmte sich die Erde innerhalb von nur 4000 Jahren noch einmal um fünf bis acht Grad. In diesem Supertreibhaus waren beide Polregionen eisfrei, der Meeresspiegel lag um 100 bis 150 Meter höher als heute, und selbst am Polarkreis wuchsen Palmen und tummelten sich Krokodile.

In einem Artikel für die Fachzeitschrift Climate of the Past vom Oktober 2020 berichtet ein Team internationaler Forscher nach Auswertung etlicher Studien, dass während des PETM vermutlich eine globale Jahresmitteltemperatur von 32 Grad Celsius erreicht wurde.[10] Derart hohe Temperaturen gibt es zurzeit in keiner Stadt der Erde: Dubai liegt im Schnitt bei 27 Grad, Bangkok knapp unter 29 und selbst die Hitzemetropole des Sudan, Khartum, »nur« bei 30 Grad – während des ganzen Jahres, Tag und Nacht. Die CO2-Werte erreichten während des PETM rund 2200 ppm – mehr als das Fünffache des heutigen Kohlendioxidgehalts. Doch allein dadurch lassen sich die Extremtemperaturen nicht erklären; vermutlich bliesen nicht nur viele Vulkane Kohlendioxid in die Luft, sondern es wurden zudem aus unterseeischen Quellen erhebliche Mengen an Methan freigesetzt, und am Himmel zogen weniger Wolken, wodurch sich der Erdboden zusätzlich aufheizte.

Die Folgen waren jedenfalls massiv: In der Luft bildete sich aus CO2 und Wasser Kohlensäure, die über den Regen die Meere versauerte. Die Wassertemperatur stieg zwischen den Polen und dem Äquator auf 27 bis 40 Grad Celsius, und die Zahl der Meeresbewohner nahm rapide ab. Viele Lebewesen – vor allem die mit säureempfindlichen Kalkschalen – überlebten nicht. An Land hatten dieses Schicksal schon zehn Millionen Jahre zuvor alle Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel erlitten; sie starben aus, nachdem ein 14 Kilometer großer Asteroid im Flachwasser der Halbinsel Yucatán eingeschlagen war – die Profiteure waren die Säugetiere, die rasch frei gewordene ökologische Nischen besetzten. Doch während des PETM half den Tieren nicht einmal mehr die Wanderung zu den etwas kühleren Polregionen. Sie konnten der trockenen Dürre mit stark verringertem Nahrungsangebot nur dadurch begegnen, dass sie kleiner wurden: Sowohl Pflanzen- wie Fleischfresser schrumpften während dieser Jahrhunderttausende der Entbehrung zu Zwergen. Erst als die Erde Millionen Jahre später deutlich abkühlte, wuchsen auch die Tiere wieder auf die Größen, die wir heute kennen.

Was lehrt uns diese bewegte Vergangenheit unseres Planeten? Zum einen: »Das Leben findet einen Weg«, wie schon Jeff Goldblum als Chaosforscher Ian Malcolm in der Filmreihe Jurassic Park die Kraft der Evolution treffend beschrieb. Zum anderen: Man kann die Physik nicht überlisten. Wenn Treibhausgase in die Atmosphäre gelangen, dann wird es auf der Erde wärmer – das ist so simpel wie zwingend. Schlimmer noch: Einmal ausgestoßene Gase lassen sich nur schwer wieder aus der Luft entfernen. Um sie vergleichbar zu machen, wird ihre Wirkung im Allgemeinen über einen Zeitraum von 100 Jahren gerechnet. Methan hat in diesem Fall pro Gramm eine 28-mal stärkere Treibhauswirkung[11] als CO2. Allerdings verbleibt Methan im Mittel nur zwölf Jahre in der Atmosphäre. Wenn man nicht einen Zeitraum von 100, sondern von 20 Jahren betrachtet, ist Methan sogar 84-mal klimawirksamer als CO2. Wer eine möglichst schnelle Verringerung des Treibhauseffekts erzielen will, sollte daher vor allem Methan-Emissionen reduzieren: etwa indem man Lecks bei der Öl- und Gasförderung schließt, Deponiegase auffängt, Reis klimafreundlicher anbaut und die Rinderherden verkleinert. Mit relativ einfachen und wirtschaftlich sinnvollen Maßnahmen – wie sie über 100 Staaten auf der Weltklimakonferenz 2021 in Glasgow angekündigt haben – könnte man so den drohenden Temperaturanstieg bis zur Mitte des Jahrhunderts um 0,2 bis 0,3 Grad verringern.[12] Drastisch ausgedrückt: Würde der Ausstoß von Methan heute gestoppt, wäre in 20 Jahren dieses Treibhaus-Molekül so gut wie gar nicht mehr in der Atmosphäre.

Bei Kohlendioxid ist dies anders, und aus diesem Grund muss der langfristige Fokus auf unserem viel größeren CO2-Ausstoß liegen. Denn nur rund die Hälfte einer emittierten CO2-Menge wird binnen 50 Jahren von Ozeanen und Pflanzen aufgenommen, doch ein Viertel bleibt ein Jahrtausend in der Luft, und das letzte Viertel wird erst im Lauf weiterer Jahrtausende gebunden – etwa durch die Verbindung von Kohlensäure mit Silikaten, die dann zu Kalzit verwittern.[13] Daraus entsteht Kalkgestein, das am Boden der Meere Hunderte von Millionen Jahren überdauern kann. Die klimatischen Bedingungen auf der Erde regeln, wie schnell diese Verwitterung abläuft; letztlich wirkt das wie ein Thermostat, der die Temperaturen in lebensfreundlichen Bereichen hält – allerdings in Zeiträumen von mehreren Hunderttausend Jahren.

So viel Zeit bleibt uns nicht. Als Arrhenius seinen Artikel über die Klimasensitivität von Treibhausgasen schrieb, hatte die Menschheit gerade ihr unheilvollstes Langzeitexperiment gestartet. Sie begann, in großen Mengen den Kohlenstoff zu verbrennen – und ihn in CO2 zu verwandeln –, der sich im Lauf der Erdgeschichte angesammelt hatte. So hatten sich im Karbonzeitalter vor 360 bis 300 Millionen Jahren riesige Wälder aus Schuppenbäumen, Farnen und Schachtelhalmen ausgebreitet. Sank diese Biomasse in Seen und Moore, bildete sich Torf. Aus ihm pressten Sedimente wie Ton oder Sand unter Druck und hohen Temperaturen das verbleibende Wasser heraus. Auf diese Weise entstand in Jahrmillionen Steinkohle oder, bei höherem Feuchtigkeitsanteil, die Braunkohle. In den Meeren wiederum sanken die Überreste von Algen und anderen Kleinstlebewesen auf den Boden, wo sich ihr organisches Material unter dem Druck der Sedimente langsam in Kohlenwasserstoffe umwandelte. Dieses Gemisch wurde dann zu Erdöl und bei größerer Hitze zu Erdgas mit dem Hauptbestandteil Methan.

Seit den Anfängen der Industrialisierung holten Bergleute diese Schätze aus der Erde. In den 150 Jahren von 1750 bis 1900 waren es insgesamt zwölf Milliarden Tonnen reiner Kohlenstoff – dieselbe Menge wird heute in weniger als einem Jahr in Kohlegruben, auf Ölbohrplattformen und über Frackinganlagen gefördert. Alles in allem hat die Menschheit bislang rund 450 Milliarden Tonnen Kohlenstoff zur Gewinnung von Strom, Wärme, Treibstoff und für die Petrochemie verbraucht und schließlich als Kohlendioxid in die Luft geblasen. Die Dimension dieses Raubbaus übersteigt jede Vorstellung: Jahr für Jahr vernichten wir heute eine Menge an fossilen Rohstoffen, die ein bis zwei Millionen Jahre für ihre Entstehung benötigt hat.

Dass dies kein nachhaltiges Wirtschaften sein kann, ist offensichtlich, aber noch erschreckender ist die Geschwindigkeit des Klimaexperiments: Wir produzieren heute 22-mal mehr Kohlendioxid pro Jahr als zu Zeiten von Arrhenius. Allein seit 1990, als der Weltklimarat – das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) – seinen ersten Bericht veröffentlicht hatte, sind die jährlichen CO2-Emissionen um mehr als 60 Prozent gestiegen. Ginge diese Entwicklung weiter wie bisher, würde sich der CO2-Gehalt der Luft bis zum Jahr 2100 auf über 800 ppm noch einmal verdoppeln. Schon heute ist unser CO2-Ausstoß 100-mal größer als der aller Vulkane. Selbst die CO2-Emissionen während der PETM-Erwärmung verblassen dagegen: Sie lagen pro Jahr bei weniger als einem Zehntel des heutigen Wertes. Während Pflanzen und Tiere damals Jahrtausende Zeit hatten, mit den neuen Bedingungen zurechtzukommen, so müsste dies heute in wenigen Jahrhunderten oder gar Jahrzehnten gelingen. Das überfordert die Anpassungsfähigkeit vieler Arten.

Vor diesem Hintergrund gibt es immerhin eine positive Nachricht: Genau genommen befinden wir uns seit etlichen Millionen Jahren in einem kühlen Eiszeitalter, mit Eisschichten in beiden Polregionen und abwechselnden Warm- und Kaltphasen. Die letzte Kaltphase ging vor 12 000 Jahren zu Ende, als sich die Gletscher aus Europa, Asien und Amerika zurückzogen und Mammuts, Säbelzahnkatzen und Höhlenbären ausstarben. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings hoch, dass wir nun den Rhythmus durchbrechen und es keine nächste Kaltzeit geben wird. Bohrkerne aus der Antarktis belegen, dass der CO2-Anteil in der Luft schon heute um ein Drittel höher ist als je zuvor seit mindestens 800 000 Jahren, während die globalen Durchschnittstemperaturen bereits die Werte von vor drei Millionen Jahren erreichen (von kurzzeitigen Maxima in den Warmphasen des Eiszeitalters einmal abgesehen). Steigen sie um drei bis vier Grad gegenüber dem vorindustriellen Wert – was ohne massive Klimaschutzmaßnahmen bis 2100 möglich wäre[14] –, so würde es auf der Erde so heiß wie vor 35 Millionen Jahren.

Drei bis vier Grad, das klingt nicht nach viel. Doch bei Menschen ist das der Unterschied zwischen einer normalen Körpertemperatur und gefährlich hohem Fieber. Beim Klima bedeutet ein um drei bis vier Grad höherer globaler Mittelwert, dass die Wassertemperaturen im Atlantik und Pazifik zwar nur um zwei bis drei Grad ansteigen, dass es dafür aber auf dem Festland um fünf bis acht Grad wärmer wird – und im hohen Norden Sibiriens und Kanadas vielleicht sogar um acht bis 14 Grad. Dort würden dann große Gebiete des Permafrosts tauen, was – wie teilweise heute schon – Schienen, Straßen, Gasleitungen und Häuser absacken lässt. Zudem setzen Mikroorganismen CO2, Wasserdampf und Methan frei. Im Extremfall könnten es Milliarden Tonnen an Klimagasen sein, denn Permafrostböden machen weltweit die 30-fache Fläche Deutschlands aus. Werden sie instabil, kann dies den Temperaturanstieg erheblich beschleunigen.

Kippelemente und Dominosteine des Klimas

Wissenschaftler – unter anderem vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) – haben noch weitere, möglicherweise sehr gefährliche Effekte des Klimawandels untersucht.[15] Einer der nächstliegenden: Künftig werden im Sommer große Teile der Arktis eisfrei sein. Natur- und Tierschützer fürchten den Eisschwund, doch es gibt etliche Menschen, die ihn sogar begrüßen. Diejenigen, die Rohstoffe abbauen wollen, ebenso wie Reeder, die auf neue Schifffahrtsrouten hoffen: Die Strecke von Hamburg nach Tokio beispielsweise wäre durch eine eisfreie Nordostpassage um 8000 Kilometer kürzer als durch den Suezkanal.

Wie schnell andere Eisflächen schmelzen, könnte für die menschliche Zivilisation hingegen zu einer Überlebensfrage werden. So verringerten sich in den letzten 20 Jahren allein die Gletscher Grönlands um fünf Billionen Tonnen, das entspricht einem riesigen Eisblock von 100 Kilometer Länge, 55 Kilometer Breite und einem Kilometer Dicke. Nun ist Grönland mehr als halb so groß wie die Europäische Union; würde es sein gesamtes Eis verlieren, stiege weltweit der Meeresspiegel um sieben Meter. Weitere sieben Meter, so haben die PIK-Forscher errechnet, kämen hinzu, wenn Teile der West- und Ostantarktis verloren gingen – alles Gebiete, wo das Eis schneller schmilzt, als es selbst Experten noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten hatten. Seit 1980, so zeigten unlängst Satellitendaten, hat sich der jährliche Eisverlust der Antarktis mehr als versechsfacht, unter anderem weil warmes Tiefenwasser durch Risse im Boden unter die Gletscherzungen vordringt und sie ins Rutschen bringt.

Verglichen mit den Zeiten von Arrhenius, liegt der Meeresspiegel heute zwar noch nicht einmal 30 Zentimeter höher, aber dies bewirkt bereits an vielen Orten erhebliche Flut- und Sturmschäden und lässt Küsten erodieren. Ein weiterer Anstieg um ein bis zwei Meter würde je nach Geschwindigkeit der Temperaturerhöhung etwa ein Jahrhundert dauern, um 14 Meter vielleicht ein Jahrtausend. Ozeane reagieren träge, aber unaufhaltsam – wie ein Tanker, dessen Richtung nur schwer geändert werden kann, wenn er einmal Fahrt aufgenommen hat.

Doch selbst ein Meeresspiegel, der nur um einen Meter höher läge als heute, wäre eine erhebliche Gefahr, nicht nur für die 1200 Inseln der Malediven, deren höchste Erhebung weniger als drei Meter über die Brandung ragt. In vielen Teilen der Welt, von Ägypten bis Südasien und dem Pazifik, leben Dutzende von Millionen Menschen in Regionen, die weniger als einen Meter über dem Meeresspiegel liegen. In Bangladesch, Laos, Kambodscha, Vietnam und Teilen Thailands würde es dann nicht mehr genügen, Häuser auf Stelzen zu stellen und vom Reisanbau auf Fischfang umzusteigen, wie es heute schon geschieht – ganze Landstriche müssten aufgegeben werden.[16]

Steigen die Fluten um mehrere Meter, wären viele der größten Städte der Erde bedroht: Schanghai ebenso wie New York, Tokio, Rio de Janeiro, Mumbai, Bangkok, Sydney und Hongkong, aber auch die ganzen Niederlande, Hamburg und Stockholm. Wenn die riesigen Barrieren an der Themse, die London vor Sturmfluten schützen, einmal brechen sollten, wären die Folgen verheerend. Zahllose Bürobauten, 25 Krankenhäuser und 200 Schulen müssten evakuiert werden, große Teile der U-Bahnen, Stromnetze und Öltanks würden zerstört. Feuerstürme, verunreinigtes Wasser und Krankheiten würden drohen …

Schmelzen große Teile des Eisschilds auf Grönland sowie in der West- und Ostantarktis, wären Hunderte von Millionen Menschen betroffen. Es käme zu Völkerwanderungen, einschließlich vieler Millionen Flüchtlinge aus den austrocknenden Regionen der Erde, wo die Nahrungsmittel knapp werden. Dass eine solche Umwälzung friedlich ablaufen würde, ist kaum vorstellbar. Zumal weitere Effekte drohen: mögliche »Kippelemente« eines Klimawandels, wie sie die PIK-Forscher getauft haben.[17] Man könnte auch sagen: »Dominosteine«, die, einmal angestoßen, umfallen und andere mit sich reißen.

So könnte das Süßwasser, das aus dem grönländischen Eisschild ins Meer fließt, den Golfstrom – die »thermohaline Atlantikzirkulation« – aus dem Gleichgewicht bringen. Denn dieses riesige Förderband, das warmes Oberflächenwasser nach Norden treibt und Nordwesteuropa sein mildes Klima bringt, wird durch zwei Motoren angetrieben: Die Kälte sowie der relativ hohe Salzgehalt machen im Nordatlantik das Wasser dicht und schwer, lassen es absinken und als kühles Tiefenwasser wieder nach Süden strömen. Diese Pumpe geriet bereits ins Stocken, vermutlich durch salzarmes Schmelzwasser aus Grönland. Derzeit transportiert die Zirkulation 15 Prozent weniger Wasser als noch Mitte des 20. Jahrhunderts – dieser Rückgang entspricht der doppelten Wassermenge, die alle Flüsse der Welt zusammen ins Meer befördern. Ob der Nordatlantikstrom ganz versiegen könnte, ist völlig unklar, doch unmöglich ist es nicht.

Ähnliche Fragezeichen stehen auch hinter El Niño, der alle paar Jahre auftretenden, massiven Änderung der Meeresströmungen im Pazifik vor Peru. Sollten sich El-Niño-Ereignisse aufgrund des Klimawandels häufen und stärker werden, dann drohen Australien und Südostasien noch mehr Buschfeuer, Dürren und absterbende Korallen, während an den Küsten Südamerikas sintflutartige Regenfälle niedergehen, das Plankton verschwinden und die Fische abwandern würden. Zugleich könnte es am Amazonas weniger regnen, was – neben den verheerenden Brandrodungen – die grüne Lunge unseres Planeten weiter schrumpfen ließe. Und auch im Indischen Ozean gibt es ein mögliches Kippelement: Wenn sich der Rhythmus des Sommermonsuns verändert, würde das in manchen Jahren zu extremen Dürren, in anderen zu Flutkatastrophen führen. Vergleichbares gilt in Afrika: Eine weitere Verringerung der Atlantikzirkulation könnte den Monsun in Westafrika destabilisieren und zu noch stärkeren Dürren in der Sahelzone führen.

Wie wahrscheinlich das Auftreten solcher Kippelemente ist, kann heute niemand seriös vorhersagen, doch die Forschenden des PIK argumentieren mit dem Vorsorgeprinzip. Weil das Umfallen der Klima-Dominosteine irreversibel wäre und weltweite Katastrophen nach sich zöge, müsse es unbedingt verhindert werden. Die Wissenschaftler plädieren für sofortiges Handeln und eine maximale Erwärmung um 1,5 Grad bis 2100 (gegenüber dem vorindustriellen Wert). Zwei bis drei Grad seien angesichts der möglichen Folgen schon zu riskant.

Dass wir uns auf einem gefährlichen Klimapfad befinden, ist aber auch ohne Kippelemente offensichtlich, weil es auf einfachen physikalischen Zusammenhängen basiert: Wenn es wärmer wird, müssen Hitzewellen und Dürren zunehmen, aber zu anderen Zeiten und oft an anderen Orten auch die Niederschläge, weil mehr Wasser verdunstet und warme Luft mehr Feuchtigkeit aufnehmen kann. Insgesamt befindet sich mehr Wärmeenergie in der unteren Atmosphäre, was die Häufigkeit und Stärke von Stürmen erhöht. Zugleich verändern sich die gewohnten Muster der Luftzirkulation rund um den Planeten. So bestimmt die Temperaturdifferenz zwischen den Polen und den wärmeren Gebieten die Form und Mächtigkeit der polaren Jetstreams – der Starkwindbänder in hohen Luftschichten, die mit Hoch- und Tiefdruckgebieten das Wetter maßgeblich prägen. Da sich durch den Klimawandel die Regionen um die Pole besonders stark erwärmen, wird dieser Temperaturunterschied geringer; die Jetstreams werden schwächer, und die Wetterlagen – ob trockene Hitze oder Dauerregen – bleiben über längere Zeit stabil.

Viele Klimaeffekte sind heute schon sichtbar. So warnte der Weltklimarat nach einem massiven Korallensterben in Australien und auf den Malediven, dass bei einem Temperaturanstieg von zwei Grad weltweit mehr als 99 Prozent aller Korallenriffe verloren gehen würden (mehr dazu in Kapitel 5). Und das Thermometer klettert immer weiter: Die zehn wärmsten Jahre seit Beginn der Wetteraufzeichnungen vor 140 Jahren lagen alle zwischen 1998 und 2020. Die Zahl extremer Hitzetage hat sich in den letzten 40 Jahren weltweit etwa verdoppelt. 2020 kam es in Ostsibirien nördlich des Polarkreises zu Hitzewellen bis zu 38 Grad Celsius – was noch nie beobachtet worden war. Die Folge: riesige Waldbrände auf einer Fläche von 20 000 Quadratkilometern.

Noch sechsmal größer waren die Buschbrände in Australien im selben Jahr, denen nach Schätzungen von Biologen mindestens eine Milliarde Tiere zum Opfer fielen, darunter 40 Prozent aller Koalas. Zudem setzten die Brände so viel Kohlendioxid frei, wie ganz Deutschland in einem Jahr verursacht. Verheerende Waldbrände lodern auch regelmäßig im Mittelmeerraum, vor allem in Südfrankreich, Spanien, Griechenland und der Türkei. In Kalifornien wurden in den letzten Jahren durch Feuer Zehntausende Häuser zerstört. Nahe Seattle, Portland, Los Angeles und San Francisco sah der Himmel mitunter aus, als ob sich die Hölle geöffnet hätte – und wegen der verbrennenden Kunststoffe, Autos und Reifen roch es auch so.

Wirbelstürme, Gewitter mit Hagel, Starkregen und Überschwemmungen haben laut Munich Re, einer der größten Rückversicherungsgesellschaften, ebenfalls deutlich zugenommen.[18] Insgesamt stieg die Zahl wetterbedingter Naturkatastrophen global gesehen seit 1980 auf das Dreifache – mit einer Schadenssumme von 4200 Milliarden Dollar, wobei nur ein Drittel der Schäden versichert war. Indirekte Schäden, weil Lieferketten unterbrochen wurden, Kredite nicht mehr bedient werden konnten oder Kraftwerke ihre Produktion drosseln mussten, sind darin noch gar nicht enthalten. Zwar wachsen die Summen auch, weil die Besiedelung zunimmt und bei Gebäuden mit Solardächern und Glasfronten mehr Schäden angerichtet werden können, doch auch nach solchen Wertberichtigungen bleibt der Trend deutlich sichtbar.

Wissenschaftler um die junge deutsche Physikerin Friederike Otto haben seit 2015 am Environmental Change Institute der Universität Oxford das neue Feld der Zuordnungswissenschaft (Attribution Science) entwickelt.[19] Mithilfe statistischer Methoden über die Bildung von Extremwerten können Otto und ihr Team sehr schnell – meist binnen weniger Tage – berechnen, ob eine aktuelle Hitzewelle, ein Starkregen, ein Hochwasser oder ein Sturm bereits eine Folge des Klimawandels sind oder ein »normales«, wenn auch ungewöhnliches Wetterereignis. Sie simulieren das Geschehen und die Häufigkeit des Auftretens in der jeweiligen Region am Computer und vergleichen dies mit einer Welt ohne Klimawandel, in der sie die anthropogenen Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernt haben. So konnten sie etwa zeigen, dass sich durch den Klimawandel die Wahrscheinlichkeit für den extremen Starkregen verdreifacht hatte, der während des Hurrikans Harvey 2017 in Texas niederging.

Ein »Jahrhundertsommer« wie 2018 in Deutschland[20] mit verdorrten Äckern, Niedrigstwasser in den Flüssen und aufgeplatztem Asphalt käme ohne Klimawandel nur alle 50 bis 100 Jahre vor. Die Wahrscheinlichkeit für eine solche Hitzewelle hat Friederike Otto für sieben Städte in Europa analysiert. »Mit Klimawandel hat sie sich, je nach geografischer Lage, verdoppelt bis verzehnfacht«, berichtet die Forscherin. »Im Jahr 2050 könnte ein solcher Hitzesommer bereits ganz normal sein.« Eine Hitze von 38 Grad, wie sie sich 2020 in Sibirien nördlich des Polarkreises ereignete, würde ohne Klimawandel sogar nur alle 80 000 Jahre auftreten; sie wäre nahezu unmöglich. Auch die Wahrscheinlichkeit, dass es zu solch enormen Regenfällen kommt, wie sie im Juli 2021 in Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen stattfanden, wurde durch den Klimawandel um bis zum Neunfachen erhöht.[21] Insgesamt ergab sich für rund 200 Extremereignisse in verschiedenen Gebieten der Erde bei mehr als zwei Dritteln ein wesentlicher Einfluss des Klimawandels, wie wir ihn bereits erleben.

Und das ist erst der Anfang, denn die Temperaturen steigen ja weiter. In einer Studie, die 2020 in der Fachzeitschrift PNAS der Akademie der Wissenschaften der USA erschien, untersuchte ein weltweites Team von Forschenden, wie sich der Klimawandel auf die Regionen auswirken könnte, die Menschen bevorzugt bewohnen.[22] Seit mindestens 6000 Jahren lebt der größte Teil der Menschheit in Gegenden mit Jahresdurchschnittstemperaturen von 11 bis 15 Grad Celsius. Ackerbau und Viehzucht funktionieren dort hervorragend, aber auch in Büros und Fabriken kann man bei solchen Temperaturen am besten arbeiten. So hat Deutschland eine Jahresmitteltemperatur von 10,4 Grad, Paris und London liegen bei 11, Peking bei 12, Mailand und Berlin bei 13, San Francisco bei 14 und Tokio bei 15 Grad. Wo höhere Temperaturen herrschen, etwa in den Monsungegenden Indiens mit 20 bis 25 Grad oder darüber hinaus, ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Bevölkerung geringer.

Der Klimawandel könnte künftig die bevorzugten Siedlungsgebiete des Menschen erheblich beeinträchtigen. In den Szenarien des Weltklimarats, bei denen die Menschheit so weiterwirtschaftet wie bisher, steigen die globalen Mitteltemperaturen schon bis 2070 um etwa zwei Grad gegenüber heute. Auf den Landflächen entspräche dies einer Temperaturzunahme von vier bis fünf Grad. In der PNAS-Studie haben die Forschenden errechnet, dass dann viele Siedlungsgebiete in Südamerika, Afrika, Süd- und Ostasien sowie Nordaustralien auf Jahresmitteltemperaturen von 29 Grad Celsius und mehr kämen – also weit jenseits der menschlichen Komfortzone. Insgesamt wären davon 3,5 Milliarden Menschen betroffen, oder anders gesagt: Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung könnte bis 2070 zu massiven Veränderungen gezwungen sein. Entweder durch erhebliche technische Anpassungen wie rund um die Uhr laufende Klimaanlagen, riesige Bewässerungszonen und neue Nahrungsquellen – oder durch Migration in die kühleren Regionen der Erde.

All dies lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Der durch den Menschen verursachte Klimawandel ist weit mehr als eine Krise unter vielen. Er gefährdet die Artenvielfalt ebenso wie unsere Nahrungs- und Wasserversorgung und all die Siedlungsorte, an denen heute Menschen leben. Er zwingt uns, Mobilität und Wohnen, Gesundheitssysteme, Industrien und Energieversorgung – alle Lebensbereiche – neu zu gestalten und auf eine nachhaltigere Grundlage zu stellen. Kurz: Wir müssen unsere Zivilisation neu erfinden, wenn wir sie erhalten wollen. Der Klimawandel ist die Krise des 21. Jahrhunderts und ein Treiber für viele weitere Krisen. Oder bildlich gesprochen: Das Fahrzeug, in dem wir sitzen, beschleunigt abwärts immer schneller, und wir haben nicht mehr viel Zeit, um die vielen Haarnadelkurven sicher zu nehmen, bevor wir die rettende Ebene erreichen. Wir müssen dringend bremsen – und zwar jetzt.

Die Entwöhnung vom Karbon-Energydrink

Was zu tun ist, um das Klimaproblem zu lösen, lässt sich in einem Schlagwort zusammenfassen: Dekarbonisierung, die kohlenstofffreie Wirtschaft. Alle Prozesse, die unsere Gesellschaft am Leben halten, müssen schnell auf solche umgestellt werden, die keine Treibhausgase wie Kohlendioxid (CO2) und Methan (CH4) freisetzen, also kein »C« enthalten (C steht für lateinisch »carbo«, Kohle, daher der Begriff Dekarbonisierung). Wir müssen unseren Kraftwerken, Fabriken, Häusern, Autos, Schiffen und Flugzeugen einen Weg ins postfossile Zeitalter eröffnen – weg vom »Karbon-Energydrink« aus Öl, Gas und Kohle, hin zu erneuerbaren Energien wie Wind, Sonne und Wasserkraft. Wir brauchen neue Herstellungsprozesse für Kunststoffe ebenso wie für Stahl und Beton und eine möglichst fleischlose Ernährung. Brandrodungen müssen gestoppt und Städte neu entworfen werden. Doch so leicht sich das alles niederschreiben lässt, so schwierig wird es in der Umsetzung. Denn es bedeutet die völlige Umgestaltung unserer Wirtschaftssysteme in extrem kurzer Zeit.

Als Menschen zum ersten Mal ihre Lebensweise änderten, vom Jäger und Sammler zum Bauern und Hirten und vom Nomaden zum Siedler, nahmen sie sich Jahrtausende Zeit. Die industrielle Revolution von der Dampfmaschine bis zum Fließband in den Fabriken dauerte fast 150 Jahre, der Weg vom Transistor bis zum allgegenwärtigen Notebook, Internet und Smartphone 50 Jahre. Und wie viel Zeit bleibt uns jetzt, um den Klimawandel zu bremsen? Vermutlich noch zehn bis 20 Jahre, bis zur endgültigen Umsetzung vielleicht bis 2050, aber die entscheidenden Weichen müssen jetzt, in der 2020er-Dekade, gestellt werden.

Wir haben viel Zeit verloren: Arrhenius hat seine Berechnungen über die Treibhausgase vor über 125 Jahren angestellt. Im Jahr 1958 starteten die bis heute andauernden, mehrmals pro Stunde stattfindenden, Messungen der atmosphärischen CO2-Konzentration auf dem Mauna Loa in Hawaii – diese Kurve steigt immer noch stetig an. 1965 warnte der wissenschaftliche Beirat des US-Präsidenten vor einer vom Menschen verursachten Klimaänderung. 1982 sagten Forschende bei ExxonMobil in einer internen Studie den CO2-Gehalt und die Temperaturen der kommenden Jahrzehnte verblüffend genau voraus: Ihre Resultate fürs Jahr 2020 weichen nur wenige Prozent von den realen Werten ab. Dennoch behauptete der Ölmulti noch um die Jahrtausendwende in PR-Kampagnen, dass die Wissenschaft nicht genau wisse, welche Rolle anthropogene Treibhausgase bei der Erwärmung des Planeten spielen. Wegen irreführender Aussagen und der durch die Firma verursachten Klimaschäden muss sich ExxonMobil seither immer wieder vor Gericht verantworten.

1992, bei der Konferenz der Vereinten Nationen (UN) über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro, wurde schließlich das Schlagwort der »Nachhaltigkeit« wieder ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. Denn eigentlich ist dieser Begriff, der zum Motto des 21. Jahrhunderts werden muss, über 300 Jahre alt. Deutsche Forstmeister beschrieben damit eine Bewirtschaftungsmethode für Wälder, bei der nur so viel Holz entnommen wird, wie nachwachsen kann. In Rio wurde Nachhaltigkeit neu definiert: »Eine nachhaltige Entwicklung befriedigt die Bedürfnisse der heutigen Generation, ohne die Chancen zukünftiger Generationen zu gefährden.« Dabei geht es gleichermaßen um soziale und ökonomische Bedürfnisse – insbesondere die Überwindung der Armut – wie um den Schutz der Umwelt.

Zwei Jahre zuvor, 1990, hatte der Weltklimarat (IPCC) seinen ersten Sachstandsbericht veröffentlicht. In diesen Berichten, die alle fünf bis sieben Jahre publiziert werden, wird der jeweils aktuelle Kenntnisstand von Tausenden Wissenschaftlern aus aller Welt zusammengefasst.[23] Daraus politische Entscheidungen abzuleiten, wurde schon bei zahlreichen UN-Klimakonferenzen versucht. 1992 haben fast alle Länder der Welt die UN-Klimarahmenkonvention unterschrieben, die im Wesentlichen aus der Aufforderung bestand, dass »die Treibhausgaskonzentrationen stabilisiert werden sollen, um eine gefährliche Störung des Klimasystems zu vermeiden«. Seither gab es ein Auf und Ab, manchmal Fortschritte wie in Kyoto 1997, oft Rückschläge wie in Kopenhagen 2009 – bis im Dezember 2015 in Paris bei der 21. UN-Klimakonferenz der bislang wichtigste Durchbruch gelang.

Der Vereinbarung von Paris haben alle Staaten zugestimmt, obwohl zwischenzeitlich die USA unter Donald Trump zuerst aus- und im Januar 2021 am Tag der Amtseinführung von Joe Biden wieder eingetreten sind. Das Übereinkommen besagt, dass die globale Erwärmung – im Jahr 2100 verglichen mit dem vorindustriellen Niveau – auf deutlich unter zwei Grad Celsius begrenzt werden soll, wenn möglich sogar auf nur 1,5 Grad. Um dies zu erreichen, verpflichten sich alle Länder auf nationale Klimaaktionspläne mit CO2-Reduktionszielen, die sie selbst aufstellen.

Darüber hinaus wurden Finanzhilfen beschlossen, um ärmere Länder bei nötigen Anpassungen an den Klimawandel zu unterstützen. Die Vereinbarung klingt ehrgeizig und sinnvoll, hat aber ein gravierendes Problem: Die eingereichten Pläne der Staaten reichen nicht aus, auch nur das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen. Mit dem, was die Menschheit bisher an Aktionen vorsieht, würde die Fieberkurve des Planeten bis 2100 um 2,1 bis 2,7 Grad nach oben klettern, nur im optimistischsten Fall wären 1,8 Grad zu schaffen, errechneten Wissenschaftler des Climate Action Tracker im November 2021.[24] Es muss also dringend nachgearbeitet werden, zumal die jetzigen Verpflichtungen zwar auf dem Papier stehen, aber noch lange nicht umgesetzt sind.

Was besagt eigentlich die Zielmarke aus Sicht der Naturwissenschaft? Vor allem wissen die Fachleute, dass das finale Temperaturniveau, auf dem die Erwärmung gestoppt werden soll, in guter Näherung proportional zur Gesamtmenge der CO2-Emissionen seit Beginn der Industrialisierung ist – mit ein paar Unsicherheiten, darunter auch der, dass die Klimasensitivität von CO2 (und den anderen Gasen), wie beschrieben, nicht mit hinreichender Präzision bekannt ist. Die meisten Experten gehen heute aber davon aus, dass die CO2-Konzentration der Atmosphäre im Jahr 2100 höchstens zwischen 460 und 520 ppm liegen darf, um das Paris-Ziel zu erreichen.

Daraus ergibt sich zurückgerechnet ein Gesamtbudget von 2900 bis 3400 Milliarden Tonnen Kohlendioxid, die die Menschheit insgesamt in die Luft entlassen darf.[25] Das umfasst alle Quellen für CO2: Kohle, Öl und Gas ebenso wie die Zementherstellung und die Änderungen in der Landnutzung, und damit auch die Rodung der Wälder. Da bis zum heutigen Zeitpunkt bereits rund 2400 Gigatonnen, also 2400 Milliarden Tonnen, an zusätzlichem Kohlendioxid emittiert wurden, verbleibt noch ein Restbudget von 600 bis 1000 Gigatonnen CO2 – was im Übrigen rund 160 bis 270 Gigatonnen Kohlenstoff entspricht, weil sich eine Tonne Kohlenstoff mit dem Sauerstoff der Luft zu knapp 3,7 Tonnen Kohlendioxid verbindet.

Derzeit liegen die weltweiten CO2-Emissionen pro Jahr bei etwa 42 Gigatonnen, wobei 36,5 Milliarden Tonnen aus der Nutzung fossiler Brennstoffe und der Zementindustrie stammen.[26] In den letzten Jahrzehnten ist dieser Wert fast immer gestiegen, von kleineren Rückgängen während Wirtschaftskrisen abgesehen. Erst die Covid-19-Pandemie mit den weltweiten Lockdowns, der gesunkenen Industrieproduktion und den Reisebeschränkungen hat zu einem deutlichen Einbruch geführt: 2020 sanken die fossilen CO2-Emissionen im weltweiten Durchschnitt um sieben Prozent – abgesehen von China, das sogar noch ein kleines Wachstum der Wirtschaft und der Emissionen verbuchte.

Ginge die Menschheit diesen Pfad unverändert weiter, dann wäre unser Restbudget in 14 bis 23 Jahren aufgebraucht und wir dürften spätestens ab dem Jahr 2045 gar kein Kohlendioxid mehr in die Luft blasen. Dann müssten wir jede Emission dadurch ausgleichen, dass wir dieselbe Menge an CO2 aus der Atmosphäre entfernen – etwa durch massive Aufforstungen oder die Speicherung von CO2 in unterirdischen Lagerstätten. Zum gleichen Ergebnis, aber realistischer in der Umsetzung, führt die Formel, ab sofort jedes Jahr die weltweiten CO2-Emissionen um fünf Prozent zu senken – oder, bei weiterwachsender Bevölkerung, pro Kopf um sechs Prozent. Wir müssten also jedes Jahr etwa dasselbe schaffen, was infolge der Corona-Einschränkungen 2020 zwangsweise gelang. Das ist nicht unmöglich, aber es verdeutlicht die enorme Aufgabe, die zu bewältigen ist.

In den 27 EU-Ländern (ohne Großbritannien) sind die Treibhausgasemissionen von 1990 bis 2019 um 24 Prozent gesunken. Verpflichtet hat sich die EU in ihrem European Green Deal, bis 2030 eine Reduktion um mindestens 55 Prozent zu erreichen, bis 2050 sogar die Treibhausgasneutralität – also Netto-Nullemissionen. Damit will Europa der erste klimaneutrale Kontinent werden. Gelänge es, die Emissionen jedes Jahr um etwa fünf Prozent zu verringern, dann ließen sich diese Ziele in der Tat erreichen. Für Deutschland wäre der Weg noch einfacher: Bis 2019 schaffte Deutschland einen Rückgang von 35 Prozent gegenüber 1990, und 2020 lag dieser Wert aufgrund des Sondereffekts der Corona-Pandemie sogar um 41 Prozent unter dem vor 30 Jahren.

Allerdings macht Deutschland nicht einmal zwei Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes aus[27] – die EU knapp acht Prozent. Indien liegt bei sieben Prozent, die USA bei 14, und China, dessen Emissionen sich ebenso wie die von Indien seit 1990 mehr als verdreifacht haben, ist für 31 Prozent der Kohlendioxidbelastung aus fossilen Quellen verantwortlich. Doch mit Verantwortung ist das so eine Sache: Da sich heute noch viel von dem CO2 in der Atmosphäre befindet, das zu Zeiten unserer Eltern und Großeltern ausgestoßen wurde, verweisen China und Indien gerne auf die historische Schuld. Denn seit der Industrialisierung haben die USA ein Viertel des jemals emittierten CO2 aus Kohle, Öl, Gas und der Zementindustrie verursacht. Die EU einschließlich Großbritannien ist für etwas mehr als ein Fünftel (22 Prozent) verantwortlich, erst danach folgen China (13 Prozent), Russland (sieben Prozent), Japan (vier Prozent) und Indien (drei Prozent).

Auch eine weitere Betrachtungsweise ist ebenso gültig. Pro Kopf liegen die CO2-Emissionen in China und der EU derzeit bei acht beziehungsweise sechs Tonnen pro Jahr (in Deutschland bei acht), während es in Indien weniger als zwei Tonnen sind. Die USA hingegen schlagen mit rund 14 Tonnen zu Buche – wobei dieser hohe Pro-Kopf-Wert schon eine deutliche Verbesserung darstellt: Um die Jahrtausendwende verursachte jeder Amerikaner noch 20 Tonnen CO2pro Jahr. Doch auch diese Statistik hat ihre Tücken: So werden üblicherweise jedem Land die Emissionen zugerechnet, die auf seinem Boden entstehen. Wenn aber in China oder in Deutschland viele Produkte hergestellt werden – ob Spielzeug, Computer, Smartphones, Autos oder Werkzeugmaschinen –, die exportiert und anderswo genutzt werden, dann müsste man eigentlich einen Teil der dabei entstehenden Treibhausgasemissionen dem Land des Kunden zuschlagen und nicht nur dem des Exporteurs. Für China könnten diese »grauen« Export-Emissionen etwa ein Siebtel des CO2-Ausstoßes ausmachen. Das wären dann rund 1,4 Milliarden Tonnen CO2 pro Jahr, die zwar China zugeschrieben, aber von anderen veranlasst wurden.

Doch unabhängig davon gilt: Mit China, den USA, der EU, Indien, Russland und Japan sind nur sechs Staaten, beziehungsweise Staatsgemeinschaften, für insgesamt zwei Drittel aller CO2-Emissionen aus fossilen Quellen verantwortlich. Nimmt man noch Brasilien und Indonesien hinzu, die wegen der massiven Abholzung der Regenwälder bei der Gesamtmenge der Treibhausgasemissionen sogar Russland und Japan übertreffen, dann sind die wesentlichen Klimasünder identifiziert. Verblüffend wird das Bild, wenn man Unternehmen in den Fokus nimmt: So hat eine Studie der Non-Profit-Organisation Carbon Disclosure Project herausgefunden, dass 63 Prozent aller Treibhausgase aus fossilen Quellen, die weltweit seit 1988 ausgestoßen wurden, auf nur 50 Firmen zurückgehen.[28] Das reicht von China Coal über Saudi Aramco und Gazprom, ExxonMobil, Shell und Petrobras bis zum deutschen Kohlekraftwerkbetreiber RWE auf Platz 41.