Unsere unendlichen Tage - Claire Fuller - E-Book

Unsere unendlichen Tage E-Book

Claire Fuller

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Beschreibung

Peggy Hillcoat ist acht Jahre alt, als ihr Vater James mit ihr zu einer langen Reise aufbricht. Was als Abenteuerurlaub beginnt, entpuppt sich nach einem heftigen Gewitter als ihre einzige Chance. Denn der Rest der Welt ist untergegangen, erzählt der Vater, der als Prepper längst auf das finstere Ende vorbereitet ist. Eine verfallene Hütte im Bayerischen Wald wird Peggys Zuhause. Ein stummes Klavier, das ihr Vater baut, der einzige Halt inmitten der stolzen, launischen Natur. Licht und Finsternis liegen in dieser düster schimmernden Fabel in der Tradition von Marlen Haushofer eng beeinander. Und so hat Peggys Überleben einen fürchterlichen Preis. »Fuller beschwört die Schönheit der Natur herauf, aber auch ihre Brutalität.« Independent

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Aus dem Englischen von Susanne Höbel

 

Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel Our Endless Numbered Days bei Fig Tree, einem Imprint von Penguin Random House UK, London.

 

© Claire Fuller, 2015

© Piper Verlag GmbH, München 2021

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Leo Nickolls

Coverabbildung: Leo Nickolls

 

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

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Dank

 

Für Tim, India und Harry

1

Highgate, London, November 1985

Heute Vormittag habe ich hinten in der Schublade des Sekretärs ein Schwarz-Weiß-Foto von meinem Vater gefunden. Er sieht darauf nicht wie ein Lügner aus. Ute, meine Mutter, hat alle Fotos von ihm aus den Alben genommen, die auf dem Bord unten im Bücherregal liegen, und die Familienfotos und Babybilder neu geordnet, um die Lücken zu füllen. Das gerahmte Foto von der Hochzeit meiner Eltern, das immer auf dem Kaminsims stand, ist auch nicht mehr da.

Auf die Rückseite des Fotos hat Ute mit ihrer regelmäßigen Handschrift geschrieben: »James und seine Busenfreunde mit Oliver, 1976«. Es ist das letzte Foto, das von meinem Vater gemacht wurde. Er sieht bestürzend jung und gesund aus, sein Gesicht glatt und weiß wie ein Flussstein. Auf dem Bild muss er sechsundzwanzig gewesen sein, neun Jahre älter als ich heute.

Als ich mir das Foto genauer ansah, entdeckte ich, dass darauf nicht nur mein Vater und seine Freunde zu sehen waren, sondern auch Ute und ein verschwommenes Etwas, das ich sein musste. Wir waren im Wohnzimmer, so wie ich jetzt. Neuerdings steht der Flügel am anderen Ende des Zimmers, neben der Doppeltür, die in das Glashaus führt, von dem aus es in den Garten geht. Auf dem Foto hingegen befindet sich der Flügel vor den drei großen Fenstern, von denen man auf die Einfahrt blickt. Die Fenster stehen offen, die Vorhänge bauschen sich in der sommerlichen Brise.

Mir wurde schwindelig, als ich meinen Vater in unserem alten Leben sah, als würde das Parkett unter meinen bloßen Füßen wanken, und ich musste mich setzen.

Nach einer Weile ging ich zum Flügel und berührte ihn, zum ersten Mal, seit ich nach Hause gekommen war. Ich fuhr über das glatte, glänzende Holz. Er war viel kleiner, als ich ihn in Erinnerung hatte, und hatte helle Stellen, wo das Holz über die Jahre von der Sonne gebleicht worden war. Und ich dachte, vielleicht war dies der schönste Gegenstand, den ich je im Leben gesehen hatte. Der Gedanke, dass während meiner Abwesenheit die Sonne geschienen und sicher jemand Klavier gespielt hatte, dass Menschen hier gelebt und geatmet hatten, machte mich ruhiger.

Ich blickte auf das Foto in meiner Hand. Mein Vater saß leicht vorgebeugt am Flügel, den linken Arm lässig ausgestreckt, während er mit den Fingern der rechten Hand auf den Tasten klimperte. Dass er da saß, überraschte mich. Ich konnte mich nicht erinnern, ihn jemals am Klavier sitzen oder darauf spielen gesehen zu haben, obwohl es natürlich mein Vater war, der mir das Klavierspielen beigebracht hatte. Nein, der Flügel war immer Utes Instrument gewesen.

»Der Schriftsteller hält den Stift, und heraus fließen die Wörter. Ich berühre die Tasten, und heraus kommt Musik«, sagt sie mit ihren harten deutschen Vokalen.

An dem Tag, als das Foto gemacht worden war, in diesem winzigen Moment in der Zeit, wirkte mein Vater ungewöhnlich entspannt und sah mit seinem langen Haar und dem gemeißelten Gesicht attraktiv aus, während Ute in einem knöchellangen Rock und einer weißen Bluse mit Puffärmeln aus dem Bild eilte, als hätte sie gerochen, dass in der Küche das Essen anbrannte. Sie hielt mich an der Hand, das Gesicht vom Fotoapparat abgewandt, aber etwas in ihrer Haltung drückte Missfallen aus, als ärgerte sie sich, mit den anderen fotografiert zu werden. Ute war immer eine stattliche Person gewesen, mit kräftigen Knochen und Muskeln, aber in den letzten neun Jahren hat sie noch zugenommen, ihr Gesicht ist breiter, als ich es in Erinnerung hatte, und der Ehering schneidet in ihren dicken Ringfinger. Ihren Freundinnen erzählt sie am Telefon, sie habe zugenommen, weil sie in all den Jahren solche Qualen gelitten habe, und sich durchzufuttern sei die einzige Möglichkeit gewesen, damit umzugehen. Aber manchmal spätabends, wenn ich nicht einschlafen kann und mich im Dunkeln nach unten schleiche, sehe ich sie in der Küche essen, das Gesicht vom Innenlicht des Kühlschranks angeleuchtet.

Ich sah wieder das Foto an, und mir wurde bewusst, dass ich nie ein anderes gesehen hatte, auf dem wir alle drei abgebildet waren.

Heute – seit meiner Rückkehr nach Hause sind zwei Monate vergangen – hat Ute sich getraut, mich vor dem Frühstück für eine halbe Stunde allein zu lassen. Sie hat Oskar zu einem Pfadfindertreffen gebracht. Und während ich mit einem Ohr zur Haustür hin lauschte, ob sie aufgehen und Ute hereinkommen würde, kramte ich in den anderen Schubladen des Sekretärs. Ich schob Bleistifte, Schreibblöcke, Kataloge für Haushaltsgeräte, unbeschriftete Gepäckanhänger und Schlüsselanhänger in der Form berühmter europäischer Gebäude zur Seite – Eiffelturm und Buckingham Palace einträchtig nebeneinander. In der untersten Schublade fand ich ein Vergrößerungsglas. Ich kniete mich auf den Teppich – nicht derselbe wie der auf dem Foto, wann war der ausgewechselt worden? – und hielt die Lupe über meinen Vater, aber zu meiner Enttäuschung sah ich trotz der Vergrößerung nichts Neues. Er hielt die Finger nicht gekreuzt, seine Mundwinkel waren nicht nach oben gezogen, es gab keine geheime Tätowierung, die mir entgangen war.

Der Reihe nach, von rechts nach links, sah ich mir die fünf Männer vor ihm genau an. Drei saßen eng nebeneinander auf dem Ledersofa, ein vierter hockte zurückgelehnt auf der Armlehne des Sofas und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Die Männer hatten struppige Bärte und langes Haar, und keiner von ihnen lachte. Sie sahen einander so ähnlich, dass sie Brüder hätten sein können, aber ich wusste, dass sie das nicht waren. Selbstbewusst, entspannt, erwachsen, wie Anhänger der Wiedergeburt, so schienen sie in die Kamera zu sprechen: »Wir haben die Zukunft gesehen, der Welt stehen Katastrophen bevor, aber wir sind die Geretteten.«

Sie gehörten zu der Gruppe der North London Retreaters. Einmal im Monat trafen sie sich bei uns und diskutierten lautstark über die möglichen Strategien, mit denen man das Ende der Welt am besten überleben konnte.

Den fünften Mann, Oliver Hannington, erkannte ich sofort, obwohl ich auch ihn seit Jahren nicht gesehen hatte. Auf dem Bild räkelte er sich in einem Sessel und hatte seine Beine in einer Hose mit Schlag über die Lehne geschwungen. Von der Zigarette in seiner Hand, in die er den Kopf stützte, kräuselte sich der Rauch durch sein helles Haar. Wie mein Vater war auch dieser Mann glatt rasiert, aber sein Lächeln drückte aus, dass er alles, was gesprochen wurde, für dummes Zeug hielt und der Nachwelt mitteilen wollte, dass ihn die Ideen der Gruppe, die sich mit autarkem Leben und der dazugehörigen Vorratshaltung befassten, nicht besonders interessierten. Er hätte ein Spion sein können, der sich eingeschlichen hatte, ein verdeckt arbeitender Journalist, der die Story schrieb, die sie eines Tages alle entlarven würde, oder ein Schriftsteller, der nach dem Treffen nach Hause ging und diese verrückten Typen in einem komischen Roman verarbeitete. Noch heute wirkte das Selbstbewusstsein, das sich in seinen starken Kiefern ausdrückte, exotisch und fremd. Amerikanisch.

Dann ging mir auf, dass noch jemand im Zimmer gewesen war, nämlich der Fotograf. Ich stellte mich an die Stelle, wo er gestanden haben musste, steckte mir das Foto zwischen die Lippen und formte mit meinen Händen ein Viereck. Der Winkel stimmte nicht, die Person musste um einiges größer gewesen sein als ich. Ich legte die Lupe wieder in die Schublade und setzte mich zu meiner eigenen Überraschung auf die Klavierbank. Ich machte den Deckel auf – die ordentliche Reihe der weißen Tasten, wie blitzende Zähne, schlug mich sofort in ihren Bann – und legte meine rechte Hand auf die Stelle, so glatt, so kühl, wo die Hand meines Vaters gelegen hatte. Ich lehnte mich nach links und streckte den Arm über den Flügel, und in diesem Moment regte sich etwas in mir, ein nervöses Flattern, tief in meinem Magen. Ich blickte auf das Foto in meiner Hand. Mein Vater erwiderte meinen Blick und wirkte dabei so unschuldig, selbst damals schon, dass er einfach schuldig gewesen sein muss. Ich ging wieder zum Sekretär, nahm die Schere aus dem Behälter mit den Stiften und schnitt das Gesicht meines Vaters aus dem Foto. Es blieb wie ein hellgraues Muttermal auf meiner Fingerspitze liegen. Ich gab acht, dass ich es nicht fallen ließ und es womöglich unter den Möbeln verschwand, wo es von Utes Putzfrau aufgesaugt werden würde, und während ich die Augen fest auf seinen Kopf gerichtet hielt, fuhr ich mir mit der Schere unter das Kleid und durchschnitt den seidigen Stoff zwischen den Körbchen meines Büstenhalters. Die Körbchen, die gestört und gescheuert hatten, fielen von mir ab, und mein Körper war frei, wie er es immer gewesen war. Ich legte den Kopf meines Vaters unter meine rechte Brust, wo ihn die warme Haut festhielt. Ich wusste, wenn er dort haften blieb, würde alles wieder gut werden. Und ich durfte mich erinnern.

2

In dem Sommer, als das Foto gemacht wurde, baute mein Vater unseren Keller zu einem Atombunker aus. Ich weiß nicht, ob er den Plan damals im Juni mit Oliver Hannington besprochen hatte, während die beiden im Garten in der Sonne lagen, redeten, rauchten und lachten.

Mitten in der Nacht schwebte Utes Klavierspiel melancholisch und melodisch durch unser Haus. Ich wälzte mich im Bett unter dem Laken, klebrig vor Hitze, und stellte mir Ute vor, im Dunkeln am Klavier, die Augen geschlossen, mit sich wiegendem Oberkörper, betört vom eigenen Spiel. Manchmal hörte ich meine Eltern noch lange, nachdem Ute den Deckel zugeklappt hatte. Auch mein Vater hatte oft Mühe zu schlafen, aber bei ihm waren es, glaube ich, die Listen, die ihn wach hielten. Ich stellte mir vor, dass er den Block und den Bleistiftstummel unter seinem Kopfkissen hervorzog. Ohne das Licht anzuschalten, schrieb er: 1. Allgemeine Liste (3 Personen), unterstrich das einmal, dann:

 

Streichhölzer, Kerzen

Radio, Batterien

Papier und Bleistifte

Generator, Dynamo, Taschenlampe

Wasserflaschen

Zahnpasta

Wasserkessel, Töpfe

Pfannen, Seil, Band

Nähgarn, Nadeln

Stahl und Feuerstein

Sand

Toilettenpapier, Desinfektionsmittel

Zahnpasta

Eimer mit Deckel

 

Die Liste las sich wie ein Gedicht, und die Schrift war eine jugendliche Version des besessenen Gekritzels meines Vaters in späteren Jahren. Wenn er die Wörter im Dunkeln geschrieben hatte, überlagerten sie sich oft oder standen zu eng zusammen, als hätten sie in seinem nächtlichen Kopf um Platz gerangelt. Auf anderen Listen waren die Wörter vom Blatt gerutscht, weil mein Vater beim Schreiben eingeschlafen war. Die Listen hatten alle mit dem Atombunker zu tun: wichtige Dinge, die der Familie über Tage, vielleicht sogar Wochen hinweg das Überleben sichern konnten.

Damals, als mein Vater seine Zeit mit Oliver Hannington im Garten verbrachte, beschloss er, den Keller für vier Personen auszustatten. Er fing an, seinen Freund in die Mengenkalkulation von Besteck, Blechbechern, Bettwäsche, Seife und Nahrungsmitteln, ja sogar von Toilettenpapier einzubeziehen. Ich saß auf der Treppe und hörte zu, wie er und Ute miteinander in der Küche sprachen, während er seine Pläne ausarbeitete.

»Wenn du diesen ganzen Zirkus schon anstellen musst, dann nur für uns drei«, sagte sie aufgebracht. Man hörte ein Rascheln, als die Papiere zusammengeschoben wurden. »Es behagt mir nicht, dass Oliver dabei sein soll. Er gehört nicht zur Familie.«

»Einer mehr spielt doch keine Rolle. Außerdem gibt es keine Doppelstockbetten für drei«, sagte mein Vater. Ich hörte ihn zeichnen, während er sprach.

»Ich will ihn da unten nicht. Ich will ihn nicht im Haus haben«, sagte Ute. Das Kratzen von Bleistift auf Papier war nicht mehr zu hören. »Er verhext unsere Familie – es schauert mich, wenn er da ist.«

»Schaudert«, sagte mein Vater und lachte.

»Schaudert! Meinetwegen schaudert!« Ute mochte es nicht, wenn man sie korrigierte. »Ich möchte nicht, dass der Mann in mein Haus kommt.«

»Darauf läuft es immer hinaus. Dein Haus.« Die Stimme meines Vaters klang jetzt schärfer.

»Es ist von meinem Geld bezahlt.«

Ich konnte hören, wie ein Stuhl über den Boden geschoben wurde.

»Ah, wir wollen dem Geld der Familie Bischoff danken, das die berühmte Pianistin unterstützt. Und, Herr im Himmel, lass uns nicht vergessen, was für ein strenges Arbeitspensum sie hat«, sagte mein Vater.

Ich stellte mir vor, dass er sich verneigte und dabei die Handflächen aneinanderdrückte.

»Wenigstens habe ich einen Beruf. Was machst du denn, James? Den ganzen Tag liegst du im Garten mit deinem gefährlichen amerikanischen Freund.«

»An Oliver ist nichts gefährlich.«

»Etwas stimmt nicht mit ihm, du willst es nur nicht sehen. Er stiftet Unruhe.« Ute stapfte aus der Küche und ging ins Wohnzimmer.

Um nicht entdeckt zu werden, kroch ich eine Stufe höher.

»Was nützt es, Klavier zu spielen, wenn die Welt untergeht?«, rief mein Vater hinter ihr her.

»Und was nützen zwanzig Dosen mit Kochschinken, kannst du mir das mal sagen?«, schrie Ute zurück. Ich hörte das Geräusch von Holz auf Holz, als sie den Deckel aufklappte, dann schlug sie mit beiden Händen einen tiefen Akkord in Moll an. Als die Töne verklungen waren, rief sie: »Peggy wird nie im Leben Kochschinken essen«, und obwohl niemand mich sehen konnte, legte ich die Hand vor den Mund, weil ich kichern musste. Dann spielte Ute die siebte Sonate von Sergei Prokofjew – schnell und wütend. Ich stellte mir vor, wie ihre Finger, Vogelkrallen gleich, über die Tasten sprangen.

»Als Noah die Arche baute, hat es nicht geregnet«, brüllte mein Vater.

Später, als ich wieder ins Bett gekrochen war, endete beides, der Streit und das Klavierspiel, und dann hörte ich andere Laute, die eher nach Schmerz klangen, aber auch mit acht Jahren wusste ich schon, was sie bedeuteten.

 

Es gab eine Liste, auf der Kochschinken stand. Es war die Liste 5. Lebensmittel etc. Unter die Überschrift schrieb mein Vater: 15 Kalorien pro Pfund Körpergewicht, 2 Liter Wasser pro Tag, ½ Tube Zahnpasta pro Monat, und dann:

 

70 Liter Wasser

10 Tuben Zahnpasta

20 Dosen Hühnersuppenkonzentrat

35 Dosen Baked Beans

20 Dosen Kochschinken

Trockenei

Mehl

Hefe

Salz

Zucker

Kaffee

Cracker

Marmelade

Linsen

Dicke Bohnen

Reis

 

Die Liste hatte etwas Zufälliges, als würde mein Vater das Spiel »Ich gehe in den Laden und kaufe …« allein spielen. Bei Kochschinken fiel ihm Schinken ein, was ihn auf Eier brachte, die ihn an Eierkuchen erinnerten und damit an Mehl.

In unserem Keller goss er einen neuen Zementboden, verstärkte die Wände mit Stahl und brachte Batterien an, die man aufladen konnte, indem man auf einem fest stehenden Fahrrad zwei Stunden lang in die Pedale trat. Er installierte einen Herd mit zwei Platten, der an eine Gasflasche angeschlossen war, und baute Nischen für die Doppelstockbetten, die er mit Matratzen, Laken und Wolldecken ausstattete. In die Mitte des Raumes stellte er einen Tisch mit Resopalplatte und vier passende Stühle. Entlang der Wände hatte er Borde angebracht, auf denen er die Lebensmittel, Wasserflaschen, Kochgeräte, Spiele und Bücher verstaute.

Ute weigerte sich mitzumachen. Wenn ich aus der Schule kam, sagte sie, sie habe den ganzen Tag Klavier geübt und »dein Vater hat im Keller gespielt«. Sie klagte, dass ihre Finger steif und aus der Übung seien und sie Schmerzen in den Handgelenken hätte, und weil sie sich fortwährend zu mir herunterbücken müsse, habe sie jetzt eine schlechte Haltung am Klavier. Ich fragte nicht, warum sie öfter Klavier spielte als früher. Wenn mein Vater aus dem Keller nach oben kam, das Gesicht hochrot, sein nackter Rücken schweißnass, konnte man denken, er würde gleich in Ohnmacht fallen. Er trank Wasser aus dem Hahn am Spülbecken, steckte dann den Kopf unter den Strahl und schüttelte die Haare wie ein Hund, womit er Ute und mich zum Lachen bringen wollte. Aber sie verdrehte nur die Augen und setzte sich wieder ans Klavier.

 

Wenn mein Vater die Mitglieder der North London Retreaters zu uns nach Hause einlud, durfte ich die Haustür aufmachen und das halbe Dutzend haariger und ernst dreinblickender Männer in Utes Wohnzimmer führen. Ich mochte es, wenn unser Haus voller Menschen und Gespräche war, und bis zu dem Moment, da ich ins Bett geschickt wurde, blieb ich unten und versuchte, der Diskussion zu folgen, die sich um die statistischen Chancen, Ursachen und Folgen von etwas rankte, das die Gäste die »verdammte Apokalypse« nannten. War es nicht »der Russe«, der eine Atombombe über London abwerfen und es innerhalb weniger Minuten dem Erdboden gleichmachen würde, dann waren es die Grundwasservorräte, die mit Pestiziden verseucht wurden, oder die Weltwirtschaft, die zusammenbrach, worauf die Straßen mit hungrigen Plünderern überschwemmt würden. Zwar witzelte Oliver, die Briten hinkten den Amerikanern so weit hinterher, dass sie beim Einbruch der Katastrophe noch im Schlafanzug herumsäßen, während die Amerikaner schon seit Stunden alles täten, um ihre Häuser und Familien zu sichern, aber mein Vater war stolz, dass die Gruppe eine der ersten – vielleicht die erste überhaupt – in England war, die sich traf, um Überlebensstrategien zu besprechen. Ute jedoch war sauer, weil sie nicht Klavier üben konnte, wenn die Männer bis spät in die Nacht im Wohnzimmer herumsaßen, tranken und eine Zigarette nach der anderen rauchten. Mein Vater liebte Diskussionen und kannte sein Thema gut. War der Alkohol ein paar Stunden geflossen und die Tagesordnung abgearbeitet, ging das Treffen von der geordneten Diskussion in heftige Streitgespräche über, bei denen sich die Stimme meines Vaters regelmäßig über die der anderen erhob.

Bei dem Lärm warf ich die Bettdecke zurück und schlich barfuß nach unten, wo ich um die Ecke ins Wohnzimmer guckte und mir der Geruch von warmen Körpern, Whisky und Zigaretten entgegenschlug.

In meiner Erinnerung beugt sich mein Vater nach vorn und schlägt sich mit der Faust aufs Knie, oder er drückt die Zigarette so heftig aus, dass die noch glühende Asche aufstiebt und kleine Löcher in den Teppich brennt oder das Parkett versengt. Plötzlich springt er auf, die Arme fest an seinen Oberkörper gedrückt, die Hände geballt, als müsste er den Impuls niederringen, den Ersten, der ihm zu widersprechen wagt, mit Fäusten zu traktieren.

Sie ließen einander nicht ausreden, dies war keine Debatte. Wie die Wörter auf den Listen meines Vaters überschrien sich die Männer, fielen sich gegenseitig ins Wort, rangelten um Aufmerksamkeit.

»Ich sage euch, es wird eine Naturkatastrophe sein, eine Flutwelle, eine Überschwemmung, ein Erdbeben. Was nützt euch dann euer Schutzraum, James, wenn ihr alle lebendig begraben werdet?«

Ich stand im Flur und zuckte bei der Vorstellung zusammen, ballte die Hände zu Fäusten und unterdrückte ein Wimmern.

»Eine Überschwemmung? Eine Überschwemmung könnten wir gut gebrauchen.«

»Denk an die armen Teufel bei dem Erdbeben in Italien – Tausende von Toten.« Die Worte des anderen Mannes klangen verschwommen, und er hielt den Kopf in den Händen.

Vielleicht war seine Mutter Italienerin, dachte ich.

»Letztlich wird es die Regierung sein, die uns im Stich lässt. Erwarte ja nicht, dass Callaghan dir ein Glas Wasser vorbeibringt, wenn die Pumpen versiegen.«

»Er wird nur die Inflation im Sinn haben und gar nicht merken, dass die Sowjets alles in Schutt und Asche gelegt haben.«

»Mein Cousin hat einen Freund bei der BBC, der sagt, sie bereiten da einen Aufklärungsfilm mit Tipps vor, wie die Menschen ihre Häuser in Schutzräume verwandeln können. Es sei lediglich eine Frage der Zeit, bis die Bombe abgeworfen wird.«

Ein Mann mit grauem Bart sagte: »Was sind das für Scheißidioten. Die Menschen werden nichts zu essen haben, und wenn sie was zu essen haben, wird es vom Militär konfisziert. Was soll der Scheiß?«

Ein Speicheltropfen fiel ihm auf den Bart, und ich musste weggucken.

»Ich werde nicht in London sein, wenn es so weit ist. Du kannst ja bleiben, in deinem Schutzraum, aber ich haue ab – in die Grenzgebiete oder nach Schottland, irgendwohin weit weg, wo es sicher ist.«

»Und wovon willst du dich ernähren?«, fragte mein Vater. »Wie willst du da überleben? Die Straßen werden verstopft sein, wenn die anderen Idioten genau wie du aus den Städten strömen, aufs offene Land, alle werden dort unterwegs sein, mit Kind und Kegel. Und du nennst dich einen Aussteiger? In den Städten wird Recht und Ordnung am ehesten wiederhergestellt werden. Nicht in deiner Kommune in Wales.«

Ich hockte hinter der Tür und schwoll vor Stolz an, als mein Vater sprach.

»Die Vorräte in deinem Keller reichen nur für die akute Notsituation«, sagte ein anderer. »Was machst du, wenn sie aufgebraucht sind? Du hast nicht mal ein Luftgewehr.«

»Gib mir ein ordentliches Messer und eine Axt, dann komme ich schon klar«, sagte mein Vater.

Die Engländer diskutierten weiter, bis eine amerikanische Stimme dazwischenfuhr. »Dein Problem, James, ist, dass du so verdammt britisch bist. Und ihr anderen? Ihr lebt doch alle im Mittelalter, mit eurem Plan von einer Flucht aufs Land, als ginge es um ein Picknick am Sonntag. Ihr nennt euch Aussteiger, aber die Welt dreht sich jetzt schon ohne euch weiter. Ihr begreift nicht einmal, dass es ums Überleben geht. Und den Keller kannst du vergessen, James. Was du brauchst, ist ein vernünftiger Unterschlupf.«

Er sprach mit Autorität und verlangte Aufmerksamkeit, die anderen, mein Vater eingeschlossen, schwiegen. Oliver Hannington räkelte sich im Sessel mit dem Rücken zu mir, während die anderen aus dem Fenster oder auf den Fußboden starrten. Es erinnerte mich an unsere Schulstunde, wenn Mr Harding etwas sagte, das niemand verstand. Er wartete minutenlang, dass sich jemand meldete und fragte, was er gemeint hatte, bis die Stille so drückend und unbehaglich wurde, dass wir es mieden, ihn oder uns gegenseitig anzusehen. Mit dieser Strategie testete er, wer zuerst nachgeben würde, und meistens war es Becky, die eine dumme Bemerkung machte. Dann lachte die restliche Klasse vor Erleichterung und Verlegenheit, und Mr Harding lächelte.

Plötzlich kam Ute aus der Küche ins Zimmer und bewegte sich in dem Bewusstsein, dass ihr ein Publikum zusah – mit Hüftschwung und Betonung der Taille. Das Haar hatte sie im Nacken zu einem unordentlichen Knoten geschlungen, und sie trug ihren Lieblingskaftan, der ihr bis zu den kräftigen Waden reichte. Alle Männer im Zimmer, auch mein Vater und Oliver Hannington, wussten, dass sie ebenso gut durch den Flur hätte gehen können. Niemand nannte Ute schön – man benutzte Worte wie auffallend, ungewöhnlich, besonders. Aber sie war eine Frau mit starker Ausstrahlung, deshalb nahmen die Männer sich zusammen. Die, die standen, setzten sich, die auf dem Sofa richteten sich auf, selbst Oliver Hannington drehte den Kopf. Sie befassten sich mit ihren Zigaretten, hielten die Hand unter das glühende Ende, sahen sich nach dem Aschenbecher um. Ute seufzte: ein schnelles Einatmen, eine Dehnung des Brustkorbs, ein langsames Ausatmen. Im Vorübergehen machte sie den Männern stumme Vorwürfe, dann kniete sie sich vor mir nieder. Erst jetzt nahmen mein Vater und seine Freunde mich wahr.

»Jetzt habt ihr meine kleine Peggy aufgeweckt, mit eurem Gerede vom Ende der Welt«, sagte Ute und strich mir übers Haar.

Auch damals wusste ich, dass sie das tat, weil die Männer zusahen. Sie nahm meine Hand und ging mit mir nach oben. Ich hängte mich schwer an sie und versuchte mitzubekommen, wer zuerst etwas sagen würde.

»Es wird nichts Schlimmes passieren, Liebchen«, sagte sie mit besänftigender Stimme.

»Und was genau meinst du mit Unterschlupf?« Mein Vater hatte als Erster nachgegeben.

Wieder entstand eine Pause, und Oliver Hannington wusste, dass alle auf seine Antwort warteten.

»Deine eigene kleine Hütte im Wald«, sagte er und lachte, aber ich fand es nicht lustig.

»Und wie sollen wir die finden?«, fragte einer der Männer auf dem Sofa.

Da drehte Oliver Hannington sich zu mir um, tippte sich an den Nasenflügel und zwinkerte mir zu. Im Glanz seiner Zuwendung gestattete ich Ute, mich ins Bett zu bringen.

 

Als der Atombunker fast fertig war, fing mein Vater an, Übungen mit mir zu machen. Am Anfang war es für ihn ein Spiel, mit dem er vor seinen Freunden angeben konnte. Er kaufte eine Trillerpfeife, die er sich um den Hals hängte, und mir kaufte er einen Leinenrucksack mit Lederriemen und Schnallen. Die Seitentaschen waren mit blauen Blüten und grünen Blättern bestickt.

Das Signal, das er mir vom Fuß der Treppe aus gab, bestand aus drei kurzen Pfeiftönen. Ute wollte damit nichts zu tun haben; entweder blieb sie im Bett und zog sich die Decke über den Kopf, oder sie spielte Klavier und öffnete den Flügeldeckel so weit, dass die Musik durchs ganze Haus hallte. Die Pfeiftöne, die jederzeit, bevor ich ins Bett musste, ertönen konnten, waren das Signal für mich, meinen Rucksack zu packen. Ich rannte durchs Haus und sammelte die Dinge von einer Liste ein, die ich auf Anweisung meines Vaters auswendig gelernt hatte. Zu den wütenden Klängen der Revolutionsetüde von Chopin setzte ich mir den Rucksack auf und rannte die Treppe hinunter. Mein Vater sah unverwandt geradeaus, die Trillerpfeife im Mund, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, während ich mit hüpfendem Rucksack um den Treppenpfosten sauste. Auf der Kellertreppe nahm ich zwei Stufen auf einmal und sprang die letzten drei in einem Satz hinunter. Im Bunker hatte ich ungefähr vier Minuten Zeit zum Auspacken, bevor mein Vater wieder die Trillerpfeife blies. Ich zog den Stuhl hervor, der am Tischende und mit der Lehne zur Treppe stand, nahm den Stapel Anziehsachen aus dem Rucksack – Unterwäsche, Latzhose, Hose, Hemden, Pullover, Shorts, Nachthemd – und legte sie auf den Tisch, wobei ich darauf achtete, dass sie nicht kreuz und quer durcheinanderfielen. Meine Hand fuhr wieder in den Rucksack, um den nächsten Gegenstand herauszuholen, wie bei der Glückstrommel auf der Kirmes. Erst mein Kamm, den ich quer über das Nachthemd legte, links davon das ausziehbare Fernglas, Zahnbürste und Zahnpasta kamen nebeneinander auf den Stapel Anziehsachen, daneben legte ich meine Puppe Phyllis mit den gemalten Augen und dem Matrosenanzug. In einer letzten Anstrengung holte ich meine Balaklavamütze aus blauer Wolle aus dem Rucksack und zog sie mir über den Kopf. Trotz der Wärme sollte ich auch die dazu passenden Fausthandschuhe anziehen, und wenn alles ordentlich auf dem Tisch lag und der Rucksack leer war, sollte ich mich still hinsetzen, die Hände auf die Oberschenkel legen und geradeaus zum Gasherd gucken. Sobald der nächste Pfiff ertönte, wartete ich voller Anspannung, dass mein Vater die Treppe herunterkam, um alles zu prüfen. Manchmal schob er den Kamm gerade, manchmal legte er Phyllis auf die andere Seite.

»Sehr gut, sehr gut«, sagte er, als wären wir beim Militär. Dann sagte er: »Rührt euch«, mit einem Zwinkern, und ich wusste, dass ich bestanden hatte.

Als mein Vater und ich zum letzten Mal den Drill durchführten, waren Ute und Oliver Hannington zum Zugucken eingeladen. Natürlich weigerte Ute sich. Sie fand die Übung sinnlos und kindisch. Aber Oliver Hannington war da und lehnte an der Wand hinter meinem Vater, als der dreimal die Trillerpfeife blies. Ute spielte im Wohnzimmer den Trauermarsch von Chopin. Am Anfang ging alles gut. Ich sammelte die Dinge zusammen und rannte die beiden Treppen im Sauseschritt hinunter, aber ich vertat mich beim Auslegen der Sachen, oder vielleicht hatte mein Vater in seiner Aufregung das zweite Mal zu früh geblasen. Die Zeit war abgelaufen, und ich hatte die Fausthandschuhe noch nicht angezogen, als die beiden Männer in den Keller kamen. Mit rasendem Herzen stopfte ich sie mir unter die Oberschenkel. Sie kratzten auf der nackten Haut. Ich hatte meinen Vater enttäuscht. Ich war nicht schnell genug gewesen. Die Handschuhe unter meinen Oberschenkeln wurden feucht. Der warme Urin rann vom Stuhl und tropfte auf den weißen Linoleumfußboden. Mein Vater brüllte. Oliver Hannington, der hinter mir stand, lachte. Ich weinte.

Ute kam die Treppe heruntergeeilt und nahm mich in die Arme, und während sie mich von »diesen schrecklichen Männern« wegtrug, verbarg ich mein Gesicht an ihrer Schulter. Und wie der Abspann im Film endet meine Erinnerung mit diesem Moment meiner Rettung.

Ich habe keine Erinnerung daran, dass Oliver Hannington sich in seiner lässigen Art und mit einem ironischen Lächeln an die Borde lehnte, nachdem ich mir in die Hose gemacht hatte, doch ich bin mir sicher, dass es so war. Ich habe nicht gesehen, mir aber vorgestellt, dass er die Zigarette aus dem Mund nahm und den Rauch nach oben blies, wo er sich unter der niedrigen Decke kräuselte. Und ich sah auch nicht, wie rot mein Vater im Gesicht geworden war, nachdem ich ihn vor seinem Freund blamiert hatte.

3

Ende Juni fing Ute wieder an zu arbeiten. Ich weiß nicht, ob sie es einfach leid war, zu Hause zu sein, oder ob sie sich nach einem aufmerksameren Publikum sehnte. Es lag nicht daran, dass sie Geld brauchte. »Die Welt verlangt nach mir«, sagte sie oft. Vielleicht hatte sie recht. Ute war Konzertpianistin, keine zweitklassige Pianistin, die mit drittklassigen Orchestern auftrat, nein, mit achtzehn war Ute Bischoff die jüngste Gewinnerin des Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs gewesen.

An Regennachmittagen setzte ich mich im Esszimmer auf den Fußboden und nahm die Schallplatten mit Utes Aufnahmen aus dem Büfett. Ich kam nicht darauf, sie mir anzuhören, sondern spielte meine eigene Doppel-LP, Die Eisenbahnkinder, spielte sie so oft, bis ich alle Texte auswendig konnte, und während Phyllis sich Gedanken über den Jungen im roten Pullover in der Geschichte machte, sah ich mir die Hüllen von Utes Schallplatten an: Ute am Klavier, Ute, die sich auf der Bühne verneigt, Ute im Abendkleid und mit einem Lächeln, das ich nicht kannte.

1962 hatte sie beim Eröffnungskonzert der Philharmonic Hall in New York unter Leonard Bernstein gespielt.

»Leonard war ein Liebchen«, erzählte sie. »Er hat mich geküsst, und erst dann hat er Jackie Kennedy geküsst.«

Ute wurde gefeiert und gepriesen, sie war attraktiv und jung. Und als sie fünfundzwanzig war und eine Konzertreise in England machte, lernte sie meinen Vater kennen. Er war ihr Ersatzseitenumblätterer und acht Jahre jünger als sie.

Die Geschichte, wie sie sich kennengelernt hatten, ging in unsere Familienlegende ein, sie wurde oft wiederholt und regelmäßig ausgeschmückt. Mein Vater hätte eigentlich gar nicht bei dem Konzert sein sollen. Er arbeitete als Kartenabreißer und war an dem Tag für jemanden eingesprungen, und Utes regulärer Seitenumblätterer war hinter der Bühne über die Schnur eines Flaschenzugs gestolpert und hatte sich die Nase blutig geschlagen. Mein Vater, nicht zimperlich, wischte gerade das Blut vom Fußboden auf, als der Intendant ihn am Ärmel zupfte und verzweifelt fragte, ob er Noten lesen könne.

»Ich gestand, dass ich es konnte«, sagte mein Vater.

»Aber das war das große Problem«, sagte Ute. »Meine Seitenumblätterer müssen die ganze Zeit mich angucken, nicht die Noten mitlesen. Warte, bis ich mit dem Kopf nicke, sage ich zu ihnen.«

»Das konnte ich nicht. Ich war voller Ehrfurcht vor dir.«

»Der dumme Junge, erst blättert er zu früh um, dann blättert er zwei Seiten auf einmal«, sagte Ute und lächelte. »Es war eine Katastrophe.«

»Ich habe dir geschrieben und mich entschuldigt.«

»Und dann hast du ihn zu dir in die Garderobe eingeladen«, sagte ich.

»Und dann habe ich ihn zu mir in die Garderobe eingeladen«, wiederholte Ute.

»Und dann hat sie mir beigebracht, wie man die Seiten richtig umblättert«, sagte meine Vater, und er und Ute lachten.

»So ein hübscher, kluger Junge«, sagte sie und nahm sein Gesicht in beide Hände. »Wie hätte ich mich nicht in ihn verlieben sollen?«

Damals war ich fünf oder sechs. Als ich acht war und die Geschichte erzählt haben wollte, sagte Ute abfällig: »Doch nicht wieder diese langweilige alte Geschichte.«

Von der Öffentlichkeit und der Kritik wurde Utes Beziehung mit James Hillcoat als Skandal betrachtet. Ute war auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, die sie wegen der Liebe zu einem siebzehnjährigen Jungen aufgab. Im Jahr darauf, sobald es legal war, heirateten sie.

 

Nachdem der Atombunker fertig war, reiste Oliver Hannington ab, und als ich an jenem Tag aus der Schule kam, war Ute auch weg, zu einer Konzertreise nach Deutschland aufgebrochen, ohne dass ich etwas davon gewusst hatte. Ich fand meinen Vater auf dem Sofa liegend vor, den leeren Blick zur Decke gerichtet. Ich aß Cornflakes zum Abendbrot und blieb so lange vorm Fernseher sitzen, bis mir die Bilder vor den Augen verschwammen.

Am nächsten Morgen kam mein Vater in mein Zimmer, bevor ich aufgestanden war, und sagte, ich bräuchte nicht zur Schule zu gehen.

»Blöde Schule«, sagte er. Er lachte zu laut, und ich wusste, dass er meinetwegen so tat, als wäre er glücklich. Wir wünschten uns beide, dass Ute zu Hause wäre und über dem Abwasch im Spülbecken stöhnte und laut klagend die Betten machte, oder dass sie absichtlich auf das Klavier eindrosch, aber das hätten wir voreinander niemals zugegeben. »Warum sollst du in einem Klassenzimmer sitzen, wenn draußen die Sonne scheint und es lauter Sachen gibt, die du auch zu Hause lernen kannst?«, fragte er.

Ich verstand, ohne dass er es sagte, dass er nicht allein sein wollte. Unten im Garten, wo der vertrocknete Rasen in Gebüsch überging und mit Efeu überrankte Bäume standen, bauten wir ein dreieckiges Zweipersonenzelt auf. Abends mussten wir mit den Füßen voran hineinkriechen, und morgens hatten sich die Spannleinen so stark gelockert, dass der First nur wenige Zentimeter über uns hing.

Unser Haus, ein großes weißes Haus, einem Ozeandampfer nicht unähnlich, stand allein auf der Kuppe eines sanft abfallenden Hügels. Der Garten auf diesem sich neigenden Grundstück war angelegt worden, lange bevor wir einzogen, aber meine Eltern kümmerten sich nicht darum, und die ehemals voneinander getrennten und gepflegten Abschnitte waren längst ineinander verwachsen. Eine Hollywoodschaukel stand auf der gepflasterten Terrasse, die langsam verfiel, während das Moos und der Sandthymian prächtig gediehen. Im Sonnenschein jenes Jahres war der Rasen in der Mitte von unseren Füßen so gut wie abgetreten worden, und an den Rändern wuchs das Gras struppig und gelb. Mein Vater hatte auf dem Papier ein Gemüsebeet mit maßstabgerechten Zeichnungen von den Reihen der Mohrrüben und der grünen Bohnen entworfen sowie genaue Berechnungen des Sonnenstands zu verschiedenen Tageszeiten gemacht. Als Kind habe er Radieschen gezüchtet, erzählte er, scharf schmeckende Wurzeln von der Größe seines Daumens, und das wolle er mir beibringen, aber nachdem er das Areal abgesteckt hatte, in dem er das Beet anlegen wollte, griff er kein einziges Mal zum Spaten, weil es so viel anderes gab, das ihn ablenkte.

Unten im Garten hatten sich Ampfer und Löwenzahn angesiedelt, deren flauschige Blütenköpfe beim leisesten Windhauch ihre Samen verstreuten. Wilde Brombeeren überwucherten alle anderen Pflanzen und reckten ihre dornigen Äste in die Höhe, an denen Hunderte von fest zusammengerollten Blüten standen. Fortwährend schickte diese trügerische Pflanze unterirdische Geheimboten aus, die unter den Blumenbeeten entlangkrochen und oben bei der Terrasse in kleinen blütenlosen Büscheln an die Oberfläche traten. Für ein achtjähriges Mädchen war das untere Ende des Gartens besonders wild und aufregend, denn hinter dem wuchernden Gestrüpp an der Grundstücksgrenze lag der Friedhof. Dort standen hohe Bäume, die bis in die Kronen mit dichtem Efeu berankt waren. Mein Vater und ich stapften durch die Brennnesseln und streckten dabei die Arme über den Kopf, damit sie uns nicht verbrannten. Unter den Bäumen war das Licht träge und die Luft immer kühl.

Wir machten Trampelpfade in den verlassenen Friedhof hinein zu dem süß duftenden Holunderbaum, der sich zur Sonne hin streckte und am besten zum Klettern geeignet war. Ich stellte mich auf den untersten Ast, und mein Vater half mir in eine höhere Astgabel, von wo die Äste, jeder von dem Durchmesser meines Rumpfes, erst nach oben und dann nach außen wuchsen. Wir setzten uns rittlings auf einen Ast, ich vor meinen Vater, und schoben uns nach vorn, bis wir durch die wächsernen Blätter nach unten auf die Gräber gucken konnten. Mein Vater sagte, der Holunder gehöre zur Gattung der Prachtbäume.

Der Friedhof war für die Öffentlichkeit geschlossen. Die Stadt hatte kein Geld für die Pflege, und so waren die Tore vor Jahren verriegelt worden. Nur wir kamen hierher und waren allein mit den Füchsen und Eulen. Und weil es weder Besucher noch Trauernde gab, erfanden wir sie. Wir machten einander auf ein Touristenpaar aufmerksam, er im Hawaiihemd, sie eine Frau mit lauter Stimme.

»Guck mal«, sagte mein Vater mit amerikanischem Falsett, »siehst du den Engel da? Ist er nicht ganz entzückend?«

Einmal ließen wir die Beine über einem vorgestellten Begräbnis baumeln.

»Psst, da kommt die Witwe«, flüsterte mein Vater. »Sie putzt sich mit einem Spitzentaschentuch die Nase. Wie tragisch, dass sie ihren Mann so jung verloren hat.«

»Aber hinter ihr gehen die bösen Zwillinge«, sagte ich, »in ihren gleichen schwarzen Kleidern.«

»Und da ist der abscheuliche Neffe, mit Resten vom Frühstücksei im Schnurrbart. Er hat es auf das Geld seines Onkels abgesehen.« Mein Vater rieb sich die Hände.

»Jetzt wirft die Witwe eine Blume auf den Sarg.«

»Ein Vergissmeinnicht«, fügte mein Vater hinzu. »Der Onkel schleicht sich von hinten an sie ran. Pass auf! Gleich fällt sie in die Grube.« Er packte mich um die Taille und tat so, als würde er mich vom Ast stoßen. Ich kreischte, und meine Stimme hallte von den steinernen Mausoleen und Grabstätten um uns herum wider.

 

Während der Zeit, die ich in der Schule hätte sein sollen, wurde der Garten zu unserem Haus und der Friedhof zu unserem Garten. Manchmal fiel mir meine beste Freundin Becky ein, und ich hätte gern gewusst, was sie machte, aber das war nicht oft. Hin und wieder gingen wir ins Haus, um »Nachschub zu besorgen«, und am Mittwochabend guckten wir Survivors im Fernsehen. Wir wuschen uns nicht, wir wechselten auch nicht unsere Sachen. Die einzige Regel, an die wir uns hielten: Wir putzten uns jeden Morgen und jeden Abend die Zähne und benutzten dazu das Wasser, das wir in einem Eimer zu unserem Lager trugen.

»Es gibt vier Milliarden Menschen auf der Welt, und weniger als drei Milliarden besitzen eine Zahnbürste«, sagte mein Vater und schüttelte den Kopf.

Das gute Wetter hielt an, und wir verbrachten unsere Tage damit, nach Nahrung zu suchen und zu jagen. Mein Rücken und meine Schultern kriegten Sonnenbrand, und nachdem sich auf der Haut kleine Bläschen gebildet und die Haut sich geschält hatte, wurde ich braun und lernte nebenher, von welchen Bäumen und Pflanzen in Nord-London man bedenkenlos essen konnte.

Mein Vater brachte mir bei, wie man Eichhörnchen und Kaninchen fing und zubereitete, welche Pilze giftig waren und wo man die essbaren wie Schwefelporlinge, Pfifferlinge und Steinpilze finden konnte. Er zeigte mir, wie man Bärlauchsuppe macht. Wir rupften Brennnesselstiele aus dem Boden und ließen sie in der Sonne trocknen, dann setzte ich mich auf den Rand eines Grabes und sah meinem Vater zu, wie er die Blätter abstreifte und die Stängel zu einem dünnen Seil drehte. Ich machte es ihm nach, weil er sagte, am besten lerne man beim Selbermachen, aber obwohl meine Hände viel kleiner waren, brachte ich nur ein grobes, unförmiges Seil zustande. Wir machten eine Schlinge daraus, die wir an einen Stock banden, und den stellten wir an einen Baum.

»Eichhörnchen sind faule Tiere«, sagte mein Vater. »Was sind Eichhörnchen?«

»Faule Tiere«, sagte ich.

»Sie wählen immer den Weg des geringsten Widerstands«, sagte er. »Was tun Eichhörnchen?«

»Sie wählen den Weg des geringsten Widerstands.«

»Und was bedeutet das?«, fragte mein Vater und wartete vergeblich auf meine Antwort. »Es bedeutet, dass ein Eichhörnchen ohne Weiteres an diesem Stock nach oben läuft und den Kopf in die Schlinge steckt«, sagte mein Vater. »Ja, es würde sogar den Kopf in die Schlinge stecken, wenn es dafür über seine toten Freunde klettern müsste.«

Als wir am nächsten Morgen zu unseren Fallen gingen, baumelten zwei kleine Tierleichen in den Schlingen. Ich zwang mich, nicht wegzugucken. Mein Vater nahm die Tiere heraus und steckte die Schlinge in die Tasche, »fürs nächste Mal«. Am Abend wollte er mir zeigen, wie man die Eichhörnchen häutet, aber als er das Messer ansetzte, sagte ich, wir hätten nicht genug Anmachholz, ich würde welches holen gehen. Nachdem er die Eichhörnchen gehäutet hatte, steckte er sie auf einen Spieß, den er zuvor geschnitzt hatte, und wir brieten sie über einem Lagerfeuer und aßen sie mit Bärlauch und gekochten Klettenwurzeln. Ich nahm nur ein paar Bissen – das Fleisch ähnelte dem lebendigen Tier zu sehr und schmeckte nach Hühnchen, das zu lange draußen gestanden hatte.

Wir überlegten nicht, was wir mit dem Garten anstellten. Unsere Gedanken galten nur der nächsten Mahlzeit – wo wir sie finden würden, wie wir sie erlegen und zubereiten konnten. Und obwohl ich lieber Sugarpuffs mit Milch vor dem Fernseher gegessen hätte, machte ich ganz selbstverständlich bei unserem Abenteuer mit.