Unsichtbare Jahre - Daphne Geismar - E-Book

Unsichtbare Jahre E-Book

Daphne Geismar

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Beschreibung

»Eine Geschichte, die uns lehrt, niemals aufzugeben, auch wenn es noch so aussichtslos scheint.« Mordecai Paldiel, Yad Vashem

Während die Nazis ihren Griff um die jüdische Bevölkerung in den besetzten Niederlanden immer fester spannten, wurde Daphne Geismars Familie allmählich vom öffentlichen Leben ausgeschlossen – alles war verboten, vom Besitz eines Fahrrads bis hin zur Ausübung eines Berufs. Sie ahnten die mörderischen Folgen einer Deportation und beschlossen, sich zu trennen und zu verstecken. Eltern und Kinder wurden auseinandergerissen, die einen lebten jahrelang von der Außenwelt abgeschnitten hinter einer Kirchenorgel, die anderen unter Holzdielen oder sogar in aller Öffentlichkeit.

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Seitenzahl: 469

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ImpressumDie Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »Invisible Years« bei David R. Godine, Boston.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Umschlag vorne: Fifi & Chaim de Zoete mit ihren Töchtern, Judith, Mirjam und Hadassah, 4. Februar 1934

Copyright der Originalausgabe © 2020 by Daphne Geismar

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: semper smile, München, nach einem Entwurf von Daphne Geismar unter Verwendung eines Motivs von © De Zoete / Cohen / Geismar family archive

Satz: Uhl + Massopust, Aalen, nach dem Layoutdesign von Daphne Geismar

ISBN 978-3-641-26632-5V001www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Unsichtbare JahreDie Geschichte einer niederländischen Familie während des Holocaust Daphne Geismar

Vorwort von Robert Jan van Pelt

Erzählende Personen

Chaim de Zoete

Fifi de Zoete

Mirjam de Zoete-Geismar

Judith de Zoete-Cohen

Hadassah de Zoete-Mandel

Nathan Cohen

Erwin Geismar

David Geismar

Zigi Mandel

Vorwort und Einführungen

Robert Jan van Pelt

Geschichtliche Kurzdarstellungen

Robert Jan van Pelt

Jennifer Magee Stenger

Übersetzt von

Irene Eisenhut

Auskleidung von Mirjams Holocaust-Schublade; die unterste Schublade eines Sekretärs, der Erwin und Grete Geismar gehörte

Dieses Bild zeigt eine Reproduktion des Papiers, mit dem die unterste Schublade eines Sekretärs ausgeschlagen war, in der die Unterlagen der Familie De Zoete-Geismar zum Holocaust gefunden wurden, im folgenden wird sie deshalb Holocaust-Schublade genannt.Unter den vielen Dingen, die in der Schublade entdeckt wurden, befanden sich Erwin Geismars Erinnerungen (nachfolgende Seite), die er im Versteck kurz vor seiner Ermordung in Auschwitz noch aufschrieb. Die Aufzeichnungen wurden vierundsechzig Jahre später entdeckt.

21. Juli 1943: Wie soll ich beginnen, entweder in kurzen Gedanken oder vielleicht auch in einer längeren Abhandlung das aufzuzeichnen, was mich die letzten dreieinhalb Jahre beschäftigt hat? Warum fange ich gerade heute hiermit an, an einem Tag, der mir besondere Enttäuschungen bringt, weil ich keinen Bericht von meinem Jungen bekomme, der seit zwei Tagen von mir weg ist, um an einen anderen Ort hier in Holland zu fahren? Warum heute beginnen, wenn mich Sorgen um meinen Schwiegervater plagen, der nun mit großer Wahrscheinlichkeit in ein Vernichtungslager geschickt wird, denn sie wollen nicht nur ihn, sondern einfach alle Juden drangsalieren, deportieren und ermorden?

ERWIN GEISMAR

Inhaltsangabe

Erzählende Personen

Vorwort Robert Jan van Pelt

Das Öffnen der Holocaust-Schublade Daphne Geismar

Hinweis für die Leser

Vorher

Gefangen

Verboten

Getrennt

Unsichtbar

Versteckadressen

Chaim & Fifi

Mirjam

Judith

Hadassah

Nathan

David

Erwin

Danach

Zum Gedenken

Zigi

Spätere Jahre

Familienmitglieder

Primärquellen

Geschichtliche Kurzdarstellungen Robert Jan van Pelt & Jennifer Magee Stenger

Weiterführende Literatur

Danksagung

Erzählende Personen

Chaim & Fifi de Zoete mit ihren Töchtern, Judith, Mirjam und Hadassah (4. Februar 1934)

Hadassah, Mirjam und Judith de Zoete (ca. 1939)

Nathan Cohen (ca. Ende der 1930er-Jahre)

David Geismar mit seinem Großvater Max (28. Mai 1939)

Erwin Geismar mit seiner Frau Grete (ca. 1930)

Vorwort Robert Jan van Pelt

Als ich zum ersten Mal einen Entwurf von Daphne Geismars Unsichtbare Jahre las, war ich fasziniert von der wunderschönen Gestaltung des Buches und der bemerkenswerten Einheit von Inhalt und Form. Außerdem erkannte ich von dem Moment an, als ich das Manuskript öffnete, eine gemeinsame Aufgabe. »Was du ererbt von deinen Vätern hast, / Erwirb es, um es zu besitzen«, erinnert sich Faust am Anfang von Goethes gleichnamigem Drama. Daphne akzeptierte nicht nur das Erbe ihrer Familie aus der Kriegszeit, als ihre Mutter Mirjam die »Holocaust-Schublade« öffnete, sondern begann, es zu ihrem eigenen zu machen – das Ergebnis ist das Buch, das Sie in den Händen halten. Seit ich vor dreißig Jahren Auschwitz besucht habe, um die letzte Reise meines Großonkels Robert Hanf nachzuverfolgen, empfinde ich eine ähnliche Verpflichtung. So wie Daphne habe auch ich versucht, mir das Erbe zu verdienen, indem ich die Geschichte von Auschwitz und die Geschichte des Holocaust recherchiert und aufgeschrieben habe und mich im Kampf gegen dessen Leugnung engagiere.

Die in diesem Buch zusammengetragenen schriftlichen und mündlichen Zeugnisse bringen mich zurück in eine Welt, die mir nahe ist. Geboren, aufgewachsen und ausgebildet in den Niederlanden, kenne ich die hier erwähnten Orte. Die Ansichten, Charaktere und Erfahrungen der Familien de Zoete, Cohen und Geismar erinnern mich an meine eigenen Großeltern, Großonkel, Großtanten, Eltern, Onkel, Tanten und ihre Freunde, die alle während der deutschen Besatzung in den Niederlanden lebten. Viele von ihnen – einschließlich meiner Mutter – machten zu einem größeren oder kleineren Teil das gleiche Schicksal durch wie das von Daphnes Familie und ihren Angehörigen. Was die besondere Sprache der Zeugenaussagen angeht: Selbst in der Übersetzung bewahren sie einen gewissen niederländischen Ton, der mein Herz berührt.

Als Student an der Universität von Leiden begann ich, mich mit dem Erbe meiner eigenen Familie auseinanderzusetzen und erkannte das unterschiedliche Klima, das das tägliche Leben und die Ansichten der niederländischen Juden und ihrer nichtjüdischen Nachbarn prägte. Und ich erkannte auch den enormen Unterschied zwischen den jüdischen Erfahrungen in meinem Heimatland und denen in Osteuropa. Bis dahin hatte ich jedoch nur wenig über die tiefgreifenden Unterschiede zwischen der jüdischen Welt in den Niederlanden und der Welt der Juden in Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder den Vereinigten Staaten gewusst. Die im Vergleich zu anderen westlichen Ländern einzigartige gesellschaftliche Stellung der Juden in den Niederlanden – und die damit einhergehende einmalige Sichtweise – hilft, die in diesem Buch aufgezeichneten Erfahrungen der Familien de Zoete, Cohen und Geismar in einen Gesamtzusammenhang einzuordnen.

Bis 1940, dem Jahr, in dem die deutsche Wehrmacht mein Heimatland eroberte, schienen die Niederlande nicht mit ihren Nachbarn Deutschland, Frankreich, Belgien und Großbritannien Schritt halten zu können. Während andere westeuropäische Länder sich im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert industrialisierten und modernisierten, alle auf ihre Weise, blieb die Zeit in den Niederlanden stehen. Die holländische Wirtschaft beruhte zu dem Zeitpunkt immer noch auf Handel und einem starken Agrarsektor, wie schon im siebzehnten Jahrhundert, das als das Goldene Zeitalter in die Geschichte einging. Sie war ebenfalls abhängig von dem Reichtum, den ein riesiges Kolonialreich erwirtschaftete, dessen Mittelpunkt Niederländisch-Indien bildete (seit 1949 Indonesien). Dieses Gebiet trug nicht nur zum holländischen Wohlstand bei, sondern prägte auch die holländische Vorstellungskraft und verlieh einem sonst gleichmütigen Geist eine romantische, orientalisch angehauchte Note.

Zwischen 1914 und 1918 versank Europa in einem totalen Krieg, der große gesellschaftliche Umbrüche einleitete. Doch die Niederlande blieben neutral, und so bestand kein Druck, die konservativen Sichtweisen und Gewohnheiten, die das holländische Leben bestimmten, zu ändern.

Anfang der 1930er-Jahre wurde Europa von der Weltwirtschaftskrise heimgesucht. Zu dieser Zeit regierte der strenggläubige calvinistische Politiker Hendrikus Colijn die Niederlande. Sein Weltbild war nicht nur von seiner Abscheu vor gesellschaftlichem Wandel gekennzeichnet, sondern auch von seinem sechzehnjährigen Dienst als Offizier und Kolonialverwalter in Niederländisch-Indien. Colijn verfolgte als Ministerpräsident eine rigide Sparpolitik. Während andere Regierungen die Geldmenge erhöhten, indem sie ihre Währungen abwerteten, um Investitionen in der Wirtschaft zu fördern und die Exporte anzukurbeln, weigerte sich Colijn bis 1936, den holländischen Gulden vom Goldstandard abzukoppeln. So nahm dieser schnell an Wert zu, und das holländische Exportgeschäft brach ein. Der kleine Binnenmarkt konnte den Verlust der Auslandsmärkte nicht ausgleichen, zumal die Sparpolitik der Regierung die Löhne gesenkt und die Arbeitslosenunterstützung reduziert hatte, was die heimische Kaufkraft einschränkte. Die holländische Wirtschaft geriet in eine Abwärtsspirale, Armut sowie eine allgemeine Stimmung der Mutlosigkeit breiteten sich aus und hielten bis zum Ende der 1930er-Jahre an.

Anders als in Deutschland und Frankreich nahm der Antisemitismus in den Niederlanden während der Weltwirtschaftskrise nicht zu. Als Erklärung für soziale oder wirtschaftliche Not konnte das von den Antisemiten geschürte Bild vom Juden als eine Art Ungeheuer nicht dienen, weil es in den Niederlanden kaum Verbreitung fand und noch weniger unter den Calvinisten wie Colijn. Als die Juden Anfang des siebzehnten Jahrhunderts aus dem von Spanien regierten Portugal in Amsterdam eintrafen, wurden sie herzlich und mit einem Gefühl der Solidarität empfangen. Die Niederländer hatten 1568 einen Aufstand gegen Philipp II., König von Spanien und Herrscher der Niederlande, begonnen, der erst mit dem Friedensvertrag von 1648 ein Ende fand. Sie stellten eine Parallele zwischen ihrem Schicksal und dem der jüdischen Makkabäer her, die sich siebzehnhundert Jahre zuvor der Fremdherrschaft widersetzt hatten, und bezeichneten ihr Aufbegehren allegorisch als einen zweiten Makkabäer-Aufstand. Darüber hinaus hatte Johannes Calvin, dessen Theologie den Protestantismus in den Niederlanden prägte, mit der jahrhundertelangen christlichen Missachtung des Alten Testaments gebrochen. Er würdigte die anhaltende Bedeutung der hebräischen Gebote und bestand auf der Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses der biblischen Quellen. Die niederländischen Theologen und Intellektuellen, die der von Calvin festgelegten Richtung folgten, schätzten die Anwesenheit der Rabbis. Deren Hebräischkenntnisse ermöglichten ihren christlichen Gesprächspartnern, das Alte Testament tiefer zu erfassen und sie so zu besseren Christen zu machen. Bezeichnenderweise waren die calvinistischen Theologen auch bereit, die Verbindung zwischen dem Alten Testament und dem Talmud anzuerkennen – jener Sammlung jüdischer Schriften, die den Katholiken ein Dorn im Auge war. Deshalb waren die Mitglieder der sogenannten hebräischen Nation, die aus Portugal und ab der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts auch aus Deutschland und Polen kamen, in den Niederlanden willkommen.

Die meisten Juden ließen sich in Amsterdam nieder, das zwischen 1650 und 1800 zum Jerusalem des Westens wurde – nicht nur wegen der Rechte, die die jüdische Bevölkerung dort genoss. Mehr als jeder zehnte der zweihunderttausend Einwohner zählenden Stadt war jüdisch, und Amsterdam hatte die größte und sichtbarste jüdische Gemeinde der Welt (zum Vergleich, 1800 lebten in London zwanzigtausend, in Lwów – heute Lwiw, Ukraine – zwölftausend und in Warschau neuntausend Juden).

Die niederländische Regierung förderte im 19. Jahrhundert Integration der jüdischen Bevölkerung in den niederländischen Staat und in die niederländische Gesellschaft, indem sie jüdische Kinder zwang, öffentliche Schulen zu besuchen. Dies führte zum raschen Rückgang des Portugiesischen und Jiddischen als gemeinsamer Sprache der Juden. Aufgrund der Reformen entstand eine jüdische Gemeinschaft, die größtenteils gleichberechtigt in der niederländischen Gesellschaft lebte, allerdings zusehends isoliert von den lebendigeren jüdischen Gemeinden in Osteuropa. Während eine neue Form des Antisemitismus zu einem wichtigen Bestandteil der französischen Politik wurde und zahlreiche deutsche Intellektuelle begeisterte, blieben die nichtjüdischen Niederländer weitgehend unempfänglich dafür. Sie rühmten sich ihrer gemäßigten, vernünftigen Herangehensweise an die Probleme des Lebens; den Juden die Schuld zu geben an den Missständen der Moderne, ergab für sie keinen Sinn. Da die Industrialisierung überschaubar war, erlebten die Niederländer kaum sozialen Wandel, und keine der gesellschaftlichen Gruppen nahm einen raschen Niedergang ihrer Perspektiven wahr – eine Sorge, die den Antisemitismus in Frankreich und anderswo schürte. Und der Anteil der aus Deutschland eingewanderten Juden in die Niederlande, darunter auch meine Urgroßeltern Josef Hanf und Laura Romberg in den 1890er-Jahren und Daphnes Großvater Erwin Geismar in den 1920er-Jahren, war zu gering, als dass sie zu einem politischen oder gesellschaftlichen Problem hätten werden können.

Das bedeutet nicht, dass die niederländische Gesellschaft frei von antijüdischen Vorurteilen war. Doch die Calvinisten hegten auch Vorurteile gegen die Katholiken und umgekehrt, und die Christen hatten Vorurteile gegen Sozialisten und Liberale. Die niederländische Gesellschaft war durch eine Vielzahl eigenständiger Gruppen und sie tragende gesellschaftliche Säulen gekennzeichnet. Die größte davon, die Katholiken – die vorwiegend im Süden des Landes lebte –, machte nur dreißig Prozent der Bevölkerung aus. Jede Säule hob sich durch ihre eigenen religiösen und politischen Vorstellungen hervor, die sich auch in den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entscheidungen der Menschen widerspiegelten. Bei Sport- und Freizeitaktivitäten, in Literatur und Kunst, bei der Wahl von Zeitungen und Radiosendern organisierten sich die Menschen nach den Präferenzen jener Säule, mit der sie sich identifizierten. Diese Machtblöcke wurden im Parlament durch ihre eigenen politischen Parteien und in Wirtschaft und Gesellschaft durch ihre eigenen Berufsverbände, Gewerkschaften und Schulsysteme vertreten. Die jeweiligen Eliten arbeiteten zusammen – andernfalls wäre das Land unregierbar gewesen. Katholische Priester und protestantische Pfarrer zögerten jedoch nicht, die Kanzel zu nutzen, um die Gläubigen anzustacheln, ihren gesellschaftlichen Umgang auf die Mitglieder ihrer eigenen Gruppe zu beschränken. Dadurch schufen sie Echokammern, die das Gefühl von Misstrauen gegenüber Mitgliedern anderer Gruppierungen verstärkten. Die wahre Verfassung der Niederlande war folglich ein Vertrag der gegenseitigen Gleichgültigkeit zwischen den großen religiösen und politischen Gruppen. Die Vorurteile gegenüber jüdischen Niederländern waren vielleicht etwas stärker ausgeprägt, aber sie unterschieden sich im Großen und Ganzen nicht von den Vorurteilen, die zwischen den gesellschaftlichen Säulen herrschten.

1933 gab es 115000 Menschen, die sich selbst als jüdische Niederländer bezeichneten. Ihr Anteil an der Bevölkerung betrug 1,5 Prozent und war damit zu gering, um eine eigene soziale Säule zu bilden. Eine Untergruppe davon, die Diamantarbeiter, gründete eine gut organisierte Gewerkschaft, die zum Vorreiter der Arbeiterbewegung in den Niederlanden wurde, aber sie besaßen in der offiziellen jüdischen Gemeinde keinen Einfluss. Diese wurde von Männern geleitet, die keine Möglichkeit hatten, sich an den äußerst politischen Verhandlungen zu beteiligen, die das Leben der Eliten an der Spitze der Säulen bestimmten. Die Oberschicht der jüdischen Niederländer war daher ausgesprochen unpolitisch und stolz auf ihre Bereitschaft, sich wohltätig zu engagieren (sie sah die vorrangige Bedeutung des Judentums in den 1920er- und 1930er-Jahren in der karitativen Arbeit), verfügte jedoch über keinerlei Erfahrung und besaß demzufolge kein Verständnis für politische Spannungen, politische Bündnisse und politische Kompromisse. Bis 1940 spielte dies keine große Rolle. Die Niederlande waren ein provinzielles, stabiles und vor allem ruhiges Land, in dem große gesellschaftliche Fragen geklärt schienen.

Dann, im Mai 1940, drang das zwanzigste Jahrhundert in den beschaulichen Winkel der Welt ein, in dem die Familien de Zoete, Cohen und Geismar – und meine eigene Familie Hanf – so heimisch geworden waren.

Das Öffnen der Holocaust-Schublade Daphne Geismar

Vorsichtig umfasse ich die Kante des zugezogenen, undurchsichtigen grünen Vorhangs, sodass er die Wand berührt, und schaffe mit einem Finger einen kleinen Spalt, nur um vor Angst zu erstarren. Auf dem Podest unter mir, zwischen den Kirchenbänken der Ältesten und Diakone, ungefähr vier Meter entfernt, gehen zwei Männer der Grünen Polizei herum und suchen alles ab. Und dann tritt die Phase der Lähmung ein, das Gefühl, dass alles verloren ist.

Die Worte meines Großvaters gehen mir durch den Kopf, als ich allein auf der Orgelempore der Breepleinkirche in Rotterdam stehe und den schweren Vorhang zurückziehe, um nach unten in das Kirchenschiff zu blicken, wo mein Großvater die deutsche Polizei sah.

Ich frage mich, ob es überhaupt Sinn macht, in das Versteck zurückzuklettern. Jetzt muss noch die superschwere Leiter hochgezogen werden. Ein Fehltritt, und alles ist aus, denn die Deutschen sind schon unter mir im Foyer, von dem wir nur durch dünne Holzlatten getrennt sind; sie kommen die Steintreppe herauf zu dem kleinen Lagerraum. Ich schließe die Falltür.

CHAIM

Ich lasse den Vorhang zurückfallen und klettere die Leiter hinauf, um mir das Versteck anzusehen, in dem meine Großeltern, Chaim und Fifi de Zoete, den Holocaust überlebt haben. Die Ziegel- und Betonwände des Dachbodens, der unter einem steil abfallenden Dach liegt, haben keine Fenster. Einen Fußboden gibt es auch nicht – nur Träger; man muss von einem Balken auf den anderen steigen, um nicht durch die Decke zu fallen. Ich frage mich, was sie während dieser langen Monate geflüstert haben, die im Winter eisig und im Sommer drückend heiß waren. Ich stelle mir vor, wie sie sich um ihre elf, zehn und neun Jahre alten Töchter gesorgt haben, Mirjam (meine Mutter), Judith und Hadassah, die getrennt voneinander bei anderen Familien versteckt waren, um ihre Überlebenschance zu erhöhen – ihre langen Zöpfe abgeschnitten und die Davidsterne entfernt.

Dieser Moment in der Kirche löste ein Jahrzehnt der Recherche aus und führte zu dem Buch, das Sie jetzt in den Händen halten. Anlässlich des fünfundsiebzigsten Bestehens der Gemeinde lud die Breepleinkirche die Nachkommen der beiden jüdischen Familien ein, die während des Holocaust auf dem Dachboden der Kirche versteckt worden waren. Sie sollten die späteren Generationen der niederländischen Familien kennenlernen, die sich um ihre Vorfahren gekümmert hatten. Die Gemeinde hatte große Anstrengungen unternommen, um uns ausfindig zu machen – und sie waren, dank einer Anzeige in einer israelischen Zeitung und dem scharfen Blick einer Freundin meiner Tante von Erfolg gekrönt. Im November 2006 reisten wir, elf von Chaims und Fifis Verwandten, nach Rotterdam, um unsere Dankbarkeit auszudrücken: meine Mutter Mirjam aus den Vereinigten Staaten und ihre Schwester Judith aus Israel mit ihren Kindern und Enkelkindern. (Hadassah, die jüngste der Schwestern de Zoete, konnte die Reise nicht antreten.) Es war der Beginn einer tiefen und emotionalen Aufarbeitung der Kriegserfahrungen meiner Familie in den Niederlanden.

Am Tag unserer Ankunft betrat ich die Kirche. Sie wirkte wie eine Höhle auf mich, war schlicht, wunderschön und viel größer, als ich sie mir vorgestellt hatte. Bei Tee und Kuchen lernten wir die Kinder und Enkel von Chaim und Fifis Betreuern, Pfarrer Gerrit Brillenburg Wurth und seiner Frau Gerda sowie den Küster Jacobus de Mars und seine Frau Annigje kennen. Ich sah mir die Überbleibsel aus dem Versteck an: eine Schokoladenverpackung, eine Haarklammer und einen Bucheinband. Und ich stand mit meiner jugendlichen Tochter im Kirchhof, wo 1943 ein Widerstandskämpfer meine Tante Hadassah zum Spielen hingebracht hatte, damit Chaim und Fifi, die sich nicht zu erkennen geben konnten, sie von ihrem Versteck aus lebend und gesund sehen konnten.

Während der feierlichen Zeremonie an diesem Nachmittag dankte meine Cousine Sharon den Familien Brillenburg Wurth und de Mars für »die edle Gesinnung, mit der sie anderen geholfen haben, ohne eine Gegenleistung zu erwarten«. Sie sprach von ihrer Hoffnung, dass solch schlimme Zeiten nie wieder zurückkehrten, fügte aber hinzu, »falls das Böse doch wiederkommt, werden wir wissen, an wem wir uns ein Beispiel nehmen sollten«. Die Feier endete mit mehreren jüdischen Volksliedern und der israelischen Nationalhymne, gespielt auf der Orgel. Als meine Großeltern sich lautlos auf dem Dachboden versteckten, konnten sie sich nicht vorstellen, dass ihre Kinder, Enkel und Urenkel einmal sechzig Jahre später unten in den Kirchenbänken sitzen und den Klängen einer jüdischen Kultur lauschen würden, die für sie das Todesurteil gewesen war.

An unserem letzten Abend in den Niederlanden luden uns die Enkel von Pfarrer Brillenburg zum Essen in ihr Haus ein. Mirjam und Judith erzählten uns mehr über ihre Erlebnisse als Onderduikers (Untergetauchte) und berichteten von anderen Familienmitgliedern, die sich in den gesamten Niederlanden versteckt hatten: Chaim und Fifi, Hadassah, David Geismar (Mirjams zukünftiger Ehemann und mein Vater) und Nathan Cohen (Judiths künftiger Ehemann). Wir stellten fest, dass niemand die ganze Geschichte kannte, weil Geheimhaltung oberstes Gebot gewesen war. Jeder verfügte nur über seine eigenen Erfahrungen – Familienmitglieder wussten nichts von dazugehörigen Details, ließen Teile aus, die zu schmerzhaft waren, um sie zu erzählen, oder verloren im Laufe der Zeit ihre Erinnerungen. In Rotterdam begriff ich, dass die Geschichten, von denen ich gedacht hatte, sie zu kennen, umfassender und stärker miteinander verknüpft waren, als mir bewusst gewesen war – und dass die zu den Geschichten gehörenden Menschen älter wurden. Bei diesem Abendessen mit den Brillenburg Wurths schmiedeten meine Verwandten und ich den Plan, die Geschichte unserer Familien während der deutschen Besatzung der Niederlande zusammenzufügen.

Die zwei Abbildungen am Anfang dieses Buchs bilden die Auskleidung von Mirjams Holocaust-Schublade nach – die unterste Schublade eines Sekretärs, der Erwin und Grete Geismar gehörte.

Als Sharon und ich wieder zu Hause waren, sie in Israel, ich in den Vereinigten Staaten, wandten wir uns an unsere Mütter. Mirjam überraschte mich in Connecticut, indem sie mich zu einem antiken Schreibtisch führte und dessen unterste Schublade aufmachte, die voll war mit Papieren und Tagebüchern. Dort, erklärte sie mir, bewahre sie alles auf, was mit dem Holocaust zu tun habe. Als ich Sharon in Israel anrief, um ihr meine Neuigkeit mitzuteilen, antwortete sie mir aufgeregt, dass auch Judith eine Holocaust-Schublade besitzen würde. Die Menge des Materials, das in diesen Schubladen überlebt hatte und das uns bis dahin völlig unbekannt gewesen war, ist bemerkenswert. Wir stießen auf persönliche und offizielle Dokumente unserer Großeltern, die während und kurz nach der Besatzungszeit entstanden, und auf Berichte und Gespräche unserer Eltern, Tanten und Onkeln, in denen sie mehr als fünfzig Jahre später über ihre Erfahrungen nachdachten. Wir entdeckten Judiths Judenstern, Chaims und Fifis Tagebücher und Briefe und – ein Wunder – die neunundvierzig Seiten umfassenden Memoiren meines Großvaters väterlicherseits, Erwin Geismar (siehe hier und hier). Er begann sie am 21. Juli 1943 in der Amsterdamer Wohnung zu schreiben, in der er sich versteckte, zwei Tage nachdem er seinen dreizehnjährigen Sohn David (meinen Vater) an einen sichereren Ort geschickt hatte. Erwin schrieb in seiner Muttersprache Deutsch und dokumentierte sorgfältig die Besatzung, seine Arbeit im Judenrat und seine Verzweiflung über das Schicksal seiner Familie und der Juden insgesamt. Sechs Wochen später nahmen die Deutschen ihn gefangen und ermordeten ihn am 19. November 1943 in Auschwitz. Irgendwie – wir wissen nicht, wie – erhielt die Familie seine Aufzeichnungen zurück. Jahrzehnte später, als meine Großmutter Grete starb, wanderten sie zusammen mit anderen Unterlagen der Familie Geismar in die Holocaust-Schublade meiner Mutter, verborgen in einem Umschlag der Union Electric Company von Missouri. Weder meine Mutter noch mein Vater wussten, dass diese Memoiren versteckt in diesem Umschlag lagen; mein Vater starb drei Jahre bevor wie sie fanden.

Erwin und Davids Stimmen wieder zusammenzuführen, ist für mich Freude und Kummer dieses Buches zugleich.

21. Juli 1943: Wie soll ich beginnen, das aufzuzeichnen, was mich die letzten dreieinhalb Jahre beschäftigt hat? Warum fange ich gerade heute hiermit an, an einem Tag, der mir besondere Enttäuschungen bringt, weil ich keinen Bericht von meinem Jungen bekomme, der seit zwei Tagen von mir weg ist, um an einem anderen Ort hier in Holland das Ende dieses für uns so schrecklichen Zustands abzuwarten?

Warum heute beginnen, wenn mich Sorgen plagen, Sorgen um meine Familie und das menschliche Leben? Sorgen um meinen Schwiegervater, den ich dreieinhalb Monate im Durchgangslager Westerbork halten konnte und der nun mit großer Wahrscheinlichkeit beim nächsten Transport in ein Vernichtungslager geschickt wird, denn sie wollen nicht nur ihn, sondern einfach alle Juden drangsalieren, deportieren und ermorden?

ERWIN

Mein Vater traf einen Mann auf der Straße, der Verbindungen zur Untergrundbewegung hatte. Dieser Mann sagte, er könne dafür sorgen, dass ich nach Friesland käme, in ländliches Gebiet. Ich war drei Wochen bei meinem Vater, während dieser Mann die Vorbereitungen traf. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie ich meinen Vater verließ, denn es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Und es war das einzige Mal, dass ich ihn emotional erlebt habe. Er sagte: »Ich hoffe, Gott ist mit dir.« Auch das habe ich meinen Vater nur dieses eine Mal sagen hören. Ich denke, er wusste, wie alles enden würde, oder er hatte so ein Gefühl.

DAVID

Als Sharon und ich den langsamen Prozess des Übersetzens der aus den Holocaust-Schubladen unserer Mütter stammenden holländischen und deutschen Unterlagen organisierten, förderte unsere mittlerweile gezielte Suche weitere Schätze zutage. Eine Freundin meiner Mutter schenkte ihr ein Buch mit dem Titel The Path of the Righteous: Gentile Rescuers of Jews during the Holocaust (Es gab auch Gerechte: Retter und Rettung jüdischen Lebens im deutschbesetzten Europa 1939–1945). Erstaunt über den ausführlichen Abschnitt zur Familie de Zoete und über die Informationen zu den Familien, die sie versteckten und ihnen halfen, schrieb ich dem Autor, Mordecai Paldiel, um zu erfahren, woher er die Auskünfte erhalten hatte. Paldiel antwortete, dass er Anfang der 1960er-Jahre Direktor der Abteilung der Gerechten unter den Völkern von Yad Vashem gewesen war, der Internationalen Holocaust Gedenkstätte. Diese Abteilung erinnert an Nichtjuden, die während des Holocaust große Gefahren auf sich genommen haben, um Juden zu retten. Wie ich erfuhr, war mein Großvater Chaim einer der ersten Juden, der Gedenkveranstaltungen für die Menschen forderte, die seiner Familie geholfen hatten. Auf meine Bitte hin erhielt ich Kopien von Chaims zwölf Originalbriefen, die er an Yad Vashem gerichtet hatte. Jeder Brief ist eine Geschichte für sich mit genauen Angaben zu den Versteckadressen, den näheren Umständen, den Namen, Berufen und Beweggründen derjenigen, die halfen. Anhand dieser Informationen konnte ich eine Karte der Verstecke meiner Familie in den Niederlanden anfertigen (siehe hier).

Die Geschichte zusammenzufügen, war alles andere als ein geradliniger Prozess. Jedes neu entdeckte und frisch übersetzte Dokument erklärte etwas, das uns gefehlt hatte oder das wir übersehen hatten und ließ uns zu Mirjams und Judiths Schubladen zurückkehren, um sie noch einmal auf Antworten hin zu durchsuchen. In der Schublade meiner Tante Judith fand Sharon das Tagebuch unserer Großmutter Fifi. Sie hatte es geschrieben, bevor die Familie untertauchen musste. Besorgt schrieb Fifi über Hitler und einen möglichen Krieg, über Chaims Entlassung infolge der antijüdischen Einschränkungen, über die Flucht aus ihrem Haus aufgrund der Bombardierung Rotterdams und darüber, wie diese Geschehnisse sich auf ihre Töchter auswirkten. Die Fundstücke in Judiths Schublade erinnerten Mirjam daran, dass sie noch mehr Unterlagen in ihrem Schlafzimmer hatte. Ich stieß auf Chaims handgeschriebenes Tagebuch, in dem er über die Razzia in der Breepleinkirche berichtete. Wir hatten zwar Mirjams Übersetzung von Chaims Bericht gelesen, doch Chaims Originaltagebuch umfasste eine sorgfältig gezeichnete Skizze seines Verstecks einschließlich Leiter, Falltür zum Dachboden und des Spions, der einen Ausblick auf das Kirchenschiff bot, das die Ordnungspolizei, auch Grüne Polizei genannt, durchsuchte (siehe hier). In einem anderen Stapel entdeckte ich ein dünnes Blatt Papier, das Fifi auf beiden Seiten beschrieben und mit dem Datum 23. April 1943 versehen hatte – dem Tag, an dem sich alle außerhalb von Amsterdam lebenden Juden beim Konzentrationslager Herzogenbusch melden mussten (siehe hier). Meine Mutter übersetzte das Blatt an Ort und Stelle:

23. April 1943: Heute ist der letzte Tag, an dem die Deutschen jüdische Bewohner in den Niederlanden dulden. Müssen alle nach Herzogenbusch? Mein Mann und ich werden nicht gehen. Wir wohnen bei jüdischen Freunden, die bis jetzt einen offiziellen Stempel hatten. Heute Abend haben wir keine Aussicht auf ein Dach über dem Kopf.

FIFI

Fifi fährt in ihrem Tagebuch fort und erzählt von einem Treffen mit Pfarrer Brillenburg Wurth, der für ein Versteck bei einem seiner Gemeindemitglieder sorgte. Es war Chaims und Fifis achter Zufluchtsort. Nach sechs Wochen mussten sie auch dieses Versteck verlassen, weil Gerüchte über eine bevorstehende Razzia in der Gegend aufkamen. Pfarrer Brillenburg Wurth bat daraufhin seinen Küster, den Dachboden der Kirche herzurichten; zu seiner Überraschung teilte ihm dieser mit, dass eine andere jüdische Familie sich dort bereits seit einem Jahr versteckte. Also richteten sie für meine Großeltern einen weiteren Platz ein, auf der anderen Seite der Orgelpfeifen. Chaim und Fifi blieben dort zwei Jahre – getrennt von ihren drei Töchtern.

Als ich auf Notizen und ein Gedicht von Mirjam stieß, die sie in ihrem Versteck an ihre Eltern geschrieben hatte (siehe hier und hier), erfuhr ich von Riek Dekkers, einer Widerstandskämpferin, die es auf sich nahm, Chaim und Fifi über ihre Töchter auf dem Laufenden zu halten – bis es zu gefährlich wurde, Briefe und Informationen zwischen den Verstecken zu übermitteln.

Unsere Familiengeschichte war ein Puzzle, das Sharon und ich zusammenfügten. Wir erstellten ein physisches und digitales Archiv, in das wir alle Dokumente aufnahmen. Ich entwickelte mich zu einer hartnäckigen Rechercheurin, die sich von den zahlreich vorhandenen Hindernissen nicht abschrecken ließ. Zunächst einmal spreche ich kein Holländisch. In dem Bemühen sich einzufügen, verstummte die Muttersprache meiner Eltern, wie bei vielen Einwanderern. Meine Geschwister und ich sind daher nicht zweisprachig aufgewachsen. Mein Mann Rob übersetzte Erwins deutschen Text, meine Mutter und Judith halfen mit dem Holländischen; wir beauftragten ebenfalls professionelle Übersetzer und lernten auf die harte Tour, wie subjektiv dieser Prozess sein kann. Die siebzig Seiten umfassenden Aufzeichnungen meines Großvaters Chaim aus der Nachkriegszeit klangen erst nach ihm, als sie ein zweites Mal übersetzt wurden. Ich wünschte mir so sehr, dass ich die in Deutsch und Holländisch verfassten Briefe, Tagebücher und Unterlagen lesen könnte, die die Schubladen füllten.

Noch entmutigender war, dass bei meiner Mutter Demenz diagnostiziert wurde. Ihre Symptome schritten voran, während wir an diesem Projekt arbeiteten. Als Hadassah im Jahr 2009 starb, blieb von den Schwestern de Zoete Judith die einzige mit einem klaren Gedächtnis. Trotz des Ozeans, der zwischen uns lag, war ich immer enger mit Judith und Sharon verbunden, angespornt von der Notwendigkeit, dieses Projekt fertigzustellen, das so viel Bedeutung und Dringlichkeit erlangt hatte.

Während sich unser Archiv in ein Buch verwandelte, offenbarte Judith, dass sie einen Teil ihrer Geschichte bisher ausgelassen hatte. Einen Teil, der für sie zu problematisch war, um darüber zu sprechen. Sie hatte das Kapitel aufgeschrieben, bewahrte das Papier aber in einem versiegelten Umschlag auf, damit ihre Töchter es nach ihrem Tod lasen. Als wir begriffen, dass unser Buch veröffentlicht werden könnte, überdachte Judith noch einmal ihre Entscheidung und kam zu dem Schluss, dass es wichtig sei, die schmerzhafte Wahrheit ihrer gesamten Geschichte mit der Welt zu teilen. Sie schickte mir den vollständigen Bericht der beiden Jahre, in denen sie bei einer großen Familie versteckt worden war, zusammen mit einer Fotografie der Eltern. Auf die Rückseite schrieb Judith: »Das ist er!« (siehe hier); andere handschriftliche Notizen schildern die Verbrechen, die der Vater und seine beiden Söhne an ihr begangen haben.

Nach Hadassahs Tod gab ihr Ehemann, Zigi Mandel, Sharon eine Schachtel gefüllt mit Unterlagen, die mit dem Holocaust zu tun hatten, darunter auch seine eigenen Aufzeichnungen. Zigi floh im Alter von dreizehn Jahren zu Fuß aus Polen. Seine Odyssee führte ihn nach Russland in den Ural, in ein polnisches Waisenhaus in Usbekistan, und dann durch Afghanistan und Indien nach Palästina. Zigis Geschichte bildet einen Kontrapunkt zu den Erfahrungen der übrigen Familienmitglieder, die während des Zweiten Weltkriegs alle in den Niederlanden waren. Seine Erfahrungen, getrennt von den anderen gemacht, aber dennoch gleichzeitig, erinnern an das ungeheure Ausmaß des Kampfs zwischen den Achsenmächten und den Alliierten und werden als Anhang zu diesem Band präsentiert.

Zehn Jahre nach dem Besuch der Breepleinkirche kamen Sharon und ich zu der Überzeugung, dass wir fast alles hatten, was wir brauchten, um die Geschichten in einem Buch zusammenzuführen. Wir schlossen uns noch einmal zusammen, um in einer letzten Phase der Nachforschungen die fehlenden Teile zusammenzutragen und einige der Orte auf der Karte der Familienverstecke zu besuchen.

Im April 2016 reiste ich nach Israel. Wir besuchten Hans Goldberg (heutiger Name Zvi), der mit Mirjam im selben Versteck gewesen war, um uns ein Foto von ihm, Mirjam und zwei anderen jüdischen Kinder auszuleihen, die zwei Jahre lang im Haus von Nel van Vliet versteckt gewesen waren. In Israel traf ich mich auch mit dem derzeitigen Direktor der Abteilung der Gerechten unter den Völkern von Yad Vashem. In unserem Gespräch erkundigte ich mich nach den Briefen meines Großvaters und bat ihn, nachdem ich Judiths gesamte Geschichte erfahren hatte, einen Namen von der Liste der Gerechten zu streichen.

Sharon und ich flogen anschließend in die Niederlande. Wir kehrten zur Breepleinkirche zurück, wo wir Informationen mit Historikern und Pädagogen austauschten, die der Kirche als Berater zur Seite stehen. Wir verabredeten uns ebenfalls mit der Enkelin von Gerrit und Gerda Brillenburg Wurth, um ein Foto ihrer Großeltern in Empfang zu nehmen (siehe hier). Wir besuchten eine historische Gesellschaft in der holländischen Stadt Gendt, wo wir eine Fotografie von Theo van Dalen abholten, einem Polizeibeamten, der sich verschrieben hatte, die deutschen Kriegsanstrengungen zu sabotieren (siehe hier). Theo und seine Frau Betsy versteckten Sharons Vater Nathan mit seiner ganzen Familie sowie alliierte Piloten, deren Flugzeuge von den Deutschen abgeschossen worden waren. Der damals zwölf Jahre alte Nathan freute sich über deren Zwangsaufenthalt – er übte sein Englisch, spielte Schach und erörterte mit den Besatzungsmitgliedern die Kriegsnachrichten.

In Amsterdam besuchten wir die Wohnung, in der Nathan zuerst Unterschlupf fand, und anschließend das Reihenhaus, in dem Erwin versteckt und gefangen genommen wurde. Erst ein Jahr zuvor, 2015 – acht Jahre nachdem ich Erwins Memoiren gefunden hatte –, hatten wir herausgefunden, wer Erwin versteckt hatte, wo er versteckt gewesen war und wie und wann er gefangen genommen wurde. An diesem Tag im Jahr 2016 standen wir vor Nathans und Erwins Zufluchtsorten und lasen Auszüge aus ihren Aufzeichnungen.

Sharon und ich hatten nun die vollständige Geschichte unserer Familie in den besetzten Niederlanden zusammengetragen, die sich angesichts der drohenden Deportation und des Todes aufgeteilt hatte und in den Untergrund gegangen war. Während ich wieder und wieder ihre Briefe, Tagebücher, Interviews und Dokumente las, wurde mir klar, dass meine Verwandten – die Familien Geismar, de Zoete und Cohen – unterschiedliche Perspektiven auf eine gemeinsame Geschichte boten.

Ich überlegte, wie ich das Buch aufbauen sollte, experimentierte herum und zerschnitt dafür sämtliche Texte aus dem Archiv, um sie dann so in einer Reihenfolge zusammenzufügen, dass die Mitglieder meiner Familie miteinander sprachen. Während ich ihre unterschiedlichen Stimmen verknüpfte, merkte ich, dass sie eine einzige Erzählung ergaben. Und genau da, als ich an dem Küchentisch saß und ihre verwobenen Berichte las, traf mich das herzzerreißende Grauen ihrer gemeinsamen Erfahrungen, und mein Kopf sank auf den Tisch, um zu weinen.

Die Holocaust-Überlebenden in meiner Familie sprachen, wie so viele andere auch, fünfzig Jahre lang nicht über ihre Erlebnisse aus der Kriegszeit. Als meine Eltern schließlich begannen, ihre Geschichten in groben Zügen zu schildern, sprachen sie in Klassenzimmern – aber nicht in meinem. Tatsächlich las ich die Geschichte meines Vaters zum ersten Mal in unserer Lokalzeitung, als sie über seinen Vortrag im örtlichen Kiwanis Club berichtete. Sobald meine Eltern jedoch anfingen, über das zu sprechen, was sie erlebt und durchgestanden hatten, taten sie dies regelmäßig. Meine Eltern hofften, dass die Menschen, die ihnen zuhörten, erkennen würden, dass der dem Faschismus innewohnende Hass große Gruppen von Verfolgten anonymisiert und entbehrlich macht und sie ihrer Menschlichkeit beraubt. Ihr Wunsch – wie auch meiner – war es, mit ihrer Geschichte den Menschen zu helfen zu verstehen, was es für jeden Einzelnen bedeutet, als Teil einer verfolgten Gruppe ungerecht behandelt zu werden.

Schließlich ist es aber auch die stille Hoffnung und der Wunsch, dass meine Zeilen vielleicht doch einmal von Menschen gelesen werden, die daraus ersehen, wie gekämpft wurde, unter welchen, teils sehr schwierigen Umständen, und dass dann diese Leser den Kampf, den wir in der vordersten Linie mitgefochten und erlebt haben, aufnehmen mögen zum Erreichen einer würdigeren, menschlichen Gemeinschaft.

ERWIN

Hinweis für die Leser

Primärquellen und Sprache

Das erzählerische Mosaik von Unsichtbare Jahre setzt sich aus mehr als fünfzig Quellen zusammen: Briefe, Interviews, Memoiren, Tagebücher und Berichte. Nachstehend findet sich ein Überblick über die wichtigsten Dokumente, die bei der Entstehung dieses Buches verwendet wurden. Eine vollständige Liste der Primärquellen finden Sie hier. Sofern nicht anders angegeben, wurden alle Dokumente und Interviews in Englisch verfasst, die von keiner der hier zu Wort kommenden Hauptstimmen die Muttersprache ist.

CHAIM DE ZOETE

Die Auszüge aus Chaims Aufzeichnungen stammen aus einer Zusammenfassung seiner Kriegserfahrungen und aus zwölf Protokollen, geschrieben 1963–64, um Menschen zu würdigen, die seiner Familie während des Holocaust halfen. Chaims Erzählung fußt auch auf seinem Bericht über die Razzia in der Breepleinkirche (1947, in Niederländisch) sowie auf einem siebzigseitigen Brief an seine Töchter Mirjam, Judith und Hadassah, der einen philosophischen Leitfaden für ein Leben nach dem Holocaust liefert (1950, in Niederländisch).

FIFI DE ZOETE

Fifis Texte stammen alle aus ihren Tagebüchern (1937–63, in Niederländisch).

MIRJAM DE ZOETE

Mirjams Passagen entstammen hauptsächlich ihren schriftlichen Berichten von 1979 und 1990, einem 1980 geführten Interview mit dem Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies der Yale University, einem Interview mit der USC Shoah Foundation aus dem Jahr 1997, einem Interview mit Diane L. Wolf aus dem Jahr 2000 und einem 2007 geführten Interview mit Sharon Cohen Strauss.

JUDITH DE ZOETE

Judiths Textauswahl stammt aus zwei Berichten, geschrieben 2004 und 2005, aus einem Interview mit Sharon Cohen Strauss sowie aus dem Schriftwechsel mit ihren Töchtern und ihrer Nichte aus dem Jahr 2015.

HADASSAH DE ZOETE

Hadassahs Quellenmaterial umfasst eine Rede von 2006, einen schriftlichen Bericht von 2007 und ein Interview mit Sharon Cohen Strauss von 2007.

DAVID GEISMAR

Davids Passagen wurden größtenteils einem Bericht entnommen, den er in den 1990er-Jahren verfasste, einem 1980 geführten Interview mit dem Fortunoff Archive for Holocaust Testimonies der Yale University sowie einem Interview mit Diane L. Wolf aus dem Jahr 2000.

ERWIN GEISMAR

Erwins Erzählung stammt vollständig aus seinen Memoiren, die er in der Zeit schrieb, als er untergetaucht war (21. Juli – September 1943, in Deutsch).

NATHAN COHEN

Nathan verfasste zwei Berichte zu seinen Kriegserfahrungen, 2004 und 2007; all seine Passagen basieren auf diesen Dokumenten.

ZIGI MANDEL

Zigis Geschichte stammt aus seinen unveröffentlichten Memoiren von 2007.

Nebenstimmen

Neun Nebenstimmen treten kurz in der Hauptgeschichte auf und werden mit ihren Vor- und Nachnamen genannt. Diese Familienmitglieder, Helfer und Schicksalsgefährten steuern Informationen bei, die die Geschichten der Hauptstimmen ergänzen. Eine vollständige Liste der Nebenstimmen ist auf der Seite der Primärquellen zu finden.

Redaktion

Die Mehrzahl der Passagen, die verwendet wurden, um die gemeinsame Geschichte zu erschaffen, sind Auszüge aus längeren Berichten. Diese Zersplitterung machte es notwendig, dass gelegentlich ein Wort hinzugefügt oder ersetzt werden musste, um von der einen zur anderen Quelle überzuleiten. Teile des Originaltexts wurden manchmal gekürzt und Textbausteine umgruppiert, damit aus den verschiedenen Zeitzeugnissen eine lineare Geschichte entstand; an den Stellen, an denen dies geschah, wurden keine Auslassungszeichen verwendet. Das Gleiche gilt für verdichtete Textzitate. Da für keinen der Erzählenden Englisch die Muttersprache war und die Originaltexte in Niederländisch beziehungsweise Deutsch verfasst wurden, waren wir bemüht, den individuellen Tonfall beizubehalten, während wir durch die redaktionelle Bearbeitung größere Klarheit schaffen wollten; Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden verbessert. Gelegentlich wurden nichtenglische Wörter oder Akronyme beibehalten und erklärt. Nichtenglische Eigennamen sind nicht kursiv gesetzt, um diese Wörter nicht zu sehr hervorzuheben. Wörter, die im Original unterstrichen wurden, um sie hervorzuheben, sind kursiv gesetzt.

Daten und geschätzte Zahlen

In einigen Fällen weichen die Daten in den verschiedenen Quellen leicht voneinander ab. Es wurden alle Anstrengungen unternommen, um korrekte Daten zu erhalten, indem seriöse historische Quellen hinzugezogen wurden. Bei der Recherche für die in diesem Buch präsentierten Zahlen stellten sich die veröffentlichten Schätzungen in Bezug auf die Geschehnisse des Zweiten Weltkriegs, und insbesondere in Bezug auf die Zahl der Todesopfer, häufig als unterschiedlich heraus. Auch wenn die Angaben in Unsichtbare Jahre aus Publikationen mit hohen wissenschaftlichen Standards stammen, sind diese Zahlen nur so genau wie die Informationen, auf denen sie beruhen, und die sind oft unvollständig.

Verordnungen und Restriktionen

Die in diesem Buch erwähnten antijüdischen Verordnungen und Restriktionen sind nicht allumfassend. Eine vollständigere Liste finden Sie in Ashes in the Wind: The Destruction of Dutch Jewry von Jacob Presser.

Geschichtliche Kurzdarstellungen und Anmerkungen

Den historischen Kontext für die primären Erzählungen liefert eine chronologische Reihe geschichtlicher Kurzbeschreibungen, auf die am Rand der Erzählungen querverwiesen wird. Weitere Randbemerkungen gehen auf Einzelpersonen ein, die in den Erzählungen erwähnt werden, und erläutern Details.

Postkarte, geschickt an Erwin Geismar in den Niederlanden, von Max Heinsheimer, seinem Schwiegervater in Deutschland, 2. Februar 1934

Vorderseite: Deutsche SA- und SS-Männer marschieren am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem Hitler zum deutschen Kanzler ernannt wurde, in einer Parade durch das Brandenburger Tor

Auszug aus der Nachricht auf der Rückseite:Werde jetzt eine Entscheidung treffen müssen.

MAXHEINSHEIMER

Vorher

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler Kanzler des Deutschen Reichs. Ein Brandanschlag auf das Reichstagsgebäude am 27. Februar ermöglichte ihm, kurz vor der Reichstagswahl Notstandsbefugnisse einzufordern. Die Wahlen fanden unmittelbar nach Massenverhaftungen statt, und das neue Parlament erteilte Hitler die Macht, per Erlass zu regieren. Viele deutsche Juden gehörten der politischen Linken an und flohen aus dem Land. Am 1. April leitete die Regierung einen Boykott jüdischer Geschäfte ein, dem die Entlassung jüdischer Beamter folgte. Infolgedessen verließen auch Juden das Land, die politisch nicht aktiv gewesen waren. Bis Januar 1934 hatten ungefähr 60000 Deutsche, darunter 48000 Juden, eine Zufluchtsstätte im Ausland gefunden. Die Niederlande nahm 6000 auf und verzichtete auf die Einhaltung der üblichen Passvorschriften. Aufgrund der schnell ansteigenden Arbeitslosenzahlen erließ die niederländische Regierung jedoch ein Gesetz, das es den Flüchtlingen unmöglich machte, einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Die Leitung der jüdischen Gemeinde hegte Bedenken, diese staatliche Entscheidung anzufechten, und kümmerte sich lieber um deren Auswirkungen, indem sie sich ausschließlich karitativ engagierte.

Ende 1938, als die deutsche Regierung unmissverständlich begann, eine Politik der Vertreibung zu verfolgen, die mit Brandanschlägen, Plünderungen und Massenverhaftungen einherging, entwickelte sich das Flüchtlingsproblem in den Niederlanden zu einer ausgewachsenen Krise. Als Folge der sogenannten Kristallnacht verließen 120000 Juden im Winter 1938–39 Deutschland. Tausende, darunter 1800 unbegleitete Kinder, die mit dem sogenannten Kindertransport gerettet wurden, kamen in die Niederlande, viele davon illegal. Die niederländische Regierung erkannte, dass sie diese Flüchtlinge nicht zurück nach Deutschland schicken konnte. In Absprache mit der niederländisch-jüdischen Führungsspitze entschieden Regierungsbeamte, ein geschlossenes Flüchtlingslager für Juden bei Westerbork zu errichten, einem kleinen Dorf in einem dünn besiedelten Gebiet in der Nähe der deutschen Grenze. Westerbork sollte als semi-exterritoriales Wartezimmer dienen, bis die Ausreise in ein Land, in dem die Flüchtlinge sich endgültig niederlassen würden, sichergestellt war.

1921–1940

1921

Erwin Geismar verlässt Freiburg im Breisgau, um in Amsterdam zu leben und zu arbeiten.

18. Dezember 1928

Erwin heiratet Grete Heinsheimer aus Bruchsal; Grete siedelt zu Erwin über nach Amsterdam.

14. August 1929

Chaim und Fifi (geborene Polak) de Zoete heiraten in Den Haag, Südholland.Chaim und Fifi ziehen von Rotterdam nach Niederländisch-Indien, wo Chaim als Militärapotheker arbeiten muss, dafür dass das Militär seine Ausbildung finanziert hat.

7. Februar 1930

David Geismar wird in Freiburg geboren, wohin Erwin und Grete extra für seine Geburt gereist sind.

August 1930

Erwin und Grete kehren zusammen mit David nach Amsterdam zurück.

13. Mai 1931

Nathan Cohen wird in Heiloo, Nordholland, geboren.

14. Dezember 1931

Die NSB (Nationaal-Socialistische Beweging), eine faschistische niederländische Partei, wird gegründet.

22. September 1932

Judith de Zoete wird in Celebes (heute Sulawesi) geboren.

30. Januar 1933

Adolf Hitler, Führer der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, wird zum Reichskanzler ernannt.

27. Februar 1933

Der Berliner Reichstag brennt nieder; die Nazis erklären, der Brand sei Ergebnis eines kommunistischen Komplotts, heben bürgerliche Freiheiten auf, schalten politische Gegner aus und unterdrücken die freie Presse.

März 1933

Dachau, das erste Konzentrationslager der Nazis, wird eröffnet.Das Komitee für jüdische Flüchtlinge wird in den Niederlanden errichtet, um jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland zu helfen.

17. Oktober 1933

Hadassah de Zoete wird in Banjarmasin, Niederländisch-Indien, geboren.

15. September 1935

Die Nazis erlassen die Nürnberger Gesetze, die den deutschen Juden ihre Rechte als Staatsbürger entziehen sowie Eheschließungen und sexuelle Beziehungen zwischen Juden und »arischen« Deutschen verbieten.

1936

Chaim und Fifi kehren mit Mirjam, Judith und Hadassah nach Rotterdam zurück, nachdem Chaim fünf Jahre für das Militär in Niederländisch-Indien gearbeitet hat.David verbringt einen letzten Sommer bei seinen Großeltern in Deutschland.

1937

Davids Großvater, Max Heinsheimer, wird in Deutschland verhaftet; bei seiner Entlassung stimmt er zu, in die Niederlande zu emigrieren.

1938

Nathans Familie nimmt Gertrude, ein fünfjähriges deutsch-jüdisches Flüchtlingskind, bei sich auf.

12. März 1938

Deutsche Truppen marschieren in Österreich ein; der Anschluss wird am 13. März verkündet, wodurch Österreich Teilgebiet des Deutschen Reichs wird. Antijüdische Gewalt folgt.

Oktober 1938

Die NSB verbietet Juden, Mitglied zu werden, und markiert damit den Beginn des Antisemitismus in der holländischen Nazipartei.

9.–10. November 1938

In der sogenannten Reichskristallnacht kommt es überall in Deutschland zu Pogromen; Nazis brennen 900 Synagogen nieder, zerstören 7000 jüdische Geschäfte, Schulen und Wohnhäuser; sie bringen 91 Juden um und schicken 30000 jüdische Männer in Konzentrationslager.

1939

Die Familie de Zoete nimmt Ingrid, ein zehnjähriges deutsch-jüdisches Flüchtlingskind, bei sich auf.

1. September 1939

Deutschland fällt in Polen ein, der Zweite Weltkrieg beginnt.

3. September 1939

Großbritannien, Australien, Neuseeland und Frankreich erklären Deutschland den Krieg.

Oktober 1939

Westerbork nimmt seine ersten Internierten auf – jüdische Flüchtlinge aus Deutschland, die illegal in die Niederlande eingereist sind.

1940

Erwin, Grete und David heißen deutsch-jüdische Flüchtlinge in ihrem Amsterdamer Haus willkommen.

März 1940

Erwin wird Sozialarbeiter beim Komitee für jüdische Flüchtlinge.

Die Familie de Zoete

MIRJAM

Zunächst möchte ich Ihnen erzählen, wie das Leben meiner Familie vor dem Krieg aussah, bevor Deutschland Holland eroberte. Ich wurde in Indonesien geboren, wo mein Vater als Apotheker in der niederländischen Armee arbeitete. Meine mittlere Schwester heißt Judith und ist ein Jahr jünger als ich. Die nächste, Hadassah, ist zwei Jahre jünger. Der Name meiner Mutter lautet Sophia; sie wird Fifi genannt. Mein Vater heißt Hendrik Edward und wird Chaim genannt.

Mein Großvater Moses de Zoete wollte, dass sein Sohn Ingenieur wird, aber mein Vater wollte Apotheker werden. Moses weigerte sich, sein Studium zu bezahlen. Damals konnte man in Holland sein gesamtes Studium bezahlt bekommen, wenn man sich bereit erklärte, nach Indonesien zu gehen. Meine Eltern bestiegen 1930 ein Schiff und reisten durch den Suezkanal.

JUDITH

Meine Eltern heirateten 1929. Ihr erstgeborenes Kind kam tot zur Welt. Dann, 1931, wurde Mirjam geboren. Mirjam und ich wurden in Makassar geboren, der Hauptstadt von Celebes. Unser Pappie wurde nach Niederländisch-Indien geschickt (siehe GESCHICHTLICHE KURZDARSTELLUNG >> Niederländisch-Indien), und er trug eine Armeeuniform bei der Arbeit.

HADASSAH

Wir wurden alle in Indonesien geboren. Ich wurde in Banjarmasin geboren.

MIRJAM

Meine Schwestern hatten eine engere Beziehung, ich war mehr auf mich allein gestellt. Judith war das typische Mittelkind. Sie hatte das Gefühl, nicht so viel Aufmerksamkeit zu bekommen wie ich, die ältere, oder Hadassah, die jüngere. Dabei war sie eigentlich die Hübscheste und Klügste von uns dreien. Selbst heute denkt sie noch, dass sie zu kurz kommt, was vielleicht zum Teil auch stimmen mag. Hadassah war der Clown – sie brachte alle zum Lachen und setzte sich immer durch.

HADASSAH

Wir verließen 1936 Indonesien. Ich war drei, Judith vier und Mirjam fünf Jahre alt. Als wir nach Holland zurückkehrten, wohnten wir zuerst in einer Pension in Scheveningen, dann zogen wir in ein vierstöckiges Haus nach Blijdorp, Rotterdam, und danach nach Kralingen (einem Vorort von Rotterdam). Wir zogen deshalb dorthin, weil unsere Eltern wollten, dass wir auf eine Montessori-Schule gingen, von denen es nur eine in Rotterdam gab. Ich kann mich noch an meine Lehrerin in der ersten Klasse erinnern, eine alte Dame. Sie sagte immer: »Hadassah kann das noch besser, Hadassah kann das noch besser.« Das habe ich mein ganzes Leben lang gehört.

MIRJAM

Als die Dienstzeit meines Vaters zu Ende war, bekam er eine leitende Stelle als Pharmazeut bei der Stadt Rotterdam. Wir zogen in ein sehr hübsches Haus am Rande der Stadt – meine Eltern, wir drei Mädchen und eine Hausangestellte. Meine Schule war weit weg, und mein Vater brachte mich mit seinem Fahrrad dorthin. Ich saß dabei auf dem Lenker. Das habe ich geliebt. An manchen Tagen fuhr er mit mir zu einem Bauernhof. Er kaufte mir ein Eis, und wir schauten uns die Tiere an. Ich habe mich dadurch besonders gefühlt, weil ich die Einzige war, die diese Zeit mit ihm allein hatte. Als meine Schwestern und ich dann in dieselbe Schule gingen, war es zu weit für meinen Vater, mehr als ein Kind mitzunehmen. Also zogen wir in die Nähe, sodass wir zu Fuß zur Schule gehen konnten.

Fifi und Chaim, 1929

Judith und Mirjam, ca. 1934

Wir waren wirklich ziemlich unschuldig. Wir wohnten in einer sehr hübschen Straße in der Nähe eines Parks und eines Sees, der Kralingse Plas hieß. Um 18:00 Uhr aßen wir alle zusammen zu Abend, und um 19:00 Uhr gingen wir ins Bett. Wir hatten wirklich ein sehr nettes Leben vor dem Krieg.

MIRJAM

Hadassah, Mirjam und Judith, 1935

JUDITH

Unser Wohnzimmer war sehr gemütlich und hatte einen runden Esstisch. Mammie wartete dort auf uns mit einer kleinen Zwischenmahlzeit und einem heißen Getränk, wenn wir aus der Schule kamen. Wir wussten, dass dies unser Zuhause war. Wir drei Mädchen schliefen in einem Zimmer. Im dritten Stock waren eine Abstellkammer und ein Spielzimmer. Wir hatten rund um die Uhr eine Haushaltshilfe.

MIRJAM

Wir gingen nach draußen und spielten miteinander oder mit Freunden aus der Nachbarschaft – am liebsten fuhren wir Rollschuh, gingen auf Stelzen, spielten »Himmel und Hölle« und mit Murmeln. Wir durften eine halbe Stunde lang Radio hören, wenn Kinderlieder gesendet wurden. Natürlich gab es noch kein Fernsehen. Wir hatten einen Plattenspieler, und wir durften nur klassische Musik hören. Das ist bis heute meine Lieblingsmusik. Kurz vor dem Krieg sah ich einen Film, Schneewittchen. Wir waren wirklich ziemlich unschuldig. Wir wohnten in einer sehr hübschen Straße in der Nähe eines Parks und eines Sees, der Kralingse Plas hieß. Im Winter fror er zu, und wir liefen Schlittschuh. Meine Eltern fuhren nicht Schlittschuh, aber sie brachten uns dorthin. Es gab Buden mit Erbsensuppe und Pommes frites, die Petites frites genannt wurden. Um 18:00 Uhr aßen wir alle zusammen zu Abend, und um 19:00 Uhr gingen wir ins Bett. Wir hatten wirklich ein sehr nettes Leben vor dem Krieg.

HADASSAH

Am Sabbat sprach Pappie über den Zionismus und erklärte die Grundsätze auf der riesigen, wunderschönen Zeittafel, die die weltweite, die jüdische und die niederländische Geschichte zeigte: drei verschiedenfarbige Linien, die sich kreuzten, wenn die Geschichten zusammenfielen. Das hat mir nicht gefallen. Ich habe nie gern gelernt.

JUDITH

Pappie war ein ernster, bescheidener und intelligenter Mensch, der auch einen guten Sinn für Humor hatte. Er war ein guter Vater und gab uns ein Gefühl der Sicherheit. Er mischte sich nicht ein, sondern stellte eher Regeln auf, indem er mit gutem Beispiel voranging. Er fertigte für uns eine historische Zeittafel an, die sehr interessant war – schade, dass sie verloren gegangen ist. Das war ein prachtvolles Werk. Ich erinnere mich an das Arbeitszimmer meines Vaters, ein herrlicher Raum, sehr modern für die damalige Zeit, mit modernen skandinavischen Möbeln eingerichtet.

MIRJAM

Mein Vater war ein Philosoph. Er war Mitglied in einer Organisation, die Christen und Juden zusammenbrachte, um zu versuchen, Differenzen zu klären. Er war ein sehr stiller Mensch; wir fühlten uns wohl bei ihm. In dem Haus in Kralingen hatte er sein eigenes Zimmer. Wir durften nur dann hineingehen, wenn er uns darum bat.

Mein Vater vermittelte uns auf seine eigene ruhige Art, wenn ihm etwas wichtig war. Er brachte uns mit einem Instrument Musik bei, das er selbst aus Pfeifen gebaut hatte, die an einem Holzrahmen befestigt waren, wobei jede Pfeife etwas kleiner war als die davor. Er lehrte uns auch die Geschichte der Menschheit.

HADASSAH

Unsere Eltern erzählten uns immer eine Geschichte, bevor sie uns gute Nacht sagten. Manchmal tobten wir vor dem Schlafengehen wild herum, und Mammie sagte dann: »Chaim, go geef ze een draai om de oren.« Was so viel heißt wie: »Geh und gib ihnen eine Ohrfeige.« Doch die wortwörtliche Übersetzung lautet: »Geh und gib ihnen eine Drehung um die Ohren.« Also drehte Pappie seinen Finger um unsere Ohren, einer nach der anderen, statt wirklich mit uns böse zu sein. Wir liebten dieses Ritual.

Bevor Mammie Pappie kennenlernte und ihn heiratete, hatte sie schon lange nicht mehr zu Hause gelebt. Sie führte eine Art Künstlerleben in Amsterdam, wo sie viele Freundschaften schloss und interessante Menschen kennenlernte: Schriftsteller, Dichter – manche davon berühmt. Sie war Krankenschwester und muss sehr gut in ihrem Beruf gewesen sein, denn sie wurde Direktorin eines Kinderkrankenhauses. Sie nahm an Demonstrationen teil, meistens für feministische Anliegen, und stand in vorderster Reihe, was uns peinlich war.

MIRJAM

Meine Mutter schrieb gern, liebte das Lesen (insbesondere Gedichte), klassische Musik und war gut in Sprachen. Sie konnte sehr gut Räume einrichten. Bei der schrecklichen Grippeepidemie 1918 arbeitete sie in einem Krankenhaus. Sie arbeitete, bis sie heiratete – mit dreiunddreißig –, ungewöhnlich spät für die damalige Zeit.

Sie kam aus einer großen Familie und hatte sehr liberale Ideen. Wir waren keine Kommunisten, würde ich sagen, aber ganz bestimmt Sozialisten. Meine Eltern fühlten sich mit Israel sehr verbunden. Zwei von Mammies Brüdern lebten schon vor dem Krieg dort.

JUDITH

Mammie war eine warmherzige, intelligente und manchmal etwas kritische, hyperaktive Person. Sie war eine Vollzeitmutter – immer für uns da.

MIRJAM

Meine Mutter war ziemlich füllig. Ich dachte, alle Mütter müssten so sein, und bedauerte jeden, der eine dünne Mutter hatte, denn mit so jemandem konnte man nicht kuscheln. Als ich jung war, dachte ich, sie sei die beste Mutter, die ich haben könnte. In meiner Teenagerzeit änderte sich das. Sie war herrisch. Was sie sagte, wurde gemacht: das Hausmädchen, mein Vater und wir drei Mädchen hatten zu folgen.

HADASSAH

Mammie begann den Tag damit, uns allen Anweisungen zu geben.

FIFI

20. September 1938: Die Sommerferien waren sehr lang dieses Jahr. Eigentlich sollte die Schule am 8. September beginnen, nach den offiziellen Feierlichkeiten zum vierzigsten Thronjubiläum der Königin. Doch in den Ferien wurden mehr Fälle von Kinderlähmung verzeichnet als in den vorherigen Jahren, sodass das Gesundheitsamt es für ratsamer hielt, die Schulen weiterhin geschlossen zu halten.

Im August waren wir in Scheveningen. Die Mädchen freuen sich jedes Jahr auf das Meer. Sie erfinden neue Spiele, buddeln im Sand oder formen Kuchen und Hügel daraus. Das machen sie jeden Tag aufs Neue, aber ihnen wird nie langweilig.

Stehend, Dritte von links, in karierter Hemdbluse: Fifi, Utrecht, Juni 1927

(Fifi) führte eine Art Künstlerleben in Amsterdam, wo sie viele Freundschaften schloss und interessante Menschen kennenlernte: Schriftsteller, Dichter – manche davon berühmt. Sie nahm an Demonstrationen teil, meistens für feministische Anliegen, und stand in vorderster Reihe.

HADASSAH

Bevor wir nach Scheveningen fuhren, verbrachten wir einen ganzen Tag im Zoo. Das war herrlich für die drei Lieblinge. Danach fuhren wir zu einem Milchviehbetrieb und blieben dort den ganzen Nachmittag. Ich konnte sie nicht davon wegbekommen. Sie ließen sich erst umstimmen, als die Frau des Bauern versprach, dass die Mädchen wiederkommen dürften.

Mirjam hatte Geburtstag in den Ferien – wir haben ihr ein neues Fahrrad geschenkt!

Judith kämpft mehr denn je mit sich selbst und der Welt um sie herum. Es ist schwer, das Taktgefühl und den richtigen Ton bei ihrem Konflikt zu finden. Das Komische daran ist, dass ich mich in ihr wiedererkenne, wenn ich zurückblicke – wie ich mich als Kind gefühlt haben muss. Sie will immer alles als Erste haben und ist nur glücklich, wenn sie das schafft, und unglücklich, wenn sie es nicht schafft. Judith glaubt, dass sie weniger »bekommt, hat und erlebt« als die anderen Kinder. Sie hat immer das Gefühl, zu kurz zu kommen.

Wir haben auch beide Großmütter besucht (Chaims Mutter Naatje und meine Mutter Goldine, die die Mädchen Moeke nennen), was die Mädchen genossen haben. Da Moeke ein ganzes Haus zur Verfügung hat, einschließlich eines großen Gartens, waren sie lieber bei ihr. Außerdem lieben die Mädchen meinen Bruder Hans, womit dieser Ort sehr viele schöne Dinge in sich vereint.

Meine Nichte Mirjam de Lange verbrachte auch fünf Tage bei uns. Meine Töchter kommen sehr gut mit ihr aus. Sie ist wirklich ein sehr nettes Mädchen, nur unglaublich unordentlich, was meine Töchter besser verstanden als ich. Meine Nichte, Mirjam und Judith fuhren einen Tag zu Tante Annie. Ich brachte sie zur Straßenbahn, und Annie holte sie ab. Am Nachmittag las ich sie wieder vom Dachgarten des Kaufhauses De Bijenkorf auf. Die Mädchen hatten wieder einen wunderbaren Tag. Sie gingen sogar segeln.

HADASSAH

Die Familie, die wir vor dem Krieg am häufigsten besuchten, war Mammies ältere Schwester Annie, die vier Söhne hatte – Harry, Bob, Sally (Salomon) und Bernhard. Annies Ehemann hieß Jacques. Mammies ältere Schwester, Jet, lebte in Den Haag. Wir mochten ihren Mann Karel nicht besonders. Genau genommen hatten wir ein bisschen Angst vor ihm.

MIRJAM

Der Vater meiner Mutter starb, bevor ich geboren wurde. Meine Großmutter Moeke war danach nicht mehr religiös, wie auch sieben ihrer acht Kinder nicht. Wir feierten das Pessach mit meiner Tante Annie Maarssen, weil sie die Religiöse in der Familie war. Ich fuhr gern dorthin. Sie hatte vier Jungen, alle älter als ich, die mich nach Strich und Faden verwöhnten. Ich liebte das Essen, die Geschichte und all die Rituale, die mit Pessach verbunden waren. Ich besuchte auch gern die ältere Schwester meiner Mutter, Jet, die zwei Mädchen hatte, Mirjam (die genauso hieß wie ich) und Hetty. Mirjam war ein Jahr älter und klärte mich in all dem auf, wovon ich keine Ahnung hatte – wie zum Beispiel Jungs. Das waren die Cousins und Cousinen, denen ich am nächsten stand. Die vier Jungen und die beiden Mädchen.

In der Schule gab es nur ein oder zwei jüdische Kinder. Erst mit Beginn des Kriegs kam es zur Trennung zwischen jüdisch und nichtjüdisch. Ich fing an, mich anders zu fühlen, als die Deutschen mir dieses Gefühl gaben. Bis dahin wusste ich nicht, dass ich mich überhaupt irgendwie von den anderen unterschied. Ich erlebte nie Antisemitismus. Ich war einfach nur ein holländisches Mädchen, das zufällig Chanukka statt Weihnachten feierte. (siehe GESCHICHTLICHE KURZDARSTELLUNG >> Antisemitismus in den Vorkriegsniederlanden.)

Fifi und ihre Geschwister, ca. 1929

Vorn, von links nach rechts: Beresh, Hans (ermordet, Dachau), Annie (ihre vier Söhne ermordet, Auschwitz) und Jet (ermordet mit ihrem Mann und beiden Töchtern, Sobibor)

Hinten, von links nach rechts: Ben, Lolo, Fifi und Sam (ermordet, irgendwo in Polen)