Unsre verschwundenen Herzen - Celeste Ng - E-Book
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Unsre verschwundenen Herzen E-Book

Celeste Ng

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Beschreibung

Über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt Der zwölfjährige Bird lebt mit seinem Vater in Harvard. Seit einem Jahrzehnt wird ihr Leben von Gesetzen bestimmt, die nach Jahren der wirtschaftlichen Instabilität und Gewalt die »amerikanische Kultur« bewahren sollen. Vor allem asiatisch aussehende Menschen werden diskriminiert, ihre Kinder zur Adoption freigegeben. Als Bird einen Brief von seiner Mutter erhält, macht er sich auf die Suche. Er muss verstehen, warum sie ihn verlassen hat. Seine Reise führt ihn zu den Geschichten seiner Kindheit, in Büchereien, die der Hort des Widerstands sind, und zu seiner Mutter. Die Hoffnung auf ein besseres Leben scheint möglich. Eine genauso spannende wie berührende Geschichte über die Liebe in einer von Angst zerfressenen Welt. Unter den besten Büchern des Jahres 2022 u.a. in People, TIME Magazine, The Washington Post, Los Angeles Times und Oprah Daily Ebenfalls von Celeste Ng bei dtv erschienen sind: ›Was ich euch nicht erzählte‹  ›Kleine Feuer überall‹, die Romanvorlage zur Amazon-Serie ›Little Fires Everywhere‹

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Seitenzahl: 446

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Celeste Ng

Unsre verschwundenen Herzen

Roman

Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit

Für meine Familie

In den schrecklichen Jahren unter Jeshov habe ich siebzehn Monate schlangestehend vor dem Gefängnis in Leningrad verbracht …

Hinter mir stand eine Frau, die Lippen blau vor Kälte …

Plötzlich erwachte sie aus der uns allen eigenen Erstarrung und fragte mich flüsternd (dort sprachen alle flüsternd):

»Das können Sie beschreiben?«

Und ich sagte: »Ja.«

Da glitt etwas wie ein Lächeln über das, was einmal ihr Gesicht gewesen war.

Anna Achmatowa, Requiem 1935–1940

Aber PACT ist mehr als ein Gesetz. Es ist ein Versprechen, das wir einander geben: ein Versprechen, unsere amerikanischen Ideale und Werte zu schützen; ein Versprechen, dass Menschen, die unser Land durch unamerikanische Ideen schwächen, mit Konsequenzen rechnen müssen.

– aus: Alles über PACT.

Ein Handbuch für junge Patrioten

1

Der Brief kommt an einem Freitag. Natürlich aufgerissen und wieder versiegelt mit einem Aufkleber, wie alle Briefe: Geprüft zu Ihrer Sicherheit – PACT. Auf dem Postamt hatte er zunächst für Verwirrung gesorgt, als der Beamte den Bogen entfaltet, ihn geprüft, an seinen Vorgesetzten, dann an den Chef weitergereicht hatte. Doch am Ende wurde er für harmlos befunden und weitergeleitet. Kein Absender, nur ein New Yorker Poststempel, sechs Tage alt. Auf dem Umschlag sein Name – Bird –, und deshalb weiß er, der Brief ist von seiner Mutter.

 

Er ist schon lange nicht mehr Bird.

Wir haben dich Noah genannt, nach dem Vater deines Vaters, erzählte ihm seine Mutter einmal. Bird war allein deine Erfindung.

Das Wort, das sich, wenn er es aussprach, nach ihm anfühlte. Etwas, das nicht auf die Erde gehörte, ein kleines schnelles Ding. Ein neugieriges Zwitschern, ein Wesen mit aufwärts gebogenen Schwingen.

Der Schule hatte das nicht gepasst. Bird ist kein Name, fand man dort, er heißt Noah. Seine Vorschullehrerin schäumte: Er reagiert nicht, wenn ich ihn aufrufe. Er reagiert nur auf Bird.

Weil Bird nun mal sein Name ist, sagte seine Mutter. Er reagiert auf Bird, deshalb schlage ich vor, Sie nennen ihn so, Geburtsurkunde hin oder her. Auf jedem Arbeitsblatt, das er mit nach Hause brachte, hatte sie mit einem Filzstift Noah durchgestrichen und auf die punktierte Linie Bird geschrieben.

So war seine Mutter: beeindruckend und unnachgiebig, wenn ihr Kind in Bedrängnis war.

Am Ende gab die Schule klein bei, auch wenn die Lehrerin Bird stets in Anführungszeichen schrieb, wie den Spitznamen eines Gangsters. Lieber »Bird«, bitte vergiss nicht, deine Mutter den Erlaubnisschein unterschreiben zu lassen. Liebe Mr. und Mrs. Gardner, »Bird« ist respektvoll und fleißig, sollte sich aber stärker am Unterricht beteiligen. Erst, als er neun war und seine Mutter verschwand, wurde er wieder Noah.

Sein Vater sagt, so sei es am besten, und lässt nicht mehr zu, dass man ihn Bird nennt.

Wenn dich jemand so nennt, sagt er, dann verbesserst du ihn und sagst: Tut mir leid, nein, so heiße ich nicht.

Es war eine von vielen Veränderungen, die nach dem Verschwinden seiner Mutter stattfanden. Eine neue Wohnung, eine neue Schule, eine neue Arbeitsstelle für seinen Vater. Ein vollkommen neues Leben. Als wollte sein Vater sich und Bird komplett umkrempeln, damit seine Mutter, sollte sie je zurückkommen, nicht einmal wüsste, wo sie ihn und seinen Vater finden könnte.

Im vergangenen Jahr war er auf dem Heimweg seiner Vorschullehrerin begegnet. Hallo, Noah, sagte sie, wie geht’s dir denn?, und er hätte nicht sagen können, ob ihre Stimme selbstgefällig oder mitfühlend klang.

Inzwischen ist er zwölf und seit drei Jahren Noah, aber Noah fühlt sich immer noch wie eine Halloween-Maske an, gummiartig und unangenehm, etwas, das nicht richtig sitzt.

 

Und nun, aus heiterem Himmel: ein Brief von seiner Mutter. Die Handschrift sieht aus wie ihre – außerdem würde ihn niemand so nennen. Bird. Nach all den Jahren vergisst er manchmal ihre Stimme, und wenn er versucht, sie sich in Erinnerung zu rufen, entgleitet sie wie ein Schatten und löst sich in Dunkelheit auf.

Mit zitternden Händen öffnet er den Brief. Drei Jahre ohne ein einziges Wort, aber gleich wird er es erfahren. Warum sie ging. Wo sie gewesen ist.

Doch darin: nur eine Zeichnung. Ein Blatt Papier, von Rand zu Rand bedeckt mit Zeichnungen, nicht größer als ein Zehncentstück: Katzen. Große Katzen, kleine Katzen, gestreifte, dreifarbige und schwarz-weiße Katzen, die frech dasitzen, sich die Pfoten lecken und in der Sonne räkeln. Eigentlich nur Kritzeleien, wie seine Mutter sie vor vielen Jahren auf seine Lunchtüten zeichnete, wie er sie heute manchmal in seine Schulhefte zeichnet. Kaum mehr als ein paar bogenförmige Linien, aber erkennbar. Lebendig. Mehr nicht – keine Nachricht, kein Wort, nur Katze um Katze in Kugelschreiberschnörkeln. Irgendetwas rührt sich in seinem Unterbewusstsein, aber er kriegt es nicht zu fassen.

Er dreht das Blatt um, sucht nach Hinweisen, doch die Rückseite ist leer.

 

Hast du noch Erinnerungen an deine Mutter?, hatte Sadie ihn einmal gefragt. Sie waren auf dem Spielplatz, auf dem Klettergerüst, vor ihnen die gähnende Rutsche. Fünfte Klasse, das letzte Jahr mit Pause. Inzwischen waren sie zu groß für die Spielgeräte, die für kleine Kinder gedacht waren. Auf der anderen Seite des Asphalts beobachteten sie ihre Mitschüler, die Verstecken spielten: Eins, zwei, drei, vier … ich komme.

In Wahrheit hatte er noch Erinnerungen an sie, aber er wollte mit niemandem darüber sprechen, auch nicht mit Sadie. Dass sie keine Mutter hatten, schweißte sie zusammen, aber ihre Geschichten und die ihrer Mütter unterschieden sich.

Nicht viele, hatte er geantwortet, hast du noch viele Erinnerungen an deine?

Sadie umklammerte die Stange über der Rutsche und zog sich hoch, als machte sie einen Klimmzug.

Nur, dass sie eine Heldin war, sagte sie.

Bird schwieg. Jeder wusste, dass man Sadies Eltern für ungeeignet erachtet hatte, sie zu erziehen, und so war sie bei ihrer Pflegefamilie und in dieser Schule gelandet. Es kursierten alle möglichen Gerüchte über ihre Eltern: dass die beiden, obwohl Sadies Mutter schwarz und ihr Vater weiß war, chinesische Sympathisanten waren und Verrat an Amerika begingen. Auch über Sadie gab es alle erdenklichen Geschichten: dass sie, als die Beamten kamen, um sie abzuholen, einen gebissen hatte und schreiend zu ihren Eltern zurückgerannt war, und man sie in Handschellen hatte wegbringen müssen. Dass dies nicht ihre erste Pflegefamilie war, dass man sie mehr als einmal neu untergebracht hatte, weil sie so viel Ärger machte. Dass ihre Eltern, auch nachdem man ihnen Sadie weggenommen hatte, weiterhin versuchten, PACT zu stürzen, als wäre es ihnen egal, ob sie ihre Tochter zurückbekamen; dass man sie verhaftet hatte und sie irgendwo im Gefängnis saßen. Bird vermutete, dass es auch über ihn Geschichten gab, aber er wollte davon lieber nichts wissen.

Wenn ich alt genug bin, fuhr Sadie fort, gehe ich jedenfalls zurück nach Baltimore und suche sie.

Sadie war ein Jahr älter als Bird, auch wenn sie in dieselbe Klasse gingen, und sie ließ ihn das nie vergessen. Musste ein Jahr wiederholen, tuschelten die Eltern mitleidig, wenn sie ihren Nachwuchs von der Schule abholten. Wegen ihrer Kinderstube. Aber bei der würde auch ein Neuanfang nichts bringen.

Und wie willst du das anstellen?, hatte Bird gefragt.

Sadie antwortete nicht, und nach einer Weile ließ sie die Stange los und kauerte sich neben ihn, ein kleines trotziges Bündel. Im folgenden Jahr, kurz vor Schulschluss, verschwand Sadie – und jetzt, in der siebten Klasse, ist Bird wieder ganz allein.

 

Es ist kurz nach fünf: Sein Vater wird bald nach Hause kommen, und wenn er den Brief sieht, wird er Bird zwingen, ihn zu verbrennen. Sie besitzen nichts mehr von seiner Mutter, nicht einmal ihre Kleider. Nach ihrem Verschwinden verbrannte sein Vater ihre Bücher im Kamin, zerschmetterte das Handy, das sie nicht mitgenommen hatte, alles andere packte er auf einen Haufen am Straßenrand. Vergiss sie, hatte er gesagt. Am nächsten Morgen hatten Leute, die auf der Straße lebten, den Haufen abgeräumt. Und als sie ein paar Wochen später in ihre Wohnung auf dem Campus zogen, hatten sie sogar das Doppelbett seiner Eltern zurückgelassen. Jetzt schläft sein Vater in einem Einzelbett, in der Koje unter Bird.

Er sollte den Brief verbrennen. Etwas von ihr zu behalten ist nicht sicher. Hinzu kommt: Wenn er seinen Namen, seinen alten Namen, auf dem Umschlag sieht, öffnet sich in seinem Inneren eine Tür, und ein Luftzug stiehlt sich herein. Manchmal, wenn er schlafende Gestalten zusammengekauert auf dem Gehsteig sieht, mustert er sie von oben bis unten, auf der Suche nach etwas Vertrautem. Hin und wieder entdeckt er etwas – einen gepunkteten Schal, ein rot geblümtes Kleid, eine über die Augen gezogene Wollmütze –, und dann ist er kurz überzeugt, sie ist es. Es ist einfacher, wenn sie für immer fort ist, wenn sie nie zurückkommt.

Der Schlüssel seines Vaters kratzt am Schlüsselloch, ertastet seinen Weg durch das rostige Metall.

Bird rennt ins Schlafzimmer, hebt die Decken hoch und steckt den Brief zwischen Kissen und Bezug.

Er hat nicht mehr viele Erinnerungen an seine Mutter, aber eins weiß er: Sie hatte immer einen Plan. Sie hätte sich nicht die Mühe gemacht, ihre neue Adresse herauszufinden, und das Risiko auf sich genommen, ihm zu schreiben, wenn sie keinen Grund gehabt hätte. Der Brief musste also etwas bedeuten. Das sagt Bird sich immer wieder.

 

Sie hat uns verlassen, mehr wollte sein Vater nicht sagen.

Dann ging er vor Bird in die Hocke und schaute ihm in die Augen: So ist es am besten. Vergiss sie. Ich bleibe bei dir, mehr musst du nicht wissen.

Damals hatte Bird keine Ahnung, was sie getan hatte. Er wusste nur, dass er wochenlang die gedämpften Stimmen seiner Eltern in der Küche gehört hatte, lange nachdem er eigentlich schlafen sollte. Meistens war es ein tröstliches Murmeln, das ihn nach wenigen Minuten einschläferte, ein Zeichen, dass alles gut war. Doch in der letzten Zeit war es ein ständiges Tauziehen gewesen: erst die Stimme seines Vaters, dann die seiner Mutter, entschlossen, durch die Zähne gepresst.

Schon damals hatte er begriffen, dass es besser war, keine Fragen zu stellen. Er hatte nur genickt und sich von seinem Vater warm und fest in die Arme nehmen lassen.

Erst später erfuhr er die Wahrheit, sie wurde ihm auf dem Spielplatz wie ein Stein an die Wange geschleudert: Deine Mutter ist eine Verräterin. Dann spuckte D.J. Pierce vor Birds Turnschuhen auf den Boden.

Jeder wusste, dass seine Mutter eine Person of Asian Origin war. Kung-PAOs nannten sie manche Kinder. Das war nichts Neues. Man sah es, wenn man Bird ins Gesicht schaute: Alles, was ein wenig von seinem Vater abwich, die Neigung der Wangenknochen, die Form der Augen. PAO zu sein, versicherten die Behörden, war an sich kein Verbrechen. Bei PACT geht es nicht um ethnische Zugehörigkeit, behauptete der Präsident stets, sondern um Patriotismus und Gesinnung.

Aber deine Mutter hat Unruhe gestiftet, sagte D.J. Das weiß ich von meinen Eltern. Sie war eine Gefahr für die Gesellschaft, und die Behörden waren hinter ihr her, deswegen ist sie abgehauen.

Sein Vater hatte ihn gewarnt. Die Leute werden alles Mögliche sagen, hatte er Bird erklärt. Konzentrier dich einfach auf die Schule. Du sagst, wir haben nichts mit ihr zu tun. Du sagst, sie gehört nicht mehr zu meinem Leben.

Und das hatte er getan.

Wir haben nichts mit ihr zu tun, mein Vater und ich. Sie gehört nicht mehr zu meinem Leben.

Innerlich zog sich ihm das Herz zusammen. D.J.s Speichel, glänzend und schaumig auf dem Asphalt.

 

Als sein Vater in die Wohnung tritt, sitzt Bird mit seinen Schulbüchern am Tisch. An einem normalen Tag würde er aufspringen und ihn von der Seite umarmen. Heute denkt er noch an den Brief, kauert über seinen Hausaufgaben und meidet den Blick seines Vaters.

Der Fahrstuhl ist wieder kaputt, sagt sein Vater.

Sie wohnen im obersten Stock eines Studentenwohnheims, zehn Etagen hoch. In einem neueren Gebäude zwar, aber die Universität ist so alt, dass auch die neueren Gebäude unmodern sind.

Wir waren schon da, bevor die Vereinigten Staaten ein Land wurden, sagt sein Vater gern. Er spricht von wir, als gehörte er noch zur Fakultät, dabei unterrichtet er schon seit Jahren nicht mehr. Jetzt arbeitet er in der College-Bibliothek, verwaltet Unterlagen, ordnet Bücher in die Regale ein, und die Wohnung wird von der Uni gestellt. Bird ist klar, das ist ein Vorteil, weil der Stundenlohn seines Vaters gering und das Geld knapp ist, aber er sieht das Ganze nicht als Gewinn. Vorher hatten sie in einem Haus mit Garten gelebt. Jetzt haben sie zwei winzige Zimmer in einem Studentenwohnheim: ein Schlafzimmer, das er und sein Vater sich teilen, ein Wohnzimmer mit einer Kochnische an einem Ende. Ein Herd mit zwei Kochplatten; ein Minikühlschrank, zu klein, um eine Packung Milch aufrecht hineinzustellen. Unter ihnen kommen und gehen die Studierenden; jedes Jahr haben sie neue Nachbarn, und bis sie die Gesichter kennen, sind sie schon wieder weg. Im Sommer gibt es keine Klimaanlage, im Winter läuft die Heizung auf Hochtouren. Und wenn der störrische Fahrstuhl nicht geht, bleibt nur die Treppe.

Nun ja, sagt sein Vater. Er greift zum Knoten seiner Krawatte und lockert ihn. Ich gebe dem Hausmeister Bescheid.

Bird schaut weiter auf seine Unterlagen, aber er spürt den Blick seines Vaters auf sich ruhen. Er wartet darauf, dass Bird aufblickt. Bird traut sich nicht.

Die heutige Hausaufgabe im Englischunterricht: Erkläre in einem Absatz, wofür PACT steht und warum es für unsere nationale Sicherheit von existenzieller Bedeutung ist. Nenne drei konkrete Beispiele. Er weiß genau, was er schreiben sollte; sie lernen es jedes Jahr in der Schule. Der Preserving American Culture and Traditions Act, PACT, das Gesetz zur Erhaltung amerikanischer Kultur und Traditionen. In der Vorschule nannten sie es ein Versprechen: Wir versprechen, die amerikanischen Werte zu schützen. Wir versprechen, aufeinander aufzupassen. Jedes Jahr lernen sie das Gleiche, nur in bombastischeren Worten. In diesen Unterrichtsstunden sahen die Lehrer Bird oft ziemlich demonstrativ an, und dann richteten sich auch die Blicke der Mitschüler auf ihn.

Er schiebt den Aufsatz beiseite und konzentriert sich stattdessen auf Mathe: Angenommen, das Bruttosozialprodukt Chinas beträgt 15 Billionen Dollar und es wächst 6 % pro Jahr. Wenn das Bruttosozialprodukt Amerikas 24 Billionen Dollar beträgt, aber nur 2 % pro Jahr wächst, wie viele Jahre dauert es dann, bis das Bruttosozialprodukt Chinas höher ist als das Amerikas? Wenn es um Zahlen geht, ist es einfacher. Da kann er sicher sein, was richtig und falsch ist.

Alles in Ordnung, Noah?, fragt sein Vater, und Bird nickt, zeigt vage auf sein Schulheft.

Nur jede Menge Hausaufgaben, erwidert er, und sein Vater, offenbar zufrieden, geht ins Schlafzimmer und zieht sich um.

Bird rechnet weiter und zeichnet ein ordentliches Kästchen um die Endsumme. Es hat keinen Sinn, seinem Vater von seinem Tag zu erzählen: Jeder Tag verläuft gleich. Der immer gleiche Weg zur Schule. Der Treueschwur, die Hymne, von einem Klassenzimmer ins nächste schlurfen, mit gesenktem Kopf, um im Flur keine Aufmerksamkeit zu erregen, nie die Hand heben. An den besten Tagen ignorieren ihn die anderen; an den meisten Tagen hackt man auf ihm herum oder bemitleidet ihn. Er weiß nicht, was er mehr verabscheut, aber für beides schiebt er die Schuld auf seine Mutter.

Es hat auch wenig Sinn, seinen Vater zu fragen, wie sein Tag war. Soweit er weiß, verlaufen auch die Tage seines Vaters nach dem immer gleichen Muster: den Wagen durch die Magazine schieben, ein Buch an seinen Platz stellen, wiederholen. Zurück in den Hauptraum, wo der nächste Wagen wartet. Sisyphusarbeit, sagte sein Vater, als er in der Bibliothek anfing. Früher unterrichtete er Linguistik; er liebt Bücher und Wörter, spricht sechs Sprachen fließend, kann weitere acht lesen. Er erzählte Bird die Geschichte von Sisyphos, der unermüdlich denselben Stein einen Berg hochrollt. Sein Vater liebt Mythen und obskure lateinische Stämme, und Wörter, die so lang sind, dass man sie üben musste, bevor man sie runterleiern konnte wie einen Rosenkranz. Oft unterbrach er seine Sätze, um einen komplizierten Begriff zu erklären – dann schweifte er von seinem Gedankengang ab, um Bird auf Umwegen die Herkunft eines Wortes zu erklären, seine ganze Lebensgeschichte, samt Geschwistern und Cousinen. Legte jede einzelne Bedeutungsebene frei. Auch Bird hatte das gemocht, früher, als er noch jünger war, als sein Vater noch Professor, seine Mutter noch bei ihnen und alles anders war. Als er noch geglaubt hatte, Geschichten könnten alles erklären.

Inzwischen spricht sein Vater nicht mehr oft über Wörter. Die langen Tage in der Bibliothek ermüden ihn, man sieht es an seinen Augen; er kommt nach Hause, umgeben von einer Stille, als hätten sich die kühle süßlich-muffige Luft und die allgegenwärtige Düsternis der Bibliothek, gegen die auch das einzige Licht in jedem Gang wenig ausrichten kann, in ihn eingesogen. Bird fragt ihn auch nicht, aus demselben Grund, weshalb sein Vater nicht gern über seine Mutter spricht: Beide möchten lieber nicht vermissen, was sie nicht zurückbekommen können.

 

Aber: Sie kehrt in plötzlich aufleuchtenden Bildern zurück. Wie Fetzen eines flüchtig erinnerten Traums.

Ihr Lachen, überraschend wie das Bellen eines Seehunds, ein rauer Ausbruch, bei dem sie den Kopf zurückwarf. Nicht ladylike nannte sie es, fast ein wenig stolz. Die Art, wie sie beim Nachdenken mit den Fingern trommelte, ihre Gedanken so ruhelos, dass sie nicht stillsitzen konnte. Und: spätnachts, Bird mit einer schlimmen Erkältung. Verschwitzt erwacht er aus dem Schlaf, panisch, hustend und weinend, die Brust voll heißem Schleim. Bestimmt würde er sterben. Seine Mutter, die ein Handtuch über den Lampenschirm hängt, sich an ihn schmiegt, ihre kühle Wange an seine Stirn legt. Ihn hält, bis er einschläft, ihn die ganze Nacht hält. Jedes Mal, wenn er halb aufwachte, lagen ihre Arme noch um ihn, und die Angst, die wie etwas Zerzaustes in ihm aufstieg, wurde wieder glatt und geschmeidig.

 

Gemeinsam sitzen sie am Tisch, Bird klopft mit einem Bleistift auf sein Arbeitsblatt, sein Vater blättert eifrig die Zeitung durch. Alle anderen holen sich ihre Nachrichten online, scrollen durch die Top News, ziehen beim ding einer Eilmeldung ihr Handy aus der Tasche. Auch sein Vater hatte das früher getan, doch nach ihrem Umzug hatte er sein Handy und den Laptop aufgegeben. Ich bin eben altmodisch, sagte er, als Bird fragte. Inzwischen liest er die Zeitung von vorne bis hinten. Jedes Wort, sagt er, an jedem einzelnen Tag. Das Einzige, womit er sich brüstet. Bei den Matheaufgaben versucht Bird, nicht in Richtung Schlafzimmer zu schielen, wo der Brief in Lauerstellung liegt. Stattdessen liest er die Schlagzeile auf der Titelseite, die ihn vor seinem Vater abschirmt. BÜRGERWEHRVEREITELTMÖGLICHENAUFSTANDINWASHINGTON.

Bird rechnet. Wenn ein koreanisches Auto 15.000 Dollar kostet, aber nur 3 Jahre hält, während ein amerikanisches Auto 20.000 Dollar kostet, aber 10 Jahre hält, wie viel würde dann im Laufe von 50 Jahren gespart, wenn nur amerikanische Autos gekauft würden? Wenn sich ein Virus exponentiell in einer Bevölkerung von zehn Millionen Menschen ausbreitet und seine Wachstumsrate sich jeden Tag verdoppelt –

Auf der anderen Seite des Tisches dreht sein Vater die Zeitung um.

Bleibt nur noch der Aufsatz übrig. Stockend arbeitet sich Bird durch die Aufgabe, formuliert Wort für Wort einen schiefen Absatz. PACT ist ein sehr wichtiges Gesetz, das die Krise beendete und unserem Land Sicherheit beschert, weil –

Er ist erleichtert, als sein Vater die Zeitung zusammenfaltet und auf die Uhr sieht, denn jetzt kann er den Aufsatz unterbrechen und den Bleistift weglegen.

Fast halb sieben, sagt sein Vater. Komm, wir gehen was essen.

 

Sie überqueren die Straße zur Mensa. Ein weiterer angeblicher Vorteil der neuen Stelle: Niemand muss kochen; praktisch für einen alleinerziehenden Vater. Wenn sie durch eine unvorhergesehene Verzögerung die Essensausgabe verpassen, schustert sein Vater etwas zusammen – eine blaue Packung Makkaroni aus dem Schrank; eine kärgliche Mahlzeit, nach der sie beide noch hungrig sind. Bevor seine Mutter ging, hatten sie zu dritt am Tisch gesessen, seine Eltern plaudernd und lachend, danach hatte seine Mutter beim Geschirrspülen leise gesungen und sein Vater abgetrocknet.

Sie wählen einen Platz in der hinteren Ecke der Mensa, wo sie ungestört sind. Ringsum scharen sich Studenten in Zweier- und Dreiergruppen, das leise Murmeln ihrer Unterhaltungen zieht wie ein Luftstrom durch den Raum. Bird kennt keinen mit Namen und nur wenige Gesichter; er pflegt anderen nicht in die Augen zu sehen. Geh einfach weiter, sagt sein Vater oft, wenn Passanten sie anstarren, ihre Blicke wie Tausendfüßler auf Birds Gesicht. Bird ist dankbar, dass er die Studierenden nicht anlächeln, ihnen nicht zunicken oder mit ihnen reden muss. Auch sie kennen ihn nicht namentlich, außerdem sind sie am Jahresende ohnehin alle wieder verschwunden.

Sie sind mit dem Essen fast fertig, als draußen ein Tumult entsteht. Eine Rangelei und ein Krachen, dann quietschende Reifen. Sirenen.

Bleib sitzen, sagt Birds Vater. Er eilt ans Fenster zu den Studierenden, die sich dort bereits versammelt haben, und späht nach draußen. An den Tischen wird das Essen auf den stehen gelassenen Tellern kalt. Blau-weiße Lichter flackern über Decke und Wände. Bird steht nicht auf. Was immer draußen los ist, es wird vorbeigehen. Halte dich von Ärger fern, schärft ihm sein Vater regelmäßig ein, und damit meint er alles, was Aufmerksamkeit erregt. Wenn du siehst, dass es Ärger gibt, sagte sein Vater einmal, läufst du in die andere Richtung. So ist sein Vater: Er schleppt sich durchs Leben, Kopf gebeugt.

Doch das Murmeln in der Mensa wird lauter. Wieder Sirenen, noch mehr Lichter, die an der Decke monströs und drohend anschwellen. Draußen ein Durcheinander wütender Stimmen und das Gerangel von Körpern, Stiefel auf Asphalt. So etwas hat er noch nie gehört, und insgeheim will er zum Fenster rennen, hinausschauen und sehen, was da passiert. Gleichzeitig will er unter den Tisch kriechen und sich verstecken wie das kleine ängstliche Wesen, das er plötzlich in sich erkennt. Von der Straße meldet sich ein kratziges Megafon: Hier ist die Polizei von Cambridge. Bitte bringen Sie sich in Sicherheit. Halten Sie sich bis auf Weiteres von den Fenstern fern.

Die Studenten hasten an ihre Tische zurück, und Penny, die Chefin der Mensa, eilt an den Fenstern entlang und zerrt die Vorhänge zu. Die Luft kribbelt vor Geflüster. Bird stellt sich draußen einen wütenden Mob vor, Barrikaden aus Müll und Möbeln, Molotow-Cocktails und Flammen. Sämtliche Fotos von der Krise, die sie in der Schule betrachtet haben, erwachen zum Leben. Er presst sein zitterndes Knie ans Tischbein, bis sein Vater zurückkommt, und dann wandert das Zittern in ihm in seine hohle Brust.

Was ist los?, fragt Bird.

Sein Vater schüttelt den Kopf.

Irgendeine Störung, sagt er. Ich glaube – Und dann, als er Birds große Augen sieht: Alles ist gut, Noah. Die Ordnungskräfte sind da. Sie haben alles im Griff.

 

Während der Krise kam es ständig zu Störungen; solange er zurückdenken kann, haben sie das in der Schule gelernt. Alle ohne Arbeit, stillgelegte Fabriken, Engpässe bei allem Möglichen; Banden hatten Geschäfte geplündert und in den Straßen randaliert, ganze Viertel in Brand gesetzt. Die Nation wie gelähmt im Chaos.

Es war unmöglich, hatte sein Sozialkundelehrer gesagt, ein produktives Leben zu führen.

Dann hatte er das nächste Bild auf dem Whiteboard eingeblendet: Straßen in Trümmern, eingeschlagene Fenster. Ein Panzer mitten auf der Wall Street. Unter dem Gateway Arch in St. Louis stieg in orangefarbenem Dunst Rauch auf.

Aus diesem Grund, meine jungen Damen und Herren, könnt ihr euch glücklich schätzen, in einer Zeit zu leben, in der PACT dafür gesorgt hat, dass störende Proteste der Vergangenheit angehören.

Und es stimmt, seit Birds Geburt kam es kaum noch zu Störungen. Seit über einem Jahrzehnt ist PACT als Gesetz in Kraft, verabschiedet mit überwältigender Mehrheit im Repräsentantenhaus und im Senat, unterzeichnet vom Präsidenten in Rekordgeschwindigkeit. Die häufigen Umfragen zeigen noch immer große öffentliche Unterstützung.

Allerdings: Im Laufe der vergangenen Monate kam es überall zu seltsamen Vorfällen – keine Streiks, Demonstrationen und Tumulte wie bei den Störungen, von denen sie im Unterricht gehört hatten, sondern etwas Neues. Merkwürdige und scheinbar sinnlose Verrücktheiten, zu grotesk, um nicht darüber zu berichten, alle anonym durchgeführt, alle auf PACT gemünzt. In Memphis leerten vermummte Gestalten einen Kipplaster mit Tischtennisbällen in den Fluss und ließen auf ihrer Flucht eine Wolke aus weißen Kugeln hinter sich zurück. Auf jeder war ein kleines rotes Herz über den Worten ENDPACT gezeichnet. Erst vergangene Woche hatten zwei Drohnen ein Banner über der Brooklyn Bridge entrollt. Die Aufschrift: FUCKPACT. Keine halbe Stunde später hatte die Staatspolizei die Brücke geschlossen, eine hydraulische Bühne zu den Steintürmen gebracht und es entfernt – aber Bird hat die Fotos gesehen, die mit Handys geschossen und ins Internet gestellt worden waren; sämtliche Nachrichtensender und Newsseiten hatten sie gebracht, und sogar einige Zeitungen. Das große Banner mit dem kühnen schwarzen Schriftzug und darunter ein unscharfes rotes Herz wie ein Blutspritzer.

In New York entstand durch die Schließung der Brücke ein stundenlanges Verkehrschaos: Die Leute posteten Videos von endlosen Autoschlangen, eine Kette roter Lichter, die sich in die Nacht erstreckte. Wir kamen erst um Mitternacht nach Hause, erklärte ein Autofahrer Reportern. Unter seinen Augen dunkle Ringe wie diffuser Rauch. Im Grunde genommen wurden wir als Geiseln genommen, keiner wusste, was vor sich ging – im Ernst, der reinste Terror. In den Nachrichten wurden das verschwendete Benzin berechnet, das ausgestoßene Kohlenstoffmonoxid, die wirtschaftlichen Kosten der verlorenen Stunden. Gerüchten zufolge fand man im Mississippi immer noch treibende Tischtennisbälle; die Polizei von Memphis veröffentlichte das Foto einer angeblich erstickten Ente, die Speiseröhre gewölbt, als hätte sie einen Tumor.

Absolut inakzeptables Verhalten, hatte Birds Sozialkundelehrer geschnaubt. Wenn ihr erfahrt, dass jemand derartige Disruptionen plant, ist es unter PACT eure bürgerliche Pflicht, ihn der Obrigkeit zu melden.

Die Klasse hatte eine spontane Lektion und eine zusätzliche Aufgabe erhalten: Schreibe einen Aufsatz mit fünf Absätzen, in dem du erklärst, wie die kürzlichen Störungen des Friedens unser aller öffentliche Sicherheit gefährdet haben. Birds Hand hatte sich zu einer Faust verkrampft.

Und nun findet direkt vor der Mensa eine Störung statt, eine Disruption. Bird ist gleichermaßen verängstigt und fasziniert. Was ist es: ein Angriff? Ein Aufruhr? Eine Bombe?

Sein Vater greift über den Tisch und nimmt Birds Hand. Etwas, das er oft tat, als Bird klein war, und jetzt, da Bird älter ist, kaum noch tut, etwas, das Bird – insgeheim – vermisst. Die Hand seines Vaters ist weich und glatt, die Hand eines Kopfarbeiters. Seine Finger liegen warm und kräftig um Birds, beruhigen ihn sanft.

Weißt du, wo das Wort herkommt?, fragt sein Vater. Dis- bedeutet entzwei.

Die älteste Gewohnheit seines Vaters: Wörter auseinandernehmen wie alte Uhren, um zu zeigen, dass die Zahnräder innen noch ineinandergreifen. Er versucht, Bird zu beruhigen, als würde er eine Gutenachtgeschichte erzählen. Um ihn abzulenken, vielleicht auch sich selbst.

Und Ruption: kommt auch aus dem Lateinischen und bedeutet Bruch. Zum Beispiel Eruption, ein Vulkanausbruch oder ein Wutausbruch, oder abrupt – schlagartig.

Vor Aufregung steigt die Stimme seines Vaters um eine halbe Oktave, eine Gitarrenseite, die endlich gestimmt wird. Eine Disruption, sagt er, bedeutet also, dass etwas auseinanderbricht.

Bird denkt an herausgerissene Eisenbahnschienen, verbarrikadierte Straßen, zerfallende Gebäude. Er denkt an die Fotos, die man ihnen in der Schule gezeigt hat, Steine werfende Demonstranten, Bereitschaftspolizisten hinter Schutzschildern. Von draußen hören sie undeutliches Krächzen aus Polizeifunkgeräten, an- und abschwellende Stimmen. Die Studenten ringsum beugen sich über ihre Handys, suchen nach Erklärungen, posten Lageberichte.

Ist schon in Ordnung, sagt sein Vater. Das Ganze ist bald vorbei. Du musst keine Angst haben.

Ich hab keine Angst, erwidert Bird. Und das stimmt – eigentlich. Es ist keine Angst, die sich spinnennetzartig über seine Hand zieht. Es gleicht eher der aufgeladenen Luft vor einem Gewitter, einem immensen, schrecklichen Potenzial.

Ungefähr zwanzig Minuten später knistert wieder eine Megafondurchsage durch die geschlossenen Vorhänge und Doppelglasfenster. Sie können unbesorgt wieder Ihren normalen Aktivitäten nachgehen. Bitte alarmieren Sie die Behörden bei jeder weiteren verdächtigen Aktivität.

Die Studenten ringsum entfernen sich grüppchenweise, stellen ihre Tabletts in die Geschirr-Trolleys und eilen in ihre Wohnheimzimmer, beklagen sich über die Verzögerung. Es ist nach halb neun, und jeder möchte plötzlich woanders sein. Während Bird und sein Vater ihre Sachen einsammeln, öffnet Penny wieder die Vorhänge und gibt den Blick auf die dunkle Straße frei. Hinter ihr flitzen Mensaangestellte mit Spüllappen und Sprühflaschen von Tisch zu Tisch; jemand schiebt hastig einen Kehrbesen über die Fliesen, fegt verschüttete Cornflakes und Brotkrumen zusammen.

Ich erledige das für Sie, Penny, sagt Birds Vater, und Penny nickt ihm dankbar zu.

Machen Sie’s gut, Mr. Gardner, sagt Penny und eilt zurück in die Küche. Bird wartet ungeduldig, bis sein Vater alle Vorhänge geöffnet hat und sie nach Hause gehen können.

Draußen ist es ruhig, die Luft ist frisch. Die Polizeiwagen sind verschwunden und auch die Menschen; das Gelände liegt verlassen da. Er sucht nach Anzeichen der Disruption – Krater, verbrannte Gebäude, zerbrochenes Glas. Nichts. Dann, als sie die Straße zu ihrem Wohnheim überqueren, sieht Bird es auf dem Boden: blutrot auf den Asphalt gesprüht, in der Mitte der Kreuzung. Groß wie ein Auto, unmöglich zu übersehen. Ein Herz wie auf dem Transparent in Brooklyn. Und diesmal umgeben von einem Ring aus Wörtern. BRINGTUNSREVERSCHWUNDENENHERZENZURÜCK –.

Ein Kribbeln schlängelt sich über seine Haut.

Beim Überqueren der Straße geht er langsamer und liest es noch einmal. BRINGTUNSREVERSCHWUNDENENHERZENZURÜCK. Die halb trockene Farbe klebt an den Sohlen seiner Turnschuhe; sein Atem klebt ihm heiß in der Kehle. Er sieht kurz seinen Vater an, sucht nach einem Schimmer des Erkennens. Doch sein Vater zieht ihn am Arm. Zerrt ihn weg, ohne nach unten zu blicken. Ohne Bird anzusehen.

Wir kommen zu spät, sagt sein Vater. Wir sollten zurück.

 

Seine Mutter war Dichterin gewesen.

Eine berühmte, hatte Sadie hinzugefügt, und er hatte nur die Schultern gezuckt. Gab es so was überhaupt?

Soll das ein Scherz sein?, sagte Sadie. Alle kennen Margaret Miu.

Sie überlegte.

Na ja, sagte sie, jedenfalls kennt jeder ihr Gedicht.

 

Erst war es nur eine beliebige Wendung gewesen.

Kurz nach dem Verschwinden seiner Mutter hatte Bird im Bus einen Zettel gefunden, dünn wie der Flügel eines toten Schmetterlings, in der Ritze zwischen Sitz und Wand. Einen von Dutzenden. Sein Vater hatte ihn ihm aus der Hand gerissen, ihn zerknüllt und auf den Boden geworfen.

Du sollst keinen Müll aufheben, Noah, sagte er.

Aber Bird hatte schon die ersten Worte gelesen: ALLUNSREVERSCHWUNDENENHERZEN.

Eine Wendung, die er noch nie zuvor gehört hatte, die jedoch in den Monaten, dann Jahren nach dem Verschwinden seiner Mutter andernorts auftauchte. Als Graffiti im Fahrradtunnel, an der Bande des Basketballplatzes, auf dem Sperrholz um eine stillgelegte Baustelle. VERGESSTNICHTUNSREVERSCHWUNDENENHERZEN. Mit dickem Pinsel über die Plakate der Nachbarschaftswache geschmiert: WOSINDUNSREVERSCHWUNDENENHERZEN? Und auf Flugblättern, die eines denkwürdigen Morgens über Nacht aufgetaucht waren: unter die Scheibenwischer parkender Autos geklemmt, auf dem Gehweg verstreut, an Betonsockeln von Laternenpfählen hängend. Handtellergroße, kopierte Zettel mit der schlichten Aufschrift: ALLUNSREVERSCHWUNDENENHERZEN.

Am nächsten Tag waren die Graffitis übermalt, die Plakate ersetzt, die Flugblätter weggefegt wie vertrocknetes Laub. Alles sauber, als hätte er sich das Ganze nur eingebildet.

Damals hatte er sich nichts dabei gedacht.

Das ist eine Parole gegen PACT, sagte sein Vater kurz angebunden, als Bird fragte. Von Leuten, die PACT abschaffen wollen. Verrückte, hatte er hinzugefügt. Echte Spinner.

Wer PACT abschaffen will, hatte auch Bird gedacht, muss wirklich verrückt sein. PACT hatte dazu beigetragen, die Krise zu beenden; PACT sorgte für Ruhe und Sicherheit. Selbst Kindergärtnerinnen wussten das. Im Grunde wusste jeder: Wenn man sich unpatriotisch verhielt, hatte man mit Konsequenzen zu rechnen. Wenn nicht, brauchte man sich nicht zu sorgen. Und wenn man etwas Unpatriotisches sah oder hörte, war man verpflichtet, es den Behörden zu melden. Eine Welt ohne PACT hat er nie gekannt; PACT war so unumstößlich wie die Schwerkraft oder Du sollst nicht töten. Er verstand nicht, wie jemand dagegen sein konnte, was das alles mit Herzen zu tun hatte, wie ein Herz verschwunden sein konnte. Wie sollte man ohne ein schlagendes Herz in der Brust überleben?

Das Ganze ergab für ihn keinen Sinn, bis er Sadie kennenlernte. Man hatte sie aus ihrer Familie genommen und bei Pflegeeltern untergebracht, weil ihre Eltern gegen PACT protestiert hatten.

Wusstest du das nicht?, hatte sie gesagt. Worin die Konsequenzen bestehen? Bird. Also, wirklich.

Sie klopfte auf das Arbeitsblatt, das man ihnen als Hausaufgabe gegeben hatte: Die drei Säulen von PACT: Verbietet die Förderung von unamerikanischen Werten und Verhaltensweisen. Ermutigt alle Bürger, potenzielle Bedrohungen für unsere Gesellschaft zu melden. Und da, unter Sadies Finger: Schützt Kinder vor einem Umfeld, das schädliche Ansichten vertritt.

Doch selbst dann hatte er es nicht glauben wollen. Vielleicht hatte es bei einigen Familien eine PACT-Intervention gegeben, aber oft konnte das nicht vorgekommen sein – warum sonst redete niemand darüber? Sicher, hin und wieder hörte man von einem Fall wie Sadie, aber das waren bestimmt Ausnahmen. Und wenn es passierte, dann musste derjenige etwas Gefährliches getan haben und das Kind musste beschützt werden – vor den Eltern, und was immer sie taten oder sagten. Was denn, sagten einige, findest du vielleicht auch, dass Kinderschänder und prügelnde Eltern es verdienen, ihre Kinder zu behalten?

Genau das hatte er, ohne nachzudenken, zu Sadie gesagt, und sie wurde still. Dann hatte sie ihr Sandwich mit Thunfisch und Mayonnaise zu einer Kugel zerdrückt und es ihm ins Gesicht geklatscht. Als er sich die Augen abgewischt hatte, war sie weg, und der Fischgestank klebte ihm den ganzen Nachmittag im Haar und auf der Haut.

Ein paar Tage später hatte Sadie etwas aus ihrem Rucksack gezogen.

Schau mal, hatte sie gesagt. Die ersten Worte, die sie seitdem wieder mit ihm sprach. Bird, schau, was ich gefunden habe.

Eine Zeitung, die Ecken zerknittert, die Tinte grau verschmiert. Fast schon zwei Jahre alt. Und dort, gleich unter dem Knick, eine Überschrift: ORTSANSÄSSIGEDICHTERININAUFSTÄNDEVERSTRICKT. Das Foto seiner Mutter, ein Grübchen am Rand ihres Lächelns. Die Welt um ihn herum wurde unscharf und grau.

Woher hast du das?, fragte er. Sadie zuckte die Schultern.

Aus der Bibliothek.

 

Im ganzen Land ist es zur Parole der PACT-Gegner geworden, aber die Wurzeln sind hier – beängstigend nah in der Nachbarschaft. Die Wendung, die zunehmend benutzt wird, um das weitgehend anerkannte nationale Sicherheitsgesetz anzugreifen, ist die Kopfgeburt der hier lebenden Margaret Miu und stammt aus ihrem Gedichtband ALLUNSREVERSCHWUNDENENHERZEN. Miu, das Kind chinesischer Einwanderer und Mutter eines kleinen Sohnes –

Die Buchstaben fingen an zu wackeln und verschwammen.

Du weißt, was das heißt, Bird, sagte Sadie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, wie immer, wenn sie aufgeregt war. Deine Mutter –

Da wusste er Bescheid. Warum sie ihn und seinen Vater verlassen hatte. Warum sein Vater nie über sie sprach.

Sie ist eine von ihnen, sagte Sadie. Sie ist irgendwo dort draußen. Organisiert Proteste. Kämpft gegen PACT. Setzt sich dafür ein, PACT zu kippen und Kinder nach Hause zu bringen. Genau wie meine Eltern.

Ihre Augen verfinsterten sich und bekamen einen merkwürdigen Schimmer. Als würde sie direkt durch Bird hindurch auf etwas Erhellendes blicken.

Vielleicht arbeiten sie sogar zusammen, sagte sie.

Bird hatte das Ganze für eine von Sadies Wunschfantasien gehalten. Seine Mutter, die Rädelsführerin? Unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich. Und doch standen da ihre Worte, prangten auf all den Schildern und Transparenten, um PACT zu kippen, im ganzen Land.

In den Medien nennt man Leute, die gegen PACT protestieren, aufrührerische Staatsfeinde. Verräterische chinesische Sympathisanten. Krebsgeschwüre der amerikanischen Gesellschaft. Worte, die er damals im Lexikon seines Vaters hatte nachschlagen müssen, darunter auch exzidieren und ausrotten.

Jedes Mal, wenn sie die Worte seiner Mutter entdeckten – in Zeitungsmeldungen, auf einem Handy –, stieß Sadie ihn an, als hätten sie eine Berühmtheit gesichtet. Der Beweis, dass seine Mutter irgendwo dort draußen sehr besorgt um die Kinder anderer war, während sie ihren eigenen Sohn im Stich gelassen hatte. Die Ironie des Ganzen drang ihm ins Mark.

Und jetzt sind die Worte seiner Mutter hier, blutrot auf die Straße gemalt. Ihr Brief oben in der Wohnung, in seinem Kissen. Das gleiche hingetupfte rote Herz von der Brooklyn Bridge, hier auf dem Asphalt zu seinen Füßen. Er blickt über die Schulter, sucht die dunklen Ecken des Campus ab, unsicher, ob die Kälte in seiner Kehle Hoffnung oder Furcht ist, ob er in ihre Arme rennen oder sie aus ihrem Versteck ans Licht zerren soll. Doch da ist niemand, und sein Vater zupft ihn am Arm. Also folgt er ihm ins Haus und nach oben.

 

Zurück in der Wohnung, zieht sein Vater, verschwitzt und erschöpft vom Treppensteigen, den Mantel aus und hängt ihn an den Haken. Bird setzt sich, um seine Hausaufgaben fertig zu machen, aber ihm schwirrt der Kopf, er ist unruhig. Er blickt kurz zum Fenster, sieht aber nur die schäbige, sich im Glas spiegelnde Wohnung. Der halb fertige Aufsatz vor ihm verschwindet im leeren weißen Raum.

Dad, sagt er.

Auf der anderen Seite des Zimmers blickt sein Vater von seinem Buch hoch. Er liest gerade ein Wörterbuch und blättert träge von Seite zu Seite: eine alte Angewohnheit, die Bird eigenartig und zugleich liebenswert findet. Vor langer Zeit verbrachten seine Eltern so die Abende, auf der Couch mit ihren Büchern, und manchmal beugte sich Bird von hinten über die Schultern seines Vaters oder seiner Mutter und buchstabierte die längsten Wörter, die er finden konnte. Inzwischen sind Wörterbücher die einzigen Bücher in der Wohnung, die einzigen Bücher, die sie nach dem Umzug behalten hatten. Am Blick seines Vaters sieht Bird, dass er Jahrhunderte entfernt war, auf den verschlungenen Pfaden eines altertümlichen Wortes. Er bedauert, dass er ihn von diesem friedlichen schönen Ort zurückrufen musste. Aber er will es wissen.

Du hast nichts – er räuspert sich –, du hast nichts von ihr gehört, oder?

Einen Augenblick lang wird das Gesicht seines Vaters ganz ruhig. Bird hat zwar nicht ihren Namen ausgesprochen, aber das muss er auch nicht: Sie wissen beide, wen er meint. Für ihn und seinen Vater gibt es nur sie. Dann schließt sein Vater das Wörterbuch mit einem dumpfen Schlag.

Natürlich nicht, erwidert er, steht auf und stellt sich neben Bird. Ragt drohend über ihm auf. Er legt ihm eine Hand auf die Schulter.

Sie gehört nicht mehr zu deinem Leben. Was uns betrifft, existiert sie nicht. Hast du das verstanden, Noah? Sag, dass du das verstanden hast.

Bird weiß genau, was er sagen sollte – Natürlich, ich hab’s verstanden –, doch die Worte bleiben ihm im Hals stecken. Aber zu meinem Leben gehört sie noch, würde er am liebsten sagen. Sie existiert doch, ich weiß nicht, sie will etwas sagen, sie will mir etwas sagen, da ist eine Lücke, die muss geschlossen – oder aufgedeckt – werden. In diesem Moment des Zögerns blickt sein Vater über Birds Schulter, bemerkt den unfertigen Aufsatz auf dem Tisch.

Lass mal sehen, sagt er.

Sein Vater ist seit Jahren kein Professor mehr, aber er kann es sich nicht abgewöhnen, den Lehrer zu spielen. Sein Gehirn ähnelt einem großen, in seinem Schädel eingesperrten Hund, der ruhelos auf und ab geht und sich nach Auslauf sehnt. Er beugt sich jetzt über Birds Hausaufgabe und zieht das Papier unter Birds Arm hervor.

Ich bin noch nicht fertig, protestiert Bird und beißt auf das Radiergummiende seines Bleistifts. Grafit und Gummi bröseln auf seiner Zunge. Sein Vater schüttelt den Kopf.

Das muss viel deutlicher werden, sagt er. Pass auf – da, wo du schreibst: PACT ist sehr wichtig für die nationale Sicherheit. Das muss konkreter, viel überzeugender werden: PACT ist ein wesentliches Instrument, um Amerika vor der Unterwanderung durch ausländische Einflüsse zu bewahren.

Er fährt mit dem Finger über eine Zeile und verschmiert Birds Schrift.

Oder hier. Du musst deinem Lehrer zeigen, dass du das wirklich kapierst – das muss zweifelsfrei klar werden. PACT beschützt unschuldige Kinder vor der Indoktrination mit falschem, subversivem, unamerikanischem Gedankengut durch ungeeignete und unpatriotische Eltern.

Er klopft auf das Papier.

Mach weiter, sagt er und tippt auf das lose Blatt. Schreib das hin.

Mit zusammengebissenen Zähnen, wütend und den Tränen nahe, erwidert Bird den Blick seines Vaters. So sind sie bisher noch nie miteinander gewesen: zwei hartherzige Steine, die Funken sprühen.

Schreib jetzt, sagt sein Vater, und Bird gehorcht. Sein Vater stößt einen tiefen Seufzer aus und zieht sich mit dem Wörterbuch in der Hand ins Schlafzimmer zurück.

 

Nachdem er mit den Hausaufgaben fertig ist und sich die Zähne geputzt hat, löscht Bird das Licht in der Wohnung und schlüpft hinter den Vorhang. Von dort überblickt er die Straße bis zur Mensa, die inzwischen geschlossen ist, nur noch erhellt von den schwach schimmernden roten Exit-Schildern. Ein Lastwagen hält am Randstein und schaltet die Schweinwerfer aus. Eine dunkle männliche Gestalt steigt aus, trägt etwas in die Mitte der Straße und beginnt zu arbeiten. Es dauert eine Weile, bis Bird begreift, was vor sich geht: Das Etwas ist ein Eimer mit Farbe und eine große Walzenbürste. Er übermalt das Herz, am nächsten Morgen wird es verschwunden sein.

Noah, sagt sein Vater an der Tür. Zeit, schlafen zu gehen.

 

In der Nacht, während sein Vater leise unter ihm schnarcht, schiebt Bird eine Hand in den Kissenbezug und tastet nach dem Umschlag. Vorsichtig zieht er den Brief heraus, streicht ihn glatt. In seiner Koje bewahrt er eine Stiftlampe auf, damit er lesen kann, wenn sein Vater schläft. Er schaltet sie ein.

Die Katzen sind in dem wässrigen Licht ein Durcheinander aus Winkeln und Bögen. Eine geheime Botschaft? Ein Code? Befinden sich vielleicht Buchstaben in ihren Streifen, in den Spitzen ihrer Ohren oder den gekrümmten Schwänzen? Er dreht den Brief in verschiedene Richtungen, fährt mit dem Lichtstrahl die Linien nach. Auf einer Tigerkatze meint er, ein M zu erkennen; das gebeugte Bein einer Katze sieht aus wie ein S oder vielleicht ein N. Aber er ist sich nicht sicher.

Er will den Brief gerade wieder wegstecken, als er es sieht, der kleine Lichtschein bringt es deutlich zum Vorschein, wie durch ein Vergrößerungsglas. In der unteren Ecke, wo normalerweise eine Seitenzahl wäre: ein Rechteck, so groß wie der Fingernagel seines kleinen Fingers. Im Inneren ein weiteres Rechteck, etwas kleiner. Die Katzen ignorieren es natürlich; wenn man nicht genau hinsah, würde man es übersehen. Aber Birds Aufmerksamkeit ist geweckt. Was ist das? Ein gerahmtes leeres Bild, vielleicht. Ein altmodischer Fernsehapparat mit weißem Bildschirm. Ein Fenster mit einer Glasscheibe.

Er betrachtet es aufmerksam. Ein Punkt an einer Seite, zwei winzige Scharniere auf der anderen. Eine Tür. Eine Tür an einem Kasten. Ein fest verschlossener Schrank. Ein schwacher Luftzug bringt in der hintersten Ecke seines Gehirns eine Seite zum Flattern, legt sich dann wieder. Eine Geschichte, die ihm seine Mutter vor langer Zeit erzählte. Sie hatte ihm oft Geschichten erzählt: Märchen, Fabeln, Sagen, Mythen: ein Regenbogen aus verschiedenen, wunderschönen Lügen. Aber jetzt, als er das Bild sieht, wirkt es vertraut. Katzen, ein Schrank und ein Junge. Genau kann er sich nicht erinnern, aber er weiß, es gibt sie. Wie ging die Geschichte noch mal?

Vor langer Zeit. Vor langer Zeit, da lebte – ein Junge, der Katzen liebte.

Er wartet, in der Hoffnung, die Stimme seiner Mutter möge zurückkehren und den Rest der Geschichte erzählen. Eine Kugel, die man einen Berg hinunterstößt. Doch da ist nur der gehauchte Atem seines Vaters. Bird kann sich nicht erinnern, wie die Stimme seiner Mutter klingt. Die Stimme, die er in seinem Kopf hört, ist seine eigene.

Nach Physik machen sich seine Klassenkameraden schubsend und rempelnd auf den Weg in die Cafeteria zum Mittagessen, sie haben es eilig, ihre Corn Dogs und ihre Schokomilch zu kaufen, Plätze an den besten Tischen zu ergattern. Bird hat dort nie gern gegessen, wegen des ganzen Getuschels. Jahrelang saß er am Tisch in der Ecke, halb verborgen in der Nische hinter dem Verkaufsautomaten. Dann, am Ende der fünften Klasse, war Sadie gekommen, unerschrocken und eigensinnig, und hatte für sie beide einen Platz besorgt. Ein herrliches Jahr lang war Bird nicht allein gewesen. Am ersten Tag, als sie sich kennenlernten, hatte sie ihn bei der Hand genommen und nach draußen zu der kleinen Rasenfläche gezogen. Die Luft war kühl und ruhig, und die Stille ergoss sich in seine Ohren und verstärkte jedes Geräusch. Als er sich im Gras neben ihr niederließ, konnte er alles hören, das Knistern der Plastiktüten, als sie ihre Sandwiches auspackten, das Kratzen von Sadies Turnschuh, als sie ihr Bein unter sich schob, das Rascheln der sich aufrollenden Blätter, als der Wind an den Zweigen rüttelte.

Danach hatte sich das Getuschel verändert, wurde zu einem Lied: Noah und Sadie, die sitzen im Gebüsch.

Singen die Kinder das immer noch?, hatte sein Vater gefragt, als Bird ihm davon erzählte. Dieses idiotische Lied wird noch die Apokalypse überdauern. Wenn sie alle Bücher verbrannt haben, bleibt uns nur noch das.

Er hielt abrupt inne.

Ignoriere es einfach. Dann hören sie auf.

Er legte eine Pause ein. Aber verbringe nicht zu viel Zeit mit Sadie, sagte er. Die Leute sollen nicht denken, dass du sie magst.

Bird hatte zwar genickt, aber danach aßen Sadie und er jeden Tag und bei jedem Wetter zusammen. Wenn es regnete, kauerten sie aneinandergeschmiegt unter dem Überstand, im Winter zitterten sie Seite an Seite im Schneematsch. Nachdem Sadie verschwunden war, kehrte er nicht in die Cafeteria zurück, sondern setzte sich jeden Tag auf ihren alten Platz. Inzwischen hatte er gelernt: Manchmal war Alleinsein die weniger schlechte Option.

Heute geht er nicht nach draußen, er bleibt im Physikraum und tut so, als ob er in seiner Schultasche herumwühlt, bis alle weg sind. Mrs. Pollard, die ihre Papiere am Pult zu einem ordentlichen Stoß stapelt, nimmt ihn kritisch in Augenschein.

Brauchst du etwas, Noah?, fragt sie und holt eine leicht zerknitterte braune Papiertüte aus einer Schublade: ihr eigenes Mittagessen. An der Wand hinter ihr leuchtet eine Reihe bunter Plakate. WIRHALTENZUSAMMEN, steht auf einem, und eine Kette von roten, weißen und blauen Papierpuppen erstreckt sich über die Karte der Vereinigten Staaten. Jeder gute Bürger ist ein guter Einfluss, heißt es auf einem anderen. Jeder schlechte Bürger ist ein schlechter Einfluss. Und dann hängt natürlich, wie in jedem Klassenzimmer, die Flagge, direkt über ihrer linken Schulter wie eine erhobene Axt.

Darf ich einen Computer benutzen?, fragt Bird. Ich wollte etwas nachsehen.

Er zeigt auf den Tisch hinten an der Wand, wo ein halbes Dutzend Laptops für die Schüler steht. Die meisten seiner Klassenkameraden sehen Sachen lieber auf ihren Handys nach, aber Birds Vater erlaubt ihm keins. Kommt nicht infrage, sagt er, und deshalb gehört Bird zu den wenigen, die überhaupt einen Schulcomputer benutzen. Dahinter befinden sich leere Bücherregale. Bird hat noch nie Bücher darin gesehen, aber die Regale stehen da, Fossilien einer vergangenen Ära.

Habt ihr gewusst, erklärte ihre Lehrerin im vergangenen Jahr, dass Bücher überholt sind, sobald sie gedruckt werden?

Es war die Begrüßungsrede zum Beginn des neuen Schuljahrs. Alle saßen im Schneidersitz auf dem Boden, zu ihren Füßen.

So schnell verändert sich die Welt. Und auch unser Verständnis von ihr.

Sie schnippte mit den Fingern.

Wir möchten sicherstellen, dass ihr an die aktuellsten Informationen kommt. Dann wissen wir, dass ihr nichts benutzt, was überholt ist oder ungenau. Alles, was ihr braucht, findet ihr hier online.

Aber wo sind die ganzen Bücher?, hakte Sadie nach. Sadie, damals noch neu an der Schule und furchtlos. Da müssen doch welche gewesen sein, wozu sonst die Regale? Wo hat man die hingebracht?

Das Lächeln der Lehrerin wurde breiter und dann schmal.

Überall gibt es Platzprobleme, sagte sie. Darum haben wir die Bücher aussortiert, die wir für überflüssig oder ungeeignet hielten. Aber –

Sie haben also alle Bücher verbannt, sagte Sadie, und die Lehrerin hatte sie über ihre Brille hinweg zweimal angeblinzelt.

O nein, meine Liebe, sagte sie. Manche glauben das, aber nein. Niemand verbannt etwas. Hast du noch nie von der Freiheitsurkunde gehört?

Die Klasse kicherte, und Sadie lief rot an.

Jede Schule trifft ihre eigenen unabhängigen Entscheidungen, sagte die Lehrerin. Darüber, welche Bücher für ihre Schüler nützlich sind und welche sie möglicherweise gefährlichen Ideen aussetzen. Ich will dich etwas fragen: Welche Eltern möchten, dass ihre Kinder Zeit mit schlechten Menschen verbringen?

Sie warf einen Blick in die Runde. Keiner hob die Hand.

Natürlich nicht. Eure Eltern wollen euch in Sicherheit wissen. Für gute Eltern versteht sich das von selbst. Ihr wisst alle, dass auch ich Mutter bin, oder?

Allgemeines zustimmendes Gemurmel.

Stellt euch ein Buch vor, in dem Lügen stehen, fuhr sie fort. Oder ein Buch, das euch zu bösen Handlungen auffordert, zum Beispiel anderen oder euch zu schaden. So ein Buch würden sich eure Eltern zu Hause nie ins Bücherregal stellen, oder?

Alle Kinder im Kreis machten große Augen und schüttelten den Kopf. Nur Sadie saß reglos da, mit verschränkten Armen, der Mund eine dünne Linie.

Tja, so ist das nun mal, sagte die Lehrerin. Wir alle wollen, dass unseren Kindern nichts passiert. Wir möchten nicht, dass sie zweifelhaften Ideen ausgesetzt werden – Ideen, die ihnen vielleicht schaden oder sie zu Bösem ermutigen, die sich gegen sie, ihre Familien oder unser Land richten. Deshalb entfernen wir solche Bücher und sperren Internetseiten, die gefährlich sein könnten.

Sie lächelte in die Runde.

Als Lehrer ist es unsere Aufgabe, sagte sie mit leiser, aber fester Stimme, dass wir uns um euch alle kümmern, so, wie ich mich um meine eigenen Kinder kümmere. Wir müssen entscheiden, was bewahrenswert ist und was nicht. Solche Entscheidungen müssen einfach getroffen werden.

Schließlich blieb ihr Blick an Sadie hängen.

So war es schon immer, sagte sie. Nichts hat sich geändert.

Jetzt hält Bird den Atem an, als Mrs. Pollard zögert. Er ist erst einen Monat in der siebten Klasse, aber er mag Mrs. Pollard bereits; ihre Tochter Jenna ist eine Klasse unter ihm, ihr Sohn Josh in der ersten. Sie hat graublondes Haar, trägt Pullover mit Taschen und große, runde Ohrringe, die aussehen wie Bonbons. Im Gegensatz zu seinem Sozialkundelehrer starrt sie ihn nie an, wenn PACT zur Sprache kommt, und wenn sie hört, dass ein Schüler ihm das Leben schwer macht, sagt sie: Siebtklässler, konzentrieren wir uns bitte auf die vorliegende Aufgabe, und klopft mit den Knöcheln auf den Tisch.

Ist es für den Unterricht?, fragt sie.

Etwas in Mrs. Pollards Stimme lässt Bird auf der Hut sein – oder vielleicht liegt es an der Art, wie sie ihn ansieht, mit schmalen Augen, als wüsste sie, was er vorhat. Er wünschte, er hätte mehr Selbstvertrauen und wäre überzeugt, dass sein Vorhaben nichts weiter als ein sinnloses Unterfangen ist. An ihrem Revers schimmert ein kleiner Flaggenanstecker im Neonlicht.

Nicht direkt, antwortet er. Es geht nur um etwas, das mich interessiert. Über Katzen, fügt er aus dem Stegreif hinzu. Mein Vater und ich überlegen, ob wir uns eine Katze anschaffen. Ich wollte mir verschiedene Rassen ansehen.

Eine Augenbraue von Mrs. Pollard hebt sich ganz leicht.

Ach, sagt sie strahlend. Ein neues Haustier. Wie schön. Gib Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.

Sie nickt in Richtung der silbrig glänzenden Computer und fängt an, ihr Essen auszupacken.

Bird setzt sich an den Computer, der am weitesten von ihrem Pult entfernt ist. Auf jedem ist ein kleines Messingschild mit der Aufschrift: Ein Geschenk der Familie Lieu. Vor zwei Jahren hatte Ronny Lieus Familie Computer für jedes Klassenzimmer gekauft und die ganze Schule auf Hochgeschwindigkeitsinternet umgestellt. Nur, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben, hatte Mr. Lieu bei der feierlichen Einweihung gesagt. Er war Geschäftsmann – irgendetwas mit Immobilien –, und der Direktor hatte ihm für das großzügige Geschenk gedankt und versichert, wie sehr die Schule das Engagement von Privatpersonen zu schätzen wisse, wenn das Budget der Stadt nicht ausreiche. Er lobte die Lieus als loyale Mitglieder der Gemeinde. Im selben Jahr hatten die Eltern von Arthur Tran Geld für die Renovierung der Cafeteria gespendet, und Janey Youns Vater hatte der Schule einen neuen Fahnenmast samt Flagge gestiftet.

Er bewegt die Maus, und der Bildschirm erwacht zum Leben, ein Foto von Mount Rushmore unter wolkenlosem Blau. Ein Tippen auf den Browser, und ein Fenster öffnet sich, der Cursor blinkt langsam und träge am oberen Rand.

Was soll er eingeben? Wo ist meine Mutter? Ist es vermessen, wenn er hofft, das Internet könnte ihm die Antwort liefern?

Er überlegt. Mrs. Pollard sitzt am Pult und scrollt durch ihr Handy, während sie an ihrem Sandwich nagt. Erdnussbutter, dem Geruch nach zu urteilen. Draußen schwebt ein braunes Blatt von einer Baumkrone auf den Boden.

Geschichte über Jungen mit vielen Katzen, tippt er, und der Bildschirm wird von Text geflutet.

Die schwarze Katze (Kurzgeschichte). Liste fiktionaler Katzen in der Literatur. Er klickt einen Link nach dem anderen an und wartet auf etwas Vertrautes, diesen Ruck des Erkennens. Der Kater mit Hut. Die Geschichte von Tom Kitten. Old Possums Katzenbuch. Nichts, was er kennt. Allmählich entfernt er sich immer weiter. Erstaunliche wahre Katzengeschichten. Fünf heroische Katzen in der Geschichte. Pflege und Füttern der neuen Katze. So viele Geschichten über Katzen, und keine ist die seiner Mutter. Er muss sie sich eingebildet haben. Trotzdem sucht er weiter.

Als er schließlich zu müde ist, um zu widerstehen, gibt er eine weitere Suche ein, die er sich bisher noch nie getraut hat.

Margaret Miu.

Es folgt eine Pause, dann taucht eine Fehlermeldung auf. Keine Ergebnisse, steht da. Irgendwie spürt er ihre Abwesenheit stärker, als hätte er nach ihr gerufen und sie ist nicht gekommen. Er späht über die Schulter. Mrs. Pollard hat ihr Mittagessen beendet und benotet Arbeitsblätter, setzt Häkchen an den Rand. Er klickt auf die Zurück-Taste.

All unsre verschwundenen Herzen, gibt er ein, und die Seite hält kurz inne. Keine Ergebnisse. Diesmal lässt sich die Taste nicht zurücksetzen, egal, wie oft er klickt.

Mrs. Pollard, sagt er und tritt an ihr Pult. Ich glaube, mein Computer ist abgestürzt.

Keine Sorge, mein Junge, sagt sie, das kriegen wir wieder hin. Sie steht auf und folgt ihm zurück zum Terminal, doch als sie seinen Bildschirm sieht, die Suche ganz oben, verändert sich ihr Gesicht. Sie ist angespannt, Bird spürt es selbst über die Schulter hinweg.

Noah, sagt sie nach einer Weile. Du bist zwölf?

Bird nickt.

Mrs. Pollard geht neben seinem Stuhl in die Hocke, sodass sie auf Augenhöhe sind.