Unter Beobachtung - Manfried Rauchensteiner - E-Book

Unter Beobachtung E-Book

Manfried Rauchensteiner

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Beschreibung

Über 100 Jahre Geschichte umfasst Manfried Rauchensteiners überarbeitete und erweiterte Neuauflage seines 2017 erstmals erschienenen Buches "Unter Beobachtung. Österreich seit 1918". Der mehrfach preisgekrönte Historiker bietet damit einen spannenden und abwechslungsreichen Überblick über die historischen Entwicklungen des Landes. Österreich war - und ist - immer wieder für Aufregungen gut. Was 1918 mit der Gründung der Ersten Republik als Experiment begann, war 1938 auch schon wieder gescheitert, was viele Menschen mit Genugtuung registrierten. 1945 stellten die vier Besatzungsmächte das Land unter Kuratel. Und auch in der Folge sorgte Österreich immer wieder für internationale Aufmerksamkeit: 1956 während des Volksaufstands in Ungarn, 1968 bei der Besetzung der Tschechoslowakei, 1986 nach der Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Bundespräsidenten, 1991 während des slowenischen Unabhängigkeitskrieges, 2000 nach der Bildung einer Kleinen Koalition, nach der "Ibiza-Affäre" 2019 bis hin zur aktuellen Corona-Krise. Das Land galt als Problemzone, als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als böser Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte. Das tut die Welt bis heute.

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Manfried Rauchensteiner

UNTER BEOBACHTUNG

Österreich seit 1918

2. aktualisierte und erweiterte Auflage

BÖHLAU VERLAG WIEN . KÖLN

1. Auflage 2017

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Böhlau Verlag, Zeltgasse 1, A-1080 Wien, ein Imprint der Brill-Gruppe(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Otto Dix, An die Schönheit, 1922 (Detail) © Bildrecht, Wien, 2021

Korrektorat: Vera M. Schirl, WienEinbandgestaltung: Michael Haderer, WienSatz: Michael Rauscher, WienEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-205-21270-6

Inhalt

Ein Motivenbericht

1.Das Experiment

Der Auflösungsbescheid – Die deutschen Abgeordneten

2.Die verhinderte Revolution

Ein Staat entsteht – Ein Kaiser zu viel – Umsturzversuche

3.Saint-Germain: das Ende der Illusionen

Die Teile und das Ganze – Zeit der Ungewissheit – Der Moment der Wahrheit – Die Bilanz – Der Kampf um die Erinnerung

4.Das Ende der Gemeinsamkeit

Eine Verfassung für acht Bundesländer – Sanierer am Werk – Die Völkerbundanleihe

5.Die Aufmarschsaison

Der Paramilitarismus – Der latente Bürgerkrieg – Von Linz nach Schattendorf

6.Bürgerkriegsszenarien

Der Tag von Wiener Neustadt – Ruhe vor dem Sturm – Eskalation der Gewalt – Zollunion – »Südosteuropa steht in Flammen« – Alle gegen alle – 84.000 Gewehre und 980 Maschinengewehre

7.Das Trauma

Das Ende der parlamentarischen Demokratie – National contra vaterländisch – Die Rebellion der Unterdrückten

8.Ständestaat ohne Stände

Die sogenannte Maiverfassung – Der Kanzlermord – Ein besseres Deutschland? – Alles auf eine Karte – Berchtesgaden

9.Das Scheitern

Die Volksbefragung – Der Einmarsch – Nachruf auf einen Staat

10.Die NS-Revolution

Die Volksabstimmung – Land Österreich – Die Kehrseite der Medaille – Volksgemeinschaft – Pflichtsoldaten – Der Lagerkomplex – Die Entgrenzung

11.Der Abnützungskrieg

Die Princip-Tafel – Unternehmen »Barbarossa« – Das sogenannte Heimatkriegsgebiet – Partisanen – Die Schattenarmee – Der Vernichtungskrieg

12.Zurück in die Zukunft

Die Moskauer Deklaration – Der Faktor Mensch – Kindersoldaten – In ihrem Lager war Österreich – Stichwort »Walküre«

13.Schutt und Asche

Aufruf zum Mord

14.Der Walzer der Freiheit

Die Schlacht um Wien – Renner, wer sonst – Blick nach vorn – Die Teile und das Ganze

15.Gestrenge Herren

Die Not regiert – Re-Austrifizierung – Das Schlüsselgebiet – Teilungsgerüchte – Die »vierte Partei« – Der große Streik – Neuansatz

16.Ein strahlender Frühlingstag

Gong zur letzten Runde – Schluss mit Jubel – Die Mühen der Ebene

17.Zwischen den Blöcken

Ein Mythos entsteht – Das Ende der Fünfziger – Das »Unbehagen im Parteienstaat« – Das Jahrzehnt der Unzufriedenen – Die Agonie

18.Der neue Stil der Sachlichkeit

Alleinregieren – Die anderen und wir – »Macht und Ohnmacht in Österreich« – Südtirol – Die Tschechenkrise – Bilanz der Sachlichkeit

19.Die Gegenerzählung

Lasst Kreisky und sein Team arbeiten – »Ich bin der Meinung« – Kärnten – Juden, Palästinenser und der Terror – Polarka – Die UNO in Wien – Oppositionelle Rezepte – »König Kreisky« – Von »Kronprinzen« und »Erbhofbauern« – Der »Alte«

20.Der »Sündenfall«

Die Hainburger Au – Kurt Waldheim und die Watchlist

21.Die Implosion im Osten

Hoffnung auf den ewigen Frieden – Entschlossenes Zuwarten – Der Gleichklang – Wir sind Europa – Ein Intermezzo – Tafelsilber

22.Unter Beobachtung

Die »Sanktionen« – Die Donnerstagsdemonstrationen – Der Störenfried

23.Der Rückfall

Die Ungeliebte – »Pummerin statt Muezzin«

24.»Es reicht«

Ausverkauf – Verrat an Rot-Weiß-Rot? – Die Völkerwanderung – Alles neu – Farbenspiele

25.»Unter die Masken!«

Ibiza – Corona und die Welt von gestern

Variationen über ein Thema: Danksagung

Chronik Österreichs 1918–2021

Anmerkungen

Bibliographie

Personenregister

Ein Motivenbericht

Otto Dix, einer der großen Maler und Grafiker des 20. Jahrhunderts, Hauptvertreter der »Neuen Sachlichkeit«, hat mir seine Augen geliehen. Sein Bild »An die Schönheit«, das dem Umschlag dieses Buchs Farbigkeit und Ausdruck gibt, ist auf einen Ausschnitt reduziert. Damit wird ihm eine Art Zwangsjacke angelegt, die eine Umdeutung ermöglicht. Was zählt sind die Augen, ist der strenge Blick eines Menschen, dem nichts zu entgehen scheint. Mag sein, dass der Blick auch so etwas wie Missbilligung ausdrückt. Es ist ein Selbstporträt. Die puppenhaft wirkende weibliche Gestalt im Hintergrund ist nicht nur Staffage, sondern sagt etwas Zusätzliches aus: Der Beobachter steht seinerseits unter Beobachtung. Verführung scheint im Spiel. Das Bild hat etwas Zeitloses. Und es ist nicht lokalisierbar.

Wie das Bild ist auch dieses Buch auf einen Ausschnitt reduziert. Es handelt von Österreich und es richtet seinen Blick auf ein mehr als einhundertjähriges Geschehen. Der gewollt strenge Blick, scheinbar von außen, ist gleichzeitig das eigene Spiegelbild. In dem Jahr, als Otto Dix »An die Schönheit« gemalt hat, 1922, drohte Österreich gerade unregierbar zu werden. Es taumelte zwischen Selbstaufgabe und Zukunftsvisionen hin und her und wurde mit Hilfe des Völkerbunds gerettet. Ein Konglomerat aus historischen Einheiten, das sich erst zu einer neuen Gemeinsamkeit finden musste, ging einer ungewissen Zukunft entgegen. Es war nicht mehr das, als das es der tschechische Historiker František Palacký 1848 bezeichnet hatte, etwas Unverzichtbares, eine europäische Notwendigkeit, sondern ein schwer zu definierender Rest. Österreich war von einer Unentbehrlichkeit zur Verlegenheit geworden. Vom ersten Tag an aber stand das Land unter Beobachtung. Und es waren nicht nur freundliche Blicke, mit denen auf Österreich gesehen wurde. Sorge, Argwohn, Mitleid, Misstrauen und Gier mischten sich mit Gleichgültigkeit, Zufriedenheit und Wohlwollen.

Es beobachteten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, die anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie und der Völkerbund. Aber es waren nicht nur die anderen, die beobachteten. Auch die eigenen Blicke spiegelten die ganze Palette von Empfindungen wider, die auch bei den näheren und ferneren Nachbarn festzustellen waren. Österreich war kein Land, in dem Selbstbestimmung großgeschrieben worden wäre. Und auch der Selbstbehauptungswille kam erst spät auf. Die Verlegenheit blieb. Gewalt dominierte. Gerade in den Augen mancher Beobachter konnte man Zufriedenheit aufleuchten sehen, dass sich 1938 Stille über Österreich senkte. Dem folgte sieben Jahre später die reumütige Erkenntnis, dass man sich mit dem Verschwinden des einen Problems, Österreich, neue Probleme eingehandelt hatte. 1945 war es, als ob man den Reset-Knopf gedrückt hätte. Es war Vieles anders geworden. Österreich lag zwischen den Blöcken, sah sich selbst gern als Brücke und spielte eine Rolle. Es erfuhr eine neue Form der Beaufsichtigung, unmittelbarer als alles Vorangegangene, und tauchte schließlich in eine Zeit ein, in der sich allgemeine Zufriedenheit breitmachte. Das Land war über den Berg. Aus der Verlegenheit war plötzlich ein Stabilitätsfaktor geworden. Eines blieb freilich gleich: Jedes Mal, wenn sich in Österreich etwas tat, stand das Land unter Beobachtung. Und auch dann, wenn sich nichts tat. Immer wieder galt es als Problemzone, dann wieder als Sonderfall, als Musterschüler und gleich mehrfach als der böse Bube, dem man ganz genau auf die Finger schauen wollte.

Das alles lässt sich nicht gleichmäßig erzählen. Es kann auch gar nicht darum gehen, jedes Ereignis und alle handelnden Personen in sämtlichen erfahrbaren Einzelheiten zu beschreiben. Da und dort gilt es innezuhalten, um die Parallelität und das Fließen der Zeit als Erzählstrang zu nützen. Man kann nicht immer durch die Zeiten hetzen. Eines sollte jedenfalls erreicht werden: dass man die Geschichte eines Landes, das sich selbst manchmal nicht wichtig nimmt, als wichtig für die Gesamtentwicklung eines Kontinents versteht und sich selbst eingestehen kann, dass es eine spannende Geschichte ist. Sie wird denn auch nicht weniger interessant, wenn man einen größeren Zeitraum zu überblicken sucht. Manches wird dabei zutage zu fördern sein, das bekannt, anderes, das unbekannt ist, wo aber der Blick über die Jahre und Jahrzehnte Vergleichsmöglichkeiten bietet, die dazu einladen, immer wieder ins Grübeln zu geraten: War da nicht schon einmal etwas Ähnliches geschehen, sind Vorgänge oder auch Nicht-Vorgänge so ungewöhnlich, dass sich dazu keine Präzedenzfälle finden lassen? Meist finden sich welche. Und es wird um die alte und immer wieder inspirierende Frage gehen: Was wäre gewesen, wenn? – Wenn z. B. Ignaz Seipel dem Ansinnen bayerischer Stellen entsprochen und Adolf Hitler 1924 wieder die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen hätte, wenn die Dollfuß-Attentäter danebengeschossen, sich die Alliierten in Moskau 1943 auf die Aufteilung Österreichs verständigt, die Sowjets, wie von Marschall Žukov 1956 gewünscht, Ostösterreich wiederbesetzt hätten, oder Jörg Haider 2008 nicht tödlich verunglückt wäre … Es gilt nicht, das Unmögliche zu denken, sondern das Mögliche. Das ist auch eine Einladung, das Vergängliche zu sehen.

Bei einem Gang durch die Geschichte kommt man an vielen Schauplätzen vorbei. Sie bieten sich mit einer nicht enden wollenden Bereitwilligkeit an. Man kann in der Villa des Senators Giusti bei Padua genauso Station machen wie in Saint-Germain, Genf, Berlin, Berchtesgaden, Ödenburg/Sopron, Kragujevac, Stalingrad/Wolgograd oder Prag. Österreichische Geschichte wurde in London, Moskau, Paris und Washington geschrieben und hat auch dort Spuren hinterlassen und Erinnerungsorte geschaffen. Letztlich gibt es keine Stelle, die nicht eine Erzählung bergen würde, kein Denkmal, keinen Friedhof, ja nicht einmal einen Acker oder eine Wiese, die nicht mit einem Ereignis oder einer Person in Verbindung gebracht werden könnten.

Häufig geben die Steine und Fluren wohl nur jenen ihre Geschichte preis, die dort wohnen und sich vom »Moos auf den Steinen« (Gerhard Fritsch), den Lichtungen und Furchen ebenso angesprochen sehen wie jene anderen, die sich von Baudenkmälern, Statuen oder auch »Stolpersteinen« zum Nachdenken einladen lassen und sich der bekannten Erzählformel von: »Es war einmal …« bedienen möchten.

Es gibt auch keinen Ort, von dem sich sagen ließe, dass an ihm Geschehnisse gleichmäßig verlaufen wären. Und es gibt keinen Friedhof, auf dem nicht jene, die man als die »Guten« und jene anderen, die man als die »Schlechten« wahrgenommen hat, nebeneinander liegen würden. Gerade Friedhöfe sind zutiefst demokratische Gedächtnisorte, denn für sie gilt in besonderem Maße die von Gilbert Keith Chesterton angebotene Interpretation von Tradition, bei der »der obskursten aller Gesellschaftsklassen« das Stimmrecht verliehen wird – unseren Vorfahren. (Chesterton, Moral des Märchenreiches).

2017 erschien die erste Auflage des vorliegenden Buchs. Nicht nur der Lauf der Zeit, sondern auch eine Häufung von nicht zu erwarten gewesenen Ereignissen haben es mit sich gebracht, dass ich der Einladung des Böhlau Verlags gefolgt bin und mich an die Überarbeitung des Seinerzeitigen gemacht habe. Es waren dabei nicht nur die innenpolitischen Vorgänge, denen dabei Aufmerksamkeit zu schenken war, sondern auch die internationale Entwicklung und schließlich jene Pandemie, die seit dem Spätwinter 2020 als COVID-19 oder schlicht »Corona«-Pandemie das Leben einer Unzahl von Menschen beherrscht. Immer wieder war auch etwas neu, aufregend und jedenfalls berichtenswert. Ebenso aber drängten sich immer wieder Vergleiche auf und forderten zu Fragen heraus: Ähnelt Corona der sogenannten Spanischen Grippe von 1918–1920? Ist das Scheitern einer Regierung, sind Skandale, ist Korruption etwas, das einem bestimmten Muster folgt und den Schluss zulässt: Das hat es doch schon immer – wenngleich in anderer Form – gegeben. Der Blick auf die Regierenden ist immer lohnend, auch wenn er die Gefahr der Einseitigkeit birgt. In der Ersten Republik gab es schon eine 24-Stunden-Regierung, und die Durchschnittsdauer einer Legislaturperiode betrug zwischen 1918 und 1933 rund eineinhalb Jahre. Die Nutzbarmachung einer politischen Funktion zum Zweck der persönlichen Bereicherung wäre auch an vielen Beispielen festzumachen. Immer wieder gab es Skandale. Manches wurde auch zum Skandal erklärt, weil die Jagd nach Sensationen in der menschlichen Natur und im Bestreben gelegen ist, jegliches Geschehen als neu, noch nie dagewesen, wohl aber für die jeweilige Jetztzeit charakteristisch sehen zu wollen. Dem kann man sich mit an Otto Dix erinnernden Zynismus hingeben, oder aber versuchen, sich eine dem Moment verpflichteten Sichtweise nur so lange hinzugeben, bis sich größere Zusammenhänge auftun. Tatsächlich ist auch nicht alles neu, nur weil es äußerlich dem schon Dagewesenen ähnelt, doch die handelnden Personen sind andere und die Auswirkungen jeglichen Handelns erfordern Differenzierung.

Etwas, das ich verschwiegen habe, das aber anhand meines Geburtsjahrs leicht nachzulesen wäre, ist die nicht zu verleugnende Tatsache, dass ich die gesamte Zweite Republik erlebt und mich daher unweigerlich auch mit ihrer, weil letztlich meiner Geschichte beschäftigt habe. Einmal mehr, einmal weniger. Es ist daher auch ein persönliches Buch, in das nicht nur mein historisches Urteil, sondern auch manches einfließen sollte, an dem ich so oder so Anteil gehabt habe. Es waren das – um aus Peter Handkes Nobelpreisrede vom 7. Dezember 2019 zu zitieren – »Ein-Mann-Exkursionen«, bei denen ich viel erfahren und gelernt habe. Bei der Gelegenheit ließ sich dann auch die beschämende Feststellung treffen, wie viel ich auch schon wieder vergessen habe. Nichtsdestoweniger: Begegnungen mit Politikern, Künstlern, Geistlichen, Freunden, Denkern und Nicht-Denkern haben dazu beigetragen, nicht nur ein Weltbild, sondern auch eine Art persönliche Rahmenhandlung entstehen zu lassen. Die Triebfeder hinter allem war natürlich eine der Grundvoraussetzungen für jegliche historische Arbeit: Die Neugierde. Die selbst auferlegte Beschränkung, die hoffentlich nicht zu spüren ist, rührt von einer für Historiker letztlich unverzichtbaren Sorgfalt her, ebenso wie aus dem Widerstreben, alles was man im Laufe der Arbeit an einem Thema erfahren hat, auch in seine Arbeit einfließen zu lassen.

Gegen Ende wird die Erzählung langsamer, tastender. Am Bewusstsein, beobachtet zu werden, wird sich nichts ändern. Ebenso wenig an der Notwendigkeit, sich selbst ein Urteil zu bilden. Es ist ja noch nichts abgeschlossen; es ist im Fluss. Im altbekannten Strom der Zeit.

Wien im Juni 2021

1 Das Experiment

1Der in der Villa des Senators Giusti del Giardino in der Nähe von Padova (Padua) am 3. November 1918 abgeschlossene Waffenstillstand beendete Österreich-Ungarns letzten Krieg. Über 300.000 Soldaten der k.u.k. Armee traten den Weg in italienische Kriegsgefangenschaft an. Für die meisten dauerte die Gefangenschaft nicht lange. Doch ein Teil der Kriegsgefangenen blieb bis 1921 in italienischen Lagern. Wann immer die Soldaten des Weltkriegs zurückkamen, trugen sie die Erinnerung an den Krieg mit sich. Erst nach und nach ließen sich ungefähre Zahlen über Tote, Verwundete und Vermisste nennen, die das Ausmaß der Katastrophe des Weltkriegs deutlich machten. (Foto: Österreichisches Staatsarchiv/Kriegsarchiv)

Die Schlangen vor den Geschäften wurden immer länger. 1918, im fünften Kriegsjahr, litt man in Österreich-Ungarn Hunger. In unregelmäßigen Abständen wurden in den größeren Orten Plakate angeschlagen, auf denen zum Sammeln von Brennnesselblättern für die Textilerzeugung, Kaffeesatz zur Ölgewinnung oder Maikäfern als Hühner- und Schweinefutter aufgerufen wurde. Wenn es ausnahmsweise Kohle gab, wurde das ebenso bekannt gegeben, wie die Abgabe von Kartoffeln, Mehl und Milch. Für Kriegsblinde, Kriegsinvalide, Militär-Witwen und Waisen und Dutzende Gruppen Not leidender Menschen wurde um Spenden gebeten. Die Bauern stellten Flurwachen auf, um zu verhindern, dass Erdäpfel und Rüben von den Feldern gestohlen wurden. Die noch im Dezember 1917 vorherrschende Zuversicht, dass der Krieg bald zu Ende gehen würde, wich schon im Januar einer allgemeinen Enttäuschung. In einigen großen Städten und Industriezentren der Habsburgermonarchie wurde der Krieg bestreikt. Dann ging man wieder an die Arbeit, schöpfte kurz neue Hoffnung und sah sich abermals getäuscht.

Die Not rührte aber nicht nur vom Hunger her. Die meisten Menschen hatten nicht nur nichts mehr zu essen, sondern kaum noch Hoffnung und keine Perspektive. Man wusste nicht, ob Österreich-Ungarn bestehen bleiben würde oder ob es der Auflösung entgegenging. Ja, man wusste häufig nicht einmal mehr, was man sich wünschen sollte. Die Rede des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson im Washingtoner Kongress am 8. Januar 1918 hatte alles nur noch schwieriger gemacht. Wilson hatte bei der Bekanntgabe seiner 14 Punkte als Punkt 10 genannt: »Den Völkern Österreich-Ungarns, deren Platz unter den Nationen wir geschützt und gesichert zu sehen wünschen, sollte die freieste Gelegenheit zu autonomer Entwicklung zugestanden werden.« Damit war die Selbstbestimmung ein besonderes Thema geworden, das von allen Kriegführenden aufgegriffen wurde. Die elf Nationalitäten der Habsburgermonarchie machten da keine Ausnahme. War nur zu fragen: Galt das für alle Völker?

Zwischen 13. und 15. Juni 1918 traten die österreichisch-ungarischen Truppen von den Dolomiten bis zur Adria zu ihrer letzten Offensive an. Die Alliierten wussten über den Zeitpunkt des Angriffs Bescheid und hatten keine Mühe, die anrennenden Armeen abzuwehren. Ab Ende Juni war Österreich-Ungarn als Gegner unwichtig geworden. Jetzt entfiel sogar die Notwendigkeit, amerikanische Truppenverbände nach Italien zu bringen. Diese wurden daher nach Frankreich geschickt. Noch hielt die Disziplin bei den Fronttruppen der k. u. k. Armee, doch sie nahm von Tag zu Tag ab. Und Abneigung und der immer häufiger aufbrandende, lang aufgestaute Hass der Völker der Habsburgermonarchie aufeinander griffen immer weiter um sich. Angesichts der tristen Situation an der Front und im Hinterland versuchte Kaiser Karl I. (in Ungarn König Karl IV.) noch im letzten Augenblick eine Lösung zu finden, die den Bestand seines Reiches sichern sollte. Die Reaktion des Slowenen Anton Korošec: »Majestät, es ist zu spät«, sagte aber schon alles aus.1 Der Kaiser wollte am 14. September einen einseitigen Friedensschritt setzen. Die Alliierten reagierten nur mit der Feststellung, dass sich zuerst das mit Österreich-Ungarn verbündete Deutschland ergeben müsse, dann könne man auf die Wünsche Kaiser Karls eingehen. Wieder war man um eine Hoffnung ärmer.

Der Auflösungsbescheid

Einen Monat später, am 16. Oktober 1918, erließ Kaiser Karl ein Völkermanifest, wonach Österreich-Ungarn als ein Bund freier Nationen fortbestehen sollte.2 Die ungarische Regierung hatte es allerdings zu verhindern gewusst, dass das Manifest auch für die Länder der Heiligen Stephanskrone galt. Doch auch Ungarn konnte sich der unausweichlichen Fragmentierung des Reichs nicht entziehen. Die Reaktionen auf das Manifest zeigten aber wie die Worte des Slowenen Korošec, dass es zu spät kam. Es wurde als Freibrief, eine Art Auflösungsbescheid gesehen, dass alle Völker der Habsburgermonarchie ihrer Wege gehen konnten. Und die Feindmächte taten alles, um den Zerfall zu fördern. Am 24. Oktober trat die italienische Armee gemeinsam mit britischen und französischen Truppen zu einer letzten Offensive an. Es war der Jahrestag des größten Siegs österreichisch-ungarischer und deutscher Truppen über die Italiener ein Jahr zuvor. An einen Gegenangriff war nicht mehr zu denken. Nach zwei Tagen begann sich die Front aufzulösen.3 Einer der letzten regulären Urlauber, der nach dem Norden fuhr, war der Kaiserschützen-Oberleutnant Engelbert Dollfuß. Er nächtigte in Trient im selben Hotel wie eine vorsorglich nach Südtirol geschickte Waffenstillstandskommission, die seit Anfang Oktober darauf wartete, Kontakt mit den Italienern aufzunehmen. Eine fast schicksalshafte Begegnung von Vergangenem und Zukünftigem. Endlich fasste Kaiser Karl den lange hinausgeschobenen Entschluss, ohne Rücksichtnahme auf Deutschland um Waffenstillstand oder Sonderfrieden zu bitten. Der Minister des Äußern, Gyula Graf Andrássy, erklärte das Bündnis mit Deutschland für beendet. Österreich-Ungarn konnte gar nicht anders, als eigenständig zu handeln. Es war ohnedies viel zu spät, und die Frage, ob die k. u. k. Armee nicht hätte weiterkämpfen können, stellte sich ganz einfach nicht. Der Leiter der österreichisch-ungarischen Waffenstillstandskommission in Trient, General Viktor von Weber, wurde instruiert, dass er ermächtigt sei, einen Waffenstillstand abzuschließen. Er durfte alle Bedingungen akzeptieren, außer solchen, die die Ehre der Armee nicht zuließen oder auf eine totale Entrechtung hinausliefen.

Die österreichische Kommission wurde in die Villa des Senators Giusti del Giardino in der Nähe von Padua, das Gästehaus der italienischen Heeresleitung gebracht. In der Nacht zum 2. November wurden die vom Alliierten Obersten Kriegsrat in Paris ausgearbeiteten Forderungen übergeben. Sie liefen auf eine bedingungslose Kapitulation hinaus und ließen keinerlei Kompromissbereitschaft erkennen. Die Habsburgermonarchie sollte zertrümmert werden, sofern sie sich nicht von selbst auflöste. Es gab zwar auch bei den Siegermächten Stimmen, die für den Erhalt der Monarchie eintraten, aber die Entente hatte alles getan, um die Auflösung zu betreiben und hatte Nord- und Südslawen signalisiert, dass sie als Kriegführende auf Seite der Entente anerkannt wurden. Italien selbst stand ohnedies seit 1915 im Lager der Alliierten. Somit waren alle Überlegungen, eine verkleinerte Habsburgermonarchie zumindest als Rumpfstaat erhalten zu wollen, mehr oder weniger hinfällig. Und nachdem am 30. Oktober auch die Realunion zwischen Österreich und Ungarn aufgelöst worden war, blieb vom Reich nichts mehr übrig außer der Erinnerung.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht des 2. November ermächtigte Kaiser Karl General von Weber den Waffenstillstand abzuschließen. Gleichzeitig gab der Monarch den Oberbefehl über seine Truppen an Feldmarschall Hermann Kövess von Kövessháza ab. Im Waffenstillstandsvertrag wurde gefordert:

1.Sofortige Einstellung aller Feindseligkeiten zu Wasser, zu Land und in der Luft.

2.Vollständige Demobilisierung Österreich-Ungarns und Rücknahme aller Truppen.

3.Räumung aller seit 1914 besetzten Gebiete.

4.Bewegungsfreiheit für alliierte Truppen auf dem ganzen Gebiet der Habsburgermonarchie.

5.Abzug aller deutschen Truppen aus Italien und von der Balkanfront innerhalb von 15 Tagen.

6.Sofortige Heimsendung aller Kriegsgefangenen und Internierten.4

Es gab auch eigene Bestimmungen für die Flotte, doch diese war von Kaiser Karl auf Vorschlag des letzten Flottenkommandanten, Vizeadmiral Miklós von Horthy, schon am 31. Oktober dem Nationalrat in Agram (Zagreb) übergeben worden. Die Alliierten mussten also untereinander ausmachen, was mit der Flotte zu geschehen hatte. Italien schuf insofern vollendete Tatsachen, als es das Flottenflaggenschiff der k. u. k. Kriegsmarine, die »Viribus unitis«, in der Bucht von Pola (Pula) durch Haftminen versenkte. Das Großkampfschiff sollte nicht in südslawische Hände fallen. Und dann war da noch eine besondere Ungenauigkeit im Waffenstillstandsvertrag: Es wurde wiederholt von Österreich-Ungarn und dessen Territorium gesprochen, doch in den Detailvereinbarungen kam eigentlich nur die italienische Front vor. Von Serbien oder Rumänien war nicht die Rede, und schon gar nicht von Russland oder der Ukraine. Für Letztere wurden wohl die im März 1918 geschlossenen Friedensverträge von Brest-Litovsk und Bukarest als gültig angesehen. Was im Osten und Südosten sein würde, war daher in der Villa Giusti zum wenigsten thematisiert worden.

Das k. u. k. Armeeoberkommando befahl den österreichisch-ungarischen Truppen am frühen Morgen des 3. November 1918 die Einstellung der Kämpfe, bevor noch der Waffenstillstandsvertrag unterschrieben war. Ob das voreilig oder nachlässig war, ist bis heute umstritten. Über 300.000 österreichisch-ungarische Soldaten gerieten in italienische Gefangenschaft. Am 3. November 1918, um 15 Uhr, wurde das Waffenstillstandsdokument unterzeichnet. 24 Stunden später trat die Waffenruhe in Kraft. Der Krieg hinkte der politischen Entwicklung um Tage nach.

Die deutschen Abgeordneten

Am 21. Oktober waren im Niederösterreichischen Landhaus, heute: Palais Niederösterreich in der Wiener Herrengasse die deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats zusammengekommen und sprachen darüber, was sein würde, sollte die Habsburgermonarchie tatsächlich zerfallen. Sie waren schon vorsorglich am 17. Oktober zu dieser Sitzung eingeladen worden5 und hielten sich an die im »Völkermanifest« genannten Vorgaben. 106 Deutschnationale verschiedener Parteien, 65 Christlichsoziale und 38 Sozialdemokraten sowie ein Freisozialist,6 darunter auch Abgeordnete aus Böhmen, Mähren und Schlesien, zogen die Konsequenzen aus der ausweglosen Situation des Reichs und suchten einen Minimalkonsens. Schon Anfang des Monats hatte es einzelne Vorstöße gegeben, um einmal auszuloten, welche Möglichkeiten es nach dem absehbaren Ende des Kriegs und dem wahrscheinlichen Zerfall der Monarchie geben könnte. Vertreter der beiden Massenparteien, der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten, hatten dabei zwei Szenarien skizziert: Es könnte im Fall der Auflösung der Monarchie zur Bildung eines losen Staatenbundes kommen, oder aber zum Anschluss der deutschen Gebiete der Habsburgermonarchie an Deutschland. Letzteres konnte man durchaus als Drohung verstehen. Wenn nämlich die anderen, die Polen, Tschechen, Ungarn, Rumänen, Italiener und Südslawen, keine Verbindung mehr halten wollten, dann würde es eben ein um die deutschen Gebiete Österreich-Ungarns vergrößertes Deutschland geben. Auch der Begriff Deutschösterreich wurde schon gebraucht.7

Vorderhand konstituierten sich die deutschen Abgeordneten am 21. Oktober als Provisorische Nationalversammlung. Es war ein Schritt, der zwischen Resignation, Verzweiflung und Hoffnung angesiedelt war. Der Vorsitzende des Gremiums, Viktor Waldner, begann mit der Anrede: »Werte Volksgenossen« und stellte die Intention der Zusammenkunft dar. Seine Rede und die Beiträge der Abgeordneten wurden immer wieder von Händeklatschen und Heilrufen unterbrochen, wie im Protokoll der Versammlung festgehalten wurde. »Heil« war überhaupt das häufigste Wort der Zustimmung. Als Kern einer zukünftigen deutschösterreichischen Regierung wurde ein Vollzugsausschuss gewählt. Andere Ausschüsse folgten. Provisorischer Staatskanzler sollte der Bibliotheksdirektor des Reichsrats, Karl Renner, werden, obwohl nicht davon auszugehen war, dass seine Sozialdemokraten die stärkste politische Kraft sein würden. Doch sie hatten ein klares Ziel vor Augen: Das Ende der Monarchie.8 An ein Abgleiten in die Isolation dachte niemand, und der Führer der österreichischen Sozialdemokraten, der Abgeordnete Viktor Adler, merkte an: Wenn die anderen Staaten, die romanischen und slawischen, denen er zu ihrer Unabhängigkeit gratuliere, sich nicht mit Österreich vereinen wollten, dann würde sich Österreich als ein Sonderbundstaat dem Deutschen Reich angliedern. Das wurde zum Antrag erhoben. Die nächste Sitzung wurde für den 30. Oktober anberaumt. In den neun Tagen bis dahin schrieb Renner einen Verfassungsentwurf, in dem weiterhin offenblieb, was das für ein Staatswesen sein sollte, das es aus der Taufe zu heben galt. Es konnte eine Monarchie oder eine Republik sein, unabhängig oder Teil eines neuen Ganzen.

Am 30. Oktober war es dann tatsächlich so weit: Die Provisorische Nationalversammlung fasste den Beschluss zur Gründung des Staates Deutschösterreich. Die deutschen Abgeordneten waren die letzten, die sich vom Reich lossagten. Sie befürchteten wohl, dass der Frieden seinen Preis haben würde, und dass die meisten Nationalitäten den beiden bis dahin dominanten Völkern des Reichs, den Deutschen der Habsburgermonarchie und den Ungarn, die Schuld am Krieg aber auch an den Fehlern anlasten würden, die unter den Regierungen der Kaiser Franz Joseph I. und Karl I. begangen worden waren. Versuche von Kaiser Karl, die Verantwortung für Vergangenes und Zukünftiges mit Vertretern der politischen Parteien zu teilen, waren gescheitert. Vor allem die sozialdemokratischen Politiker weigerten sich strikt, Regierungsverantwortung in einem kaiserlichen Kabinett zu übernehmen. Karl Renner hätte das zwar ohne weiteres getan, aber seine Partei wollte eine Art »politische Unschuld« signalisieren,9 um unbelastet einen Neubeginn zu versuchen. Also wurde der Pazifist und international angesehene Völkerrechtler Heinrich Lammasch letzter kaiserlich-österreichischer Ministerpräsident. Er konnte aber nur mehr zusehen, wie ein Reich, das auch seines war, liquidiert wurde.

Der Staatsrat Deutschösterreichs tat alles, um deutlich zu machen, dass er mit der Vergangenheit nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Also weigerten sich seine Vertreter auch konsequent, am Abschluss des Waffenstillstands mitzuwirken. Es war ja nicht der Krieg Deutschösterreichs gewesen, daher solle jener »Faktor«, der den Krieg erklärt hatte, den auch beenden. Kaiser Karl konnte darauf nur erwidern, dass auch er nicht jener Faktor gewesen sei, doch er musste trachten, zumindest die Waffenstreckung noch als souveränen Akt erscheinen zu lassen.

Deutschland wollte Deutschösterreich anerkennen. Für die Feinde Österreich-Ungarns war das ein irrelevanter Vorgang, denn sie befanden sich noch im Krieg mit der Habsburgermonarchie und brauchten einen Gegner und keine Neuschöpfung, um einen Frieden diktieren zu können.10 In Russland, das seit zehn Monaten nicht mehr zu den Feindstaaten zählte, sah man das ganz anders und rief zu einer Kundgebung »zu Ehren der österreichisch-ungarischen Revolution« auf.11 Lenin hielt eine umjubelte Ansprache und sah den österreichischen Weg als eine nächste Station auf dem Weg zur Weltrevolution. Davon konnte in Wien aber keine Rede sein. Alles ging seinen geordneten Weg.

Um der Notwendigkeit zu entgehen, ein Staatsoberhaupt zu wählen, gewissermaßen einen »Gegenkaiser«, und weil man auch noch nicht absehen konnte, ob und wie Kaiser Karl das Ende der Monarchie besiegeln würde, behalf sich die Provisorische Nationalversammlung mit einem besonders mühsamen Konstrukt: Es wurden drei Präsidenten gewählt, eigentlich bestimmt, von denen einer den Vorsitz in der Nationalversammlung führen, der andere Vorsitzender des Staatsrats und der dritte Vorsitzender des Kabinettsrats sein sollte. Die drei hatten sich wöchentlich in ihren Funktionen abzulösen. Aber es sollte ja nur ein Provisorium sein, so wie zunächst alles provisorisch war.

Nachdem der Staatsgründungsakt gesetzt worden war, wurden – wie es sich gehört – Ansprachen gehalten. Draußen, in der Herrengasse, standen die Menschen Kopf an Kopf. Mehrheitlich wurde gejubelt und »Heil« gerufen. Man sah schwarz-rot-goldene und rote Fahnen. Ein wenig wurde randaliert. Der Kaiser blieb unerwähnt.

Man lebte in einer Art Schwebezustand. Während sich eine neue Staatlichkeit herausbildete und Parallelinstitutionen zu den kaiserlichen Ministerien ihre Arbeit aufnahmen, taten diese so, als ob sie weiter funktionieren würden. In der Wiener Herrengasse Nr. 7 amtierte der k. k. Ministerpräsident Heinrich Lammasch und suchte ebenso wie die auf die Reichs-Haupt- und Residenzstadt verteilten kaiserlich-königlichen Ministerien der österreichischen Reichshälfte etwas zu verwalten, das es nicht mehr gab. Einige Häuser weiter entfaltete der deutschösterreichische Staatsrat seine Tätigkeit. Es gab auch noch immer die drei gemeinsamen Ministerien Österreich-Ungarns, die sich für die Außenbeziehungen, Krieg und Finanzen der Habsburgermonarchie zuständig sahen und deren Chefs sich auf dem Ballhausplatz im Ministerium des Äußern trafen. Nicht zu vergessen der im Parlamentsgebäude an der Ringstraße untergebrachte Reichsrat, der zwar vertagt worden war, dessen Beamte aber in den Büros saßen, die ihnen einmal zugewiesen worden waren und in die nun die Mitarbeiter der Provisorischen Nationalversammlung Deutschösterreichs hineindrängten.

Am Anfang des neuen österreichischen Staatswesens stand der Irrtum. Man hatte das Kriegsende nicht für den November 1918, sondern für das Frühjahr 1919 erwartet. Es sollte anders kommen. Kaiser Karl hatte sich erhofft, dass Österreich-Ungarn irgendeine Art von Gemeinsamkeit, am besten in Form eines Staatenbundes beibehalten würde – er irrte. Die deutschen Abgeordneten des österreichischen Reichsrats befürchteten das totale Chaos im Augenblick des Auseinanderbrechens des alten Staatswesens und suchten nacheinander bei der k. u. k. Armeeführung, bei den Siegermächten und vor allem bei der deutschen Reichsführung Rat und Hilfe. Alle erklärten sich für nicht zuständig. Der nächste und fundamentalste Irrtum war wohl der, dass sich die deutschen Österreicher der Habsburgermonarchie der Illusion hingaben, ihr Staat würde so klein nicht sein. Das wurde am 21. Oktober so locker hingesagt und fand sich neun Tage später im (ersten) Staatsgrundgesetz. Da wurde dann aufgezählt, auf welche Gebiete ein deutsches Österreich Anspruch erhob: Deutsch Böhmen, Deutsch Südböhmen (Böhmerwaldgau), Deutsch Südmähren, das deutsche Gebiet um Neubistritz (Nová Bystřice), das Sudetenland sowie die deutschen Sprachinseln Brünn (Brno), Iglau ( Jihlava) und Olmütz (Olomouc). Zudem, so hieß es in der »Staatserklärung« vom 21. Oktober, sei auch das bisher zu Ungarn gehörende, an Deutschösterreich angrenzende geschlossene deutsche Siedlungsgebiet »dem deutschösterreichischen Staate einzuverleiben«.12

Diese zwar zum wenigsten zusammenhängende, jedoch nennenswerte Landmasse würde jedenfalls genügend Ressourcen besitzen, um sich zu einem geordneten Staatswesen auszuwachsen. Und was die anderen Völker des zerfallenen Reichs anlangte, würden diese nach der Loslösung doch irgendeine Art Gemeinsamkeit suchen. – Auch das erwies sich als falsch. Wie selbstverständlich machte man sich Gedanken über die Zukunft und hätte Vergangenes gern ungeschehen gemacht. Ein wenig verdrängen ließ es sich jedenfalls. Es war daher zum wenigsten der Fall, dass man sich selbstkritisch die Frage stellte, ob nicht gerade Österreich ein höheres Maß an Verantwortung für das Geschehene zu tragen hätte als andere. Und es waren wohl auch nur wenige, die dann so wie der Chefredakteur der »Arbeiter-Zeitung«, Friedrich Austerlitz, am 5. November 1918 die rhetorische klingende Frage nach dem »verdienten Schicksal« zum Thema eines Leitartikels machten. Es waren ja nicht nur die Siegermächte, die Österreich und Ungarn eine historische Schuld aufhalsen wollten, sondern auch jene, die sich als »unterdrückte Nationen« sahen. Letztlich hatten zwar auch sie ihren Anteil am Geschehenen, an den Erfolgen wie an den Misserfolgen, bis hin zum Zerfall der Habsburgermonarchie. Doch sie sahen die Schuld ausschließlich bei den deutschen Österreichern und den Ungarn. Diese sollte denn auch das »verdiente Schicksal« ereilen.

Wer aber waren »die« Österreicher, und wo war ihr Platz im Nachkriegseuropa? Sollte nicht auch für sie gelten, was Präsident Wilson mit dem Selbststimmungsrecht der Völker gemeint hatte? Keiner wusste es noch genau. Einiges sprach dafür, dem aus dem Zerfall der Habsburgermonarchie hervorgegangenen Gebilde, dem »Rest«, wie das der französische Ministerpräsident Georges Clemenceau dann so kurz und treffend formuliert haben soll,13 dieselbe Stellung einzuräumen wie den nicht-deutschen und nicht-ungarischen Teilen des Reichs, die dann eben Nachfolgestaaten waren. Doch dagegen sprach nicht zuletzt das Selbstwertgefühl, das gerade den deutschen Österreichern eigen war. Man sah sich nicht als »Rest«. Das Habsburgerreich war doch letztlich aus den deutschen Kern- oder Erblanden hervorgegangen, hatte eine höhere Verantwortung aber auch Last als andere zu tragen gehabt, war immer im Zentrum gestanden und hatte sich mit dem Reich in einem weit höheren Maß identifiziert als die anderen Teile der Habsburgermonarchie. Was aber war nun Österreich wirklich?

Weitgehend einig war man sich darüber, dass Deutschösterreich (Südostdeutschland, wie es gelegentlich auch genannt wurde, wollte man sich nicht zu Wortgebilden wie »Ostsass«, »Donau-Germanien«, »Treuland« oder »Teutheim« versteigen),14 eine demokratische Republik werden sollte. Voraussetzung dafür wären eine bürgerliche Ordnung und ein den westlichen Demokratien vergleichbares politisches System. Und noch etwas: Aus der »Schützengrabengemeinschaft« von Deutschen und Österreichern, wie sie Karl Renner bezeichnet hatte,15 sollte ein mitteleuropäisches Staatswesen werden, das seine Zukunft selbst gestalten konnte. Dass das im Einklang mit Deutschland geschehen würde, wurde vorausgesetzt. Einige Tage hindurch wusste man im November 1918 freilich nicht, ob sich die Staatsformen in Einklang bringen lassen würden, denn während Deutschösterreich schon ein klares Bekenntnis zur demokratischen Republik abgelegt hatte, war Deutschland noch ein Kaiserreich. Erst einige Tage später ließ sich feststellen, dass es die notwendige Übereinstimmung gab. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. floh in die Niederlande und machte den Weg für eine deutsche Republik frei. Philipp Scheidemann proklamierte sie am 9. November in Berlin. Jetzt war es wieder Österreich, das nachziehen und den letzten entscheidenden Schritt in Richtung Republik machen musste.

Zunächst ging es dabei um die Person von Kaiser Karl. Er kämpfte um den Erhalt eines Rests von Macht, doch er hatte keine Machtmittel mehr. Bis zuletzt hatte er noch geglaubt, dass es für ihn wie für das Habsburgerreich noch eine gemeinsame Zukunft geben würde. »Es wird doch gehen«, hatte er noch Ende Oktober zum Generalrat der österreichisch-ungarischen Bank, Michael Hainisch, gemeint.16 Der Kaiser hatte auch eine Vorleistung erbracht, die ihn sogar für die Radikalen akzeptabel machen sollte: Am 6. November begnadigte er Friedrich Adler, den Sohn des Vorsitzenden der Sozialdemokraten, der nach dem Mord am österreichischen Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh 1916 zum Tod verurteilt und dann zu lebenslanger Haft begnadigt worden war. Sollte Karl gehofft haben, sich mit der Freilassung Friedrich Adlers irgendeine Gegenleistung verdient zu haben, hatte er sich geirrt. Noch wollte man ihn aber nicht einfach ignorieren. Trotz seines Unvermögens, Österreich anders als im Wege einer bedingungslosen Kapitulation und als zerschmettertes Staatswesen aus dem Krieg zu führen, galt noch immer ein hohes Maß an Loyalität und Respekt dem Monarchen gegenüber. Und vielleicht wollten die Alliierten doch eher mit ihm als mit Vertretern der Neuschöpfung Deutschösterreich verhandeln. Als politischer Faktor sollte der Monarch freilich ausgeschaltet werden, sonst würde das Wort von der demokratischen Republik keine Geltung erhalten.

Nach längerem Zögern und vielen Einwänden willigte der Kaiser am 11. November ein, einen Verzicht auf die Teilnahme am politischen Geschehen Deutschösterreichs auszusprechen. »Ich verzichte auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften«, hieß es in dem im Juli 1927 verbrannten Dokument. Der Kaiser wurde also nicht abgesetzt und des Landes verwiesen, er dankte auch nicht ab, sondern wurde auf eine sehr moderate Art aus dem Geschehen ausgeblendet. Er enthob noch die letzte kaiserliche Regierung ihres Amts, verließ Schönbrunn und übersiedelte in das Marchfeld, um in Schloss Eckartsau die weitere Entwicklung abzuwarten. Dort unterschrieb er am 13. November eine ähnliche Verzichtserklärung für Ungarn, wie er sie zwei Tage zuvor für Österreich akzeptiert hatte.

Da fortan der Kaiser keine Macht mehr hatte, man der letzten kaiserlichen Regierung und dem Armeeoberkommando nur noch die Liquidierung des Reiches und seiner bewaffneten Macht zugestehen wollte, war zu fragen, wer dem neuen Staatswesen Macht geben würde. Denn das Problem war wohl, dass Deutschösterreich nur dann eine Chance auf einen politischen Neubeginn hatte, wenn es auch die Macht besaß, die Beschlüsse der Provisorischen Nationalversammlung und deren gesetzgeberische Akte umzusetzen und ihnen Respekt zu verschaffen. Daher wurde schon am 30. Oktober 1918 mit dem Aufbau einer neuen militärischen Einrichtung, der Volkswehr, begonnen. Es ging ganz banal darum, dem neuen Staatswesen ein Minimum an Sicherheit zu garantieren, denn der Stadtkommandant von Wien, Feldmarschallleutnant Johann Ritter von Mossig, hatte nur mehr vier Kompanien zur Verfügung, also rund 500 Mann, mit denen sich weder Plünderungen noch Krawalle heimkehrender Soldaten verhindern ließen. Und erst recht nicht eine noch weitergehende Veränderung, eine bolschewistische Revolution. In Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und vor allem Wien hatten sich Soldatenräte gebildet, die ganz eigene Vorstellungen von der Zukunft hatten.17 Heimkehrende Soldaten wurden genötigt, auf ihren Kappen die kaiserlichen Farben gegen rote Kokarden auszutauschen. Gelegentlich wurden Offizieren ihre Distinktionen heruntergerissen. Rücksicht gab es keine. Der Durchzug der Heimkehrer dauerte rund drei Wochen.

Einige Tage hindurch befürchtete man im Staatsrat, dass die Regierung gestürzt werden könnte. Und Renner soll gesagt haben: »Wenn ich jetzt an einem Laternenpfahl vorbeikomme, habe ich immer ein etwas sonderbares Gefühl.«18 Er sprach offen aus, dass die Koalition von Bürgern, Bauern und Arbeitern ein sehr fragiles Konstrukt war und seitens der Arbeiterschaft abgelehnt wurde.19 Gleichzeitig hatte er Sorge wegen eines »contrarevolutionären Anschlags« und erreichte, dass der Staatsrat ihm eine Hauswache von 60 Mann bewilligte.20 Es waren aber nur einige Radikale, die Gewalt anwenden wollten. Nicht zuletzt sie sollten mittels der Volkswehr diszipliniert werden. Die allermeisten und schließlich Zehntausenden Angehörigen der Volkswehr waren aber ohnedies zufrieden, wenigstens ein Dach über dem Kopf zu haben und der drückendsten Existenzsorgen ledig zu sein. Sie dachten nicht an Revolution. Die Volkswehr wurde denn auch in Kürze weit mehr eine soziale Einrichtung, als dass sie tatsächlich für militärische Einsätze heranzuziehen gewesen wäre.21 Das wurde sehr rasch deutlich.

Anfang November begannen slowenische Truppen aus dem neuen südslawischen Staat der Slowenen, Kroaten und Serben (SHS) damit, die südlichen und teilweise von Slowenen besiedelten Gebiete Kärntens sowie der Steiermark zu besetzen. In den meisten Ortschaften war man froh, dass irgendwer den Plünderungen Einhalt gebot. Man wollte keine Kämpfe und überließ den Slowenen das Gebiet südlich der Drau. Sie hätten sogar noch größere Gebiete besetzen können, verkannten aber ihre Chance.22 Erst allmählich stießen sie auf den Widerstand lokaler Bürgerwehren. Ein bewaffneter Konflikt zeichnete sich ab. Die Volkswehr spielte dabei keine Rolle. Salzburg sowie Tirol bis zum Brenner waren vom 6. bis 11. November von bayerischen Truppen besetzt. Am 7. November begannen italienische Einheiten mit dem Vormarsch nach Norden, überschritten den Brenner und besetzten schließlich Innsbruck. Als Siegermacht war Italien dazu berechtigt. Wo die Grenzen im Norden und Osten verlaufen würden, war noch völlig ungewiss. Die Volkswehr konnte auch darauf keinen Einfluss nehmen.

Gewalt griff um sich. Statt dem Staat exekutive Gewalt zu geben und die Sicherheitsprobleme zu lösen, wurde die Volkswehr Teil der Probleme. Die idealistische Annahme, der neue Staat würde ohne Militär auskommen, wie sie u. a. vom letzten Generalstabschef der Isonzo-Armee, Oberst im Generalstab Theodor Körner, Edler von Siegreingen, vertreten wurde und in dem Reim »Ohne Waffen, ohne Pfaffen wird die Jugend sich die Zukunft schaffen«,23 ihren Ausdruck fand, hielt der Realität der Nachkriegszeit nicht stand. Rote Garden und Soldatenräte waren immer wieder bereit, Gewalt einzusetzen. Und sie wollten nicht einfach zusehen, wie sich da sehr ordentlich und bedächtig, immer auf die Verwaltungsabläufe bedacht, Rechtskontinuität wahrend und gewissermaßen legitim ein neuer Staat definierte. Jetzt, so glaubte eine Handvoll Radikaler, wäre der Augenblick gekommen, um wie in Russland Räte zu bilden und eine bolschewistische Revolution auszulösen. Auch Karl Renner war zunächst nicht sehr optimistisch, und als er gefragt wurde, ob man den Bolschewismus zu fürchten hätte, meinte er: »Der Bolschewismus wäre wenigstens organisierte Anarchie; wenn wir nur keine unorganisierte bekommen!« Tatsächlich wusste man ja noch immer nicht, was das eigentlich für ein Staat sein würde, ja nicht einmal der Name war unumstritten. Beide Teile des Wortes Deutschösterreich befriedigten nicht. Und als Befürchtungen laut wurden, die Siegermächte würden die Bezeichnung Österreich als Fingerzeig dafür nehmen, dass man diesem einzigen weiterbestehenden Österreich die ganze Kriegsschuld aufhalsen könnte – da war man mit dem Staatsnamen gar nicht mehr zufrieden. Dennoch wurde das Wort weiterverwendet, nicht zuletzt in der provisorischen Verfassung und im Gesetzesentwurf über die Staats- und Regierungsform, in dem festgelegt wurde, dass Deutschösterreich eine demokratische Republik sein sollte. Im § 2 hieß es: »Deutschösterreich ist Bestandteil der Deutschen Republik«.24 Es wurde also nicht eine Absicht bekundet, sondern so getan, als ob das alles schon Gewissheit wäre. Lediglich ein Abgeordneter zögerte. Der Christlichsoziale Wilhelm Miklas hätte die Entscheidung über die Staatsform gern einer Volksabstimmung unterzogen. Doch es galt, den Minimalkonsens aufrecht zu erhalten. Also gab Miklas nach.

2 Die verhinderte Revolution

2Ausspeisung von Kindern in Wien, 1919. In den Monaten nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ermöglichte nur ausländische Hilfe das Überleben der städtischen Bevölkerung. Anlässlich des Beginns einer Ausspeisungsaktion der Anglo-American Society of Friends wurde erhoben, dass in Wien und Niederösterreich 72 % der Schulkinder zwischen dem 6. und dem 14. Lebensjahr sehr schlecht oder schlecht ernährt waren. Um hier effektiv zu helfen, wurden in den ersten Nachkriegsjahren täglich 300.000 Ausspeisungsportionen verteilt. Die Hälfte entfiel auf Wien, alles andere auf die Bundesländer. 40.00 Kinder fanden 1919 vor allem in der Schweiz und den Niederlanden Pflegeeltern, die sie drei bis sechs Monate aufnahmen. Auslandskomitees, wie das New Yorker »Vienna Milk Relief«, betrieben eigene Kinderfürsorgeanstalten. (Foto: Wienbibliothek im Rathaus, Tagblattarchiv, Fotosammlung [TF-999167])

Es könnte eine der schwereren Fragen in einem Quiz sein: An welchem Tag begann die Erste österreichische Republik, am 30. Oktober oder am 12. November 1918? Die Antwort darauf würde vielleicht in einer Diskussion münden. Rechtshistoriker könnten argumentieren, dass der Beginn vom Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung zur Gründung des Staatswesens Deutschösterreich am 30. Oktober 1918 markiert wurde.25 Karl Renner gab noch 1947 dem Maler Max Frey den Auftrag, die »Ausrufung der Republik in der Herrengasse am 30. Oktober 1918« auf einem Gemälde festzuhalten, das für das von Renner initiierte Museum der 1. und 2. Republik gedacht war.26 Ein Aquarell von Moritz Ledeli hält dieselbe Szene aus einer anderen Perspektive fest.27 Dem Argument, mit dem Beschluss über die grundlegenden Einrichtungen der Staatsgewalt wäre die Staatsgründung vollzogen worden, wäre entgegenzuhalten, dass es sich bei der Sitzung im Niederösterreichischen Landhaus nur um eine Absichtserklärung gehandelt habe, denn am 30. Oktober wäre Österreich ja noch Monarchie gewesen. Erst nach dem Verzicht Kaiser Karls sei der Weg zur Ausrufung der Republik frei geworden. Die Geschichte der Republik beginne daher mit dem 12. November 1918 mit dem Beschluss der Provisorischen Nationalversammlung über die Provisorische Verfassung und der Ausrufung der Republik vor dem Parlament. Sicher ist, dass sich dieser Tag im historischen Gedächtnis festgesetzt hat, dass das Staatsgründungsdenkmal unweit dem Parlamentsgebäude dieses Datum trägt, der Abschnitt der Wiener Ringstraße zwischen Bellaria und Rathaus von 1919 bis 1934 »Ring des 12. November« hieß, die Verfassunggebende Nationalversammlung am 25. April 1919 den 12. November zum Staatsfeiertag erklärte,28 und es am 1. Mai 1934, dem Tag, an dem dann auch schon wieder das Ende der Republik gekommen war, heißen sollte, nun würde »das Österreich des 12. November 1918 zu Grabe getragen«. Demnach wäre also der 12. November 1918 als richtige Antwort zu geben. Auch dieser Tag und die Geschehnisse vor dem Parlament wurden in einem Gemälde von Rudolf Konopa festgehalten.29 Die Gemälde von Frey und Konopa, tragen unmissverständlich die Bezeichnung »Ausrufung der Republik«. Nur Örtlichkeiten und Daten sind verschieden. Was stimmt also? Brechen wir den Diskurs ab.

Ein Staat entsteht

Der 12. November 1918 endete nicht so friedlich, wie er begonnen hatte. Am Nachmittag sollte von der Provisorischen Nationalversammlung das Staatsgrundgesetz verabschiedet werden und die gewissermaßen offizielle Ausrufung der Republik erfolgen. Alles war vorbereitet, die einzelnen Marschsäulen, die sich vor dem Parlament treffen sollten, waren genau eingewiesen. Man schätzte die Menge auf 150.000 Menschen. Leichter Regen konnte die Feststimmung nicht beeinträchtigen. Die meisten, Männer wie Frauen, waren gut gekleidet. Man trug Hut. Als die Mitglieder der Provisorischen Staatsregierung nach der Annahme der Provisorischen Verfassung auf die Rampe des Parlaments traten, um einer im hereinbrechenden Dunkel wartenden Menge die Gründung der Republik zu verkünden und die rot-weiß-rote Fahne aufgezogen wurde, die das alte Schwarz-Gelb der Kaiserzeit ablöste, holten ein paar Angehörige der Roten Garde die Fahne wieder herunter. Sie schnitten mit ihren Bajonetten das Weiß des Mittelstreifens heraus und hissten die zusammengebundenen roten Fetzen als Zeichen der beginnenden Revolution, »wogegen der größte Teil der Menge protestierte«.30 Anschließend wurden – weil es das Programm so vorsah – weitere Ansprachen gehalten. Schließlich stimmte der Arbeitergesangsverein ein Lied an. Dann aber suchte ein Dutzend Rotarmisten ins Parlamentsgebäude einzudringen und begannen eine wilde Schießerei. Die Ruhe konnte nur mühsam wiederhergestellt werden. Doch das Revolutionsgespenst nahm Gestalt an. Es fand nur deshalb keine Nahrung, da die Zukunft des Landes trotz aller Hypotheken einigermaßen gesichert schien.

Keinesfalls stand am Anfang die These von der Lebensunfähigkeit Österreichs. Man machte sich weiterhin Hoffnungen, dass Deutschösterreich ein ansehnliches Staatsgebiet haben würde. Die sehr einseitige Festlegung, mit der in Wien dekretiert wurde, was alles zu Deutschösterreich gehören und was schließlich auch in dem mit 225 Sitzen gedachten neuen Parlament Sitz und Stimme haben sollte, war zwar mit den anderen Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie nicht abgestimmt worden, aber man durfte sich doch wohl noch einiger Illusionen hingeben. Oder? Auch in den führenden Wirtschaftskreisen Deutschösterreichs herrschte im November 1918 noch vorsichtiger Optimismus. Dieser gründete nicht zuletzt darauf, dass sich eine Art Konzentrationsregierung gebildet und es den Anschein hatte, dass alle politischen Kräfte am Aufbau des neuen Staatswesens mitwirken wollten. Man sah das Land als nationalen Einheitsstaat und nicht als Wrack eines Großreichs. Dann wurde zusammengezählt, was dieser neue Staat alles haben würde – immer vorausgesetzt, es würde ihm das zufallen, was man anfänglich in Rechnung stellte: Leistungsfähige Industrien, Eisen, Holz, Wasserkraft und vor allem Kapital. Wien war das Bankenzentrum der Monarchie gewesen, und Geld gab es noch zur Genüge. Österreich-Ungarn war ja im November 1918 nicht bankrott gewesen. Auch die böhmischen Industrien würden ihre Kredite vornehmlich von deutschösterreichischen Instituten beziehen, glaubten die Konzernherren in Wien. Die Kriegsgewinne müssten investiert, die Betriebe auf neue Produkte umgestellt werden, und wenn das alles so lief, dann sei die Lebensfähigkeit eines auch klein gewordenen Landes kein Thema. Wenn der Staat für die innere Ordnung sorgte, würde die Bevölkerung sicherlich rasch Vertrauen zu ihm gewinnen.

Anders als in Deutschland suchte man nicht vielleicht Zuflucht in einer Legende vom »Dolchstoß«, dem Österreich-Ungarn zum Opfer gefallen wäre. Zwar wurde wie schon während der Kriegsjahre die Haltung von Nord- und Südslawen als kausal für den Zusammenbruch gesehen, doch gleichzeitig mit einer gewissen Befriedigung festgestellt, dass man nun frei in seinen Entscheidungen sei. Jetzt hieß es nicht mehr auf Ungarn, Tschechen und andere gern als »Totengräber« der Monarchie bezeichnete Völker des Habsburgerreichs Rücksicht zu nehmen; jetzt konnte Deutschösterreich unbeirrt seiner eigenen Wege gehen. Darin waren sich Politiker, Bevölkerung und nicht zuletzt auch die katholische Kirche einig, und gerade letztere schaffte die Umstellung von der Stütze des habsburgischen Herrscherhauses zur Stütze der demokratischen Republik vergleichsweise klaglos. Mag sein, dass eine »blutende Wunde« blieb,31 doch sie ließ sich hinter allem, das da anders geworden war, verbergen. Der Klerus wurde aufgefordert, die Gläubigen von der Kanzel zur »unbedingten Treue gegenüber dem nun rechtmäßig bestehenden Staate Deutschösterreich« zu ermahnen. Der Klerus wird sich der aus dem Feld oft verbittert heimkehrenden Soldaten annehmen müssen, hieß es im November 1918 im Wiener Diözesanblatt. »Ein wohl mühevolles aber auch segensreiches Stück Seelsorgearbeit, das den Heimgekehrten schon ob ihrer unvergesslichen Verdienste um die Erhaltung der heimatlichen Scholle nicht vorenthalten werden sollte.«32

Was alles anders geworden war und was sein würde, musste freilich noch erläutert werden und setzte bei den Kindern an. In Lesebögen für die Volksschulen hieß es daher:

Manches von dem, was die großen Leute jetzt reden, versteht ihr am Ende doch noch nicht. Da sagen sie jetzt: Nun ist unser Vaterland Österreich – nein Deutschösterreich heißen sie es jetzt – nun ist Deutschösterreich eine Republik und wir sind Republikaner. Was das wohl heißen mag? … Nun wollen wir, die wir die deutsche Sprache reden, uns auch zusammentun und unser Haus so einrichten, wie es uns gefällt. Kein Einzelner soll uns etwas vorschreiben können, sondern das wollen wir tun, was die Mehrheit von uns für gut hält. … Ja, aber wir sind doch zehn Millionen Menschen in Deutschösterreich. Sollen die immer gefragt werden, was sie wollen? Gewiss nicht, denn das wäre zu umständlich. Drum wählen die zehn Millionen Menschen von Zeit zu Zeit Leute, zu denen sie Vertrauen haben. Diese Leute kommen dann zusammen und machen die Gesetze, nach denen wir alle uns richten müssen. So macht man es in einer Republik. … Wenn Ihr groß werdet, soll unser liebes Deutschösterreich wieder ein glückliches, frohes Land sein und Ihr sollt stolz sein können auf Euer Vaterland.33

Skizze 1: Gedachter Umfang und Grenzen des Staatsgebiets von Deutschösterreich, November 1918

Der Übergang von der Monarchie zur Republik schien so selbstverständlich zu sein, dass sich zwar die meisten der Zäsur bewusst waren, sie aber gleichzeitig als ein Experiment erlebten, dessen Bestandteil sie selbst waren. Man hatte keine Erfahrung mit der Demokratie. Für die Masse der Bevölkerung traten trotz aller Verweise auf eine gesicherte Zukunft in einem demokratischen Staatswesen Existenzsorgen und der Wunsch nach einem Halt in einer aus den Fugen geratenen Welt in den Vordergrund. Der Anschluss an Deutschland schien die Lösung schlechthin zu sein. Die großdeutschen Parteien und die österreichischen Sozialdemokraten traten aus voller Überzeugung dafür ein; die Christlichsozialen mit einiger Zurückhaltung. Die Sozialdemokraten erwarteten sich von einer vollständigen nationalen Einigung den raschen Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Daher hieß es auch – und hier wird der Gegensatz zum Kapital deutlich – ein selbständiges Österreich sei nicht lebensfähig.34 Der Anschluss an Deutschland war freilich auch bei den Sozialdemokraten nicht ganz unumstritten, und Staatskanzler Renner hätte weit lieber einen Bund unabhängiger Staaten mit einer gemeinsamen Zentralverwaltung gesehen. Wer dem angehören sollte, blieb offen.35

Wenig später relativierte sich das Anschlussstreben, und man musste zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland von den österreichischen Avancen nur mäßig angetan war. Vor allem befürchtete man in Berlin, dass ein Zuwachs um Österreich – wenn er überhaupt möglich sein sollte – von den Siegermächten mit verschärften Friedensbestimmungen beantwortet werden würde. Deutschland wäre solcherart ja gestärkt aus dem Krieg hervorgegangen. Also signalisierte der Staatssekretär des Auswärtigen, Wilhelm Solf, Ablehnung. Dann aber, als es um die Ausarbeitung der Weimarer Verfassung ging, wurden doch auch Vertreter Deutschösterreichs eingeladen, an diesem Werk mitzuwirken.36 So ganz sicher war man sich also in Deutschland nicht und behielt ein Eisen im Feuer.

Schließlich war die Anschlussfrage aber so etwas wie eine politische Karte, die einmal gespielt und ein anderes Mal im Talon gehalten wurde. Auf jeden Fall sollte der Anschluss Österreichs an Deutschland sowohl eine Rückkehr zur Monarchie als auch eine Bolschewisierung verhindern.37 Letzteres schien den Siegermächten eine reale Gefahr zu sein, der sie zwar begegnen wollten, sich aber gleichzeitig eingestehen mussten, dass sie dazu kaum Möglichkeiten hatten. Noch war es nicht ausgemachte Sache, dass das Experiment mit der demokratischen Republik gelingen würde, und dass sich nicht radikale Gruppen das Ende des alten Österreich zunutze machen und eine Revolution anzetteln könnten. Die Gewalt, die während des Kriegs so alltäglich geworden war, wollte ja noch lange nicht abebben. Immer wieder konnte man daher den Ruf nach alliiertem Militär oder zumindest Ordnungstruppen hören. Die britische Regierung fand freilich keinen Gefallen an französischen und italienischen Plänen, Truppen nach Österreich zu schicken. Schließlich einigten sich die drei Mächte darauf, in Wien kleine diplomatische oder Militärmissionen zu installieren. Man wollte die Entwicklung zumindest aus der Nähe beobachten. Am 30. November 1918 beauftragte das Londoner War Office Oberstleutnant Sir Thomas Montgomery-Cuninghame als britischen Militärbeauftragten nach Wien zu gehen. Cuninghame war bis 1914 Militärattaché in Wien gewesen. Nun sollte er – fast wie ehedem – aber nicht nur in Deutschösterreich den Willen der Alliierten durchsetzen, sondern auch für Ungarn zuständig sein und regelmäßig aus der Tschechoslowakei berichten. Schon seine ersten Nachrichten aus Wien klangen besorgniserregend. Deutschösterreich drohte eine Hungerkatastrophe.

Bereits Ende Oktober 1918 hatte der letzte kaiserliche Staatsminister für Ernährung, Hans Löwenfeld-Russ, darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht möglich sein würde, Österreich mittel- und längerfristig zu ernähren. Er sollte Recht behalten. Die Alliierten beließen es nämlich bei der kriegsbedingten Hungerblockade, und angesichts der Nahrungsmittelkatastrophe, zumindest aber -knappheit in vielen europäischen Staaten gab es auch kaum Hoffnung auf Importe.

Die einzige Hoffnung, die Löwenfeld-Russ, der übergangslos als Staatssekretär Mitglied der Provisorischen Staatsregierung Deutschösterreichs geworden war, hegte, war die, dass Österreich mit Hilfe Deutschlands seine Existenzprobleme überwinden würde. Doch Deutschland stornierte im November seine schon zugesagten Lieferungen. Es kämpfte selbst ums Überleben. Auch die Hoffnung, dass Ungarn einspringen und den Hunger in Deutschösterreich stillen würde, zerschlug sich. Jenseits des Grenzflusses Leitha hatte man die Forderung Wiens nach Anschluss der westungarischen Komitate damit beantwortet, dass Ungarn kurzerhand die Lebensmittellieferungen drosselte.38 Da halfen auch flehentliche und auf Plakate gebannte Bitten, Wien nicht verhungern zu lassen, nichts. Und dann kam es noch schlimmer: Angesichts des sich abzeichnenden Streits um die Zugehörigkeit von Südböhmen und -mähren sowie der deutschen Gebiete Schlesiens waren die Tschechen nicht mehr bereit, Lebensmittel nach Deutschösterreich zu liefern. Sie waren auch regelrecht alarmiert, dass Deutschösterreich in sein Grundgesetz ganz einfach hineingeschrieben hatte, es würde ein Teil Deutschlands sein, denn wenn tatsächlich alle von Österreich beanspruchten Gebiete zu diesem (Groß-)Deutschland gehören sollten, würde die Tschechoslowakei regelrecht in die Zange genommen werden. Für die Prager Regierung unvorstellbar. Sie reagierte dementsprechend. Wollte man nicht verhungern, musste Österreich seine territorialen Wünsche zumindest einmal vorläufig zurückstellen und mit den Tschechen reden. Löwenfeld-Russ stellte schon in der Staatsratssitzung am 8. November die Situation unmissverständlich klar: »Bei allem nationalen Empfinden muss man die Frage stellen, ist es möglich, die nationalen und politischen Bedürfnisse durchzusetzen, wenn wir vorher verhungert sind?« Die Antwort ergab sich von selbst. Doch es sollte sich als ungemein schwierig erweisen, mit der neuen Tschechoslowakei ins Gespräch zu kommen. Es gab aber doch noch einen Funken Hoffnung: Fünf Tage nach Abschluss des Waffenstillstands von der Villa Giusti hatte die amerikanische Regierung mitgeteilt, sie würde die »befreiten Völker Europas« mit Nahrungsmitteln unterstützen.39 Der deutschösterreichische Staatssekretär für Äußeres, Otto Bauer, Nachfolger des am 11. November plötzlich verstorbenen Viktor Adler, notifizierte daher den Amerikanern nicht nur die österreichische Neuschöpfung, sondern reflektierte auch auf das amerikanische Angebot. Auch Deutschösterreich würde zu den »befreiten Völkern« gehören, würde also mit Nahrungsmitteln aus den USA zu beliefern sein. Präsident Wilson ließ in seiner Antwort mitteilen, die USA würden dem Land zwar die Einfuhr von Nahrungsmitteln ermöglichen, allerdings nur gegen Bezahlung. Die USA wollten sich aber zumindest nicht die britisch-französische Haltung zu eigen machen und die Blockademaßnahmen auch über das Kriegsende hinaus aufrechterhalten. Daher wurde wohl Deutschland bis März 1919 nicht beliefert, im Fall Österreichs jedoch stillschweigend eine Art Gleichsetzung mit den befreiten Nationen vorgenommen, auch wenn sich der Beginn der Hilfslieferungen dann dramatisch verzögerte. Und allein ehe es möglich war, mit dem Direktor der »American Relief Administration«, Herbert Hoover, Gespräche zu beginnen, dauerte es noch bis Jahresende. Bis dahin war in Deutschösterreich alles an Nahrung aufgebraucht worden, was noch irgendwo aufzutreiben gewesen war. Ab Januar 1919 überlebte man dank ausländischer Hilfe. Diese aber war – wie angekündigt – nicht unentgeltlich. Vielmehr wurden Zahlungsabkommen geschlossen und ging es um Sicherstellungen, ohne die keine Hilfe zu erwarten gewesen wäre.

Für die Bereitschaft der USA, Österreich Lebensmittelkredite zu gewähren und damit sein Überleben zu sichern, war letztlich ausschlaggebend, dass das drohende Gespenst der Bolschewisierung konkrete Formen annahm. Von Großzügigkeit war weiterhin nicht die Rede, und als die USA schließlich Deutschösterreich das Geld vorstreckten, mit dem die Nahrungsmittellieferungen bezahlt werden sollten, musste die Regierung den USA im Gegenzug wesentliche Staatseinnahmen verpfänden und schließlich im Juni 1919 der temporären Transferierung der österreichischen Gold- und Devisenbestände nach Italien zustimmen.40 Amerikaner und Franzosen brachten schließlich auch die Tschechoslowakei dazu, Österreich mit Kohlen zur Gaserzeugung zu beliefern.41

Die täglich antransportierten Mengen an Mehl und Getreide stiegen signifikant an. Im April wurde die Mehlquote pro Person verdoppelt, ebenso die Fettquote. Beide erreichten allerdings nur die (äußerst bescheidenen Mengen) vom Dezember 1917 bzw. Januar 1918.42

Anderswo spitzte sich die Krise weiter zu. Österreichs Großbanken mussten ihre Beteiligungen abstoßen. Sie konnten gar nicht anders, da sie ihre Liquidität einzubüßen drohten. Sie verkauften ihre Mehrheitsanteile an den dann italienischen Werften in Triest und Fiume (Rijeka). Die Tschechen luden französische Finanzinstitute ein, die bis dahin österreichischen Anteile bei der Firma »Škoda« zu erwerben. Daraufhin wurde »Škoda« von »Schneider-Creusot« übernommen. Als es dem italienischen »Fiat«-Konzern gelang, mit Hilfe des berühmt-berüchtigten Spekulationskaisers Camillo Castiglioni die Aktienpakete der »Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft« zu übernehmen, ging ein weiteres österreichisches Großunternehmen in ausländische Hände über. Dass dabei das österreichische Staatssekretariat für Finanzen unter dem Kurzzeit-Staatssekretär Joseph Schumpeter die Hände im Spiel hatte, machte die Sache nicht besser. Gerade solche Aktionen, die eine Notverstaatlichung von großen Unternehmungen verhinderten, waren aber Wasser auf die Mühlen derer, die Wirtschaftsfragen auch unter ideologischen Gesichtspunkten sahen. Und für die Sozialdemokraten war der Ausverkauf gleichzusetzen mit einem Verlust von Arbeitsplätzen und auch insofern klassenkämpferisch zu interpretieren, als der »Westen« als imperialistisch und kapitalistisch bezeichnet werden konnte und sich durchaus Parolen der russischen Oktoberrevolution übernehmen ließen.

Trotz eines zunehmenden verbalen Radikalismus versuchte die sozialdemokratische Parteiführung Deutschösterreichs aber immer wieder zu beruhigen. Der Unterstaatssekretär für Heerwesen, Julius Deutsch, wiegelte auch ab, als einiges darauf hindeutete, die politische Führung könnte die Kontrolle über die Volkswehr verlieren. Vor allem in Wien empfand man sie schon als regelrechte Plage, und ihre Stärke von weit mehr als 15.000 Mann gab Anlass zu Sorge. Einzelne Volkswehrtrupps begannen damit, nicht nur Gasthäuser und Geschäfte nach Lebensmitteln und Verwertbarem zu durchsuchen. Jetzt kamen auch Privatwohnungen dran. Es wurde geplündert. Die Polizei war machtlos. Ein militärisches Einschreiten schien den alliierten Militärmissionen weiterhin zu riskant. Sie hatten lediglich 200 Mann zur Verfügung, standen also einer Übermacht gegenüber.43

Auch sonst sah es nicht gut aus. Immer häufiger wurden Anschlussparolen gesichtet. Der schon vor dem Krieg latente Antisemitismus richtete sich verstärkt gegen die in Österreich, vor allem in Wien gebliebenen galizischen sowie die »bodenständigen« Juden. Überall brodelte es. Die Regierung tat, was sie konnte, und kämpfte mit einem ganzen Paket von Reformen gegen das Revolutionsgespenst an. Die Koalition beschloss den Acht-Stunden-Tag für Fabrikarbeiter und eine generelle 48-Stunden-Arbeitswoche, fixierte Urlaubsansprüche und Arbeitslosenversicherung, alles Dinge, die bereits während der Streikwelle im Januar 1918 gefordert worden waren. Aber natürlich blieben Wünsche offen. Bis zur Regelung der friedensvertraglichen Fragen war jedoch Wohlverhalten angesagt. Es sollte möglichst keine Unruhen geben, da es sonst gleich geheißen hätte: Österreich wird kommunistisch.

Für den 16. Februar 1919 wurden die ersten allgemeinen Wahlen ausgeschrieben, die ersten seit Juni 1911, und überhaupt die ersten, bei denen auch Frauen ihr Stimmrecht ausüben konnten. Im ausschließlich männlich besetzten Staatsrat sah man das zwar als »Sprung ins Ungewisse«, akzeptierte aber das Unvermeidliche.44 Es sollte Wahlpflicht herrschen. Die Vorwahlzeit brachte verständlicherweise eine zusätzliche Polarisierung und Radikalisierung. Eine Zeitlang war überlegt worden, für die von Deutschösterreich abgetrennten deutschen Gebiete der früheren Monarchie Abgeordnete ganz einfach zu ernennen, da sie ja an den Wahlen nicht teilnehmen konnten, doch man nahm davon Abstand. Das Ergebnis der Wahlen war dann eindeutig: Die Sozialdemokraten erreichten mit 72 Mandaten die Mehrheit; die Christlichsozialen bekamen 69 Sitze in der als Konstituierende Nationalversammlung bezeichneten Volksvertretung; deutschnationale Gruppen erhielten 26 und Splitterparteien weitere drei Mandate in dem 170 Sitze zählenden Parlament. Tatsächlich waren nur 159 Abgeordnete gewählt worden; elf wurden kooptiert.45 Erstmals wurden auch Frauen in die Nationalversammlung gewählt, wenngleich man bei ihrer Bestellung ein gewisses Zögern bemerken konnte. Am 4. März wurden sechs Abgeordnete der Sozialdemokraten angelobt, eine Woche später mit Hildegard Burjan auch eine christlichsoziale Abgeordnete. Schließlich, wenngleich erst ein Jahr später, überließen auch die Großdeutschen ein Mandat einer Frau. Darin einen »revolutionären Akt« sehen zu wollen, wäre aber wohl überzogen.46 Staatskanzler wurde Karl Renner. Die Regierung wurde in Form einer großen Koalition von Sozialdemokraten und Christlichsozialen gebildet und verfügte über eine satte Mehrheit von 141 Abgeordneten. Einer der ersten Beschlüsse der neu gewählten Konstituierenden Nationalversammlung war die Bestätigung des Grundgesetzes vom 12. November 1918. Deutschösterreich war eine demokratische Republik Und Deutschösterreich war »Bestandteil des Deutschen Reiches«.47 Zumindest auf dem Papier.

Ein Kaiser zu viel

Das Reichsratsgebäude an der Wiener Ringstraße war von jenen, die dort nichts mehr zu tun hatten, geräumt worden. Es hieß auch nicht mehr Reichsratsgebäude, sondern Parlament. Nur der größte Sitzungssaal behielt seinen Namen: Es war der Reichsratssitzungssaal. Er wurde aber kaum gebraucht. Die Konstituierende Nationalversammlung kam ohne ihn aus. Sie hatte jedoch eine übervolle Tagesordnung. Wieder, wie schon im November 1918, beschäftigte man sich zunächst vorrangig mit der Person des Kaisers. Er war keinesfalls zur Unperson geworden, auch wenn ihm Vieles vorgeworfen wurde und sich verbale Attacken gleichermaßen gegen ihn, die Aristokratie und vor allem an die Adresse der militärischen Führung im Krieg richteten. Dass der Kaiser eine Art Störfaktor war, schien jedoch evident. Er war bis zuletzt in Wien im offenen Wagen gefahren und akklamiert, zumindest aber bestaunt worden. Dann war er nach Schloss Eckartsau übersiedelt und wartete darauf, von irgendeinem der Nachfolgestaaten ein Signal zu bekommen, dass er willkommen wäre. Es kam nicht. Der Ex-Kaiser hatte wie so viele die »Spanische Grippe«. Sein Speiseplan war ein wenig eintönig, da es fast täglich Wild gab, das in den Donauauen geschossen wurde. Und er wartete.