Unter Deck - Dylin Hardcastle - E-Book

Unter Deck E-Book

Dylin Hardcastle

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Beschreibung

Eben fühlte sich Olivia noch aufgehoben in der überwältigenden Magie des Meeres, als die Segelschifffahrt mit fünf gleichaltrigen Männern unvermittelt zum traumatischen Erlebnis wird. Ein wilder, aufwühlender, sprachgewaltiger Roman, der alle Sinne anspricht.

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INHALT

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ÜBER DIE AUTORIN

Sophie Hardcastle wurde 1993 in Australien geboren. Sie studierte in Oxford Englische Literatur und in Sydney Kunst mit Schwerpunkt Malerei. Sie ist Autorin, Künstlerin und Drehbuchautorin. Sie hat schon für diverse Zeitschriften Artikel verfasst und wurde mehrfach ausgezeichnet. Die Antarktis hat sie selbst bereist. Unter Deck ist ihr erster Roman in deutscher Übersetzung.

ÜBER DAS BUCH

Eben fühlte sich Olivia noch aufgehoben in der überwältigenden Magie des Meeres, als die Segelschifffahrt mit fünf gleichaltrigen Männern unvermittelt zum traumatischen Erlebnis wird. Ein wilder, aufwühlender, sprachgewaltiger Roman, der alle Sinne anspricht.

Für Robbie

DUNKELROSA

»Es ist nicht romantisch, wenn du mit Ende zwanzig stirbst«, sagte er zu mir, seine Augen tiefschwarz, halb im Schatten. Er schüttelte den Kopf. »Das wäre eine solche Verschwendung.«

Ich weiß noch, dass wir bei diesem Gespräch in meinem Wohnzimmer waren und dass ich ihm nichts darauf antwortete, aber ich dachte danach noch lange über seinen Satz nach, wobei das Wort Verschwendung in meinem Kopf Schlieren bildete wie ein Ölteppich. Mir war klar, dass er recht hatte. Natürlich war es eine Verschwendung. Doch es ging mir nicht um Romantik, als ich vorhersagte, dass ich mit Ende zwanzig sterben würde, auch nicht um die alte Geschichte von der jungen Künstlerin, die ein viel zu frühes Ende findet. Es war eher ein konkretes Wissen – das Wissen, dass meine Zeit gekommen war.

Ich sterbe am Abend vor meinem Geburtstag, mit neunundzwanzig, fast dreißig Jahren. Mir hat die Zahl neunundzwanzig – zwei und neun – schon immer viel besser gefallen als dreißig – drei und null. Zwei ist rot und neun dunkelrosa; drei ist ein unangenehmes Grün und null ein leeres Weiß. Im Gegensatz zu dem, was ihr jetzt vielleicht denkt, sterbe ich jedoch nicht mit Absicht. Nicht wirklich.

Andererseits womöglich doch. Unser Leben besteht aus einer Vielzahl von Entscheidungen.

Ich zucke mit den Schultern. Fröstele. Es ist kalt hier auf dem nassen Achterdeck, am Übergang zwischen den letzten zehn Jahren und den nächsten. Unter mir ist es dunkel, Eisberge schweben im Grau. Alles dehnt sich aus. Ich blicke zu Brooke hinüber, und sie zwinkert, und ich lächle, und mein Gesicht schmerzt.

Ich halte die Luft an. Ist Atmen eine bewusste Entscheidung?

Ich weiß es nicht. Ich weiß es immer noch nicht. Ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Ich wünschte, du hättest mir so vieles gesagt.

Zum Beispiel, dass es gleichermaßen erstaunlich und langweilig sein wird, wenn ich endlich das grüne Leuchten sehe.

Oder dass das Leben eine Aneinanderreihung von Wörtern mit völlig falscher Interpunktion ist und dass jemand das Komma an der Stelle entfernt hat an der man Luft holen wollte sodass man, es stattdessen hier tun muss und wenn man es versäumt hat Pech gehabt Chance, verpasst.

Maggie, ich wünschte, du hättest es mir gesagt. Auf See hört niemand deine Schreie.

MEERESGARTEN

ROSE

Ich bin noch im Dazwischen gefangen und stelle mir vor, die Erde würde schaukeln. Alles bewegt sich vor und zurück, vor und zurück.

Dann komme ich zu mir. Mein Kinn ist speichelverkrustet, und meine Zähne sind pelzig. Ich öffne mühsam meine verquollenen Augen und sehe ein kleines Fenster, nur ungefähr einen Meter über meinem Kopf. Die Sonne schwingt am Himmel auf und ab, und mir geht auf, dass die Erde tatsächlich schaukelt. Ich stütze mich auf einen Ellbogen. Mein Kopf hämmert, als hätte mir jemand mit einem Ziegelstein eins übergezogen. Ich sehe mich um, und während meine Augen den Raum scharfstellen, warte ich darauf, dass endlich alles einen Sinn ergibt. Vergeblich. Die Wände sind gewölbt und ragen direkt links und rechts des Betts auf – wenn man es überhaupt ein Bett nennen kann. Ich liege auf einer hauchdünnen Matratze, eingezwängt zwischen einer riesigen Segeltuchtasche und einer Angelrute. Von draußen sind eigenartige dumpfe Schläge zu hören, und als ich den Kopf hebe, schwingt die Sonne immer noch auf und ab. Ich spüre, wie meine Brust eng wird, wie sich mein Brustkorb zusammenschnürt, als wäre ein Atemzug darin stecken geblieben und käme nicht mehr heraus. Wo um alles in der Welt bin ich?

Ich bin angezogen, wenigstens das, trage ein Seidenkleid, meine Jeansjacke, zwei rosa Socken und einen Stiefel. Als ich eine Hand unter mein Kleid schiebe, ertaste ich Unterwäsche. Der Inhalt meiner Handtasche liegt um mein Kissen herum verteilt. Geldbeutel – vorhanden. Karten und Bargeld sind noch da. Mit zitternden Händen greife ich nach meinem Handy. Der Akku ist leer. »Scheiße«, murmele ich.

Ich schlängle mich aus dem beengten Bett und finde meinen zweiten Stiefel auf dem Boden neben einem Eimer voller Schwämme. Auf unsicheren Beinen wanke ich aus dem Zimmer. Ich haue mir den Kopf an der Decke an. Welcher Idiot hat dieses Haus gebaut? Ich bin zwar groß, aber nicht so groß.

Die Erde schaukelt immer noch, als ich in einen etwas größeren Raum mit Küchenzeile, Stockbetten, Fensterschlitzen und einem am Boden verschraubten Tisch stolpere. Ich taste mich hindurch, halte mich an Ecken und Kanten fest, um das Gleichgewicht zu halten, schleppe mich mühsam zu einer Leiter, die nach oben ins Freie führt. Oben angelangt brauchen meine Augen einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen.

»O Gott.« Mein Flüstern ist kaum hörbar.

Vor mir sitzt ein alter Mann, der Ölzeug und eine orangefarbene Wollmütze trägt. Seine Haut ist wettergegerbt, salzverkrustet und mit Pigmentflecken übersät, sein Gesicht ziert ein zottiger weißer Bart. Hinter ihm sehe ich nur Meer, so weit ich blicke. Die Wasseroberfläche ist dunkel und aufgewühlt. Mir läuft ein Schauder über den Rücken. Der Horizont ist unendlich weit weg.

»Morgen.«

Ich starre ihn verständnislos an.

Er lacht.

»Wo bin ich?«

»Was?«, fragt er. »Du musst lauter sprechen.« Er zeigt auf sein Ohr. »Bisschen taub.«

»Wo bin ich?«, wiederhole ich lauter.

»Du bist auf der Tasmansee.«

Zu meinen Füßen sehe ich Taue, die um Metallstumpen gewickelt sind, Leinen, die zu einem vor mir aufragenden Mast führen. Der alte Mann zieht an einer Leine, woraufhin sich die Falten in dem über mir hängenden Segel glätten, wie Haut, die sich um einen Knochen strafft. Ich spüre, dass sich das Schiff kaum merklich aufbäumt.

»Der was?«

»Der Tasmansee«, antwortet er und zeigt auf die endlose Weite des Meeres, als müsste ich erkennen, worin sich dieses Gewässer von jedem anderen Gewässer unterscheidet. »Auf einer Segelyacht, falls du es noch genauer wissen willst«, fährt der alte Mann fort. Er legt eine Hand aufs Bootsdeck. »Und diese Segelyacht heißt Sea Rose.«

Ich fühle mich, als würde mich jemand mit beiden Händen würgen, und einen Moment denke ich, dass ich mich übergeben muss. »Ich will sofort an Land.«

»Kannst du auch. In ein paar Tagen … wenn wir in Neuseeland angekommen sind.«

Das Blut weicht aus meinem Gesicht. »Was?!«

»Ich überführe die Yacht nach Neuseeland und brauchte noch jemanden, der mir hilft. Du meintest, du würdest gern mitkommen.«

»Das soll ein Witz sein, oder? Wann habe ich das gesagt?«

»Gestern Abend.«

Ich tauche wieder ein in die alkoholvernebelten Stunden der letzten Nacht und suche nach etwas, irgendetwas, das mir auf die Sprünge helfen könnte, finde jedoch nur ein klaffendes schwarzes Loch.

»Warum haben Sie mein Gerede für bare Münze genommen? Ich war sturzbetrunken!«

Das Schiff hebt sich über einer Welle und stürzt dann krachend nach unten. Mir dröhnt der Kopf, und ich schmecke Galle auf der Zunge. »Im Prinzip ist das eine Entführung.«

»Eine was?«

»Eine Entführung! Dafür wandern Sie in den Knast!«

»Tja«, erwidert er und lehnt sich mit einem breiten Grinsen zurück. »Das würde voraussetzen, dass jemand davon erfährt … Ich werde dich wohl einfach umbringen müssen.«

Ich mache einen halben Schritt nach hinten und stoße mit dem Fußknöchel gegen ein aufgerolltes Seil, falle rückwärts aufs Deck. Der Aufprall raubt mir die Luft.

Der alte Mann bricht unvermittelt in Gelächter aus, und seine Augen verschwinden unter tiefen Falten. Zwischen zwei Lachsalven stößt er keuchend hervor: »Alles okay, Kleine?«

Ich versuche etwas zu antworten, aber es gelingt mir nicht.

»Wirf mal einen Blick über die Schulter«, sagt er.

Ich rapple mich vom Boden auf, drehe mich um und sehe Land. Einen lang gestreckten Strand, versprengte, von Grün umgebene Häuser, eine felsige Landzunge, einen Leuchtturm … Den Leuchtturm kenne ich. Es ist der Barrenjoey-Leuchtturm. Sydney. Wir sind noch in Sydney.

Ich wende mich wieder dem alten Mann zu.

»Weißt du jetzt, wo wir sind?«

Ich nicke.

»Ich bin unterwegs zum Royal Prince Alfred Yacht Club in Newport. Muss meine Rose dort zur Reinigung vorbeibringen. Bei diesem Wind müssten wir in einer Stunde da sein. Ich fahre dich von dort zurück in die Stadt.«

»Dass Sie jetzt auf ritterlich machen … ändert auch nichts …« Ich huste, bin immer noch atemlos von meinem Sturz. »Sie … haben mich entführt.«

»Du warst völlig weggetreten, junge Dame. Konntest mir nicht mal deinen Namen nennen. Sollte ich dich etwa so nach Hause fahren lassen? Nein. Jane und ich mussten dich tragen, weil du nicht mehr laufen konntest.«

»Wer ist Jane?«

»Die Restaurantleiterin vom Cruising Yacht Club. Sie meinte, sie hätte dich auf der Damentoilette gefunden. Ich hab dich an Bord deinen Rausch ausschlafen lassen. Als ich dich heute Morgen weckte, um dir zu sagen, dass ich losmuss, sagtest du, ich solle dich in Ruhe lassen.«

»Daran erinnere ich mich gar nicht.« Der kalte Wind packt von allen Seiten meinen Körper. Ich verschränke die Arme und versuche, irgendeine konkrete Erinnerung an die letzte Nacht auszugraben. »Und wo haben Sie geschlafen?«

Er sieht mir in die Augen. »In meinem Bett«, antwortet er. »Bei mir zu Hause.« Er sagt es so ernst und mit derartiger Entschiedenheit, dass ich ihm tatsächlich glaube. Mit einem wehmütigen Lächeln versichert er: »Mach dir wegen mir mal keine Sorgen, Kleine. Ich habe immer nur eine einzige Frau geliebt.« Das Lächeln verschwindet, und er fixiert einen Punkt jenseits des Horizonts. »Und diese Frau gibt es nicht mehr.«

Ich lockere die Verschränkung meiner Arme ein wenig. »Wie hieß sie?«

Wieder legt er die Hand aufs Bootsdeck, streicht darüber, als würde er eine geliebte Frau liebkosen. »Robynne. Robynne Rose.« Er räuspert sich. »Wie auch immer. Ich hatte keineswegs vor, dich zu entführen, aber mein Termin in der Werft ist um zehn, und ich dachte, du würdest bis dahin sowieso schlafen.«

Ich werde von Erleichterung überwältigt. »Echt gruselig, so aufzuwachen«, sage ich, schlurfe zu ihm und strecke die Hand aus. »Aber was solls? Ich bin Olivia.«

Er gibt mir seine schwielige Lederpranke, und wir schütteln uns die Hände. »Mac.«

Auf den ersten Blick ist Mac wie grauer Schiefer: kalt und hart. Bis er lacht. Dann wellt sich der Schiefer, und ich erkenne, dass dieser Mann so tiefgründig ist wie der dunkle Ozean um uns herum. Pechschwarze Geschichten schlängeln sich in seinem Inneren wie Seeschlangen in Unterwasserhöhlen.

Wenn mein Vater mir – was selten vorkam – eine Geschichte erzählte, war immer alles überdeutlich und quälend offensichtlich. Als würde er mit einer Nadel Worte in glattes Metall ritzen und sie immer wieder nachfahren.

Bei Mac ist das anders. Seine Art zu erzählen besteht darin, mich durch Felsspalten zu führen, die gespickt sind mit Seepocken, garniert mit Seesternen. Die voller tanzender Algen stecken.

Sofort fühle ich mich an meinen Großvater erinnert, dessen Geschichten jeden Raum mit Farbe füllten.

Mac schildert mir, wie Robynne und er einmal an einem Strand auf Barbados so viel Rum tranken, dass sie nachts zum falschen Schiff zurückruderten und in einem fremden Cockpit miteinander schliefen. Ich beuge mich vor. Macs Stimme klingt wie Donner in einer Gewitterwolke, verwegen und aufregend. Spannungsgeladen. Ich könnte ihm stundenlang zuhören.

Er hält inne. »Ist dir kalt?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, der Tee tut mir gut.«

Er lächelt. »Prima.«

Ich sitze mit Mac im Cockpit und trage eine seiner Öljacken. Sie ist riesig und schlägt Falten, wenn ich die Hände hebe, um einen Schluck Tee zu trinken. »Danke.«

Ich blicke an Macs Schulter vorbei. Die Wasseroberfläche ist hügelig wie Gänsehaut, als würde das Meer jetzt, am Übergang von Herbst zu Winter, frösteln.

»Wie alt bist du?«, fragt Mac.

»Man fragt eine Frau nicht nach ihrem Alter.«

Er schnaubt. »Du bist doch keine Frau.«

»Wie bitte?«

»Jedenfalls noch nicht.« Er zieht das Steuerrad näher zu sich heran, und das Boot legt sich noch mehr auf die Seite. »Bist du überhaupt schon so alt, dass du Alkohol trinken darfst?«

»Ich bin einundzwanzig«, stelle ich klar. Zwei: rot. Eins: elfenbeinfarben. »Ich darf sogar schon in Amerika Alkohol trinken.«

Er verdreht die Augen und verzieht den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Wie gehts deinem Kopf?«

»Schlecht.«

Mac lacht. »Kann ich mir vorstellen. Du konntest dich gestern kaum noch auf den Beinen halten.«

Beim Gedanken an meinen Zustand stellen sich meine Nackenhaare auf. »Nicht … ich will es gar nicht wissen.«

»Kann ich verstehen«, lenkt er ein. »Tut mir leid. Dass du so betrunken warst, scheint ja auch gar nicht deine Schuld gewesen zu sein.«

Ich lege den Kopf schief. »Wie meinen Sie das?«

»Der junge Mann, mit dem du da warst – der sah nicht aus, als wäre es immer ganz einfach mit ihm.«

Ganz plötzlich werde ich vom vorherigen Abend überspült wie ein Schiffsdeck von einer Welle.

Gemeinsames Abendessen mit Adam im Cruising Yacht Club am Hafen von Sydney. Mit dem glatt rasierten, Rolex tragenden Adam.

»Wir sind zusammen.«

»Dein Freund lässt dich bewusstlos auf der Damentoilette liegen?«

»Wir hatten uns gestritten.« Im Grunde meine ich damit, dass Adam sich mit Adam gestritten hat. Während ich gleichzeitig zwischen die Fronten geriet und abseits stand. Stumm. Abgewürgt.

»Worum ging es bei dem Streit?«

»Um meine … meine berufliche Laufbahn. Wir stehen kurz vor unserem Abschluss in Wirtschaftswissenschaften, und mir wurde ein Praktikum bei Lazard angeboten, dieser großen Investmentbank. Gestern habe ich ihm eröffnet, dass ich noch nicht weiß, ob ich es annehme«, erkläre ich. Ich rechne so fest mit der üblichen Reaktion – Was für eine einmalige Gelegenheit! –, dass ich Macs Antwort zunächst gar nicht höre.

»Sorry«, entschuldige ich mich. »Was meinten Sie?«

»Ich habe gefragt, was ihn das angeht.«

»Na ja, sein Argument war, ich dürfe eine Chance, die ich nur einmal im Leben bekomme, nicht einfach so ausschlagen«, antworte ich und höre wieder Adams Stimme: Ich kenne mindestens zehn Leute, die für so eine Möglichkeit töten würden! Und: Du hast ein Riesenglück, dass dir so ein Praktikum überhaupt angeboten wird.

Glück, denke ich. Nach der ganzen Plackerei.

Reines Glück. Ein Zufallstreffer.

Mac schüttelt den Kopf und sagt dann mit einer Bestimmtheit, die meine bisherige Welt ins Wanken bringt: »Du bist ein eigenständiger Mensch, Oli. Vielleicht macht ihm das Angst.«

Ich lache. »So hat mich noch nie jemand genannt.«

»Oli?«

»Ja.«

»Gefällt dir der Name?«

Ich lächle. »Ja, gefällt mir.«

Vom Restaurant des Yachtclubs aus beobachten wir, wie die Sea Rose mit einem Kran aus dem Wasser gehievt und aufgebockt wird. Mac hat mich zu einem riesigen Erdbeer-Milchshake und einer Portion Pommes eingeladen. Ich vermische Mayonnaise und Ketchup auf meinem Teller, bis eine lachsrosa, mit Pfeffer gesprenkelte Mischung entsteht. Mac sagt: »Dein Akzent – du bist nicht hier aufgewachsen, oder?«

Ich schüttle den Kopf. »Bis ich fünf war, wohnten wir in Manly, danach in Hongkong und Singapur.« Ich nehme schlürfend einen Schluck von meinem Milchshake.

»Wie kam es denn dazu? Haben deine Eltern dort gearbeitet?«

»Mein Vater leitete damals den Südostasienbereich eines Ölkonzerns.«

»Öl, aha.«

»Ja.«

Mac öffnet den Mund, um etwas zu sagen, scheint es sich dann aber anders zu überlegen. Er blickt zur Werft hinüber, wo sich die Sea Rose in ihre über dem Boden schwebende Wiege schmiegt.

»Im Moment wohne ich bei meinem Großvater in Manly«, erkläre ich. »Mein Vater hat mich zum Studieren hierher zurückgeschickt.«

Mac wendet sich wieder mir zu. »Für den Business-Abschluss?«

»Wirtschaftswissenschaften.«

»Und, was hast du jetzt vor?«

»Keine Ahnung. Lazard, vermute ich mal …«

Mac mustert mich mit stechendem Blick. »Ich dachte, du hättest keine Lust auf das Praktikum.«

»Na ja, wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich Kunst studiert, aber Dad meinte, dass er dafür nicht zahlt.«

Schweigen senkt sich über uns herab.

Ich seufze. »Mit Kunst lässt sich sowieso kein Geld verdienen.«

Mac lacht. »Du solltest unbedingt eine Freundin von mir kennenlernen.«

»Wen?«

»Maggie.« Sein Mund legt sich mit rosaroter Herzlichkeit um ihren Namen. »Sie war jahrelang Kuratorin in London. Jetzt ist sie im Ruhestand und wohnt hier bei mir in Sydney.«

Ich rutsche auf meinem Stuhl nach vorn. »Wow, voll cool.«

»Du würdest sie mögen«, versichert mir Mac. »Eine unglaubliche Frau.«

»Wann kann ich sie kennenlernen?«

»Ich komme am Mittwoch wieder her, um die Sea Rose zurück zum Cruising Yacht Club zu segeln. Maggie begleitet mich. Willst du nicht auch mitkommen?«

Ich denke an unseren Törn zur Pittwater-Bucht heute Morgen, daran, wie oft ich aus vollem Hals lachen musste. »Ja, klar. Liebend gern!«, antworte ich mit einem Grinsen.

»Aber kein Alkohol am Dienstagabend, okay, Kleine?«

»Nie wieder«, schwöre ich mit heißen Wangen.

»Ha! Das habe ich schon mal irgendwo gehört.« Er schnappt sich meine letzte Pommes frites. »Na los, machen wir uns auf den Rückweg.«

Wir schlendern quer über den Parkplatz, während die Sonne durch ein Wolkenloch späht. Mac entschuldigt sich und verspricht, gleich wieder da zu sein. Er kehrt noch einmal zur Werft zurück und legt seine flache Hand von unten an die Sea Rose. Ihr Kiel ist voll und rund, verfärbt von Algen und anderem Bewuchs. Während Mac über den Rumpf seiner Yacht streicht und ihn zärtlich küsst, flüstert er etwas vor sich hin. Mir ist auf einmal unbehaglich zumute, und ich verlagere nervös das Gewicht. Ich fühle mich, als würde ich heimlich zwei Liebende beobachten und Zeugin eines Moments werden, der nur für sie bestimmt ist.

Im Auto schaltet Mac das Radio ein.

Die Musik durchströmt mich in einem Schwall zarter Rottöne. »Ich liebe diesen Song«, sage ich. »Er fühlt sich so schön rosa an.«

»Wie war das?«

»Ich sagte, er fühlt sich rosa an.« Als mir aufgeht, wie seltsam das für ihn klingen muss, lache ich verlegen und füge hinzu: »Ich weiß auch nicht. Nur so ein Gefühl von mir.«

Mac schüttelt den Kopf und lächelt. »Ich kann es kaum erwarten, bis du endlich Maggie kennenlernst.«

LAVENDEL

Ich kann meinen Wohnungsschlüssel nicht finden und kippe daher meine Handtasche auf Pas Fußabtreter aus. WILLKOMMEN IM PARADIES.

Auf Knien durchwühle ich das Chaos. »Scheiße«, murmele ich und stehe auf, um an die Tür zu klopfen. Nichts hasst Pa mehr. Ich weiß noch genau, wie ich vor vier Jahren hier ankam, schweißbedeckt, müde vom Jetlag, mein gesamtes Leben auf dem Rücken mit mir herumschleppend. Damals erhielt ich keine Antwort auf mein Klopfen, obwohl drinnen eindeutig der Fernseher plärrte. Schließlich rief ich laut: »Hallo?«

»WAS?!«

Sein ungehaltener Schrei war ein Schock in Lindgrün.

Früher wäre Nan da gewesen, hätte zartrosa wie eine Pfirsichblüte die Tür geöffnet und mich willkommen geheißen. Es hätte frisch aufgebrühten Tee gegeben, und ein Blech Kekse wäre frisch aus dem Ofen geholt worden. Früher wäre ich von Pas liebevollen Armen umschlossen worden, die mich hochnahmen und herumwirbelten. Nans lächelnde Augen und ihr fröhliches Geplänkel wären da gewesen. Pas wilde Geschichten und sein heiseres Gelächter.

Wie schrill es dagegen klang, dieses »WAS?!«.

»Ich bins, Olivia!«, rief ich zurück.

»WER?«, übertönte er den laut dröhnenden Fernseher.

Ich hämmerte inzwischen mit der Faust an die Tür. »Olivia!«

Erst waren schlurfende Schritte zu hören, dann ging die Tür einen Spalt auf. »Kein Interesse. Verschwinden Sie.«

Ich packte die Tür, bevor er sie wieder zuknallen konnte. »Pa, hör auf damit. Ich bin es – Olivia.«

Da ging die Tür ganz auf, und der alte Mann, dessen Haut grauer war als bei unserer letzten Begegnung, musterte mich von Kopf bis Fuß. Er trug eine Cricket-Kappe, ein gebügeltes weißes Hemd, eine beigefarbene Hose und Lederschuhe. »Ich dachte, du kommst erst heute Nachmittag«, sagte er.

Ich blickte auf die Uhr. »Es ist drei.«

Pa zuckte mit den Schultern und machte einen Schritt nach hinten, um mich hereinzulassen. »Sieht schwer aus«, knurrte er und wies auf meinen Rucksack. »Ich würde dir ja helfen, aber mein Rücken ist kaputt.« Er rieb sich die Hüfte.

»Kein Problem«, beruhigte ich ihn und folgte ihm nach drinnen. Er bewegte sich quälend langsam.

»Hier ist das Wohnzimmer«, sagte er, als wäre ich noch nie hier gewesen. »Küche.« Er zeigte in die beengte Küche mit ihrem Linoleumboden und einer leeren Obstschale. »Auf dem Balkon ist es morgens am schönsten.«

Ich blickte auf den Balkon hinaus, auf dem eine halb verdorrte Sukkulente in einem Terrakottatopf vor sich hin vegetierte.

»Ich dachte, man legt sich Sukkulenten zu, weil die alles überleben«, sagte ich.

Pa lachte, es klang wie seichtes Wasser. »Nichts lebt für immer.« Er tippte an eine geschlossene Tür. »Das ist mein Zimmer. Wenn ich da drin bin, möchte ich nicht gestört werden. Verstanden?«

Ich nickte.

Dann zeigte er mir das Badezimmer und das Zimmer, das von nun an meins sein würde – wobei er mich anwies, die Kisten unter dem Schreibtisch und die Kiste ganz unten im Schrank nicht anzurühren. Anschließend entschuldigte er sich und kehrte zu seinem Cricketspiel im Fernsehen zurück.

Ich packte meinen Koffer aus und ging dann ins Wohnzimmer zurück, wo er mich ignorierte, als ich ihn fragte, ob er auch eine Tasse Tee wolle.

Erst als Werbung lief, drehte sich Pa zu mir um. »Entschuldige, dass ich dich nicht am Flughafen abholen konnte. Ich hatte zu tun.«

Ich sah mich um, ließ den Blick über das halb ausgefüllte Kreuzworträtsel auf dem Wohnzimmertisch gleiten, das Cricketspiel im Fernsehen, das gerade weiterging, die drei leeren Bierflaschen. »Schon gut«, sagte ich. »Mir gefällt deine Kappe.« Aber er hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder voll auf das Spiel gerichtet. Er griff unter den Tisch, zog eine Schachtel Zigaretten hervor und zündete sich eine an. Auch das war neu.

Ich stand in der Küche und sah ihm dabei zu, wie er an der Zigarette zog, wie die Glut aufloderte. Er atmete aus, und eine Rauchwolke erfüllte den Raum. Pa räusperte sich. Es klang, als hätte er Schleim im Hals. Seine Hände zitterten. Ich blickte auf seine Finger, dünn und knotig, seine gelblichen Fingernägel, seinen locker sitzenden Ehering. Schon damals erkannte ich, dass er ohne Nan buchstäblich verhungerte. Dass die Zeit an seinem Körper nagte. Aber nicht schnell genug.

Der Wasserkessel auf dem Herd begann zu pfeifen. Ich goss Wasser über meinen Tee, beobachtete, wie es die Farbe wechselte, eine andere Form annahm. Auf dem Küchentresen lag ein Strauß Lavendel, braune Stiele mit schlaff herunterhängenden, pelzigen Blüten. Wie lange er wohl schon dort lag?

Wenn ich als Kind zu Besuch hier gewesen war, hatte Nan immer Lavendel in meinen Kleiderschubladen versteckt, damit ich den Duft, der so typisch für sie war, überall mit mir herumtrug. Mir war das damals wie Zauberei erschienen. Die Blumen auf dem Küchentresen hingegen siechten so langsam dahin wie Pa selbst.

Ich gesellte mich zu ihm ins Wohnzimmer und blickte durchs Fenster den Hügel hinauf, wo gerade die Lichter des St.-Patrick-Konvikts angingen. »Weißt du noch, wie du mir immer erzählt hast, St. Pat’s würde nachts im Dunkeln leuchten, weil dort Feen wohnen?«, fragte ich neben ihm stehend.

Pa schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, warum ich so etwas erzählt haben sollte.«

Ich setzte mich neben ihn. Und so begann es, das vier Jahre währende Ritual, das darin bestand, dass Pa jedes Mal zusammenzuckte, wenn ich mich auf Nans Platz setzte.

Auch jetzt plärrt der Fernseher wieder hinter der Tür, nur dass heute eine Serie zu laufen scheint. Pa sieht sich nie Serien an. Er muss besonders schlechte Laune haben.

Ich wappne mich innerlich und klopfe.

Keine Reaktion.

Ich klopfe lauter.

Immer noch nichts.

Ich rufe laut, klopfe erneut. Brülle durch die Tür.

»Verdammter Mist«, murmele ich. Es ist schon das dritte Mal diesen Monat, dass ich mich aussperre. Bestimmt ignoriert mich Pa absichtlich.

Die Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenabsatzes geht auf, und Will steckt den Kopf heraus. »Ausgesperrt?«, fragt er.

»Ja, leider.«

»Du solltest dir ein Schlüsselband zulegen und es um den Hals tragen.«

Ich verdrehe die Augen. »Hat deine Mutter noch den Ersatzschlüssel?«

»Ja, leider.«

»Sehr witzig«, sage ich. Er verschwindet in der Wohnung, kehrt kurz darauf mit dem Schlüssel zurück und wirft ihn mir zu.

»Gut gefangen.«

»Gut geworfen.«

Er zwinkert mir zu, sagt »Bis dann« und verzieht sich.

Ich schließe die Tür auf. »Hallo«, sage ich, als ich an Pa vorbeikomme, der auf seinem üblichen Sessel im Wohnzimmer sitzt.

Er ignoriert mich.

In meinem Zimmer werfe ich die Handtasche aufs Bett, streife meine Stiefel ab und schäle mich aus meiner Jacke. Dann gehe ich in die Küche und setze Wasser auf.

»Tut mir leid, dass ich letzte Nacht nicht nach Hause gekommen bin. Du wirst nicht glauben, was mir passiert ist.«

Stille. Nicht einmal ein Grunzen, um Interesse zu heucheln.

»Pa?«, frage ich.

Der Kessel fängt an zu pfeifen.

Er muss stinksauer auf mich sein. Dabei habe ich schon öfter spontan bei Adam übernachtet, ohne ihm Bescheid zu sagen. Keine Ahnung, warum er heute so ein Drama daraus macht.

»Pa?«, wiederhole ich und greife nach dem Kessel. Ich nehme ihn vom Herd und beginne mit dem Eingießen, wobei ich jedoch nicht meine Tasse, sondern meinen Großvater ansehe, der zusammengesunken vor dem Fernseher sitzt und schweigt.

Kochend heißes Wasser spritzt von der Arbeitsfläche, dringt durch meine Socken und verbrennt mir die Füße. Ich mache einen Satz nach hinten. »Aua. Scheiße!«

Er rügt mich nicht für den Kraftausdruck.

»Pa?«, flüstere ich und umrunde den Küchentresen. Diese eigenartig gekrümmte Körperhaltung … Ich schaudere und gehe langsam auf ihn zu.

Sein Kopf hängt seltsam schlaff zur Seite.

Ich wage noch einen Schritt.

Und dann sehe ich sie, seine Augen: glasig, halb geöffnet, milchig. Ich strecke eine zitternde Hand aus, berühre mit der Fingerspitze seine Wange. Sie ist warm. Das bedeutet, dass er noch lebt, oder?

»Pa!«, schreie ich.

Will öffnet lachend die Tür. »Hast du es etwa schon wieder geschafft, dich …« Er verstummt und runzelt die Stirn. »Alles okay?«

»N-nein«, stottere ich. »Mit meinem Großvater stimmt was nicht.«

»Mum!«, ruft Will über die Schulter nach hinten.

»Was?«, trällert sie aus einem anderen Zimmer der Wohnung.

»Mum!«

»Was ist denn? Ich bin beschäftigt!«

»MUM!«, brüllt Will.

Sekunden später erscheint Annie.

»Ich glaube, mein Großvater hat einen Schlaganfall«, teile ich ihr mit.

»Ach, herrje«, sagt Annie und drängt sich an mir vorbei. »Will, ruf einen Krankenwagen.«

Ich folge ihr in die Wohnung meines Großvaters. Annie berührt ihn. Schreckt zurück.

Draußen gehen die Lichter von St. Pat’s an, ein goldener Schimmer in der rosa Abenddämmerung.

Annie nimmt Pas Handgelenk, sucht nach einem Puls. Sie stößt einen Atemzug aus, ins blaue Halbdunkel des Wohnzimmers hinein.

»Schätzchen, es tut mir so leid«, sagt sie.

»Aber er ist warm! Ich habe ihn berührt.«

Will kommt hinter mir in die Wohnung. »Der Krankenwagen ist unterwegs.«

Annie schüttelt den Kopf.

Und plötzlich merke ich, wie ich schwer auf dem Boden aufsetze. Als wäre ich mein ganzes bisheriges Leben durchs All geschwebt und würde nun zum ersten Mal die Schwerkraft spüren. Er ist ein Schock für mich, dieser Druck, der da auf meinen Körper einwirkt.

Sein Gewicht ist niederschmetternd.

BLÜTE

Ich übernachte auf Wills und Annies Sofa, finde jedoch kaum Schlaf. Es ist mehr ein Warten. Warten worauf? Die Stunden reiben an mir. Aber ich bin nicht traurig. Glaube ich zumindest. Bisher habe ich keine Träne vergossen.

Während Will und ich uns am Abend die Zähne putzten, nuschelte er: »Du kannst ruhig weinen.«

»Ich weiß«, antwortete ich mit Zahnpastaschaum in den Mundwinkeln. Meine Augen blieben dennoch trocken.

Alles, was ich empfinde, ist die Dichte meiner Knochen, ihr neues, unglaubliches Gewicht.

Ich liege auf dem Sofa und sehe zu, wie die Nacht erst grau und dann weiß wird. Irgendwann steht Annie auf, um schwimmen zu gehen. Ich schließe die Augen und höre, wie sie an mir vorbeischleicht, auf leisen Sohlen.

Als sie zurückkommt, habe ich zugesehen, wie sich das Rosa der Morgenröte in Blau verwandelt hat.

»Wie hast du geschlafen?«, fragt sie mich.

»Ganz okay«, lüge ich.

»Haben sich deine Eltern schon zurückgemeldet?«

»Ich habe eine E-Mail von meinem Vater bekommen. Sie haben Flüge gebucht. Am Dienstag sind sie hier.«

»Morgen?«

»Nein, nächsten Dienstag.«

Annie starrt mich verständnislos an.

»Mein Vater hat am Wochenende noch einen wichtigen Kongress«, erkläre ich.

»Ich dachte, deine Mutter will vielleicht früher kommen. Er war ihr Vater, oder?«

Ich schüttle den Kopf. »Nein. Der Vater von meinem Vater. Mums Eltern sind beide schon vor meiner Geburt gestorben.«

»Verstehe … Ich hätte trotzdem gedacht, dass sie früher kommt.«

»Mein Vater will sicher, dass sie mit ihm zusammen fliegt«, sage ich.

»Okay.« Annie sieht mich besorgt an und verspricht, mir zu helfen, wo immer sie kann. Ich könne gern so lang ich möchte auf ihrem Sofa schlafen.

Ich gehe in die Wohnung hinüber und stelle fest, dass es nicht der Abdruck von Pas zusammengesunkener Gestalt in seinem Sessel ist, der mir eine Gänsehaut einflößt, sondern die Stille, die schrecklich grüne Stille, schlammig und unergründlich.

Ich schalte den Fernseher ein, drehe die Lautstärke auf und warte, bis das belanglose Gerede einer Frau über die Vorzüge eines Staubsaugers den Raum apricot gefärbt hat. Draußen erstreckt sich der blaue Himmel. Ich gehe in mein Zimmer und starre aus dem Fenster, blicke über die Pinien, die den Strand säumen, zum Meer. Es liegt da wie plissierter Stoff, die Wellen erheben sich in gleichmäßigen Abständen, eine nach der anderen, bis zum Horizont. Das ist es, was ich an Australien am meisten vermisst habe: den glatten, sauberen Übergang vom Meer zum Himmel. Das abrupte Abbrechen dieses Himmels. Ohne Smog, ohne rosa-graue Schlieren. Nur eine feine, perfekte Linie.

Ich höre ein Husten hinter mir und zucke erschrocken zusammen.

»Oh, sorry«, entschuldigt sich Will. »Ich wollte dir keine Angst einjagen.«

Er steht in Trainingshose und T-Shirt in der Tür.

»Müsstest du nicht eigentlich in der Schule sein?«, frage ich.

»Mum hat gesagt, ich darf heute zu Hause bleiben.«

»Was? Weil du einen Toten gesehen hast?«

Will weicht meinem Blick aus und zuckt mit den Schultern.

»Lieb von deiner Mutter.«

»Ich dachte, wir könnten vielleicht was zusammen machen.«

»Klar.«

»Nur wenn du willst. Wenn du lieber alleine bist …«

»Nein, nein. Schon gut. Ich freue mich, wenn ich ein bisschen Gesellschaft habe …«, antworte ich. »Lust, die Sachen von einem Toten durchzusehen?«

Will reißt die Augen auf. »Voll makaber«, sagt er. »Aber klar, okay. Meinst du, seine Klamotten passen mir?«

»Und das findest du nicht makaber?!«, schimpfe ich.

Wir starren uns einen Moment an und brechen dann in Gelächter aus. Der Schmerz des heftigen Lachens tut gut: Meine Brust wird wieder weiter, die Hitze entweicht, und kalte, frische Luft strömt herein. Beißende, munter machende Winterluft.

Will kommt in mein Zimmer, lässt sich aufs Bett plumpsen und sieht mir dabei zu, wie ich endlich die Kisten unter dem Schreibtisch und die eine Kiste im Schrank öffne. Vier Jahre lang habe ich mich gefragt, was sich wohl darin verbirgt, aber mir war klar, dass ich Pas Wünsche zu respektieren hatte, solange ich unter seinem Dach wohnte. In gewisser Hinsicht war es mir sogar lieber, nicht zu wissen, was in den Kisten war – es machte mehr Spaß zu raten. Ich fand es immer schon spannend, im Dunkeln zu stochern.

Wie sich herausstellt, lag ich mit meinen Fantasien von Edelsteinen und schwarzen Perlen meilenweit daneben. Die Kisten unter dem Schreibtisch enthalten Kochbücher und Tischtücher. Bei der Kiste im Schrank habe ich mehr Glück: Zu meiner großen Freude ist sie voll mit Nans Schminkutensilien. Es gibt Lippenstifte in sämtlichen Schattierungen, Parfumflakons mit vergilbten Etiketten, Kompaktpuder und Nagellack in den verschiedensten Rottönen. Ich gehe die Lippenstifte durch und entscheide mich für ein tiefes Kirschrot. Nachdem ich es aufgetragen habe, werfe ich Will eine Kusshand zu.

Er lacht. »Welche Farbe würde mir stehen?«

»Hm …«, überlege ich. »Wir brauchen etwas, das deine Augen zum Strahlen bringt.« Ich entdecke ein grelles Pink. »Perfekt.«

Will spitzt die Lippen.

»Stillhalten«, ermahne ich ihn, während ich seine Lippen schminke. »Oh, wie hübsch!«

»Ich sehe umwerfend aus«, sagt er und macht einen Schmollmund, während er sich im Spiegel über meinem Schreibtisch betrachtet.

»Wir brauchen noch passende Outfits«, verkünde ich.

Pas Zimmer ist kleiner, als ich es in Erinnerung habe, kaum breiter als das Bett. Beim Betreten geht mir auf, dass ich vermutlich keinen Fuß mehr hier hineingesetzt habe, seit ich als Kind immer am Weihnachtsmorgen zwischen Nan und Pa ins Bett geschlüpft bin. Wie groß mir der Raum damals vorkam! Wie warm und breit sich das Bett anfühlte! Pa mochte in seinem Sessel gestorben sein, doch in Wahrheit hatte sein Leben schon vor Jahren geendet, nämlich an dem Tag, als Nan von ihm gegangen war.

Ich öffne den Schrank, und eine Wolke abgestandenen Tabakgestanks schlägt uns entgegen.

»Alles okay?« Will sieht mich fragend an.

»Ja«, antworte ich. »Und bei dir?«

»Es ist nur irgendwie seltsam, findest du nicht? Dass das hier mal Kleider waren, die jemandem gehört haben, und jetzt sind es plötzlich nur noch … ich weiß auch nicht …«

»Kleider.«

»Ja.«

Ich zucke mit den Schultern.

»Oh, den finde ich toll!«, ruft Will und schnappt sich einen Tweedmantel, schlüpft mit seinen langen Gliedmaßen sofort hinein.

»Steht dir«, sage ich anerkennend und ziehe einen dunkelblauen Blazer aus dem Schrank. »Wie wäre der hier für mich?«

Er nickt. »Kommt gut, würde ich sagen.«

Ich komplettiere mein Outfit mit einer Anzughose, knallroten Socken und einem Paar extravaganten Stiefeln von Nan, die mit goldenen Blüten bestickt sind. Will entscheidet sich für eine smaragdgrüne Cordhose, gestreifte Socken und schicke Lederschuhe. Den krönenden Abschluss bildet eine rosarote Perlenkette.

»Wir sehen richtig nobel aus.«

Will lacht. »Wir sind nobel.«

»Den Rest sollte ich wahrscheinlich aussortieren und spenden«, überlege ich laut.

»Ja, kannst du eigentlich machen. Früher oder später musst du ja.«

»Kannst du mir bitte ein paar Mülltüten aus der Küche holen? Die sind in der dritten Schublade von unten.«

»Klar«, antwortet er und verschwindet, bis er kurz darauf mit einer Handvoll Tüten zurückkommt. »Hier.« Er gibt mir eine.

»Danke«, sage ich und ziehe eine Jacke von einem Kleiderbügel. »Du kannst gern alles behalten, was dir gefällt … Was übrig bleibt, wird gespendet.«

Will lächelt schweigend und macht sich daran, mir zu helfen.

Sobald der Inhalt des Kleiderschranks in den Tüten verschwunden ist – bis auf ein paar Stücke für unsere eigene Garderobe –, nehmen wir uns die Nachttischschubladen vor.

»O Gott!«, ruft Will. »Schau dir die an!« Er zieht ein Kartenspiel aus der Schublade. Auf der Rückseite jeder Spielkarte ist in satten Farben eine nackte Frau abgebildet – mit kecken Brustwarzen und üppiger Schambehaarung.

»Dieser Lüstling«, sagt Will und durchmischt die Karten. Er blickt zu mir auf. »Hattest du eigentlich schon mal Sex?«

»Oha«, antworte ich. »Die Frage ist so was von unangemessen.«

»Ich weiß, sorry. Mum sagt, ich bräuchte einen Filter.«

»Das finde ich auch.«

»Also, hattest du?«

»Was?«

»Schon mal Sex?«

»Was geht dich das an?«, frage ich kühl, spüre jedoch, wie mir das Blut in die Wangen steigt.

Will zuckt mit den Schultern. »Ich schon.«

»Ich auch. Mehr oder weniger.«

»Wie hat man denn mehr oder weniger Sex?«

»Na ja, ich hatte zwar Sex, aber ohne … du weißt schon. Ohne Orgasmus. Zumindest glaube ich, dass ich keinen hatte.«

»Ich denke mal, du wüsstest es, wenn du einen gehabt hättest.«

»Dann hatte ich wohl keinen.«

»Adam ist mir auch nie wie ein besonders einfühlsamer Liebhaber vorgekommen.«

»Hey!«, protestiere ich. »Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis.«

»Entschuldige«, sagt er, sieht aber nicht aus, als würde es ihm leidtun. »Apropos: Wo ist Adam eigentlich?«

Ich zucke mit den Schultern.

»Ich meine, warum ist er nicht hier?«, hakt Will beharrlich nach.

»Weil ich ihm noch gar nicht erzählt habe, was passiert ist.«

Will runzelt die Stirn. »Warum nicht?«

»Wir haben uns neulich Abend gestritten.«

»Na und? Du solltest es ihm trotzdem erzählen.«

»Ich weiß. Mache ich auch noch.«

»Jetzt gleich?«

Beim Gedanken daran, mit Adam zu sprechen, beschleunigt sich mein Puls. Ich wechsle rasch das Thema: »Nein, jetzt muss ich erst mal hier raus. Wie wärs, wenn wir zusammen die Tüten wegbringen?«

»Gerne«, antwortet Will. »Ich finde trotzdem, dass du ihn anrufen solltest.«

»Später«, erwidere ich. »Versprochen.«

Wir gehen in unserer extravaganten Aufmachung den Hügel hinunter ins Zentrum von Manly, wo wir die Kleidertüten bei einem Secondhandladen abgeben. Auf dem Rückweg kommen wir an einem Eisverkäufer vorbei, und ich ziehe an Wills Arm.

»Ich habe kein Geld«, wehrt er ab.

»Ich aber«, teile ich ihm mit und beäuge die verschiedenen Sorten. Dann sage ich zum Eisverkäufer: »Eine Kugel Cookies and Cream und eine Kugel Karamell, bitte, in einer Waffel mit Schokoüberzug.«

»Für mich das Gleiche«, schließt Will sich an. Er trägt immer noch den grellen Lippenstift und die Perlen. Alle um uns herum starren ihn an. Aber das ist uns egal. Der Tod bewirkt diese Gleichgültigkeit, denke ich. Details verlieren an Bedeutung.

Am Ende der Fußgängerzone ziehe ich Stiefel und Socken aus, hüpfe die Treppe hinunter, vergrabe meine Füße im Sand und wackle mit den Zehen. Ich gehe näher ans Wasser, setze mich und spüre, wie sich der Sand unter mir verschiebt. Will lässt sich neben mir nieder und streckt die langen Beine vor sich aus.

Als die Sonne hinter uns untergeht, scheint sich das vor uns liegende Meer in Glas zu verwandeln.

»Der Winter war immer schon meine Lieblingsjahreszeit in Sydney«, sage ich.

»Warum? Es ist voll kalt!«

»Weil das Wasser noch so schön warm ist. Pa hat mir früher immer erzählt, das läge daran, dass die Sonne nachts unter dem Meer wohne. Obwohl die Tage kürzer würden, würde das Wasser daher warm bleiben bis zur Wintersonnenwende. Dann würde die Sonne aus ihrem nächtlichen Versteck hervorklettern, und die Tage würden wieder länger werden.«

Ich blicke zu Will auf. Sein Mund ist mit Eis verschmiert.

»Zumindest glaube ich, dass die Geschichte so ging.«

»Klingt, als wäre er ein toller Geschichtenerzähler gewesen.«

Über uns tauchen nach und nach die ersten Sterne auf. Sie sprenkeln den Himmel wie Sommersprossen. »Ja. Das vergesse ich nur manchmal. Er hat mit dem Erzählen aufgehört, nachdem meine Großmutter starb.«

Will legt den Arm um mich. Er hängt rührend unbeholfen auf meinen Schultern.

GÄNSEBLÜMCHEN

Am Donnerstag wache ich frühmorgens vom Eintreffen einer E-Mail auf: Mein Tutor teilt mir mit, dass er keine Verbesserungsvorschläge mehr für meine Masterarbeit hat. Glückwunsch!, schreibt er.

Ich schließe die E-Mail, lege mein Handy beiseite und schnappe mir meinen Laptop vom Schreibtisch. Nachdem ich ihn aufgeklappt habe, logge ich mich ins Studierendenportal meiner Uni ein und rufe meine Evaluationsseite auf. Dort lade ich meine Masterarbeit hoch und beobachte den Ladebalken dabei, wie er sich nach und nach mit blauer Farbe füllt. Nachdem das Dokument hochgeladen ist, klicke ich auf Absenden. Und schon ist mein Studium abgeschlossen. Einfach so.

Ich klappe den Laptop zu, krieche wieder ins Bett.