Unter einem Banner - Elea Brandt - E-Book

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Elea Brandt

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Beschreibung

Blutroter Schnee. Brennende Zelte. Sterbende Kameraden. Jede Nacht durchleidet Reykan erneut die Schrecken des Krieges, in dem er mehr verloren hat als nur eine Schlacht. Reykan sehnt sich nach Frieden, aber sein Pflichtgefühl kettet ihn an den Königshof und zwingt ihn mitten in die Unruhen, welche die Hauptstadt in Atem halten. Als feindliche Truppen die Mauern stürmen und der König vor Reykans Augen stirbt, fällt ihm die undankbare Aufgabe zu, den verwöhnten Kronprinzen Benrik in Sicherheit zu bringen. Gejagt von skrupellosen Gegnern geraten die beiden ungleichen Männer immer wieder aneinander, bis Reykan beginnt, hinter Benriks Fassade zu blicken. Doch ihre Verfolger kommen näher und Reykan muss sich fragen, wie viel er wirklich für Benrik empfindet und was er bereit ist, für ihn zu opfern.

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Elea Brandt

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2018

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte:

© alessandro guerriero – shutterstock.com

© Liu zishan – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-177-2

ISBN 978-3-96089-178-9 (epub)

Inhalt:

KAPITEL EINS

Die Welt versank in drückendem Grau. Grau spannte sich der Himmel über ihnen wie ein fleckiges Leichentuch. Grau wirkten die Gesichter der Männer, deren Atem als hauchdünne Wolken in die Baumkronen stieg. Der Wald ringsum schien zu Eis erstarrt. Manchmal knarrte ein Ast unter der Last des feuchten Schnees oder der Wind riss an den dürren Zweigen, doch darüber hinaus gab es nur die Schritte der Soldaten und ihren keuchenden Atem. Kein Anzeichen von Leben. Kein Anzeichen von Nahrung.

Resigniert starrte Reykan auf die Beute. Zwei magere Hermeline waren in ihre Fallen getappt. Nicht genug, um auch nur seine eigene Einheit satt zu bekommen, von den anderen Soldaten ganz zu schweigen.

In stummem Protest zog sich Reykans Magen zusammen. Zwieback und Dörrfleisch, und das schon seit Wochen. Nie hätte er sich träumen lassen, dass er für ein paar Äpfel, Karotten oder Salatblätter selbst seinen pelzbesetzten Umhang eintauschen würde, doch momentan war ihm die Kälte nicht so zuwider wie der ständige Hunger, der sämtliche Energie aus seinem Körper trieb. Was hätte Reykan jetzt für einen deftigen Kürbiseintopf gegeben oder süße Apfelkuchen aus Mürbeteig … Er verscheuchte den Gedanken, der ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ, und stapfte missmutig weiter.

Der Wald lichtete sich allmählich, die Stille wich dem Rumoren der Soldaten, dem Knistern von Lagerfeuern und dem Geräusch schwerer Stiefel im Schnee. Hunderte Zelte reihten sich in den verschneiten Auen aneinander, im Schatten der mächtigen Stadtmauern von Notia, die ihnen höhnisch das eigene Versagen vor Augen führten.

»Das ist alles?« Enttäuscht betrachtete der wachhabende Offizier die Ausbeute von Reykans Jagdpatrouille. Er war ein verhärmt aussehender Mann mit grau meliertem Haar, der die Farben der Arliser Wölfe trug. »Zwei beschissene Hermeline?«

»Der Wald ist leer«, erwiderte Kadur an Reykans Stelle. »Zumindest in der näheren Umgebung. Wir müssten viel weiter vordringen, wenn wir erfolgreich jagen wollen. Und da wimmelt es von skaratischen Spähtrupps und weiß der Henker von was noch.«

Der Offizier seufzte und nickte. Seine Nase und die Ohren waren dunkelrot vor Kälte und seine Augen tränten. »Gut, rein mit euch. Wärmt euch auf.«

Im Lager angekommen löste Reykan die Patrouille auf und befahl einem seiner Männer, die Beute zur Feldküche zu bringen. Er selbst machte sich mit Kadur auf dem Weg zu ihrem Zelt. Der Rauch zahlreicher Lagerfeuer stieg in den grauen Himmel und wurde vom eisigen Nordwind zerteilt, der wild an den Flaggen und Bannern riss. Es roch nach Asche, frischem Schnee und schaler Suppe. Reykans Finger und Zehen kribbelten vor Kälte, es wurde Zeit für einen heißen Becher Tee.

»Herr von Torat?«

Reykan wandte sich um. Ein junger Soldat salutierte pflichtschuldig vor ihm, seine Zähne schlugen so heftig aufeinander, dass er kaum ein Wort über die Lippen brachte.

»Seine Majestät hat eine Stabsbesprechung einberufen. In einer Stunde.«

Ein flaues Gefühl kroch Reykans Wirbelsäule hinunter, begleitet von einem kurzen Hoffnungsschimmer. Vielleicht würde König Renard den ersehnten Rückzug verkünden oder endlich den Befehl zum Abbruch dieser unsäglichen Belagerung geben. Vielleicht plante er aber auch nur einen weiteren sinnlosen Vorstoß, der an den Mauern Notias branden würde wie Wellen an hohen Klippen. Reykan nickte, ohne sich etwas anmerken zu lassen, und schickte den Burschen zurück.

»Neue Pläne?«, fragte Kadur und Reykan vernahm den flehenden Unterton, der in seinen Worten mitschwang.

»Keine Ahnung«, antwortete Reykan und hob ausdruckslos die Schultern. Er wollte seinen Gefährten nicht in trügerischer Hoffnung wiegen, um ihn am Ende doch zu enttäuschen. »Wir werden sehen.«

Schweigend stapfte er über den festgetretenen Schnee davon und versuchte mit weiten Schritten die Nervosität zu vertreiben.

Kadur schloss zu ihm auf und Reykan warf ihm einen Blick zu. Sein Gefährte war Kälte gewohnt, genau wie entbehrungsreiche Winter, doch Tag für Tag schien die Wut hinter seinen dunklen Augen heftiger zu lodern. Reykan fürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie aus ihm hervorbrach, denn so herzlich Kadur in Gesellschaft sein konnte, so schrecklich war er im Zorn.

Laute Schreie rissen Reykan aus den schweren Gedanken. Auf einem Platz zwischen einigen Zelten hatte sich ein ganzes Rudel Soldaten ineinander verkeilt. Gebrüll drang herüber, Fäuste wurden gereckt, sogar die eine oder andere Klinge gezogen, sodass Reykan die Hand ans Schwert legte, ehe er hinübereilte. Kadur folgte ihm.

»Was soll das hier?« Reykans donnernde Stimme ließ die Anwesenden zusammenzucken. »Meldung! Sofort!«

»Ein dreckiger Verräter!«, brüllte einer der Soldaten, dem Blut aus der Nase lief. Er hielt einen weiteren Mann im Schwitzkasten. »Er hat den König verflucht und den Krieg. Hängen soll er!«

»Genau!«, ertönte es von der anderen Seite der Meute. »Schlitzt das Schwein auf!«

»Es reicht«, knurrte Reykan und befahl dem Soldaten mit einem Kopfnicken, den Kerl loszulassen.

Dieser sackte erschöpft im Schnee zusammen und hielt sich den Bauch, ehe er gequält zu Reykan aufsah. Er war jung, noch an der Schwelle zum Mann. Dünner, blonder Bartflaum spross auf seinen Wangen und seine Gesichtszüge wirkten weich und knabenhaft.

Reykan zog die Stirn kraus. »Stimmt es, was Euch vorgeworfen wird?«

»Herr«, stammelte der Bursche, »ich …«

»Ja oder nein?«

Zitternd biss der Mann sich auf die gesprungene Lippe und schlug wortlos die Lider nieder, um Reykans eindringlichem Blick zu entgehen.

»Seht Ihr?«, rief der andere Soldat und verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust. »Hängen wir die kleine Ratte an den nächsten Baum!«

Der Bursche schrie auf. »Nein, bitte, Herr, ich bin kein Verräter!« Seine Finger gruben sich in Reykans Umhang und seine großen, blauen Augen glänzten feucht. »Ich habe nur gesagt, dass ich nach Hause will, zu meiner Familie. Meine Frau, wisst Ihr, sie war schwanger, als ich ging, mit unserem ersten Kind. Sie braucht mich!«

»Euer Land braucht Euch ebenso«, hörte Reykan sich sagen, ohne die Worte bewusst zu formen. »Ihr seid Soldat des Königs. Eure Loyalität gilt ihm – und niemandem sonst.«

»Das weiß ich, Herr«, stammelte der Bursche. »Aber … das alles hier, das …« Er schauderte sichtlich und presste die Lippen zusammen. Tränen liefen seine roten Wangen hinab. »Ich bin Schuster, Herr, kein Krieger. Ich will hier nicht sterben.«

»Dreckiger Feigling!« Der Soldat versetzte dem Burschen einen derart heftigen Schlag in den Rücken, dass dieser sich stöhnend zusammenkrümmte. Im selben Moment blitzte Stahl auf, die Umstehenden wichen zurück. Der Soldat keuchte erschrocken, als er die Kälte von Reykans Schwertspitze an der Kehle spürte.

»Zurücktreten«, blaffte Reykan ihn an, die Augen zu Schlitzen verengt. »Erhebt noch einmal die Hand gegen diesen Mann, dann bringe ich Euch eigenhändig vor den Kriegsrat. Verstanden?«

Der Soldat straffte sich. Er warf Reykan einen grimmigen Blick zu, verkniff sich aber jeglichen Kommentar.

»Und Ihr«, befahl Reykan dem knienden Burschen, »aufstehen, wird’s bald?«

Schwerfällig rappelte der Junge sich auf. Kälte und Nässe mussten sich bereits durch seine Kleider gefressen haben, denn er schlotterte am ganzen Leib. Reykan seufzte, der Junge bot ein Bild des Jammers. Verfroren, verzweifelt, verängstigt. Ein Sinnbild für diesen ganzen verdammten Kriegszug.

»Haltung, Soldat! Steht nicht da wie ein altes Weib!«

Hastig straffte der Bursche die Schultern und hob den Kopf, doch das Zittern seiner Glieder und die Tränen in seinen Augen ließen ihn dennoch verhärmt und eingefallen wirken.

Reykan musterte ihn scharf. »Wie ist Euer Name?«

»Taldak, Herr«, murmelte der Bursche. »Taldak Kigurson.«

Reykan atmete tief durch und fuhr dann mit ruhigerer Stimme fort: »Gut, Taldak. Ihr werdet mir jetzt zuhören – und Ihr anderen auch!« Nachdrücklich sah er sich im Kreis der Soldaten um und stellte zufrieden fest, dass alle an seinen Lippen hingen. Sein Herz vollführte einen nervösen Sprung, doch seine Worte klangen klar und unmissverständlich. »Dieser Krieg ist eine Prüfung für jeden von uns. Wir führen ihn für unser Land und für unseren König, dafür, dass unsere Kinder und Kindeskinder in Reichtum und Wohlstand leben werden. Dieses Reich tut viel Gutes für Euch und Eure Familien, gibt Euch fruchtbares Land, genug zu essen und Frieden. Genau aus diesem Grund seid Ihr hier – um etwas zurückzugeben! Um die Großzügigkeit Eures Königs zu vergelten.« Er machte eine kurze Pause und sah sich in der Runde um. Die Männer lauschten stumm und nickten teils anerkennend. »Wir alle sehnen uns nach der Heimat«, fuhr Reykan fort, »nach einem warmen Herd und vertrauten Gesichtern. Doch wer jammert und klagt, kehrt auch nicht früher nach Hause zurück. Ebenso wenig der, der seine Kameraden beschimpft, statt ihnen Mut zuzusprechen, wenn sie zweifeln.« Dabei flackerte sein Blick zu dem Soldaten, der immer noch mit grimmiger Miene neben Taldak wartete. »Wir stehen als Waffenbrüder Seite an Seite, also benehmt Euch auch so.«

Er gab den Umstehenden einen Moment Zeit, seine Worte zu verarbeiten. Die meisten schwiegen betreten, doch aus einigen Ecken vernahm er zustimmendes Murmeln. »Ihr«, dabei fixierte er den älteren Soldaten mit seinem Blick, »findet Euch im Lazarett ein und assistiert dem Feldarzt für die nächste Woche. Vielleicht habt Ihr dann ein besseres Gespür dafür, wie man mit Kameraden umgeht.«

Entrüstet riss der Mann die Augen auf. »Herr, ich habe nur …«

»Mir egal. Das ist ein Befehl!«

Wütend verzog der Soldat das Gesicht, schluckte die Beleidigung, die ihm wohl auf der Zunge gelegen hatte, hinunter und marschierte davon.

»Was Euch angeht«, fuhr Reykan an Taldak gewandt fort, »werdet Ihr Euch bei Euren Kameraden für Eure ungebührlichen Worte entschuldigen und im Laufe der nächsten Woche drei zusätzliche Wachschichten übernehmen. Ich merke mir Euren Namen, also lasst Euch besser nichts mehr zu Schulden kommen.«

Taldak schluckte und rang sich ein dünnes Lächeln ab. »Nein, Herr. Danke.«

Reykan nickte. »Gut, wegtreten! Der Rest ebenso, zurück auf Eure Posten.«

Teils murrend, teils zufrieden nickend zerstreute sich die Menge und Reykan atmete auf. Trotz der Kälte perlte ihm Schweiß von der Stirn und die Anspannung, die langsam aus seinen Gliedern wich, ließ ihn frösteln.

Kadur hinter ihm nahm die Hand vom Schwert und klopfte Reykan anerkennend auf die Schulter. »Verdammt gute Ansprache. Jetzt weiß ich wieder, warum du Hauptmann geworden bist und nicht ich.« Er zwinkerte scherzhaft. »Ich hätte einfach beiden die Fresse poliert, bis Ruhe ist.«

Reykan seufzte, fand aber keine Worte. Nicht einmal ein Lächeln brachte er über die Lippen. Obwohl er den Eindruck hatte, die Situation souverän gelöst zu haben, verblieb ein flaues Gefühl in seiner Magengegend, das weder dem Hunger noch der Kälte geschuldet war. Vor einigen Monaten hätte er eine derartige Rede noch mit voller Inbrunst gehalten, ohne auch nur einen Augenblick an seinen Worten zu zweifeln. Heute fühlten sich die Sätze an wie eine leere Hülle, bedeutungslose Floskeln, die er aussprach, um den Soldaten Mut zu machen, die jedoch kein Feuer mehr in seinem Inneren entzündeten.

Er spürte Kadurs Hand an seinem Arm. »Alles in Ordnung?«

Reykan sog scharf die Luft ein und nickte dann. Er hob den Blick und gestattete sich, zumindest für einen Moment in Kadurs schwarzen Augen zu versinken. Egal wie dunkel die Zeiten waren, wie bedrohlich der Krieg oder wie kalt die Nächte, Kadurs Nähe verlieh ihm immer einen Hauch von Sicherheit. Seit fast zwanzig Jahren war er Reykans Fels in der Brandung, und mit ihm an seiner Seite würde er auch diese Prüfung meistern.

Während der Schneefall stärker wurde und ihnen dicke Flocken ins Gesicht wehten, erreichten sie Reykans Offizierszelt. Die Feuerschale in der Mitte glomm nur noch spärlich, dennoch war es angenehm warm im Inneren, wo ihnen der eisige Wind nicht mehr um die Ohren pfiff. Nach all den Wochen fühlte sich das Zelt, in dem es vertraut nach Kohle, Kräutertee und gewachstem Leder duftete, schon wie ein Stück Heimat an. Hier hatten sie die nötige Privatsphäre, um scheelen Blicken zu entgehen und für eine Weile ungestört zu bleiben.

Kadur stöhnte. Er ließ sich auf sein Feldbett sinken und massierte sich mit schmerzverzerrter Miene den Bauch.

»Du solltest zum Feldarzt gehen«, meinte Reykan besorgt, während er ihn musterte. Kadurs Augen wirkten blutunterlaufen, seine Haut fahl und die Magenkrämpfe begleiteten ihn schon seit Tagen.

»Unsinn«, brummte Kadur. »Ich weiß genau, was mir fehlt. Was zum Beißen, gesunder Schlaf und ein ordentlicher Krug Bier.« Er lächelte mild. »Mach dir keine Sorgen um mich. Unkraut vergeht nicht.«

»Nicht mal bei Frost?«

»Da erst recht nicht.« Kadur lachte. »Wir Nord-Seriner werden in Eis und Schnee geboren, das weißt du doch.« Er rappelte sich auf, trat zu Reykan und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen. »Bald ist der Dreck vorbei, dann gehen wir nach Süden. Wie wir’s vorhatten.« Er grinste und spielte versonnen mit einer von Reykans krausen, dunkelbraunen Haarsträhnen, die sich in seine Stirn ringelten. »Ernsthaft, ich freue mich jeden Tag mehr drauf. Auf die milden Winter in Arlis und auf das gute Bier im Wolf. Es wird Zeit für etwas Ruhe, findest du nicht?«

Schweigend sahen sie einander an und je länger Reykan Kadurs Blick standhielt, desto stärker wurde die Sorge. Ihre Pläne von einem ruhigen Leben in der Hauptstadt wirkten so bedeutungslos angesichts des geballten Unmuts und all der Verzweiflung, die ihnen hier im Lager entgegenschwappte.

Kadur tätschelte ihm beruhigend den Arm. »Du hast besonnen reagiert bei dem Jungen«, meinte er sanft, als läse er Reykans Gedanken. »Wenn der König davon erfahren hätte, hätte er ihn ohne Federlesen aufknüpfen lassen.«

»Wir haben genug Männer verloren«, murmelte Reykan. »Wenn wir jeden aufhängen, der zweifelt, könnten wir gleich das ganze Heer hinrichten.« Mit Nachdruck fügte er hinzu: »Uns beide eingeschlossen.«

Kadur lächelte schief. »Vermutlich. Ich finde die Aussicht auch nicht gerade angenehm, in einem sinnlosen Krieg zu erfrieren oder zu verhungern, nur weil unser König vom großen Schlachtenglück träumt. Aber ich halte meinen Mund, wenn es besser für mich ist.«

Reykan schwieg, zog seinen Umhang aus und hängte ihn über die Kohleschale zum Trocknen, während Kadur einen tiefen Schluck aus seinem Flachmann nahm. »Willst du auch? Das wärmt ein wenig.«

Reykan nickte und ließ den beißenden Kräuterschnaps seine Kehle hinunterrinnen. Wortlos starrte er in die Glut der Feuerschale und rang die Anspannung nieder. Wie lange würde es ihnen noch gelingen, die Soldaten zusammenzuhalten? Wie lange würde es dauern, bis die Ersten aufbegehrten oder desertierten? Wann würde König Renard endlich einsehen, dass diese Schlacht verloren war?

Er zuckte zusammen, als Kadur ihm von hinten die Arme um die Hüften legte und ihn an sich zog.

»Wir stehen das durch«, murmelte er und hauchte Reykan einen Kuss auf den Hals. »Gemeinsam.«

Reykan schloss die Augen und genoss den vertrauten, herben Duft, der ihn umfing. Er war so unendlich dankbar um Kadur, seine geduldige, standfeste Art und das Gefühl von Schutz und Stärke, das er ausstrahlte. In den vielen Jahren ihres gemeinsamen Weges hatten sie zahlreiche Gefahren gemeistert, doch diese Herausforderung drohte die schwerste bislang zu werden.

»Danke«, flüsterte Reykan und lehnte sich gegen die breite Brust seines Gefährten. »Danke, dass du hier bist.«

Kadur lachte leise, sodass Reykan die Vibrationen auf der Haut spürte. »Ich bin überall da, wo du bist. Auch in der finstersten Hölle, wenn es sein muss.«

Reykan entwand sich seufzend der Umarmung, drehte sich um und blickte Kadur ernst in die Augen. Eine rostbraune Locke hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und Reykan strich sie ihm hinters Ohr. »Hoffen wir, dass es nicht so weit kommt.«

***

Dunkelheit senkte sich über die Auen, als Reykan wenig später den Weg zur Stabsbesprechung antrat. Immer noch schneite es dicke, schwere Flocken, die sich wie ein Mantel auf die Zelte legten und das Lager in Schweigen hüllten. Die Berggipfel über Notia verschwanden in grauen Wolken, als habe sich der Himmel herabgesenkt, und die dichten Wälder ringsum schienen an Größe und Bedrohlichkeit zuzunehmen. Reykan fröstelte. Bislang waren die skaratischen Langbogenschützen und der Wintereinbruch ihre größten Feinde gewesen, doch er hatte schon zahlreiche Legenden von Kreaturen gehört, die in den Wäldern entlang der notischen Berge lauerten. Die Erdkriecher, die sie beim Marsch auf Notia immer wieder des Nachts heimgesucht und ihre Vorräte geplündert hatten, waren dabei nur das kleinste Übel.

Reykan zog die Kapuze seines Umhangs tiefer ins Gesicht, um sich vor dem beißenden Wind zu schützen. Wenn es weiterhin so heftig schneite, würden sie im Morgengrauen Stunden brauchen, um das Lager von den Schneemassen zu befreien. Er hörte jetzt schon das Murren und Fluchen der Soldaten.

Das prächtige Zelt König Renards wurde von Fackeln gesäumt, die verzweifelt gegen den Wind anzukämpfen schienen, genau wie die zahlreichen Banner in Grün-Gold, die verloren im Sturm tanzten. Reykan schlüpfte an den beiden schwer gerüsteten Wachen vorbei ins Innere und hatte das Gefühl, in eine der heißen Quellen einzutauchen, für die er seine felsige Heimat immer geliebt hatte. Ein Holzofen, den ein Diener anschürte, beheizte das gesamte Zelt und einige Öllampen tauchten es in warmes Licht.

Pflichtschuldig beugte Reykan vor dem König das Knie und erhob sich auf dessen Zeichen. Soweit er es überblicken konnte, waren die restlichen Heerführer bereits anwesend. Er erkannte die Grafen der fünf Provinzen und die sechs ranghöchsten Offiziere. Der siebte war er selbst.

König Renard saß am Kopfende der Tafel, gehüllt in einen schweren Pelzmantel, der seine schmale Statur noch gebrechlicher wirken ließ. Seine Hände steckten in dicken Handschuhen, und obwohl es im Zelt angenehm warm war, umschloss er den dampfenden Becher vor ihm mit gierigen Fingern. Sein schwarz-graues Haar fiel ihm wirr in die Stirn und in seinem Vollbart glitzerte ein Tropfen Wein, den er barsch beiseite wischte.

»Wir sind vollzählig, Eure Majestät«, verkündete der Herold mit einer Verbeugung und König Renard nickte.

»Bestens. Bitte, werte Herren, bedient Euch am Wein und am Essen, mit warmen Gliedern und vollem Magen fällt das Denken leichter.«

Reykan hätte fast wohlig gestöhnt, als ihm ein Diener dampfenden Gewürzwein einschenkte, dessen süßlich-scharfer Duft verlockend in seine Nase stieg. Auch Fladenbrot, Käse und Pökelfleisch ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen und er bediente sich hungrig, trotz seines schlechten Gewissens. Draußen hungerten die Soldaten, während er sich den Wanst vollschlug. Gerecht war das nicht. Wenn er wenigstens Kadur einen Bissen mitbringen könnte … Verstohlen sah er sich um und überlegte gerade, wie er ein Stück Fladenbrot und etwas Käse in seinem Umhang verschwinden lassen könnte, da verschaffte sich König Renard mit einem Räuspern Gehör.

»Wir haben diese Stabssitzung einberufen«, verkündete er mit rauer Stimme, »um die nächsten Schritte zu überdenken. Der Winter zehrt an den Kräften Unserer Vasallen und die Vorräte beginnen zu schwinden.«

Reykans Herz schlug schmerzhaft gegen seine Rippen und er schluckte den letzten Bissen geräuschvoll herunter.

Bitte, dachte er verzweifelt, lasst uns abziehen, bitte! Beenden wir diese Farce!

»Unsere beste Chance ist ein neuerlicher Vorstoß. Noch vor dem Frühjahr muss Notia in Unsere Hände fallen.«

Reykans Magen zog sich zu einem eisigen Klumpen zusammen, nicht einmal der heiße Gewürzwein half dagegen. Er blickte hilflos in die Runde und war dankbar, als Graf von Harrenstein, ein kräftig gebauter Mann mit hoher Stirnglatze und blondem Vollbart, das Wort ergriff: »Majestät, ich fürchte, einen weiteren Vorstoß wird das Heer nicht verkraften. Beim letzten Versuch haben wir fast zweihundert Mann verloren, wir …«

»Dann müsst Ihr eben sorgsamer vorgehen«, unterbrach ihn König Renard nachdrücklich. »Uns schwebt eine Zangenbewegung vor. Ein Ansturm gegen das östliche Haupttor, ein zweiter über das Eis von der Seeseite.«

»Das ist unmöglich, Majestät«, brach es aus Reykan heraus. »Wenn das Eis birst, werden unsere Männer kläglich erfrieren.«

»Das Eis trägt«, betonte der junge Graf von Leufen, der neben Reykan saß. Er trug die Nase so hoch, dass es bei schlechtem Wetter hineinregnen musste, und seine affektierte Ausdrucksweise stieß Reykan sauer auf. »Meine Männer haben es getestet. Es hat tagelang gefroren, die Eisschicht ist extrem dick. Mit einem Angriff vom See her werden sie nicht rechnen, so können wir sie überraschen und ins Stadtinnere vordringen.«

Reykan schüttelte den Kopf. »Die Notier haben brillante Bogenschützen und genug Möglichkeiten, unsere Männer von den Mauern fernzuhalten. Das haben sie wiederholt bewiesen. Außerdem berichten die Späher, dass die Stadt über geheime Bergpfade nach wie vor mit Nahrung und Holz versorgt wird, während uns die Lebensmittel ausgehen. Ein weiterer Vorstoß wäre …« Er unterbrach sich und schluckte das Wort ›Wahnsinn‹ hinunter, als er König Renards versteinerte Miene erblickte.

»Sprecht Euch aus, Herr von Torat. Was wäre Eurer Meinung nach die beste Vorgehensweise?«

»Mit Verlaub, Majestät«, begann Reykan zögerlich, »wenn ich ehrlich sein soll, empfehle ich einen geordneten Rückzug. Diese Belagerung ist aussichtslos, wir können nicht gewinnen.«

Eisige Stille legte sich über das Zelt, nur durchbrochen vom Heulen des Windes und dem Knistern der Holzscheite.

Die Nasenflügel des Königs blähten sich und er stemmte sich so energisch vom Tisch hoch, dass Reykan zusammenzuckte. »Rückzug?«, bellte er, die Hand um seinen Becher geschlungen. »Das ist alles, was Ihr vorzubringen habt, Hauptmann? Nach all den Monaten des Krieges, nach all den Erfolgen wollt Ihr jetzt den Schwanz einziehen?« Er schnaubte. »Wir dachten, Torat brächte ordentliche Krieger hervor, keine Feiglinge.«

Reykan biss sich auf die Unterlippe und bezwang seine Wut. Dies war nicht der richtige Ort für verletzten Stolz. »Es gibt einen Unterschied zwischen feiger Flucht und einem geordneten Rückzug, Majestät. Die Soldaten sind am Ende ihrer Kräfte, sie hungern, sie frieren. Wenn wir die Belagerung nicht bald abbrechen, wird es zu Aufständen kommen.«

»Und wenn schon«, blaffte der Graf von Leufen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sollen sie aufbegehren. Wir haben genug königstreue Ritter, um die Verräter niederzuschlagen. Sobald die ersten Köpfe rollen, wird der Rest vom Pöbel einlenken. Diese Kleingeister sind leicht zu beeindrucken.«

Reykan sog scharf die Luft ein, ballte die Hand unter dem Tisch zur Faust und lockerte sie dann wieder. Er war es gewohnt, dass der Hochadel auf die einfachen Soldaten herabblickte, selbst auf Männer wie ihn, die nicht aufgrund edlen Geblüts, sondern durch harte Arbeit an die Spitze des Heeres gelangt waren. Trotzdem spürte er die Wut in seinem Bauch rumoren.

»Mit Verlaub, Graf«, presste er zwischen den Zähnen hervor, »ich habe bereits Soldaten befehligt, da habt Ihr gerade erst gelernt, aufs Töpfchen zu gehen. Also bedenkt gut, wen Ihr hier als Pöbel beschimpft.«

Pikiert rümpfte der Graf die Nase, schamvolles Rot überzog seine Wangen. »Ich sprach auch nicht von Euch, Herr von Torat, sondern von dem Gesindel da draußen. Oder habt Ihr auch vor, den Befehlen Eures Königs zuwiderzuhandeln?«

»Meine gesamte Loyalität gilt meinem König und meinem Land«, spie Reykan ihm entgegen. »Und trotzdem werde ich …«

»Genug!« Renards Faust fuhr auf die Tischplatte herab, sodass die Krüge wackelten. Sein blasses, mageres Gesicht leuchtete rot vor Anspannung. »Wir werden diesen Krieg gewinnen, koste es, was es wolle. Renard von Serin wird nicht als Feigling in die Geschichte eingehen, sondern als Sieger! Niemals werden Wir Uns dem Hohn der verdammten Skaraten aussetzen, nein, Wir werden sie zerschmettern! Habt Ihr das verstanden, Herr von Torat?«

Reykan nickte, den Blick auf einen eingetrockneten Weinfleck auf dem Tisch geheftet. Seine Stirnader pulsierte heftig, doch er kämpfte den Zorn nieder, schluckte all die Worte, Beleidigungen und Forderungen hinunter, die ihm auf der Zunge lagen. All das führte zu nichts.

Stumm ließ er den Rest der Stabssitzung über sich ergehen und warf nur hin und wieder einzelne Satzfetzen ein. Zu mehr fühlte er sich nicht im Stande. König Renard hatte seine Entscheidung gefällt – und alles, was er tun konnte, war, Schadensbegrenzung zu betreiben.

Seine Eingeweide verkrampften sich, selbst der Wein schmeckte ihm nicht mehr. Wie, bei allen Göttern, sollte er seinen Männern beibringen, dass sie eine weitere sinnlose Offensive starten würden? Dass sie vermutlich in ihr eigenes Verderben rannten, nur, um den Ruhm ihres Königs nicht zu gefährden?

Resigniert blickte Reykan in die Augen der anderen Heerführer, in denen ebenfalls Zweifel glomm. Nachdem jeder Konterversuch brutal abgeschmettert worden war, wagte keiner von ihnen mehr Widerworte. Nicht einmal Graf von Harrenstein, der sonst nie mit Kritik am König geizte.

Am Ende wirkten Renard, der Graf von Leufen und ein, zwei andere Offiziere sehr zufrieden mit dem Schlachtplan, während sich der Rest wortlos zerstreute.

Obwohl das Schneetreiben bereits nachließ, hatte Reykan das Gefühl, man habe ihn kopfüber in einen Schneehaufen geworfen. Frierend krümmte er sich zusammen und stapfte zurück zu seinem Zelt. Hinter sich vernahm er knirschende Schritte im Schnee und sah sich um. Graf von Harrenstein war ihm gefolgt.

»Mutig von Euch, die Wahrheit auszusprechen«, murmelte er, während er seinen Schal zurechtrückte. Seine rote Nase leuchtete wie ein reifer Apfel darunter hervor. »Bewundernswert.«

Reykan schnaubte. »Bewundernswert nutzlos, wie mir scheint.«

»Da irrt Ihr Euch«, erwiderte der Graf. »Viele stehen auf Eurer Seite, sie wagen es nur nicht, laut darüber zu sprechen. Wir können diesen Krieg nicht gewinnen, nicht im Winter, nicht mit hungrigen, verfrorenen Soldaten. Alles, was uns erwartet, ist der Tod. Wenn Ihr erwägt, diesem Wahnsinn den Rücken zuzuwenden, könnt Ihr auf meine Unterstützung zählen.«

Reykan hielt mitten im Schritt inne und starrte den Grafen fassungslos an. In der Dunkelheit konnte er Harrensteins Gesicht kaum erkennen, nur seine Augen funkelten. »Ihr denkt, ich würde … Nein! Nein, meine Treue gilt König Renard, ich würde niemals …«

»Ich weiß.« Der Graf lächelte. »Ihr seid ein loyaler Mann, Herr von Torat, und Eure Männer schätzen Euch dafür. Doch wie mir scheint, wird Eure Treue nicht auf angemessene Weise vergolten.«

»Ich erwarte nichts für meine Treue«, entgegnete Reykan steif. »Es ist meine Pflicht als Soldat. Und Eure als Vasall des Königs.«

»Ebenso ist es meine Pflicht, meine Soldaten und Lehensmänner zu schützen«, erwiderte Harrenstein und schauderte. »Entschuldigt, der verdammte Frost macht mir zu schaffen. Was haltet Ihr davon, wenn wir das Ganze in Ruhe besprechen? Morgen Abend vielleicht? Meine privaten Vorräte sind noch recht gut gefüllt, ich lade Euch zum Abendessen ein.«

Reykan zögerte, doch dann nickte er. Harrensteins Einladung abzulehnen war zum einen unhöflich, zum anderen seiner Position nicht angemessen. Außerdem interessierte ihn brennend, was der Graf ihm anzutragen hatte, obwohl er fürchtete, dass es seine aktuelle Gemütslage nicht vereinfachen würde. »Ich danke Euch, Wohlgeboren. Ich nehme Euer Angebot gerne an.«

Harrenstein klopfte ihm auf die Schulter und nickte. »Eine gute Entscheidung, mein Freund. Ich erwarte Euch kurz nach Sonnenuntergang.«

Reykan sah ihm hinterher, als er geduckt hinter einer Schneewehe verschwand, dann setzte er seinen Weg fort. Das Lager wirkte wie leergefegt, nur hier und da saßen einige bemitleidenswerte Soldaten an einem mickrigen Feuer, wärmten sich die Gliedmaßen und hielten Wache. Andere gingen Patrouille oder sicherten die Lagergrenzen. Diejenigen, die Reykan erkannten, grüßten ihn respektvoll, eine Gruppe aus seiner Rabensteiner Einheit lud ihn sogar auf einen Schluck Schnaps ein, den er dankend ablehnte.

Schwerer Druck lastete auf Reykans Brust. Morgen würde er seinen Männern mitteilen müssen, was sie erwartete, und er fürchtete diesen Moment. Die Soldaten hatten tapfer bis jetzt ausgeharrt und stets alle Befehle befolgt. Sie respektierten ihn als einen der ihren. Trotz seiner Herkunft hatte Reykan nie besondere Privilegien gefordert, im Wissen, dass er keinen Deut besser war als all die anderen Soldaten, und sich so deren Anerkennung erkämpft. Wie viel nützte ihm dieser Respekt, wenn er wieder nur schlechte Nachrichten überbrachte? Wenn er weiter von seinen Männern verlangte, für König Renard in einem sinnlosen Krieg zu sterben?

Den Kopf voller Gedanken erreichte Reykan sein Zelt und schüttelte sich stöhnend den Schnee von den Kleidern. Kadur hockte auf seinem Feldbett, eine Wolldecke um die Schultern geschlungen, und befiederte einige Pfeile.

Erwartungsvoll sah er zu Reykan auf, aber als sich ihre Blicke trafen, verfinsterte sich Kadurs Miene. »Schlechte Neuigkeiten?«

Reykan nickte und legte den feuchten Mantel ab. »Der König will eine weitere Offensive. Von zwei Seiten. Eine über das Haupttor, eine von der Seeseite.«

»Was?« Kadur riss die Augen auf und legte den halbfertigen Pfeil beiseite. »Der Alte spinnt doch! Beim letzten Sturm sind fast zweihundert Männer gestorben! Die Notier haben Dutzende Bogenschützen auf den Mauern, Spieße, um die Leitern abzuwehren, und …«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Reykan resigniert. »Es ist absoluter Wahnsinn.« Er sank auf sein Feldbett und stützte den Kopf auf den Arm. »Renard hört nicht einmal mehr zu. Alles, was er will, ist, diesen Krieg zu gewinnen. Egal zu welchem Preis. Er wird sich erst zurückziehen, wenn der letzte Mann tot ist.«

Kadur seufzte. Reykan erkannte aus den Augenwinkeln, wie er zu ihm hinüber trat und sich neben ihm auf die Bettkante setzte. »Es ist nicht deine Schuld«, murmelte er sanft und legte Reykan den Arm um die Schulter. »Du tust alles, was du kannst, und deine Leute wissen das.«

»Meine Männer wollen nach Hause«, erwiderte Reykan. »Und ich finde keine Worte mehr, um sie noch zu motivieren.« Er lehnte seinen Kopf gegen den Kadurs und dieser strich ihm sacht übers Haar.

»Wenn wir keine Wahl haben«, raunte Kadur, »dann gewinnen wir diesen Scheißkrieg eben. Und wenn es der Mut der Verzweiflung ist, der uns den Sieg bringt.«

Reykan blinzelte. »Denkst du, wir können noch gewinnen?«

»Keine Ahnung.« Kadur zuckte mit den Schultern. »Aber deine Männer müssen daran glauben. Und das können sie nur, wenn du es glaubst.«

»Ich wünschte, ich könnte es«, brummte Reykan. »Jeder Tag, der vergeht, raubt mir mehr Zuversicht. Wärst du nicht hier … wahrscheinlich wäre ich schon lange verzweifelt.«

»Unsinn.« Kadur stieß ihm in die Seite. »Du bist der hartnäckigste Kerl, den ich kenne, und der sturste obendrein. Du ziehst das hier durch, egal was kommt. Und ich bleibe bis zum bitteren Ende, wenn ich muss.«

Ihr Kuss machte jede Erwiderung überflüssig. Er schmeckte nach Schnaps und Kräutersalbe und erfüllte Reykan mit mehr Wärme als jedes Feuer. Zufrieden schloss er die Augen, fühlte nur noch Kadurs Haar unter seinen Fingern und seine Bartstoppeln an der Wange. Es war eine Wolke der Vertrautheit in dieser kalten, bedrohlichen Fremde, die ihm jeden Tag seine Grenzen aufzeigte.

Kadur löste sich aus ihrem Kuss und fuhr lächelnd Reykans Oberschenkel mit den Fingerspitzen nach. »Komm, lass uns ins Bett gehen. Deine Lippen sind kalt und deine Finger auch.«

»Hmm«, brummte Reykan vielsagend und rappelte sich auf. »Du könntest mich ein wenig wärmen.«

Kadur grinste breit und das Leuchten in seinen dunklen Augen jagte einen angenehmen Schauer über Reykans Rücken. »Das werde ich, verlass dich drauf.«

KAPITEL ZWEI

Es kostete Reykan enorme Überwindung, sich im Morgengrauen aus den warmen Decken zu schälen, in denen Kadur und er sich vergraben hatten. Seine Wachschicht begann mit dem ersten Hornstoß, und er wollte unter keinen Umständen unpünktlich sein. Das würde einen schlechten Eindruck bei seinen Leuten hinterlassen und den Respekt untergraben, den er sich in den letzten Jahren als Hauptmann erarbeitet hatte.

Dennoch fiel es ihm schwer, sich mit klappernden Zähnen in seine Rüstung zu quälen, während Kadur schläfrig das Gesicht in den Fellen vergrub. Seine kräftigen Schultermuskeln blitzten verheißungsvoll unter einer Wolldecke hervor und boten einen liebenswerten Kontrast zu dem strubbeligen, rostroten Haarschopf.

Zärtlich betrachtete Reykan ihn eine Weile, ehe er sich neben ihn kniete und ihm einen Kuss auf die Schläfe hauchte. »Ich muss gehen«, raunte er. »Wir sehen uns später.«

Kadur brummte nur unverständlich und zog sich hustend die Wolldecke über den Kopf. Der Klang gefiel Reykan gar nicht, Kadurs Husten rasselte mittlerweile besorgniserregend und schien tief aus seinem Brustkorb zu kommen. Vielleicht würde er den Feldarzt einfach selbst um Arznei bitten, wenn der Sturkopf es nicht tat.

Als Reykan ins Freie trat, stockte ihm kurz der Atem vor Kälte. Raureif überzog die Bäume mit einer Schicht aus Eiskristallen und der Rauch der Lagerfeuer stieg träge in den weißen Himmel. Seufzend trotzte Reykan dem Verlangen, ins warme Zelt zurückzukehren, und lockerte stattdessen seine steifen Glieder.

Pünktlich zum morgendlichen Hornstoß fand er sich am südlichen Lagerausgang ein, so wie ein Dutzend Soldaten seiner Einheit. Reykan kannte die meisten Männer mit Namen, zumindest jene, die auf Festung Rabenstein lange Jahre unter ihm gedient hatten. Keiner wirkte besonders motiviert, und Reykan konnte es ihnen nicht verdenken.

Er musterte die Soldaten schwermütig. Ihm stand noch immer bevor, sie darüber aufzuklären, dass in wenigen Tagen ein erneuter Vorstoß gegen Notia erfolgen würde. Nach der Wachschicht würde er sich darum kümmern, im Moment war er selbst zu müde und zu verfroren, um sich dieser Herausforderung stellen zu wollen.

Letztlich wurde ihm die Aufgabe abgenommen. Als sie nach der ereignislosen Patrouille ins Lager zurückkehrten, wurde bereits verkündet, dass der König noch vor der Mittagsstunde persönlich zu den Soldaten sprechen wollte.

»Das wird Blutvergießen geben«, prophezeite Kadur düster, während sie sich gemeinsam auf den Weg zum Sammelplatz machten. »Die Stimmung ist jetzt schon auf dem Tiefpunkt. Heute Morgen sind wieder zwei Soldaten bei der Wache erfroren, sie müssen eingeschlafen sein. Und man munkelt, fast fünfzig Männer von der Kalsker Lanze wären über Nacht verschwunden, mitsamt ihrer Habe.«

Reykan presste die Lippen aufeinander, trotz der Kälte fühlte er Schweiß auf der Stirn. Wenn es zum Aufstand kam – wie sollte er reagieren? Dem König beistehen, wie sein Schwur es gebot? Seine Männer schützen, wie es seine Pflicht war? Er flehte zu den Göttern, dass es nicht so weit kommen würde.

Kadur blieb in den hinteren Reihen zurück, während sich Reykan nach vorne durchschlug, um die Worte des Königs besser verstehen zu können.

Renard, der umringt von seiner persönlichen Leibgarde auf dem aufgeschütteten Feldherrnhügel wartete, wirkte eigentümlich zufrieden. Seine roten Wangen glommen vor Vorfreude und trotz der hageren Gestalt bot er hoch aufgerichtet auf dem Rücken seines Rappen einen imposanten Anblick.

Reykans Blick wanderte über die Menge hinweg, die sich am Fuß des Hügels versammelt hatte. Mit mehr als dreitausend Mann waren sie losmarschiert, rund achthundert hatten sie bereits verloren. Vielleicht sogar mehr. Und er wollte sich nicht ausmalen, wie viele es noch werden würden, wenn kein Wunder geschah.

Der Klang zahlreicher Hörner und Fanfaren ließ die Menge verstummen.

»Männer!« König Renards Stimme erfüllte die kalte Winterluft. »Soldaten! Unzählige Prüfungen liegen hinter Uns. Wir haben die skaratischen Erzminen erobert und ihre Festung geschleift. Wir haben die Grenze passiert und ihre Truppen in die Flucht geschlagen. Und nun gilt es, die letzte Hürde zu nehmen: ihre protzige Hauptstadt, hinter deren Mauern sie sich feige verschanzen!«

Vereinzelte Jubelrufe ertönten, durchmischt von ungeduldigem Scharren und verhaltenem Murren. Reykan hielt den Atem an. Die verkniffene Miene des Königs verriet ihm, dass dieser sich eine euphorischere Reaktion erwartet hatte. Er ließ ein weiteres Mal die Kriegshörner blasen, um die Menge zum Schweigen zu bringen.

»Uns ist bewusst«, verkündete Renard, »dass der harte Winter an Euren Reserven zehrt. Deswegen werden Wir den Krieg noch in diesem Monat beenden, damit Wir im Frühjahr siegreich heimkehren!«

Diesmal fiel der Jubel ehrlicher aus. Reykan erkannte erleichterte Mienen und hoffnungsvolle Gesichter um ihn herum. Einige Männer nickten sich zufrieden zu. Das flaue Gefühl in seinem Magen verstärkte sich und seine Hand schloss sich um den Schwertgriff. Angesichts der erdrückenden Menge hungriger Soldaten, die gleich erfahren würden, dass sie sich in ein weiteres, aussichtsloses Gefecht stürzen mussten, fühlte sich der Stahl wenig hilfreich an.

König Renard riss das Schwert aus der prunkvoll verzierten Scheide und reckte es gen Himmel. »Morgen, noch vor der Mittagsstunde, stürmen Wir die Mauern Notias, und schon bei Abenddämmerung wird die serinische Flagge über den Türmen wehen! Der Sieg ist Unser!«

Reykans Blick huschte hektisch durch die Reihen. Einige Soldaten wiederholten den Schlachtruf, reckten ihrerseits ihre Klingen empor, doch die Worte verhallten kraftlos im Durcheinander. Bewegung war in die Menge gekommen. Männer schrien, Stahl schlug auf Stahl. Reykan war nicht der Einzige, der zu seiner Waffe griff.

»Das kann nicht Euer Ernst sein!« Ein Soldat löste sich aus dem Pulk und trat vor den Feldherrnhügel. Er trug die blau-roten Wappenfarben der Arliser Wölfe, des dortigen Fußvolks, und sein Abzeichen wies ihn als Leutnant aus. Unter einer Augenklappe blitzte eine Narbe hervor, die sich bis über die Wange zog. »Wir werden diese Mauern nicht stürmen! Wir haben kein Essen mehr und kaum noch Lampenöl! Sollen wir alle hier verrecken? Wofür?«

»Für deinen König«, antwortete der Graf von Leufen hitzig, seinerseits die Hand am Schwert. »Für dein Land und für den Eid, den du geschworen hast, Soldat. Mäßige deinen Ton, sonst hängst du als Deserteur am nächsten Baum!«

»Und wenn schon!« Der Mann stieß ein hysterisches Lachen aus. »Hängen ist der gnädigere Tod als Erfrieren oder Verhungern! Wir sind am Ende unserer Kräfte, Majestät, ein weiterer Ansturm wird …«

»Schweigt still!« König Renards Miene verzog sich zu einer Grimasse. »Seid Ihr Memmen oder Soldaten? Ihr streitet für Unsere Heimat, für Unseren Ruhm, für …«

»Einen Scheiß tun wir!« Ein zweiter Mann flankierte den Leutnant, das Gesicht vor Wut gerötet. »Wir sterben hier, weil Ihr zu feige für einen Rückzug seid! Weil Ihr nicht einsehen wollt, dass der Krieg verloren ist! Wir …«

Ein gezielter Armbrustbolzen brachte ihn zu Fall. Der Mann stürzte, Blut sickerte in den Schnee, dann brach das Inferno aus. Soldaten schrien, keilten sich ineinander. Die Heerführer brüllten Befehle, trieben die Menge auf ihren Pferden auseinander, versuchten Ordnung in das Chaos zu bringen, ihre Männer zu sammeln. Armbrustsehnen schnalzten. Schwerter klirrten.

»Ruhe!«, kreischte Renard über das Durcheinander hinweg. »In Reih’ und Glied, sofort!«

Niemand achtete auf seinen Befehl. Reykan zog sein Langmesser, brüllte in die Menge, um seine Leute zu sammeln. Vehement trennte er zwei fremde Soldaten, die aufeinander einschlugen, und schaffte es schließlich, zumindest ein paar seiner Männer um sich zu scharen. Reykan las Angst, Verunsicherung und Zorn in ihren Mienen, fand aber nicht die Zeit, ihnen Mut zuzusprechen. Verzweifelt sah er sich nach Kadur um, doch von ihm fehlte jede Spur.

»Wir ziehen uns zurück«, ordnete er an. »Sammelpunkt am Lager. Ich will kein Blutvergießen unter Kameraden, ist das klar? Das hilft niemandem.«

»Beschissener Heuchler!« Einer der Männer reckte zornig das Kinn vor. »Kriechst dem König mit Schwung in den Arsch und tust so, als wärst du auf unserer Seite? Ich scheiß auf …«

»Halt’s Maul!« Ein weiterer Soldat, Asleik, versetzte seinem Kameraden einen Schlag in den Rücken. »Wir haben alle keine Lust auf den Dreck hier, aber keiner von uns zieht feige den Schwanz ein, klar?«

Sein Kontrahent schnaubte, er riss sich los. »Wen nennst du hier feige, du …?«

»Es reicht.« Mit grimmiger Miene trat Reykan zwischen die beiden und hielt sie auf Abstand. »Ich friere, hungere und kämpfe genau wie jeder Einzelne von Euch, und ich will nicht weniger nach Hause als Ihr. Aber wir alle haben einen Eid geschworen, und den werden wir erfüllen. Wenn Ihr schon nicht für den König streiten wollt, dann kämpft für Eure Kameraden. Für die, die gefallen sind, und für jene, die noch an Eurer Seite stehen. Jeder, der flieht, jeder, der desertiert, setzt seine Gefährten noch größeren Gefahren aus – und das ist verdammt nochmal feige!«

Der Aufrührer zog die Stirn kraus, doch der Zorn in seinen Augen war erloschen. Resignation gewann die Oberhand.

»Wir ziehen uns zurück«, wiederholte Reykan, diesmal mit Nachdruck. »Das ist keine Bitte, sondern ein Befehl. Sammeln vor dem Versorgungszelt!«

Zu Reykans Erleichterung setzte sich die Gruppe aus rund siebzig Männern tatsächlich in Bewegung. Er hielt weiterhin Ausschau nach dem Rest seiner Einheit, konnte aber im Gedränge um den Feldherrnhügel nichts erkennen. Schneewehen nahmen ihm die Sicht, in der Ferne ertönten immer noch Schreie und Kampflärm. Wo waren die anderen? Und vor allem – wo war Kadur? In Sicherheit? Oder mitten in den Unruhen? Sein Gefährte war niemand, der sich leichtfertig auf Ärger einließ, doch wenn er zwischen die Fronten geriet …

Eine einzelne Schneeflocke fiel auf Reykan herab und zerfloss auf seiner Wange. Das Grollen in seinem Inneren wurde stärker, erfasste jeden Winkel seines Körpers.

Die Stimme des Grafen von Harrenstein erklang in seinem Kopf: Wie mir scheint, wird Eure Treue nicht auf angemessene Weise vergolten.

In der Ferne war eine Armbrustsalve zu hören. Eine raue Stimme brüllte Befehle. Ein Pferd wieherte erschrocken. Noch mehr Schreie erklangen.

Reykan fröstelte, als eine eisige Windböe sein Haar zerzauste. Trotzdem hob er das Kinn und atmete tief durch. Wenn Notia sein eisiges Grab würde, dann starb er zumindest aufrecht.

***

Im fahlen Licht des hereinbrechenden Abends erschien das Blut auf der Schneedecke dunkel, fast schwarz. Schleifspuren zogen sich über den Boden, durchsetzt von Stiefelabdrücken. Ein abgebrochener Bolzen steckte im Schnee, daneben ein einzelner, durchnässter Handschuh.

Schwerfällig schleppte Reykan sich weiter in Richtung des Seeufers, wo sechs gerüstete Armbrustschützen und zahlreiche Königswachen einen Pulk Männer im Schach hielten, deren Hände im Rücken gefesselt waren. Reykan schluckte hart, als er zwei von ihnen erkannte. Rik und Ordur. Soldaten, die er schon seit Jahren kannte. Die unter ihm auf Rabenstein gedient hatten, mit denen er in eisigen Nächten Karten gespielt und am Feuer Gewürzwein getrunken hatte. Gute Männer. Aufrechte Soldaten. Jetzt trugen sie kaum mehr als Leinenfetzen am Leib, es schüttelte sie vor Kälte und über ihnen baumelte an einem soliden Ast ein halbes Dutzend hastig geknüpfter Stricke.

Hunderte Zuschauer drängten sich um das Geschehen, teils verängstigt, teils angespannt, manche sogar mit grimmiger Genugtuung in den Augen. Mehrere Trossknechte trugen Schemel herbei und die ersten sechs Männer, darunter auch Rik, wurden unter Drohungen gezwungen, hinaufzusteigen.

Die Stimme der Königswache schnitt in Reykans Trommelfell und verursachte ein hässliches Echo in seinem Kopf. Deserteure. Verräter an der Krone. Tod durch den Strang.

Mit trockenem Mund sah er zu, wie den Männern die Schlingen um den Hals gelegt wurden. Die Fallhöhe war nicht hoch genug für einen sauberen Tod, und Reykan graute vor dem, was gleich kommen würde. Trotzdem blieb er an Ort und Stelle, betete stumm für seine Kameraden und schenkte ihnen zumindest ein letztes Geleit.

»Kerach sei Dank, hier steckst du!«

Reykan fuhr herum, und sein Herz vollführte einen glücklichen Sprung, als sich Kadur einen Weg durch die Menge bahnte. Er unterdrückte den Drang, ihn zu umarmen, und beschränkte sich auf einen kameradschaftlichen Händedruck. In Rabenstein war ihre Beziehung längst kein Geheimnis mehr, obwohl sie sich nie als Paar in der Öffentlichkeit zeigten, doch während des Feldzugs hatten sie sich um Geheimhaltung bemüht. Das fehlte noch, dass ein arroganter Narr wie der Graf von Leufen dumme Sprüche über sie riss und Reykans Position schwächte.

Kadur roch nach Schweiß, Kräuterabsud und Alkohol, sodass Reykan ihn eindringlich musterte. »Geht es dir gut?«

Kadur hob die linke Hand, die in Bandagen eingewickelt war, und zuckte mit den Schultern. »Den Umständen entsprechend. Der Schnitt war nicht tief, hat nur hässlich geblutet.«

»Was ist passiert?«, fragte Reykan besorgt und berührte mit den Fingerspitzen den verkrusteten Verband.

Kadur winkte ab und wandte den Blick nach vorne. »Später.«

König Renard hatte den Schauplatz betreten, umgeben von schwer gerüsteten Wachen, die ihn von der Menge abschirmten. Reykan lauschte seiner Rede über Loyalität, Verrat und den Pflichten eines Soldaten nur mit halbem Ohr, während er apathisch in den grauen Himmel starrte. Der König war noch nie ein großer Redner gewesen und Reykan bezweifelte, dass seine Worte bei den verunsicherten Männern irgendetwas bewirkten.

Kadur legte ihm unauffällig die Hand auf den Rücken und Reykan war ihm dankbar um diese kleine Geste des Beistands.

Mit versteinerter Miene sah Reykan zu, wie sich der schwarz gewandete Henker hinter den Verurteilten aufbaute und die Schemel unter ihren Füßen einen nach dem anderen umstieß. Reykan schlug die Augen nieder, immer noch ein stummes Gebet auf den Lippen. Die Männer zappelten hilflos, rangen verzweifelt nach Luft, stießen ein kehliges Röcheln aus. Minutenlang dauerte der qualvolle Todeskampf, dann herrschte Stille. Kalte, eisige Stille, frostig wie der zugefrorene See, an dessen Ufer sie standen.

Routiniert öffnete der Henker die Schlingen und die Leichen wurden auf einen Karren gestapelt. Vermutlich würde man sie in einen der Zuflüsse werfen. Gräber ohne Namen, vergessene Tote, wie so viele in diesem Krieg.

Der Scharfrichter wiederholte das Prozedere mit den übrigen Verurteilten. Jeder von ihnen starb am provisorischen Galgen, während die Soldaten ringsum zusahen. Teils beschämt, teils grimmig, vor allem aber resigniert und wütend.

»Komm.« Kadur schob Reykan mit sanfter Gewalt in Richtung Lager. »Genug Ärger für heute.«

Reykan nickte und stapfte neben seinem Gefährten zu den Zelten zurück. Im Gehen berührte er Kadurs Verletzung. »Was ist passiert?«

Kadur seufzte. »Bin dazwischengegangen, als zwei Idioten aufeinander einstechen wollten. Einer von denen hat mich erwischt. Ist nur ein Kratzer.« Er musterte Reykan besorgt. »Was ist mit dir? Bist du verletzt?«

Reykan schüttelte den Kopf. »Mir geht’s gut. Äußerlich jedenfalls.«

»Hmm.« Kadur schwieg und berührte ihn beiläufig an der Schulter. Nicht einmal diese sanfte Geste konnte Reykans Gemüt beruhigen. Der Gedanke, dass er nichts hatte tun können, um das Blutvergießen zu verhindern, war unerträglich. Dutzende Männer waren an diesem Nachmittag durch die Hand ihrer eigenen Kameraden gestorben und ebenso viele planlos in die Wälder geflohen. Die wenigsten von ihnen würden auch nur die nächste Nacht überleben.

Seufzend blickte Reykan nach Westen, wo die Sonne hinter den Bergen versank. »Ich muss bald los«, murmelte er. »Harrenstein hat mich zum Abendessen eingeladen. Ich fürchte, ich muss aus Höflichkeit annehmen.«

»Solltest du«, bejahte Kadur. »Was will der Kerl von dir?«

»Keine Ahnung«, brummte Reykan und beschloss, Harrensteins unangenehme Andeutungen für sich zu behalten. Er vertraute Kadur, aber heute war genug Blut geflossen. »Über den Vorstoß sprechen, denke ich.«

»Gut«, Kadur nickte, »dann solltest du dich in Schale werfen.« Er grinste und stieß Reykan den Ellbogen in die Seite. »Du könntest dich echt mal wieder rasieren.«

Reykan fuhr sich mit dem Handrücken über die dichten, dunkelbraunen Bartstoppeln und lächelte. »Vielleicht lasse ich mir einen Vollbart wachsen?«

Kadur lachte. »Bei der Kälte wäre das eine Überlegung wert.« Er runzelte die Stirn und begutachtete Reykan eingehend. »Würde dir sogar stehen, schätze ich. Wobei … deine Augen kommen ohne Bart besser zur Geltung.«

»Wenn du das sagst …« Reykan lächelte zärtlich und schwieg, während er seinen Gefährten betrachtete. Die unbeschwerten Tage auf Rabenstein fehlten ihm wirklich. Die Ausritte, das Training, die Abende am Kamin und die gemeinsamen Nächte. Kadur ließ es sich zwar selten anmerken, doch der Feldzug zehrte an ihm – körperlich wie geistig. Genau wie an Reykan.

Er atmete tief durch, ein leichter Schauer lief seinen Rücken hinunter. Hoffentlich nahm dieser verdammte Kriegszug bald ein Ende.

***

In Harrensteins Zelt war es angenehm warm, als Reykan eintrat, und es duftete verführerisch nach Bohnen und Speck.

Der Graf begrüßte ihn mit Handschlag, sein Lächeln wirkte allerdings ausgesprochen kühl. »Ich bin froh, dass Ihr meiner Einladung gefolgt seid, Herr von Torat. Bitte, nehmt Platz. Etwas Wein?«

Ein Diener füllte ihre Becher mit dampfendem Gewürzwein und rührte anschließend den Inhalt des Topfes um, der über dem Feuer brodelte. In einer Ecke des Zelts erkannte Reykan einen kleinen, mit dunklem Stoff verhangenen Schrein. Darauf befanden sich einige Kerzen, ein Siegelring und andere Habseligkeiten sowie die Insignien Kerachs, des Winter- und Totengottes: Knochen und Geißel. Ein Langschwert und ein Schild mit dem Harrensteiner Wappen lehnten daneben.

Reykan schluckte. Harrenstein hatte zwei seiner drei Söhne in diesem Krieg verloren, mehr, als mancher Mann ertragen konnte. Wen überraschte es da, dass er über einen Rückzug nachdachte?

»Ich bin erleichtert zu sehen, dass Ihr die Unruhen unbeschadet überstanden habt«, meinte Harrenstein und nahm einen Schluck Wein. »Ich hoffe, es wird kein Nachspiel für Euch geben? Soweit ich informiert wurde, waren auch Rabensteiner unter den sogenannten Verrätern.«

Reykan hob die Schultern. »Bislang hat mich König Renard deswegen nicht belangt, und ich glaube kaum, dass er es noch tun wird. Würde er jeden Heerführer verurteilen, dessen Männer rebelliert haben, blieben ihm keine fähigen Leute übrig.«

Harrenstein lächelte mild. »Wohl gesprochen, mein Freund.« Er gab dem Diener ein Zeichen, woraufhin dieser zwei Holznäpfe mit Eintopf füllte und vor ihnen platzierte. Reykan konnte sich nicht erinnern, wann er zuletzt richtigen Speck gekostet hatte, der Duft war überwältigend. Manchmal bereute er, dass er zugunsten seiner Leute auf einen persönlichen Vorrat verzichtet hatte, doch deren Zusammenhalt war ihm wichtiger als sein voller Magen. Außerdem hatte er während der Stabsbesprechungen und Kriegsräte stets genug zu Essen bekommen. Mehr als seine Männer jedenfalls.

Während er sich über den Eintopf hermachte, meinte Harrenstein: »Ihr scheint unter Euren Leuten einen hervorragenden Ruf zu genießen, Herr von Torat, man hört nur Gutes. Mein Neffe Lorkar spricht stets in den höchsten Tönen von Euch.«

Reykan zuckte mit den Schultern. »Unter Soldaten erringt man Respekt durch Taten, nicht durch einen großen Namen. Ich habe selbst als einfacher Rekrut begonnen, das beeindruckt die Männer mehr als ein adliger Titel.«

»Aber Ihr seid von Stand.«

»Mehr oder weniger«, erwiderte Reykan seufzend. »Ich trage den Namen von Torat nur, weil mein Vater darauf bestand.« Er lächelte schief. »Viel Ehre für den Sohn einer Küchenmagd.«

Harrenstein lachte und schenkte sich Wein nach. »Nun, für einen Bastard habt Ihr es weit gebracht. Rabenstein ist eine der strategisch bedeutsamsten Festungen von Serin. Außerdem scheint der König Wert auf Eure Meinung zu legen, sonst hätte er Euch nicht in den Stab berufen. Wie viele Männer habt Ihr unter Euch? Zweihundert?«

»Zweihundertfünfzig«, erwiderte Reykan. »Aber fünfzig ließen wir zurück, um die Burg zu sichern.«

Der Graf nickte nachdenklich und sah Reykan eine Weile schweigend beim Essen zu, ehe er weitersprach. »Ich nehme an, König Renard wird an seinen Plänen festhalten und morgen für den Sturm rüsten. Habt Ihr darüber nachgedacht, wie Ihr reagieren wollt?«

»Es gibt nichts nachzudenken«, erwiderte Reykan kühl und ließ den Löffel mit Nachdruck sinken. »Ich folge meinen Befehlen und werde dafür sorgen, dass wir so wenig Verluste wie möglich erleiden. Die Unruhen haben genug Löcher in unsere Reihen gerissen.«

»Wohl wahr.« Harrenstein nahm einen Schluck Wein und musterte Reykan über den Rand seines Bechers hinweg. »Was denkt Ihr, Herr von Torat: Werden wir diesen Krieg gewinnen?«

Reykan schluckte. Wenn der Graf ihn nur eingeladen hatte, um seine Loyalität zu prüfen, hatte er Pech gehabt. Diesen Trumpf würde er ihm nicht zuspielen. »Der König glaubt an einen Sieg«, erwiderte er pragmatisch. »Es ist meine Pflicht, ihm zu folgen.«

Ein Lächeln zerrte an Harrensteins Lippen. »Mein Neffe sprach stets davon, was für ein hervorragender Stratege Ihr wärt. Was denkt Ihr, welche Taktik würde uns jetzt noch den Sieg bringen?«

Hinter Reykans Stirn arbeitete es und er musterte Harrenstein widerwillig. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Ich bin mir sicher, seine Majestät wird eine kluge Entscheidung fällen.«

Der Graf lächelte erneut, doch nichts daran wirkte freundlich. Es fühlte sich eher an wie ein Stich in die Rippen. »König Renard kann sich glücklich schätzen, einen Mann wie Euch zu haben.« Seine Worte trieften nur so vor Ironie. »Jemanden, der ohne Zögern alle Befehle seines Herrn erfüllt und aufrecht stehend für ihn in den Tod geht. Sehr edelmütig.«

Reykan ließ den Löffel geräuschvoll in den Eintopf fallen und stemmte die Fäuste auf den Tisch. Seine Nasenflügel blähten sich in stummem Zorn, während er Harrenstein mit seinem Blick fixierte. »Ich habe einen Eid geschworen«, knurrte er. »Genau wie Ihr, Wohlgeboren. Würde jeder von uns stets nur den leichtesten Weg wählen, ginge unser Land vor die Hunde. Ich bin Soldat, es ist meine Aufgabe, meinem König zu dienen. Und wenn es mir den Tod bringt, ja, dann sterbe ich aufrecht und mit Stolz.«

Harrenstein nickte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Meine Söhne waren ebenfalls Soldaten, Herr von Torat. Beide sind aufrecht gestorben, aber dennoch weine ich jeden Tag um sie. Der Gedanke, dass sie einen edlen Tod erlitten haben, nimmt mir weder die Trauer noch den Schmerz. Ihre Gebeine verrotten irgendwo in einem namenlosen Grab. Nichts daran ist ehrenhaft.«

»Der Tod Eurer Söhne dauert mich«, erwiderte Reykan. »Doch jeder Soldat, der in diesem Krieg fällt, ist jemandes Sohn, Vater, Bruder, Ehemann oder Geliebter. Es ist unser Schicksal, den Tod in Kauf zu nehmen, wenn er uns ereilt. Ihr wusstet das, als Ihr Eure Söhne auf das Schlachtfeld schicktet.«

Harrenstein legte die Stirn in Falten. »Also wollt Ihr ausharren? Eine Belagerung führen, die Ihr nicht gewinnen könnt? Auf Kosten Eurer Soldaten?«

Reykan stemmte sich von seinem Platz auf. »Ich lasse mich nicht zur Fahnenflucht aufwiegeln, Wohlgeboren. Meine Entscheidung ist gefallen und ich diene meinem König, nicht Euch. Ich …«

Das Dröhnen der Hörner ließ das ganze Lager erbeben und unterbrach Reykans Worte. Der tiefe, voluminöse Klang drang ihm bis ins Mark. Er und der Graf wechselten einen erschrockenen Blick und stürmten im nächsten Moment nach draußen.

Scharlachrot leuchtete der Himmel über ihnen. Knisternde Flammensäulen stoben über den Zelten empor. Schwarzer Rauch füllte die Luft, es regnete Asche. Ein Schwarm aus bogenförmigen Lichtern ging von den nahen Berghängen hernieder. Wunderschön – und tödlich. Die Pfeile schlugen in die Zeltdecken ein, setzten das Leinen in Brand oder verloschen zischend im Schnee. Schreie erklangen. Gebrüllte Befehle. Waffenklirren.

Für einen Moment stand Reykan da wie gelähmt. Er starrte reglos auf das grausige Schauspiel, das sich ihm bot. Unmöglich. Die Späher hatten die Umgebung abgesucht und keine Anzeichen für skaratischen Soldaten entdeckt! Wie konnten …?

Ein Schrei aus der Ferne riss ihn aus seiner Trance. Der Schock saß ihm tief in den Gliedern, doch mit jedem Schritt wurden Reykans Gedanken klarer. Seine Schritte flogen über den gefrorenen Boden, zurück zu seinem Zelt. Plötzlich erschien jede Handlung routiniert, als hätte er nie etwas anderes getan. Der Griff zu den Schulterplatten, Arm- und Beinschienen. Das Festzurren der Schnallen. Der letzte Blick zu Kadur, der den Sitz der Rüstung prüfte, während er seinen eigenen Köcher am Gürtel befestigte. Das Schließen der Fibel an seinem Mantel. Der Griff an den Schwertknauf. Anspannung toste durch Reykans Körper und er schickte ein letztes Stoßgebet zum blutroten Himmel, ehe er aus dem Zelt stürmte.

KAPITEL DREI

Die fahle, kühle Morgensonne schob sich über die Bergkuppen, ließ Eiskristalle an den Bäumen funkeln und offenbarte das Ausmaß jenes Schreckens, den die Nacht beschert hatte.

Reykans Schritte waren schwer, jeder einzelne kostete ihn Überwindung und Kraft. Der Geruch von Ruß und Asche überdeckte kaum den Gestank geronnenen Blutes. Von ihrem Lager war nicht mehr viel übrig. Verkohlte Zeltruinen. Geborstene Waffen. Abgetrennte Glieder. Tote Körper. Ein Bild, wie aus einem Alptraum entsprungen.

Es war nicht die erste Schlacht, die Reykan in seinem Leben geschlagen hatte, doch noch nie hatte seine Seite eine so verheerende Niederlage erlebt. Hätten sich die Skaraten nicht wenige Stunden vor Sonnenaufgang zurückgezogen, um ihre eigenen Soldaten zu schützen, hätten sie vielleicht auch den Rest ihrer Männer verloren.

Eine Mischung aus Schmerz und Schuld presste die Luft aus Reykans Lungen. Wie hatten die Späher diese Masse an Soldaten übersehen können? Warum waren sie nicht vorbereitet gewesen? So viel Tod, so viele Verluste.

Ein weiterer, quälender Gedanke schlich sich in Reykans Kopf und ließ ihn nicht wieder los. Kadur. Seit Stunden fehlte jede Spur von ihm, im Schlachtengetümmel hatte Reykan ihn aus den Augen verloren. Als Schütze stand sein Gefährte zwar meist in den letzten Reihen, doch auch beim Rückzug und hinter der hastig errichteten Barrikade hatte Reykan ihn nicht mehr gesehen. Ebenso wenig im Lazarett. Kadur war ein hervorragender Kämpfer, das allein beruhigte Reykan aber nicht. Viele gute Männer hatten in diesem Krieg schon ihr Leben gelassen.

Ein einziger Pfeil. Ein gezielter Schwertschlag. Eine Unaufmerksamkeit.

Schaudernd schüttelte Reykan den Gedanken ab und schlich ziellos durch die Reihen, auf der Suche nach Überlebenden. Er rief Kadurs Namen, ließ den Blick schweifen. Keines der bleichen Gesichter, das ihn schmerzerfüllt aus dem Schnee anstarrte, barg noch einen Funken Leben – und keines von ihnen war Kadurs.

»Herr von Torat!«

Er blickte sich um.

Einer der königlichen Herolde eilte auf ihn zu und verneigte sich knapp. »Seine Majestät wünscht Euch zu sprechen. Er erwartet Euch in seinem Zelt.«

Missmutig stapfte Reykan hinter dem Mann her, in Gedanken immer noch bei Kadur und der quälenden Frage, ob ihm etwas zugestoßen war. Bei jedem Karren mit Leichen, der an ihnen vorbeigezogen wurde, fürchtete Reykan, das Antlitz seines Gefährten unter den leblosen Gesichtern zu erblicken, doch stets trogen ihn seine Sinne. Den Göttern sei Dank.

Die Königswachen hatten offenbar schnell reagiert und die Flammen gelöscht, denn König Renards Quartier ragte wie ein Mahnmal zwischen den Gerippen verbrannter Zelte auf. Trotzdem war von seinem einstigen Prunk nicht mehr viel übrig.

Reykan war nicht der Einzige, der sich eingefunden hatte. Neben Renard und seinen engsten Vertrauten warteten auch Graf von Harrenstein, Graf von Leufen und drei Offiziere. Halbherzig beugte Reykan das Knie und musterte den König eingehend. Er schien nicht verletzt zu sein, doch die fahle Gesichtsfarbe und die zittrigen Bewegungen ließen ihn kränklich wirken.

Reykan vermied es, Harrenstein anzusehen, und trat in die Reihe der Offiziere. Von ihnen schien jeder in irgendeiner Form versehrt. Manche trugen einen Arm in einer Schlinge, andere hatten blutige Bandagen ums Bein gewickelt.

»Meine Herren.« Die Stimme des Königs zitterte hörbar. »Die gestrige Nacht war eine Nacht des Schreckens, die rasches Handeln erfordert. Wir werden das Lager abbrechen und ziehen Uns nach Süden in die Wälder zurück.«

»Majestät, wir sollten verhandeln«, warf Reykan ein. »Wenn wir den Skaraten noch einmal in die Hände fallen, wird es keine Überlebenden mehr geben. Vielleicht garantieren sie uns sicheren Abzug.«

»Verhandeln?« Der König schnaubte, seine Unterlippe zitterte. »Die skaratischen Bastarde haben Hunderte Unserer Soldaten abgeschlachtet! Es wäre entwürdigend für die Gefallenen, würden Wir mit dem Feind gemeinsame Sache machen.«

»Nein, Majestät«, konterte Harrenstein mit zusammengebissenen Zähnen. »Es wäre entwürdigend, wenn das Opfer dieser Männer mit Füßen getreten würde, indem wir unseren Stolz über die Sicherheit der Soldaten stellen. Der Krieg ist verloren. Wenn wir Glück haben, akzeptiert Skarat unsere Kapitulation und lässt uns abziehen.«

Renards Augenlid zuckte, angespannt sah er sich im Zelt um. »Teilen die Herrschaften diese Auffassung?«

Reykan nickte mit Nachdruck, genau wie die anderen Offiziere. Die meisten von ihnen waren zu müde, zu erschöpft, um ihre Meinung überhaupt noch in Worte zu kleiden.

Der König sank auf seinen Stuhl, die Hände im Schoß vergraben. Zusammengekauert, mit eingefallenen Wangen und rastlosem Blick, saß dort nur ein alter, gebrochener Mann, der keinerlei Autorität mehr ausstrahlte. »Gut«, murmelte er, ohne auch nur den Kopf zu heben. »Schickt einen Diplomaten unter Parlamentärflagge nach Notia. Er soll ausrichten, dass König Renard von Serin bereit ist, über eine Kapitulation zu verhandeln.«

Reykan atmete auf. Auch in den Gesichtern der anderen Männer stand Erleichterung geschrieben, gemildert durch die Schrecken der letzten Nacht. Einzig der Graf von Leufen verschränkte unzufrieden die Arme vor der Brust, wagte es aber nicht, zu widersprechen. Reykan war froh darüber, in seiner aktuellen Verfassung hätte er dem Burschen bei einem dummen Kommentar vermutlich die Nase gebrochen.

Während der König keine Anstalten machte, noch ein Wort an die Heerführer zu richten, fragte Harrenstein: »Wissen wir, wie viele Soldaten gefallen sind? Oder besser – wie viele noch leben?«

Garis von Leinfels, der grauhaarige Hauptmann der Königswache, schüttelte schnaufend den Kopf. »Wir bergen noch immer Verletzte aus dem Schnee, aber ihre Chancen schwinden. Ich schätze, mindestens ein Drittel der Soldaten ist tot. Außerdem gibt es Gerüchte von Fahnenflüchtigen, die …«

»Fangt sie ein!«, knurrte Renard unvermittelt, die knochige Hand zur Faust geballt. »Fangt sie ein und hängt sie, jeden Einzelnen! Keine Verräter in Unseren Reihen!«

Der Hauptmann salutierte. »Jawohl, mein König.«

Reykans Mund fühlte sich trocken an und sein Blick huschte in Richtung Ausgang. Eigentlich suchte er nur nach einem Vorwand, das Zelt endlich verlassen zu können. Ob Kadur unter den Deserteuren war? Wenn ja, dann musste Reykan ihn finden, bevor es die Königswachen taten. Loyalität hin oder her, er würde seinen Geliebten nicht dem Galgen ausliefern! Lieber floh er mit ihm in die Schneezinnen oder die dichten Wälder von Norderland, ehe er ihn seinem Schicksal überließ.

»Ihr anderen«, murmelte König Renard, »lasst die Verwundeten bergen und die noch vorhandenen Vorräte zusammentragen. Der Zeugwart soll alles notieren. Vergrabt die Toten, wenn möglich. Ansonsten verbrennt sie.«

Mit einer Handbewegung schickte er die Heerführer hinaus und Reykan war dankbar, die erdrückende Stimmung endlich hinter sich zu lassen. Er fing Harrensteins Blick auf, als sie das Zelt verließen, und die kühle Genugtuung darin ließ Reykans Puls ansteigen. Rückzug hin oder her – das Ende des Krieges war mit zu viel Blut erkauft.