Unter Masken - Ludwig Fladerer - E-Book

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Ludwig Fladerer

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Beschreibung

Die schillernde Welt des Ancien Régime unter Gustav III. von Schweden (1746–1792) ist Schauplatz einer mörderischen Verschwörung, in der sich der Adel gegen die revolutionären Kräfte der Zeit und den als Despoten empfundenen König erhebt. Der Gardeoffizier Lilljehorn steht zwischen Hof und Verschwörern. Als er sich in die Agentin Ulrica verliebt, muss er sich entscheiden, für welche Ideale er steht.

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UNTER MASKEN

LUDWIG FLADERER

unveränderte eBook-Ausgabe

© 2022 Seifert Verlag

1. Auflage (Hardcover): 2020

ISBN:  978-3-904123-60-0

ISBN Print: 978-3-904123-36-5

Umschlaggestaltung: Michi Schwab, Union Wagner, Wien, unter Verwendung eines Fotos von commons.wikimedia.org

Sie haben Fragen, Anregungen oder Korrekturen? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören! Schreiben Sie uns einfach unter [email protected]

Seifert Verlag GmbH

Ungargasse 45/13

1030  Wien

www.seifertverlag.at

facebook.com/seifert.verlag

INHALT

Danksagung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Epilog

Meinen Eltern

PROLOG

Nur zu gut kannte er die trügerische Wärme des Schnees. Auch diesmal überwand er die Versuchung, in der Mulde hinter der Birke liegen zu bleiben, und stemmte sich gegen die Decke aus weißem Pulver. Die Kälte drang mit derartiger Wucht in seine Glieder, dass er selbst nun nichts anderes mehr war als eben diese große, erhabene Qual. Erst der zarte Fall der Kristalle auf den schneebedeckten Boden, den er vernahm wie den Klang von etwas anderem, das nicht Schmerz war, gab ihm die Kraft, sich ganz aufzurichten. Nun trieb ihn der Hunger, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Schritt auf Schritt, so langsam, dass er Angst hätte haben müssen, von den anderen verspottet und angegriffen zu werden, wenn er sich ihres tiefen Schlafes nicht sicher gewesen wäre. Satt und für einige Stunden noch harmlos, ruhten sie unweit des Weges – den Jägern der Fremdlinge zum Spott.

Der Hunger führte ihn, überlagerte das Stechen in Lunge und Gliedern und setzte ihn in Trab. Der Nebel über dem zugefrorenen See würde ihn den Blicken seiner Opfer entziehen, aber trug ihn die Eisdecke? Nach einem warmen Herbst hatten zwar Schnee und Kälte die Herrschaft angetreten, aber die Speichen des großen Sonnenrades warfen immer wieder Wärme auf das Eis. Milchig und verheißungsvoll lockte es ihn, in das Nichts zu gehen. Dorthin, wo er seinen geschundenen Körper nicht mehr spürte. In seiner Jugend – wie herrlich waren da die Kämpfe. Vor seinem klaren Blick hatten alle Respekt gezeigt. Sie senkten die Häupter, wenn er in ihre Mitte trat. Immer war er der schnellste, entschlossenste, wenn es galt, die Schwächen des Gegners zu erkennen, ihm den Fluchtweg abzusperren. In den Nächten der Großen Helle rief er sein Gefolge zusammen, da sangen sie, tanzten sie, ließen himmelhoch ihre Rufe ertönen, die sie eins machten mit der Bläue, an der die Große Helle mild über ihnen hing. Keiner hatte damals gedacht, geplant oder die Vorsicht der Kümmerlinge gezeigt: Alle vereint ergaben sie sich der Macht des Himmels, wenn sie ins Unbekannte liefen, über knotige Wurzeln des Sommerbodens oder das schorfige Eis langer Nächte. Sie flogen dahin, bis Himmel und Erde eins wurden.

Damals war er ihr strahlender Held – jetzt Einsamkeit, banges Spähen nach Opfern, die noch hilfloser waren als er, deren ängstliche Ausdünstung allein sie gerettet hatte, denn sie waren es nicht wert, seine Gegner zu heißen.

Das Revier, in dem er sich noch behaupten konnte, lag am Fuße einer sich weit nach Norden ziehenden Bergflanke, die zur Weite im Osten hin die Grenze bildete. Sein ehemaliges Gefolge hatte sich ohne ihn nie über diesen Bergkamm hinausgewagt. Er war es gewesen, der vor vielen Jahreskreisen einmal den Übergang erzwungen hatte – zu ihrem und seinem Verderben.

Ein hartes Knacken hinter ihm riss ihn aus seinen Träumen. Flach duckte er sich in die nächste Mulde, die noch warm war von etwas Feuchtem. Es roch nach dem Fremden, dem er immer öfter begegnete. Er spähte über den Rand der Vertiefung. Das gelbe Augenpaar eines Luchses, der sich für den Moment eines Herzschlags ihm zuwandte, ehe er in die Wälder des Berghanges eintauchte, warnte ihn: Er war nicht allein. Würde er nicht bald zu Nahrung kommen, könnte ihn sein Gefolge ausmachen – hungrig, jung und ohne Gnade.

Um den See herum war der Schnee niedergetrampelt, vom Geruch der Fremdlinge durchtränkt – sein Gefolge mied diesen Weg, wie er selbst ihn in Zeiten des Glücks gemieden hatte. Doch jetzt trugen ihn dort seine Beine leichter. Im Licht der Großen Helle, das sich nun durch den Nebel gekämpft hatte, lagen die Schatten der Bäume als Zuflucht auf dem weißen Boden. Wenn er den Saum des Waldrandes entlangpirschte, konnte er in dieser Dunkelheit Atem holen und Kraft gewinnen. Im Gehen schmerzte die Lunge mehr und mehr, wie weit konnte man das Rasseln seines Atems wohl hören? Fremde Spuren waren durch den Schnee der letzten Tage unsichtbar, nur die Schatten boten Gewissheit. Bei den drei Birken verließ der Weg das Seeufer und wand sich in sanfter Krümmung eine Anhöhe empor, die er bis jetzt immer umgangen hatte. Dort oben musste der Schrei eines Hähers oder des hier nistenden Adlers jede Hoffnung ersticken, unentdeckt zu bleiben. Die Winternacht war freilich unendlich lang, von den Vögeln noch nichts zu befürchten. Hinter der Anhöhe schimmerte etwas, von dem er wusste, dass es nicht vom Himmel kam, etwas Neues, das ihn nach oben zog. Die Beine, schon gefühllos bis zu den Knien, gehorchten nicht mehr ihm. Sie hatten sich dieser hellen Verheißung ergeben: Nahrung oder Tod durch die Fremdlinge, deren Leben einem Gesetz gehorchte, das weder er noch sein Gefolge je verstanden hatte.

Den Blick dem Licht zugewandt, bemerkte er nicht, wie das Blut aus seiner Lunge den Weg sprenkelte und in erkalteten Klumpen liegen blieb – willkommene Fährte sogar für den Schwächsten unter seinen Verfolgern. Er bog um die letzte Hecke, die das Licht der Fremdlinge noch kurz abschirmte, und stand dann vor einem kristallenen Palast, vor einer Wand aus Karfunkeln, hinter der unzählige kleine Sonnen ihre Strahlen auf eine gläserne Fläche warfen. So schön wie der Eispalast seines großen Ahnen, in dem seine Seele aufgenommen sein würde.

Der Mann wartet im Schatten einer Tanne. Die Kälte tut nichts zur Sache. Sie hält ihn wach, denn er muss denken, immerzu denken. Den schweren Pelzmantel hat er noch von seinem Vater, der ihn nur selten trug. Über seine Bücher gebeugt, in der überheizten Bibliothek brauchte er ihn ebenso wenig wie die Büchse, die der Alte gerade ihm, dem missliebigsten seiner Söhne, vererbt hatte. Er trägt die Waffe heute offen und frei – die Diener des Hofes müssen ihn so für einen Jäger halten, wenn sie ihn hier aufspüren. Doch das ist auszuschließen, denn von seinem Spitzel weiß er zuverlässig, dass man allen Lakaien und Wächtern in dieser Nacht Urlaub gewährt hat. Immer wieder war er hierhergeschlichen, sorgsam bemüht, seine Fährte zu verwischen. Er musste den passenden Abstand finden zu dem anderen, für den die Kugel schon geschmiedet war. Die Distanz, der richtige Winkel, der Stand des Mondes – alles war genau zu bedenken, immer wieder zu bedenken. Und noch nie haben sie ihn entdeckt.

Er, ein Jäger – wie absurd. Unendlich langweilig war ihm stets das Geprahle seiner Standesgenossen über Bären und Wölfe gewesen, die sie auf ihren Gütern erlegt haben wollten. Andererseits – Wolfsjagd trifft ja auch zu. Er hetzt die Bestie hinter den hohen Glasfenstern des Schlosses, den Schwächling mit dem ewigen Lächeln und dem hinkenden Gang, der zum Sterben verurteilt ist, da er ihm alles genommen hat.

Ein Geräusch im Unterholz lässt ihn herumfahren. Seine Augen, noch geblendet vom Licht aus dem Schloss, müssen sich erst an die Finsternis gewöhnen, aber er weiß auch so, dass sich der alte Wolf auf die Lichtung gewagt hat. Oft sah er ihn auf seinen Streifzügen, wenn er mit gesenktem Schweif den Waldsaum wie ein geprügelter Hund entlangschlich. Das räudige Vieh kreuzt seine Wege, es muss weg. Er legt an, ein Schuss kracht. Der Mann zieht sich in den Wald zurück. In der Nacht war nichts geworden, aber immerhin – ein Schädling der Menschheit weniger.

Polizeiminister Sivers schloss seine in blaues Leder gebundene Mappe. Er hatte seinen Vortrag über die Sicherheitslage in den einzelnen Vierteln von Stockholm beendet, aber wie so oft hier draußen auf Schloss Haga kein Gehör beim König gefunden. Ohne Diener oder Höflinge um sich zu dulden, saß Gustav III., der König der Schweden, Goten und Finnen, allein vor der gläsernen Veranda des Palasts am Brunnsviken und starrte in die Winternacht.

»Sire, Sie werden sich erkälten. Möchten Sie eine Decke?«

Der König antwortete nichts. Sivers erhob sich und kontrollierte, ob die Glasfenster auch fest verriegelt waren. Da fiel der Schuss.

»Sivers, Sie haben doch auch den Schuss gehört. Sollten Sie nicht um mein Leben besorgt sein?«

»Majestät, meine Polizeidiener halten Wache rund um den Palast und auf der Straße nach Stockholm. Man wird den alten Wolf erschossen haben, der sich hier herumtreibt.«

»Mein treuer Freund, wissen Sie denn nicht, dass wir heute ihren Leuten Urlaub gewährt haben. Mögen sie sich ruhig in der Stadt amüsieren. Nur wir beide sind hier – den Schützen da draußen kennen wir nicht. Mir scheint, der Vorhang hebt sich zu einem kurzweiligen Spiel.«

Der Polizeiminister wusste das Lächeln seines Herrn zu deuten. Keine Worte mehr, er verbeugte sich und ging ab.

Tagebucheintrag des Ersten Kammer­herrn Hans von Essen

Mein Bericht muss heute kürzer ausfallen: Ich befinde mich äußerst unwohl, leide an Kopfschmerzen und Gliederreißen. Die lässige Adjustierung der Pagen wird mir immer mehr zur Last: Gerade an der Haupttreppe, auf welcher der König die Conduite der Jünglinge genauestens zu beachten pflegt, entdeckte ich gestern vor dem Diner abgerissene Knöpfe und mehrfach eine unzulässige Erweiterung der offiziellen Hoftracht mit französischen Seidenbändern in den unmöglichsten Farben. Natürlich war auch das modische Blau-Weiß-Rot der französischen Trikolore darunter. Mein Donnerwetter muss man von der Stiege bis hinunter in die Wache der Leibgardisten gehört haben. Jedenfalls wurde ich von den dummen Kerls aus den vornehmsten Häusern Schwedens länger auf der Treppe aufgehalten als mir lieb. Sie zieht die Luft von draußen in die erste Etage des Schlosses hinein, beinahe wie der Blasebalg der Orgel in der Tyska Kirkan – der Eishauch machte mir gleich zu schaffen.

Um sieben Uhr das Diner in kleinerem Service. Anwesende Mitglieder der königlichen Familie waren die Brüder seiner Majestät, die Herzöge Carl mit Gattin Hedvig Elisabeth und Herzog Frederik. Anwesende von Stand waren der Gesandte des Königreichs Neapel, dann Graf Gustav Mauritz Armfelt, Elis Schröderheim, Graf Axel von Fersen und Oberst Munck. Bereits nach dem Karpfen in Schwarzer Sauce befiel mich Schwindel, vom Hühnerfrikassee konnte ich nichts mehr zu mir nehmen. Der König schien von meiner Unpässlichkeit nichts bemerkt zu haben und zeigte sich in alter Frische. Als er mich mit seinen großen, klaren Augen anblickte, schämte ich mich meines Unwohlseins und dachte an das Wort des Beaumarchais: »Die Schweden werden seiner Weisheit und überlegenen Vernunft immer folgen.« Ach, wäre es nur so! Polizeimeister Sivers macht derzeit dunkle Andeutungen über eine bevorstehende Revolte in Adel und Offizierskorps. Er lässt aber niemanden von uns in seine Karten schauen. Der König selbst zeigte sich gestern davon völlig unbeeindruckt. Ihn beschäftigte nur die Lage in Frankreich, denn er ließ die Depesche unseres Gesandten in Paris, Baron Staël-Holstein, zwei Mal während des Diners rezitieren. Vielleicht hatte ich auch deshalb keinen Appetit auf das Frikassee, denn alles deutet darauf hin, dass man sich in Frankreich nicht mehr um die erst wenige Monate alte Verfassung schert. Wirrköpfe und schöngeistige Träumer arbeiten den Machtmenschen entgegen. Das Leben von König Ludwig ist weniger wert als das Papier, auf dem man dort die Gesetze schreibt. »Was heute in den Straßen von Paris zählt«, so schloss der Bericht, »sind die Gefühle der Menge, die sich durch die Flucht des Königs und der Königin nach Varennes verletzt sieht.«

Nach dem Vortrag stockte die Konversation. Graf Fersen, dem der König die Planung der gescheiterten Fahrt nach Varennes anvertraut hatte, sah man an, dass er am liebsten aufgesprungen wäre. Herzog Frederik lächelte süffisant, jeder weiß, dass er nach seiner gescheiterten Werbung um die Schwester des Grafen mit den Fersens noch eine Rechnung zu begleichen hat. Das Gesicht unseres edlen Monarchen war gerötet, als er sagte: »Marie-Antoinette, welch kluge und tolerante Königin, die Schönheit und Inspiration als das Wesentliche der condition humaine erkannt hat!«

Niemandem fiel nun eine passende Erwiderung ein. Da erhob sich der Gesandte des Königreichs Neapel: »Ein herrliches Bonmot, Sire, aber bedenken Sie, dass Sie es waren, der den Olymp von Geist und Geschmack in Stockholm errichtet hat!«

Der Einfaltspinsel hatte wohl zu dick aufgetragen, der König sank in seinen Stuhl zurück, die Farbe war ihm gänzlich aus dem Antlitz gewichen, sein Mundwinkel zuckte. Die Szene war mehr als peinlich, hatte sich der Gesandte doch eine anerkennende Replik erwartet. Graf Armfelt, geistesgegenwärtig wie immer, erhob sich: »Ein Toast auf die Königin Marie-Antoinette und zum Teufel mit den Philosophen. Sie sprechen über Toleranz und sind doch intoleranter als ein ganzes Kardinalskollegium!«

Der König fasste sich wieder oder, besser gesagt, spielte den charmanten Gastgeber, aber niemand konnte seine Angst übersehen, die Angst um das Leben von Königen.

Ich muss jetzt abbrechen. Lundgren meldet mir gerade den Doktor Salomon. Aber das Wichtigste, Schönste muss ich noch festhalten. Der König nahm mich knapp vor dem Aufbruch beiseite: »Seien Sie Schwede, Essen, überwinden Sie wie der alte Gustav die Widerstände, die sich Ihnen in den Weg stellen. In Ihrem Fall denke ich an die Eroberung der charmanten Gräfin Carlotta de Geer – unseren Segen haben Sie!«

1

Fritz Engelke, man merke, Leibbursche Fritz Engelke, balancierte ein Tablett mit Kaffee, Zwieback und Butter von der Offiziersmesse zur Kommandantur und rief dort mit vollem Bass: »Tür auf!« Wie so oft war er der Erste gewesen, der für seinen Herrn, Oberstleutnant Lilljehorn, das Frühstück ausgefasst hatte. Vielleicht gefiel er trotz seiner Glatze der drallen Küchenmagd, oder die tat ihm den Gefallen, weil sie aus Pommern war wie er und allein hier in Stockholm.

Die schweren Pranken des Fritz umklammerten das Geschirr, dass die Knöchel weißlich hervortraten, denn jetzt kam die steile Stiege, und die musste er rauf, ohne was zu verschütten. Pech, wenn ihm ausgerechnet jetzt einer der Herren Offiziere begegnete, das Salutieren und gleichzeitig das Servieren wollte ihm nicht in den Kopf. Rotgesichtig kletterte er Stufe um Stufe empor. Wenn er nur brav und laut genug daherpolterte, würde sein Herr ihn hören und ihm selbst die Tür öffnen, sollten die anderen nur witzeln, aber er log nicht, so war sein Herr.

Ein kalter Luftzug und das hohe Tor, das unten in der Vorhalle laut ins Schloss fiel, schließlich ein knapper Wortwechsel, das verhieß nichts Gutes. Umdrehen konnte er sich nicht, das war auch nicht nötig, denn die forschen Schritte auf der Stiege kamen gleichzeitig wie der Befehl: »Zur Seite, Mann!« Fritz presste sich an die Wand, um den diensthabenden Offizier passieren zu lassen. Danach kam ein junger Herr mit widerborstigem Haar, der aussah wie einer, der stets zuerst durch die Tür geht. Dahinter eine Frau, sie verbreitete einen Duft, der dem Mann den Verstand nimmt.

2

Carl Pontus Lilljehorn, Oberstleutnant der königlichen Leibgarde, war ein empfindsamer Mensch. Wie er die Monotonie des Militärdienstes verabscheute, so liebte er die Dichtung. Denn die große, erhabene Heimat fand er in den Versen Shakespeares, Ossians und Goethes. Nicht weniger liebte er seinen König Gustav III., der doch selbst Dichter war, und dessen Größe er nicht nach den Siegen auf dem Schlachtfeld, sondern nach dem Esprit seiner Dramen und Opern bemaß. Vielleicht schätzte der König ihn als seinesgleichen, denn eine geheime, segensreiche Macht hatte ihn, den unbedeutenden Freiherrn, über alle Intrigen hinweg immer wieder befördert. Konnte es Zufall sein, dass er im Russischen Krieg nie einen Angriff führen, nie meuternde Truppen zur nächsten Attacke zwingen musste? Während andere, ehrgeizigere Kameraden an dieser Tatenlosigkeit zerbrochen wären, sehnte sich Lilljehorn nach dem nächsten Sonett. Freilich – hinter seinem Rücken zerrissen sie sich die Mäuler: Lilljehorn sei Protegé des Königs, weil die ­Königinwitwe Lilljehorns Mutter zur Amme Gustavs bestimmt habe – Milchbruder Lilljehorn! Was wussten sie schon von der Macht der Poesie, davon, dass der König ihn sicherlich für höhere Aufgaben vorhergesehen hatte im unsterblichen Reich des Lichts und der Gedanken.

So dachte Lilljehorn, der im Grunde seines Herzens nicht nur ein empfindsamer, sondern auch ein einfacher Mann war. An diesem späten Novembermorgen des Jahres 1791 spähte er durch das Fenster in den Innenhof, ob Fritz sich nicht schon mit seinem Frühstück zeigte. Der Tag zog nebelig durch die Arkaden und Winkel des Schlosses. Ein paar Happen Zwieback und heißer Kaffee konnten da vor dem lästigen Besuch des Grafen Ribbing nicht schaden. Die Übersetzung von Goethes Werther ins Schwedische war ihm bis auf ein paar Tintenklecksern heute noch nicht gediehen, also wozu Konvention und liebenswürdige Artigkeiten.

Endlich stapfte Fritz die Treppe herauf, doch Lilljehorn unterschied auch andere Schritte, und ihm war klar, dass Frühstück und Werther für heute verloren waren. Rasch postierte er sich hinter seinem Schreibpult und kritzelte immer noch Wort und Wörter, als der Offizier schon längst salutiert hatte. Er meldete ihm die Ankunft von Graf Adolf Ludwig Ribbing und Gräfin Carlotta de Geer. Man lässt bitten, aber Ribbing steht schon da. Er füllt den Raum der Kommandantur. Der feine Zobel seines Mantels reflektiert die Schneekristalle, die gleich als Wassertropfen zu Füßen des Grafen eine Pfütze bilden würden. Lilljehorn, von dem ironischen Lächeln des Grafen und der anschwellenden Wasserlache gleichermaßen verunsichert, bleibt hinter seinem Pult.

»Verehrter Lilljehorn, es ist mir eine vorzügliche Ehre, Ihnen die Gräfin De Geer vorstellen zu dürfen. Ich habe ihr schon oft vom dichtenden Offizier erzählt, unserem Homme de lettres unter den Augen und Ohren des Königs.«

Lilljehorn brachte trotz der Enge der Stube einen passablen Kratzfuß zustande, obwohl – worauf spielte Ribbing an?

»Mein lieber Oberstleutnant«, die Gräfin legte ihre Hand auf seinen Unterarm, »schon seit Tagen freue ich mich auf das Vergnügen, mit Ihnen die Schönheit unserer Heimat zu empfinden. Mein Gefährte hat von einer Tour gesprochen. Aber Sie sind noch in Uniform?«

Es war das erste Mal, dass Carlotta ihn sah und gleich »lieber Oberstleutnant« nannte. Es stimmte. Ribbing hatte ihn am Montag, als sich abzeichnete, dass die harte Schneedecke eine Schlittenfahrt erlauben würde, zu einer Tour in das Solnaer Holz eingeladen. Eine Begleitung der Gräfin war aufgrund ihrer Verpflichtungen am Hof aber nie erwähnt worden.

Zu Ribbing gewandt: »Aber Graf, bedrängen Sie den Oberstleutnant nicht mit Ihren Komplimenten. Die Herzen der Dichter lieben den Schleier des Verborgenen. Und überhaupt – dichtender Offizier, ist das nicht etwas degoutant, da wir unter einem dichtenden König leben?«

»Meine Freundin, Sie sind wie immer im Recht« – er deutet einen Handkuss in Richtung Carlotta an. »Streiten wir uns nicht, sonst verkommt uns Lilljehorn noch hier in seiner Stube. Also, mein Freund, hinaus in die Freiheit!«

Lilljehorn schloss das Tintenfass und sperrte das Manuskript in den Sekretär. Fritz half seinem Herrn in die Stiefel, richtete Pistolen und Mantel. Als die Herrschaften aufgebrochen waren, suchte er einen Lappen, um den verschütteten Kaffee aufzuwischen.

Der Schlitten des Grafen wartete unmittelbar vor dem Eingang zur königlichen Wache. Sein schneebedecktes Verdeck hob sich im fahlen Vormittagslicht kaum vom Innenhof des Schlosses ab. Nach einem farbentrunkenen Herbst war in diesem November des Jahres 1791 der Winter rasch und hart gekommen. Ribbing hatte sich für den Freitag im Mietsstall des Olof Engzell einen Zweispänner reserviert und am Vortag seinen Knecht Norberg mit zwei Pferden von seinem Gut nach Stockholm vorausgeschickt. So war alles vereinbart worden, doch warum hatte er die Gräfin mitgebracht? Ihr »lieber Lilljehorn« begleitete den Oberstleutnant an den Wachposten vorbei, dämpfte den Peitschenknall Norbergs. Auf weißer Watte glitt der Schlitten vom Slottsbaken über den Vedgardsbron hinunter nach Norrmalm. Carlotta saß Lilljehorn gegenüber. Ihre Blicke ruhten auf dem Oberstleutnant, zwei grüne Augen, zwei Degenstiche.

Lilljehorn schenkte den winterlichen Gassen der Königsstadt keine Aufmerksamkeit. Was hätte er in Norrmalm schon gesehen? Die Steinblöcke vor dem neuen Opernhaus warteten auf ihre Verwendung für ein weiteres Theater, ein Handelskontor oder für das neue Schloss des Königs in Haga, das die Pracht seiner dorischen Fassade auf den Brunnsviken werfen und ihn endgültig zu einem Heiligtum der Schönheit adeln würde. Dann Schankjungen, kaum älter als zwölf, die wie jeden Morgen vor ihren Kneipen den Schnee fegten, umgeben von einem Gestank aus Aquavit und Erbrochenem. Eine farblose Herde von Dienstboten mit ihren Wäschebutten und Holzkörben, Bettler, die sich um offene Feuerstellen drängten und sich mit Tritten gegen Straßenköter zur Wehr setzten. Herren von Stand in Pelz und Seide auf dem Weg zur morgendlichen Aufwartung in den hohen Häusern. In den besseren Schenken servierten die Mägde Kaufleuten aus Stockholm, Danzig und England Kalte Platten mit Austern.

Am Ende von Norrmalm führte die Straße nach dem Stalmastergarden in einer weit gezogenen Linkskurve ins Weide- und Bauernland. Der Kutscher hatte Mühe, die Pferde in der Mitte des Weges zu halten, um dem Straßengraben auszuweichen. Sie fuhren langsamer. Bauernhäuser mit rot gestrichenen Holzbrettern unterbrachen das weiße Einerlei, mit ihren klapprigen Zäunen bildeten sie lächerliche Verwerfungen in der weißen Weite.

Ribbing holte aus dem Korb zu seinen Füßen eine Flasche Champagner hervor. »In Frankreich, sagt man, köpft man sie mit dem Säbel, aber hier ist es für einen Hieb wohl zu eng. Wie überhaupt in Schweden.« Den Knall des Korken milderte er mit seinem Bisammuff. »Courage, mein schweigsamer Colonel! Dieser Tropfen wird Sie inspirieren.«

»Sie erwähnen Frankreich. Alle Welt blickt derzeit dorthin, aber wenn ich durch unser armes Schweden fahre, will mir die parfümierte Aufgeregtheit dieses Volkes doch exotisch erscheinen. Man kommt ins Grübeln. Sehen Sie da draußen die einfachen Häuser armer Leute. Meinen Sie, Rousseau, Voltaire, Raynal, und wie sie alle heißen, haben jemals für ein Volk empfunden? Ja, sie denken über Völker nach, aber im Grunde ist ihnen doch ein geschliffenes Bonmot mehr wert als ein ganzes Dorf. Als Günstlinge des Adels spucken sie in die Hand, die sie füttert. Auch unser König hat das erkannt. Das Neue muss aus dem Volk kommen, aus seinen tiefen Empfindungen. Daher seine schwedischen Theater, seine Akademie.«

»Aber Lilljehorn, Sie reden sich in Rage. In Frankreich geht es den alten Zöpfen nun an den Kragen, man atmet freiere Luft. Und bei uns, was ist denn besser geworden? Am letzten Reichstag hat unser erlauchter Landesherr den Adel entmachtet. Will er denn mit Bauern regieren? Wer sind denn Ihre schwedischen Bauern? Blicken sie geistig über ­Uppland hinaus?«

»Mon cher Louis«, ließ sich Carlotta vernehmen, »Sie reden ja wie einer dieser Poeten aus Deutschland. Aber im Ernst, was kann man denn tun, als Haltung zeigen, wenn sich der Pöbel rührt. Sollten sie mir den Kopf abschlagen, so hoffe ich doch, dass ich ein harmonisches Ensemble für mein Büßerkleid gewählt habe. Apropos Farbe, mein lieber Lilljehorn, Ihr blauer Frack mit gelber Weste nach der Fasson des armen Werther – Sie erlauben meine offenen Worte –, doch sehr direkt, nicht wahr?«

Lilljehorn hätte sich den Kopf vor Wut einstoßen mögen. Erst jetzt fiel ihm das changierende Resedagrün des Kleides der Gräfin auf, vor dem sich ihr weiß gepudertes Dekolleté makellos abhob.

»Lassen Sie uns von angenehmeren Dingen sprechen, meine Herren. Graf Armfelt soll ja Herzog Carl nun endgültig in der Gunst bei Madame Rudenschöld übertroffen haben. Der Herzog trägt’s mit Fassung, seine Gattin weniger, da er seine Aufmerksamkeit nun ganz ihr zuwendet, was sie doch einigermaßen langweilt. Vergleicht man Carl mit seinem Bruder Frederik, dann ist dieser doch ein armer Tropf: Er gab den zerknirschten Jüngling, als ihn die Fersen sitzen ließ, wirklich sitzen ließ. Stellen Sie sich die Komödie vor: Frederik geht zum älteren Bruder, unserem Gustav, bittet ihn, sechsspännig bei den Fersens vorzufahren und den Brautwerber zu spielen. Der König tut ihm den Gefallen, kommt zu den Fersens. Dort ist man loyal, der alte Fersen bittet die Majestät mit Brüderchen devot zum Tee. Frederik und die Fersen verschwinden in ihrem Boudoir, der Prinz kommt errötet zurück, die Fersen will nicht ins Königshaus heiraten. Der alte Fersen fragt, ob man Majestät noch Zucker reichen dürfte, die Jugend sei eben eigensinnig, da ließe sich nichts machen. Die Fersen bleibt in ihren Gemächern, König und Brüderchen fahren zurück ins Königsschloss, Vorhang fällt. Darüber sollten Sie schreiben, Lilljehorn!«

Lilljehorn versuchte eine Entgegnung, hatte sich die Worte auch schon zurechtgelegt, als der Schlitten sich stark nach rechts neigte und völlig zum Stehen kam.

»Norberg, du versoffener Tölpel!«, brüllte Ribbing, »kannst du nicht auf dem Weg bleiben?«

»Verzeihen Sie, Herr, der Schlitten ist mir auf einer Schneewechte weggerutscht.«

Ribbing und Lilljehorn kletterten aus dem Fuhrwerk. Sie befanden sich jetzt mitten im Solnaer Wald, aus dem sich der Morgennebel noch nicht gehoben hatte. Mitten auf dem Weg türmte sich ein Hügel aus Eis und Schnee auf – braun gesprenkelt und härter als der umliegende Neuschnee. Der Oberstleutnant kniete nieder, um sich ein Bild zu machen, wie man den Schlitten wieder in die Spur heben könnte. »Wir waren nicht die Ersten. Sehen Sie die Mulden im weichen Schnee, die Vertiefungen, die Fußspuren? Wir tun gut daran, rasch wegzukommen. Der Schneehügel wurde absichtlich zusammengetragen. Man will unvorsichtigen Fuhrwerken auflauern.«

»Ich führe immer zwei Pistolen mit mir«, entgegnete Ribbing, »und werde den Banditen mit meinem Blei die Haut gerben.«

»Ich möchte Sie schon im Interesse der Gräfin bitten, zuerst den Schlitten flottzubekommen.«

Auf einen Wink Ribbings versuchte der Kutscher mit einem Fichtenast als Hebel den Schlitten so weit zu heben, dass die Pferde ihn ein Stück zur Wegmitte ziehen konnten. Doch beim ersten Versuch brach der Ast an der Stelle entzwei, wo Norberg ihn am Schlitten angesetzt hatte. Als Ribbing dem Kutscher eine Ohrfeige geben wollte, ertönte der erste Pfiff. Ein kurzes, sich einmal senkendes, dann wieder steigendes Signal. Was der Kutscher nun tat, hätte niemand erwartet, am allerwenigsten die Gräfin, deren Kopfschmuck am Fenster sichtbar wurde. Bedächtig lehnte Norberg sich mit dem Rücken gegen den Schlitten, vergrub beide Hände im Schnee, fasste die eingesunkene Kufe und hob das Fahrzeug langsam in die Waagrechte. Für einen Augenblick verschwand die Perücke der Gräfin vom Fenster. Zweiter Pfiff. Lilljehorn ließ geistesgegenwärtig die Peitsche über den Pferden knallen. Sie fassten Fuß und zogen den Schlitten ruckartig in die Spur. Die Tiere dampfen, der Kutscher sitzt schon auf dem Bock. Ribbing und sein Gast schwingen sich auf das Trittbrett des jäh anfahrenden Schlittens. Da lösen sich aus dem nebeligen Umkreis der Baumriesen konturlose Gestalten. Sie johlen, pfeifen. Es fliegen Äste und Knüppel, die aber die Kutsche verfehlen. Ribbing feuert seine Pistolen ab. Die Pfiffe werden leiser.

Was Lilljehorn in Erinnerung blieb, waren weniger die unflätigen Beschimpfungen als der ohnmächtige Hass, der dem Schlitten und seinen Insassen noch anhaftete, als die Reisenden ihr Ziel, die Schenke »Zum Bacchusjünger«, schon sicher erreicht hatten.

Bericht des Polizeimeisters Sivers an Graf Armfelt

Exzellenz, meine Informanten berichten von Unruhen in der Provinz Östergötland. Bauern haben auf dem Fahrweg des Grafen Horn Seile gespannt, um seinen Schlitten aufzuhalten. Der Graf konnte sich mit gezogenem Säbel gerade noch freie Bahn verschaffen. Die Informanten erklären, der Graf habe die Arbeitszeit in seinen Berggruben auf zwölf Stunden erhöht und bezahle mit Papiergeld.

Die Agenten am Hof haben in Erfahrung gebracht, dass einige Pagen unter ihrer Tracht Seidentücher in den Farben der französischen Sansculotten trugen. Herr von Essen hat sie zurechtgewiesen.

In Göteborg versuchte ein französisches Handelsschiff unter der Flagge der Trikolore die Ladung zu löschen. Entsprechend dem königlichen Erlass blockierte der Hafenkommandant die Einfahrt, woraufhin er von Leutnant Falckenberg vor versammelter Mannschaft zur Rede gestellt wurde.

Die Agentin Mamsell leistet hervorragende Dienste. Ich schlage untertänigst die Erhöhung ihres Honorars auf 200 Reichstaler vor.

Armfelt an Sivers

Der Rädelsführer der Bauern kommt am Sonntag nach dem Kirchgang auf den Spanischen Bock. Die örtlichen Beamten haben wegzuschauen, wenn die Bergarbeiter ihren Aquavit brennen. Papiergeld ist legales Zahlungsmittel. Ich will die Namen der Pagen haben, und zwar bis morgen. Herr von Essen ist zu nachsichtig! Der Leutnant wird nach Gotland versetzt, dort kann er mit Anckarström Füchse zählen. Die Erhöhung des Honorars für Mamsell ist genehmigt, auch die Auszahlung in barer Münze. Aber spannen Sie mich nicht auf die Folter, wer zum Kuckuck steckt hinter Ihrer Mamsell?

3

Der Wirt geleitete Lilljehorn mit seinen beiden Weggefährten am langen Tanzsaal vorbei ins Speisezimmer. Dort waren im dichten Tabaksqualm die Anwesenden mehr zu erahnen, als zu erkennen. Es musste sich aber um eine gemischte Gesellschaft handeln, was Lilljehorn verwunderte. Carlotta, die ihre Toilette in Ordnung bringen wollte, erhielt ein Gemach über einer rußschwarzen Holztreppe, die vom Foyer ins Obergeschoss führte. Den Menüvorschlag des Wirtes hatte sie entrüstet abgelehnt und sich einsilbig zurückgezogen. In der fahlen Mittagssonne tanzte der Staub und hob sich zur schweren Holzdecke. Ein zu hoch gehängtes Gemälde wurde nur von Lilljehorn beachtet. Waren das Trauben, der nackte Wanst eines Bacchus oder ein im klebrigen Fettdunst der Speisen unkenntlich gewordenes Interieur?

Der Hasenbraten schmeckte den beiden Männern gut, vom Wein sagte der Wirt, mit der Zunge schnalzend, er käme aus Frankreich. Zwischen gebratenen Keulen, Rosmarinkartoffeln und gedünstetem Kraut verebbte das Gespräch und kam nach der ersten Karaffe Wein vollends zum Erliegen. Wie sehr wünschte sich Lilljehorn nun, sein Exemplar des Werther bei sich zu haben, denn vielleicht hätte er in einem stillen Winkel trotz der bleiernen Müdigkeit nach den Aufregungen der Schlittenfahrt eine Seite übertragen. Er war jetzt beim Abschnitt über die Terzerolen Alberts in Werthers Erzählung über den »regnichten« Nachmittag angelangt. Aber welches Wort könnte das altertümliche »regnicht« im Schwedischen wohl am besten wiedergeben? Warum hatte der Text zudem »Terzerolen« und nicht Pistolen? Albert erzählte in dem Kapitel von einem Bedienten, der ungeschickt mit geladenen Pistolen hantierte und seinem Mädchen den Ladestock durch den Daumen schoss. Der kluge Albert – nun lädt er seine Pistolen nie mehr. Musste Werther ob dieser Vernünftelei nicht rasend werden, sich die Mündung über das Auge halten und Selbstmord spielen? Wie würde wohl Ribbing reagieren, wenn er dessen abgeschossene Pistolen an sich nähme, die Holztreppe hinaufschliche, um vor Carlotta den eigenen Tod zu markieren? Die selbstsichere, sarkastische Carlotta.

Ribbing war aus dem Speisezimmer verschwunden, er hatte ihn nicht weggehen gehört. Anstelle des Tabletts mit dem Braten lag ein mit silbernen Buckeln verziertes Halfter auf dem Tisch, darin steckte eine Pistole. Lilljehorn barg sie unter seiner Weste. Aufrecht im Zimmer stehend, hatte er nun an der gegenüberliegenden Wand das Gemälde vor sich. Dort war jetzt deutlich ein Jüngling zu erkennen, neben ihm ein umgestürzter Sessel, die Einrichtung nach altdeutscher Art. Er öffnete die Tür zum Tanzsaal. Der Tabakrauch hatte sich verzogen, Gäste in schwarzer Tracht saßen starr auf ihren Bänken, ohne von ihm die geringste Notiz zu nehmen. Unbemerkt verließ er den Saal und gelangte endlich zur Treppe. Als er seinen Fuß auf die unterste Stufe setzte, fühlte sie sich kalt wie Marmor an und knarrte nicht. Nun lichtete sich das Obergeschoss zu einem frühlingsblauen Himmel. Er atmete freiere Luft. Ein Lindenbaum reckte seine Äste Carlottas Gemach entgegen, vor dem kühles Wasser in einen steinernen Brunnen strömte. Er stieß die Tür auf, vor ihm stand Lottchen, weinend, mit einem Brief in der Hand. Er hielt sich lächelnd die Mündung der Pistole über das rechte Auge und drückte ab. Zu abertausend Farben explodierte in seinem Kopf das Feuer aus dem Lauf der Waffe.

Lilljehorn fühlte eine schwere Hand an seiner Schulter. Er starrte in die Weinkaraffe, deren Glas das schräg einfallende Abendlicht in den Farben des Regenbogens auf die blank polierte Tischfläche warf. Dann hörte er Ribbing: »Nun sind Sie ja endlich erwacht. Wollen sich Herr Oberstleutnant nach den Strapazen des Mittagsmahles vielleicht für die Battaglia am Tanzparkett bereitmachen? Der Wirt hat Ihnen ein Zimmer überlassen. Der Contredance soll um sieben beginnen.«

4

Das Blatt Papier schräg haltend, um zu sehen, wann die noch feuchte Tinte nicht mehr schillern und endgültig trocken sein würde, rief Lilljehorn einen Bedienten, der ihm die Garderobe für den Tanz bereitlegen sollte. Nach dem unruhigen Mittagsschlaf hatte er sich auf seinem Zimmer erfrischt und danach noch eine Seite aus dem Werther übersetzt. Jetzt fühlte er sich erholt und merkwürdig ruhig.

Ribbing erwartete ihn im Foyer vor dem Saal. Von drinnen waren die Musiker beim Stimmen ihrer Instrumente zu hören. Die zusammenhanglosen Tonleitern der Bläser vermischten sich mit den gedehnten Klängen der Streicher, allesamt übertönt von den Anweisungen eines mächtigen Basses. Der zarte Schritt einer Dame, Lilljehorn drehte sich um. Vor ihm stand eine Frau, die nach Bürgerinnenart ihr blondes Haar nach hinten zusammengebunden hatte. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid mit blassrosa Schleifen an Armen und Brust. Ein ironisches Funkeln in ihren Augen war nicht zu übersehen. »Ich bitte um Vergebung«, sagte sie mit einem leichten Knicks, »wenn ich Ihren Vorstellungen von Lottchen nicht genau entspreche.«

Lilljehorn stammelte ein unbeholfenes Kompliment über die schöne Maskerade Carlottas und betrat an ihrer linken Seite den Saal. Einen halben Schritt dahinter folgte Ribbing.

Dort schenkten Bedienstete Wein, Bier und Kaffee aus. Es schien ihm, als ob er viele Gäste bereits aus Stockholm kannte, einige brachte er sogar mit dem Hof in Verbindung. Nun aber trugen alle Bürgergewand, die kühnsten traten sogar in schlichten Bauernkleidern mit bunt bestickten Tüchern auf. Perücken fehlten gänzlich, nur schwer waren die Menschen zu erkennen. Die unbarmherzige Wahrheit ihres wirklichen Alters, bis jetzt durch den weißen Puder in Haar und Gesicht gnädig verborgen, machte ihn verlegen. Da, der missmutige Mitvierziger, konnte das Graf Anckarström sein, den man üblicherweise nie mehr in Hoftracht sah? Daneben der kecke Bauer, der den weiblichen Schönheiten in den Po kniff, der biedere Kanzleirat Engeström? Und das junge Geschöpf an seiner Seite, war das wirklich Carlotta de Geer aus einer der reichsten Familien Schwedens? Sie freute sich jetzt wie ein kleines Mädchen auf den Tanz und zappelte und zog ihn ungeduldig nach vorne in den Saal. Dieser bildete ein langes Rechteck, an dessen oberer Schmalseite man über drei Weinfässer ein Brett gelegt hatte, auf dem wie auf einer Bühne der Tanzmeister thronte. In seinem Kostüm, das unzweifelhaft aus dem Fundus der Königlichen Oper stammte, bot er eine wahrhaft herrliche Erscheinung. Sein leidenschaftlicher Blick, das markante Profil und das wohlklingende Französisch waren in ganz Stockholm berühmt – die Anwesenden hatten die Ehre, von niemand anderem als von Jacques Marie Bouchet, genannt Monvel, dem Lieblingsschauspieler des Königs, zum Tanz geführt zu werden. In anmutiger Bühnenhaltung, das linke Bein leicht abgewinkelt vor das rechte gesetzt, dirigierte er nun die Gäste zur Aufstellung für den ersten Contredance.

Lilljehorn und Carlotta kamen gegenüber zu stehen, sie bildeten ein Paar. Mit seiner Fiedel gab Monvel den Takt vor, die Musik setzte triumphierend ein. Sorglos und unbefangen schmiegte sich Carlotta an den Oberstleutnant, ihr ganzer Körper antwortete den Schwingungen der Musik. Als sie die Armtour begannen, ihr rechtes und sein rechtes Armgelenk einander berührten, war ihm, als streifte ihn der unsagbar leichte Flügelschlag eines Vogels.

Zur linken Rondé durfte er ihre beiden Hände fassen, nach der Drehung sah er ihr unvermittelt in die Augen. Für die Große Acht löste er sich etwas zu spät von ihr. Jetzt übernahm Carlotta die Führung und schob ihn auf den richtigen Platz. Ihr Lachen tat ihm weh und erfüllte ihn zugleich mit Seligkeit. Der erste Tanz war noch nicht zu Ende, als Ribbing schon um den zweiten bat, den ihm Carlotta sogleich gewährte. Lilljehorn zog sich linkisch zurück und hasste sich dafür, nicht gleich um den nächsten gebeten zu haben, der wieder an Ribbing ging.

Lilljehorn versuchte sich ganz auf die Kommandos des Tanzmeisters zu konzentrieren, auch wenn er bei jedem Taktwechsel, bei jeder neuen Figur nach der schlanken Gestalt Carlottas spähte. Die einen Tänzer balancierten auf der rechten Fußspitze und umfassten die Taillen ihrer Frauen, während sie die Linke graziös über ihren Kopf hoben. Die anderen machten die Rondé. Füße und Beine bewegten sich wie von selbst, sie folgten Monvel gleichmäßig und fehlerlos. Ihn durchdrangen die Gesetze seiner Musik, ließen seine Beine ohne sein Zutun auf dem kleinen Raum der Bretterbühne herumwirbeln, die Arme, die Füße wirbelten im Takt, der Kopf drehte sich, wie von einem mechanischen Uhrwerk gelenkt, in regelmäßigen Intervallen nach links und rechts. Wenn er geradeaus blickte, klappte sein Unterkiefer nach unten, so als ob dem entblößten Weiß seiner Zähne die Aufgabe zukäme, ein Lächeln darzustellen.

Der Tanzmeister war, je länger der Tanz dauerte, durch unsichtbare Fäden mit jedem einzelnen der Männer und Frauen im Saal verbunden. Einer geheimen Kraft untertan, hatten sie die Macht über sich verloren, wiegten sich, verbeugten sich und stürmten durch die Reihen, wie Monvel es ihnen vorspielte. Aus den vielen war ein einziger Organismus geworden. Erst als der Schlussakkord in aufbrausendem Crescendo verklungen war, endete die Magie. Kraftlos in sich zusammengesunken, stand Monvel auf seinen Brettern, ein überflüssiges Requisit der zu Bewusstsein gekommenen Menge.

Carlotta trat mit einem Champagnerglas zu Lilljehorn: »Ach, wissen Sie, lieber Freund, Paare, die zusammengehören, sollten doch einen Deutschen Tanz wagen. Dabei können sie eng beieinanderbleiben. Ich fürchte nur, Ribbing versteht sich nicht darauf. Wenn Sie mein sein wollen für die nächste Runde, bitten Sie doch Monvel, er solle deutsch tanzen lassen!«

Lilljehorn trat an Monvel, doch gerade jetzt begannen die Musiker wieder ihre Instrumente zu stimmen, sodass er seine Bitte fast schreiend vorbringen musste. Ob das Gezischel der Umstehenden ihm galt? Doch der Franzose neigte verständnisvoll sein Haupt. Kaum hatte er Carlotta im Arm, ging die Musik los. Eng ineinander verschlungen, tobten sie durch den Saal. Die anderen Paare drückten sich an die Wand. Carlotta und Lilljehorn drehten sich in kreisendem Wirbel. Die Gesichter der Umstehenden zerbarsten zu randlosen Flecken aus roten Lippen und erhitzten Wangen. Schon flogen sie, getragen vom Takt der Musik, durch ihre Welt, den hell erleuchteten Streifen in der Saalmitte, schwebten in Sphären aus Licht und Harmonie, als Lilljehorn seine Tänzerin mit beiden Händen in die Höhe hob. Zwei Seelen, die der Welt verloren waren. Die Musik erstarb, schwer atmend standen die beiden in der Mitte. Offene Augen und Münder wogten auf und nieder. Lilljehorn suchte Halt und fand ihn an der Schulter Carlottas. Endlich zog die starke Hand Ribbings die beiden zu einer Chaiselongue im Hintergrund des Saals. Die Gespräche der anderen setzten wieder ein, zuerst verlegen und vereinzelt, dann sich zu beruhigtem Gemurmel steigernd. »Meine Verehrteste«, sagte Ribbing, »Sie spielen die Bauerntänzerin ganz vortrefflich, mein Kompliment.«

Die Klänge des nächsten Tanzes übertönten die Worte, die Lilljehorn vielleicht schon auf den Lippen lagen. Da erblickte er auf dem Speisetischchen eine Schale mit Orangen, von denen er eine Carlotta gab: »Ich habe gelesen, dass diese Früchte nach dem Tanz hervorragende Wirkung tun.«

»Lieber Oberstleutnant, ich weiß, worauf Sie anspielen, doch der Tanz ist nun vorbei. Graf Ribbings Champagnerwein behagt mir besser.«

Die nächsten Tänze nahm er kaum wahr. Monvel hatte als unumschränkter König des Festes seine Herrschaft wieder angetreten. Als sich Lilljehorn gefasst hatte, dirigierte Monvel sein Volk zu einem wohldurchdachten Menuett in abgezirkelten Schrittfolgen. In der Saalmitte Ribbing und Carlotta, ihre Verbeugungen, ihre Knickse, ihre Schrittwechsel glichen den konvulsivischen Zuckungen dressierter Marionetten. Er zwang sich zu einem Gang rund um den Saal, wo sich die vorzeitig Erschöpften Wein oder Kaffee einschenken ließen und sich lächelnd abwandten, wenn er vorbeikam. Nichts hielt ihn mehr hier. Der Tanzmeister kündigte den letzten Tanz an und forderte zur Aufstellung en Anglaise auf. Waren das Gesichter hinter den Eisblumen der Fensterscheiben? ­Lilljehorn suchte die Tür, als diese aufflog und der Hauch der Nachtluft einige Kerzen an den Kandelabern auslöschte. Zuerst setzten die Bläser aus, dann die Kontrabässe, die Fiedel Monvels behauptete sich bis zuletzt gegen die Stille, gab nur zögerlich auf.

Vor ihnen stand eine krummbeinige Figur, schwarze Haarsträhnen hingen dem Mann wirr ins Gesicht. Die rotgeränderten Augen des Betrunkenen suchten nach einem fixen Punkt und blickten höhnisch in die Runde. In sich überschlagenden Falsett-Tönen kreischte er: »Citoyens – das Gehopse hat ein Ende! Ihr habt doch nichts dagegen, wenn meine Freunde nun wirklich tanzen. Meine Freunde, tretet ein! Musiker, spielt auf!«

Hinter ihm torkelten zerlumpte Gestalten in den Saal, Bauern in zusammengeflickten Mänteln und schweren Schuhen, Pelzmützen auf dem Kopf, Dienstmägde mit von Aquavit und Kälte geröteten Wangen. Die Hitze des Ballsaales nahm ihnen den Atem. Der Krummbeinige schrie: »Courage, mes amies!« und fasste die am nächsten stehende Frau, eine füllige Mitvierzigerin, um die Hüfte und vollführte einige Bocksprünge quer durch den Raum bis hin zum Podium des Monvel. »Deutsche Walzer!«, grölte er. Ein Geruch von Stall, Kälte und Feindseligkeit mischte sich mit den Parfüms der Gesellschaft, hier und dort gellte der spitze Schrei von Frauen, die man zum Tanzen zwang. Zwischen den in starrem Entsetzen auf ihren Plätzen verharrenden Paaren wirbelten die Mutigsten der Eindringlinge, stampften mit ihren Füßen den Boden. Lilljehorn suchte Carlotta, doch ein baumlanger Kerl baute sich vor ihm auf und versperrte ihm die Sicht auf die Geschehnisse. Seinen Degen hatte er im Zimmer gelassen, von Bedienten keine Spur.

Mit einer Behändigkeit, die er ihm nicht zugetraut hätte, sprang Monvel von seiner Bühne, stürmte durch das ­Chaos der sich irr drehenden Bauern zum Krummbeinigen. Die Tänzer blieben stehen, sofern sie es konnten, manche klammerten sich in ihrem Schwindel an ihre Tanzpartnerin. Der mächtige Lüster, dessen Kerzen allein noch brannten, warf einen harten Lichtkegel auf die nun einsetzende Szene. In majestätischer Gelassenheit schritt Monvel auf den Aufrührer zu, legte seine Fiedel, die er bis jetzt in der Linken gehalten hatte, sachte auf den Boden, um sich dann nach allen Seiten lächelnd der allgemeinen Aufmerksamkeit zu versichern. Dann, erst dann, als auch der letzte Tänzer zum Stehen gekommen war, als nur mehr der rasselnde Atem des Krummbeinigen zu hören war, verabreichte er der Kreatur vor ihm eine einzige, niederschmetternde Ohrfeige. Der Mensch ging zu Boden, stieß winselnd auf Französisch Bitten und Flüche aus. Monvel: »Jean, es reicht! Verschwinde auf dein Zimmer!«

Jean, das war das Faktotum der Schauspielerkompagnie. Er spielte Krüppel, Verräter und Dorfidioten. In Stücken, die nur edle Menschen und Götter zeigten, durfte er seinen berühmteren Kollegen, die tatsächlich allesamt schön und edel aussahen, unsichtbar soufflieren. Manchmal, wenn sogar die schönen Schauspieler zu müde waren für ihre Feste und Liebschaften und sich erschöpft in ihre Quartiere zurückgezogen hatten, hörten sie aus dem Verschlag Jeans den gleichmäßigen Takt seiner Schritte. Er musste wohl deklamieren. Aber welches Stück, welche Rolle bot genug Text für so einen wie ihn? Der aber deklamierte das Stück seines Lebens, das er hinter dem Horizont der Zeiten ahnte.

Jetzt kam Jean auf die Beine, Speichel glänzte auf seinem Kinn. Die Rechte bittend erhoben – wo hatte Lilljehorn diese Szene schon gesehen? –, überschlug er sich in Dankesworten. Einer der schwedischen Bauern, die den Ballsaal gestürmt hatten, spie Jean ins Gesicht. Dann schloss sich der Kreis der Zuschauer um Monvel. Lilljehorn war es, als würde Jean in das Dienstbotenzimmer neben der Küche getragen.

Die Eindringlinge hatten das Weite gesucht. Dabei waren einige Fensterscheiben zerbrochen. Die Gäste verzichteten darauf, ihre Garderobe in Ordnung zu bringen, stießen die an den Büfetts aufgereihten Weingläser und Kaffeekännchen um, drängten in ihre Zimmer und rasch zur Treppe. Deutlich konnte Lilljehorn den Grafen Ribbing sehen, der sich gerade einen sicheren Platz auf halber Höhe der Treppe erkämpfte. In der Linken stützte er eine Frau, deren Gesicht durch die nach oben stolpernden Besucher den Blicken entzogen war. Sie trug ein weißes Kleid – mit blassrosa Schleifen.

Tagebucheintrag des Ersten Kammerherrn Hans von Essen

Carlotta de Geer – sie ist derzeitig das Einzige, worauf sich trotz des Vorfalls in der Oper alle meine Gedanken richten. Sollte sich der König auch mit mir einen Spaß erlaubt haben? Was meinte er, wenn er von der Eroberung einer Festung sprach? Doch die Hoffnung, selbst die vergebliche Hoffnung auf diese wundervolle Frau erfüllt mich mit neuer Kraft.

Aber der Reihe nach: Mit den Pastillen des Physicus Salomon war ich nach dem Soupé im Königsschloss rasch genesen. Gestern habe ich einen Wink erhalten, die Insubordination der Pagen in den Jakobinerfarben kategorisch zu ahnden. Die Empfehlung wurde mir von meinem Sekretär, einem Cousin eines Vertrauten von Sivers, übermittelt. Nun: Alle zeigten sich reumütig, der dritte hat sich krankgemeldet. Sivers kennt die Namen. Danach die Post erledigt. Nach dem Mittagstisch versuchte ich einen Schlitten zu mieten und zu Erik nach Lurbacka hinauszufahren, um meine mögliche Verbindung mit Carlotta zu besprechen. Der Wagnermeister hinter dem Stortorget hatte nur mehr zwei lahme Gäule frei, was mich sehr verdross. Außerdem jammerte er etwas über seinen zuverlässigsten Kutscher, der verschwunden sei. Er schien ehrlich besorgt, weil die Straßen immer unsicherer würden. Wie soll ich ohne Eriks Hilfe und seinen Überblick über unser gemeinsames Erbe die Heirat finanzieren? Der Nachmittag verlief also ergebnislos.

Um sieben Uhr begannen die Vorbereitungen für die Fahrt des Hofes vom Schloss zur Oper. Auf Lilljehorns Leibgarde ist Verlass auch dann, wenn der Oberstleutnant selbst nicht das Kommando führt. Die Straßen waren mit Fackeln bestens ausgeleuchtet, in der Oper sicherten Leibtrabanten diesmal auch die Zugänge zur Bühne, was in letzter Zeit sträflich unterlassen wurde. Während der kurzen Fahrt entspann sich kein Gespräch. Die Königin war unpässlich, der Kronprinz nestelte unentwegt an seinen blauseidenen Beinkleidern, die Rundgren wohl etwas zu eng angemessen hatte. Aber der Prinz schießt förmlich in die Höhe. Der König fühlte sich offenkundig nicht wohl, seine Augen glänzten fiebrig. Sein üblicher Zustand vor jeder Aufführung. Im Foyer nahm Gustav die Honeurs der Stockholmer Bürger entgegen, dann drängte er heftig in die große Loge. Mit dem ersten Takt würde sich seine Spannung lösen, und er würde wirklich zu leben beginnen. So war es auch diesmal. Der Vorhang hob sich, und ein begeistertes Raunen vom Parkett bis zur Galerie erfüllte die Ränge. Das Haus zeigte sich von den Kulissen und den Kostümen tief beeindruckt. Gustav war selig – seine Gewänder, die er selbst in nächtelanger Arbeit entworfen hatte, versetzten uns in die Heldenzeit Schwedens. Das Bühnenbild des ersten Aktes war in den düstersten Farben gehalten. In den Verließen unterhalb des Königlichen Schlosses schmachteten die edelsten Frauen Schwedens mit ihren Kindern, gefangen vom blutrünstigen Dänenkönig Christian. Eine einzige Lampe erhellte die Szenerie aus schaurigen, gotischen Gewölben. Ich lasse hier eine Seite frei, um eine Skizze der Bühne einzufügen. Kellgren hat einen guten Strich. Vielleicht steigt er vom hohen Podest des Genies herab und gibt mir eine Zeichnung.

In der Pause nach dem zweiten Akt trat Gustav für alle sichtbar nach vor, um die Ovationen des Publikums entgegenzunehmen. Die Vivats klangen echt und ehrlich, von den Dunkelmännern, vor denen Sivers immer warnt, keine Spur. Im Salon des Königs hatte ich einige Erfrischungen vorbereiten lassen. Zugegen waren Gustav, der Kronprinz, Graf Armfelt und der Österreichische Gesandte. Mit ihm unterhielt sich der König über die Lage in Frankreich, der Gesandte bat um eine Privataudienz in allernächster Zeit. Sein Herr, der Kaiser – so viel konnte ich verstehen –, teile die Einschätzung seiner Majestät. Daraufhin richtete Gustav das Wort an mich: »Mein lieber Essen, Sie werden es noch erleben, große Dinge kündigen sich hier an.« Er war offensichtlich heiter gestimmt: »Außerdem, wie befindet sich Madame de Geer?« Ich konnte nichts anderes antworten, als dass ich über ihren Verbleib nicht unterrichtet war. Äußerst unangenehm – besonders vor dem Gesandten. Gleich danach begab sich die Gesellschaft über die Geheimstiege wieder in die Königsloge hinunter. Vielleicht weil mich die Erwähnung Carlottas verwirrt hatte, vielleicht, weil ich noch Anweisungen an die Diener gab für den Fall, dass der König in seinen Gemächern in der Oper übernachten wollte – als wir in der Loge angekommen waren, fehlte der König.

Armfelt redete, wild gestikulierend, auf einen Hauptmann der Leibgarde ein, doch vergeblich. Der Vorhang gab die Bühne frei, der dritte Akt begann, und nirgendwo der König. Um keinen Aufruhr zu erregen, nahm ich den ersten Platz in der Loge ein – so könnte im Dunkel des Zuschauerraums das Fehlen Gustavs vielleicht unbemerkt bleiben. Die Kulissen von Desprez überboten alles, was man hierzulande je gesehen hatte. Links das Königsschloss Tre Kronor mit dem mächtigen Rundturm in der Mitte, davor die stark bewehrte Schlossmauer, durchbrochen nur von dem mächtigen Tor. Am Vorplatz entbrannte die Schlacht zwischen Dänen und Schweden, überall Fahnen und Wimpel und Pulverdampf. Im Donner der Theatermaschinen wurden einige Damen des Publikums ohnmächtig. Nach der letzten Arie Stenborgs als Gustav Wasa setzen jetzt die Schweden zum Angriff an. Das Publikum tobt und schüttelt die Fäuste gegen die dänischen Söldner, jetzt verstand ich, warum kaum Statisten für das Dänenheer zu finden waren. Schon haben die Schweden den Vorplatz unter ihre Kontrolle gebracht. Neben Gustav Wasa stürmt ein Ritter in glänzendem Harnisch gegen die Dänen. Die Verteidiger weichen, triumphierend reißt er sich den Helm vom Kopf. Ein einziges, langgezogenes Hurra! lässt die Oper erzittern. Es ist der König selbst, Gustav, der dem König auf der Bühne zum Sieg verholfen hat.

An eine Fortsetzung der Aufführung ist nicht zu denken. Der Kapellmeister klopft ab. Niemanden, vom Lakaien bis zum Edelmann, hält es auf seinem Platz. Man stimmt ein in den Hymnus aller schwedischen Patrioten »Ädla skuggor, vördade fäder!« Der König tritt bis an den Orchestergraben vor, als Einziger singt er nicht, weiß er doch, dass es vermessen wäre, an einer Huldigung, die nur ihm gilt, selbst teilzuhaben. Die Menschen fallen einander um den Hals, ach, wäre nur Carlotta dabei gewesen!

5

Die Magd hatte sich mit dem Auftragen des Nachtmals länger als üblich Zeit gelassen. Warum machte sie so ein Getue um die fade Grütze und den zu weichen, aber versalzenen Hering? Endlich drückte sich niemand mehr in der Dienstbotenküche herum. Auch der Korridor zum Innenhof mit den fünf stattlichen Remisen für die besten Mietkutschen und Schlitten Stockholms war leer. Von dort konnte er unbemerkt durch den Hintereingang auf die Straße schlüpfen. Die quietschenden Türangeln hatte er am Vortag sorgsam mit Wagenschmiere eingefettet.

Eisiger Windhauch trieb ihm Wasser in die Augen. Er schlug den Rockkragen hoch und knotete das Halstuch fester. Hätte sich nicht der Turm der Finska Kyrkan vom Nachthimmel abgehoben, wäre er vom Weg zur Jakobikirche abgekommen. So tastet er sich behutsam von einem Lichtkegel zum nächsten, den die wenigen und traurigen Fackeln auf die gepflasterte Straße warfen. In seiner Heimat in Finnland war ihm diese Dunkelheit fremd, denn selbst in der sternenfinsteren Winternacht barg der kristallene Schnee noch die Funken der untergegangenen Sonne. Hier aber nur Matsch und Schlamm, der sich an seine Fuhrmannstiefel legte und die Schritte schwer machte. Immerhin war sonst niemand zu sehen. Er befühlte seine Brusttasche. Beruhigt ertastete er den Plan, den er nach dem Gedächtnis in unbeobachteten Stunden von der Altstadt gezeichnet hatte. Dieses Stockholm glich einem Labyrinth, es bereitete ihm Angst und Lust zugleich.

Nie wäre er hierhergekommen, wenn ihm der Feldzug etwas eingebracht hätte. Aber wenn man den Kugeln der Russen und der Ruhr entkommen war, blieb entweder nur die Entlassung ohne Sold oder die Schikanen in einer verlausten Garnison unter Offizieren, die sich über seinen Herrn, den König, die Mäuler zerrissen, bevor sie ihren Hass in Branntwein ersoffen. Doch genau dieser König hatte in seinem Kanonenboot vor Wiborg einen Ruderer, dem eine Kugel den Arm weggerissen hatte, mit seiner seidenen Schärpe verbunden. Die Herren trugen an allem Unglück Schuld, nicht der König. Was konnte es schaden, ihnen eins auszuwischen und auch noch in barer Münze bezahlt zu werden. Er griff in die andere Tasche, die Reichstaler waren kein Hirngespinst. Ein paar Aufträge noch für seine Dame, die ihr Gesicht immer hinter einem Schleier verbarg, und er konnte den kleinen Hof bei Savitaipale kaufen. Die Magd würde dann wohl mitgehen. Die Bedingung war nur, er musste das Maul halten.

Das Riddarhuset lag jetzt schon hinter seinem Rücken. Er zwang sich, aufrecht zu gehen. Um keinen Preis auffallen. Zwischen den Palästen und vornehmeren Kaffeehäusern herrschte ein eifriges Kommen und Gehen. Wer würde hier schon nach ihm schielen. Auf der Norrbrogatan machte er unter einer Laterne Halt, um ein letztes Mal seine Karte zu studieren. Die Pfeiler der noch unfertigen Steinbrücke daneben ragten wie Riesen, die nach dem fehlenden Gewölbe griffen, aus dem Strömmen. Nach der Brücke wandte er sich nach rechts und ging dann die Kungsträdgårdsgatan hinauf. Von dort konnte er durch eine unverschlossene Pforte in den Friedhof der Jakobikirche schlüpfen. Dort würde er sich auf den Spürsinn des Mittelsmannes verlassen, der ihn erkennen musste. Er faltete den Plan sorgsam zusammen und bemühte sich um einen unauffälligen Schritt. Ob ihm jemand folgte? An der Einmündung der Kungsträdgårdsgatan drehte er sich endlich um. Zwei grobschlächtige Kerle, vermutlich Knechte wie er, begannen wild gestikulierend miteinander zu streiten. Das Geläute der Jakobikirche verhallte direkt über ihm. Schlag neun Uhr, das Ziel war pünktlich erreicht. Tatsächlich hob sich eine dunkle Vertiefung von der Umfriedung des Friedhofs ab. Die Pforte war nur angelehnt, er schob seinen Fuß in den Türspalt. In dem Moment durchbrach Mondlicht die zerschlissenen Wolken. Grabsteine, aufrecht wie Gardesoldaten, hielten hier Wache. Am Ende des Weges löste sich ein Schatten unsicher aus dem Spalier der Gräber. Er wollte gerade das Erkennungszeichen aus der Hose holen, als ein Sausen in der Luft ihn herumfahren ließ. So klang es, wenn er mit seinem Vater und den Brüdern den harten Boden von Savitaipale von Wurzeln und Baumstümpfen befreite, mit mächtigen Armen die Spitzhacke schwingend. Der letzte Gedanke in seinem Leben galt seinem eigenen Hof, bevor ihm der Schädel zermalmt wurde.

Rapport des Polizeihauptmanns Lundquist an Polizeiminister Sivers

Der Postenkommandant des Kreises Norrköping meldet, dass der aufständische Bauer Ihrer Anweisung entsprechend vom Ende der Predigt bis zum Sonnenuntergang auf das Spanische Pferd verbracht wurde. Am nächsten Morgen entdeckten ihn Knechte des Grafen Horn erhängt an einer Birke, der Tod war bereits eingetreten.

Am ersten Dezember fand ein Aschenträger an der Böschung des Strandvägen den am Kopf schwer malträtierten Korporal Johann Jacobson vom Königlichen Artilleriebataillon Major Hartmannsdorf. Besagter Korporal verstarb während seines Abtransports in das Militärlazarett. Strenge Inquisition in den angrenzenden Kneipen hat ergeben, dass der Korporal mit seinem Kameraden, dem Artillerieunteroffizier Olof Rosenschütz, auf Zechtour war und zuletzt mit dem amtsbekannten Vagabunden Klaus Peterson gesehen wurde. Peterson konnte noch in derselben Nacht mit einem Betrag von neun Reichstalern im Freudenhaus des Moskowiten Nikita Sobolew aufgegriffen und verhört werden. Er will mit dem Totschlag nichts zu tun haben. Er erklärt, Rosenschütz habe ihm zehn Taler gegeben. Rosenschütz streitet das ab, er habe mit Jacobson und Peterson auf den Sieg über die Russen getrunken. Er erklärt, nichts über irgendwelche zehn Taler zu wissen. Ich erbitte um Weisung zu untertänigster Befolgung.

In einem offenen Grab am Friedhof bei der Jakobikirche wurde eine männliche Leiche gefunden. Der Stadtphysikus Elias Salomon stellte im Zuge der amtlichen Untersuchung eine schwere Kopfverletzung fest, die von einem harten und stumpfen Gegenstand herrührt. Die Personalia des Erschlagenen sind unbekannt. Die vom Stadtphysikus und einem beeideten Amtsdiener durchgeführte Leibesvisitation brachte folgende Gegenstände zu Tage: ein Kamm aus Horn, ein Sechskant Schraubenschlüssel, ein handgezeichneter Plan des Viertels um die Jakobikirche und ein in der Mitte abgebrochener Schilling.

Bericht des Polizeiministers Sivers an Graf Armfelt

Exzellenz, es freut mich, Ihnen melden zu dürfen, dass keine Indizien für bevorstehende politische Unruhen in Stockholm und den benachbarten Landkreisen vorliegen. In Norrköping hat sich der aufrührerische Rädelsführer beim Überfall auf den Schlitten des Grafen Horn selbst gerichtet. Zwei Fälle von Totschlag unter dem üblichen Gesindel stehen kurz vor der Aufklärung.