Unterm Messer - Eva Rossmann - E-Book

Unterm Messer E-Book

Eva Rossmann

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Beschreibung

In der "Beauty Oasis" läuft alles nach Plan. Dort treffen sich alle, die jung und schön sein wollen. Professor Grünwald ist für seine perfekt modellierten Nasen und seine chemischen Peelings berühmt. Doch dann stirbt eine Nonne. Und das geheime Labor des Schönheitschirurgen wird entdeckt. Weltweit wird an genetischen Methoden zur Lebensverlängerung geforscht. Aber was, wenn nichts mehr zählt als Geld und Ruhm? Für Mira Valensky und ihre Freundin Vesna Krajner wird es im idyllischen Vulkanland explosiv.

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Unterm Messer

Eva Rossmann

Unterm Messer

Ein Mira-Valensky-Krimi

Lektorat: Eva Maria Widmair

© Folio Verlag Wien • Bozen 2011Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dall’O & FreundeDruckvorbereitung: Typoplus, FrangartPrinted in Austria

ISBN 978-3-85256-575-0

www.folioverlag.com

[ 1. ]

Essigsäure. Ich merke, wie meine Handflächen feucht werden. Ich versuche, ruhig zu atmen. Die Frau ist der Ohnmacht nahe, nicht imstande, sich zu wehren. Ich sehe den Behälter wie in Großaufnahme: braunes Glasgefäß, es fasst vielleicht einen Liter. Ich kann nichts, ich darf nichts unternehmen. Ich starre durch die Scheibe. Vorsichtig taucht er ein Stäbchen in die Säure. Nein, bitte nicht! Nahezu liebevoll verätzt er ihr das Gesicht. Zuerst die linke Wange, die Frau zuckt, ob sie auch stöhnt, kann ich von hier aus nicht hören. Ich will wegschauen, aber ich sehe gebannt hin. Dann die Nase. Ich bin nahe genug, um zu erkennen, dass die Haut der Frau bleich, fast weiß wird. Jetzt liegt sie ruhig, zu ruhig. Ich muss raus hier! Ich habe Professor Grünwald nicht kommen gehört. Ich sehe ihn voll Panik an. Ich sollte ruhig bleiben. Dann hätte ich eine bessere Chance …

„Trichloressigsäure“, murmelt er mir zu und beobachtet ungerührt, was sich hinter der Scheibe abspielt. „Wir können es natürlich auch mit Phenollösung machen, das geht dann tiefer.“

„Sie ist ganz bleich“, antworte ich und versuche meinen Atem unter Kontrolle zu halten.

„Das ist gut so“, erwidert der Professor und sieht mich forschend an. „Wie wäre es mit Ihnen?“

Ich schüttle den Kopf, will lächeln, es misslingt. Wie komme ich hier ohne Gesichtsverlust raus? – Ohne Gesichtsverlust: Wie passend, Mira.

„So ein mitteltiefes Peeling tut reifer Haut ausgesprochen gut“, fährt der Professor fort.

„Sie ist ganz weiß geworden und bewegt sich nicht mehr.“

„Das nennt man ‚Frosting‘. Die behandelten Hautpartien verfärben sich. Wir haben sie in einen leichten Dämmerschlaf versetzt. – Ist Ihnen nicht gut?“

Zwei forschende allzu blaue Augen nähern sich meinem Gesicht.

Ich schüttle den Kopf, der Raum dreht sich mit mir. „Ich brauche nur etwas frische Luft.“ Es hört sich für mich an, als redete ich aus einer Röhre. Ich gehe zur Tür, öffne sie. Niemand hält mich auf. Ich stehe in einem blitzend hellen Gang mit Marmorboden und weißen Wänden. Dort hinten muss die Toilette sein. Eine weiße Tür ohne Aufschrift. Abgesperrt. Vielleicht bin ich in die falsche Richtung … Ich eile zurück, vorbei am Behandlungszimmer, keiner zu sehen. Zum Glück. Da. Jetzt aber wirklich. Toilette. Ich stürme hinein, drehe das kalte Wasser auf, lasse es über meine Hände rinnen, dann über mein Gesicht. Ich sehe in den Spiegel. Nasse Spuren auf den Wangen, erschrockene Augen, heute eher grau als blau. Zwischen Mundwinkel und Nase auf beiden Seiten eine Falte. Die Augenlider leicht angeschwollen, etwas hängend. Zwei feinere Falten auf der Stirn. Die Haare immer noch dicht und kurz und fransig geschnitten, ein wenig struppig. Am Hals Wassertropfen. Und einige Falten. Ein Fall für Professor Grünwald, den Meister seines Fachs, den Helden von Talkshows und Society-Events, den Besitzer eines Maserati. Wie hat er das Gesichtverätzen genannt? „Mitteltiefes Peeling“. Dann lieber Falten. Ich trinke gierig aus der hohlen Hand. Beruhige mich etwas. Ich habe eben zu viel Fantasie. Und ich bin ein Riesenfeigling, wenn es um Ärzte geht. Zahnarzt: Da packt mich regelmäßig schon im Wartezimmer die Panik. Impfungen: Spritzen lasse ich mir nur geben, wenn es unvermeidlich ist. Dass jemand meine vielleicht nicht mehr ganz taufrische, aber immerhin gesunde Haut verätzt, damit sie angeblich jünger und glatter nachwächst, passt einfach nicht zu meinem Lebenskonzept. Oder zu meiner Feigheit. Gar nicht zu reden von anderen „Wohltaten“ wie Fettabsaugung oder Lifting. Aber ich bin ja auch nicht hier, um mich verjüngen zu lassen. Ich bin hier, weil ich an einer Reportage über „Ästhetische Chirurgie“ arbeite. Und Professor Grünwald ist eben DER Star unter den vielen, die uns neue Schönheit und neues Glück und neue Jugend versprechen.

Es klopft. Ich zucke zusammen. Wer klopft schon an die Tür einer öffentlich zugänglichen Toilette? Eilig wische ich mir mit einem Papierhandtuch die Wasserspuren aus dem Gesicht. Ein wenig Puder aufzulegen könnte nicht schaden. Tut nicht einmal weh.

„Frau Valensky?“ Eine weibliche Stimme. Die Tür geht auf. Ein engelgleiches Wesen sieht mich an. Blonde Locken, zierlich, keine fünfundzwanzig, schlichtes weißes Kleid. Sehe ich da etwa schon ein Resultat von Professor Grünwalds Künsten? Wer weiß. Wo sich heutzutage angeblich bereits Sechzehnjährige eine neue Nase zum Geburtstag wünschen. „Geht es Ihnen gut?“, fragt der Engel besorgt.

„Ja, danke. Und Ihnen?“

„Ähhh.“ Der blonde Engel scheint nachzudenken. „Danke“, lächelt das Wesen dann. „Der Herr Professor hat sich Sorgen gemacht. Soll ich Sie auf Ihr Zimmer bringen?“

Jedes Gästezimmer in einer der umliegenden Pensionen wäre mir lieber als der elegante Raum, in dem ich hier wohne. Doch ich nicke. Ich bin Journalistin. Chefreporterin. Von ein wenig Gesichtspflege mit Säure lasse ich mich nicht unterkriegen. Zumal ja nicht ich auf dem Behandlungstisch gelegen bin. Orientierung ist ohnehin nicht meine Sache. Die „Beauty Oasis“ ist ganz schön weitläufig, halb in einen Hügel hineingebaut. Wir betreten den Lift. Spiegel gibt es hier drinnen keinen. Wahrscheinlich fahren auch diejenigen mit dem Aufzug, die gerade ein Säureattentat hinter sich haben. Oder einen Verband um die Nase tragen. Die Kabine ist mit Klimt-Reproduktionen ausgekleidet. „Der Kuss“, „Adele“. Das dritte Bild kenne ich nicht, es zeigt eine junge Frau in weißem, kniekurzem Kleid und es gefällt mir am besten.

„Ich muss zur Rezeption“, sage ich zu meinem Begleitengel und ernte einen misstrauischen Blick. „Mein Schlüssel!“ Sie nickt und wirkt erleichtert. Wäre wohl nicht so fein, wenn die Journalistin vom „Magazin“ abreisen würde, nur weil sie von der gefrosteten Frau nicht eben begeistert war. Wir fahren ein Stockwerk nach oben, ich bedanke mich und gehe vor zur Rezeption. Nichts deutet darauf hin, dass hier Menschen operiert werden. Ich bin in der Lobby eines Luxushotels. Weißer Marmorboden auch hier, ein großer weinroter Teppich, der teuer aussieht. Eine junge Frau und ein junger Mann blicken mich lächelnd über das Empfangsdesk hinweg an. Ich komme mir vor wie in einer Fernsehshow. „So, nun musst du dich entscheiden: Nimmst du die junge Frau mit dem bittenden Blick und den verheißungsvollen rosa Lippen oder entscheidest du dich für den jungen Mann mit den Grübchen in den Wangen, der dir jeden Wunsch von den Augen ablesen will?“

„Zimmer 301“, sage ich zwischen den zwei Augenpaaren hindurch. Die junge Frau ist schneller. Sie reicht mir den Schlüssel. „Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“, fragt sie. „Haben Sie unser heutiges Wellnessprogramm schon gesehen oder sind Sie … in Vorbereitung?“

Ich schüttle den Kopf. Nein, keine Vorbereitung. Sehe ich etwa aus, als ob ich eine Schönheitsoperation nötig hätte? Sie deutet meine Reaktion anders und reicht mir eine dünne Mappe. „In einer Viertelstunde haben wir im Hallenbad Gruppenenergetik. Und auf der Wiese gibt es um 18 Uhr Atemyoga bis Sonnenuntergang.“ Atmen kann ich schon. Und das seit achtundvierzig Jahren.

Das Einzige, was in meinem Zimmer an eine Klinik erinnert, sind die Notfall-Klingelknöpfe und das Bett, das etwas höher ist als übliche Hotelbetten. Ansonsten: helles Holz, fröhlich bunter Teppich, zartgrüne Vorhänge. Und ein Balkon, von dem man über die Hügel des Steirischen Vulkanlandes sieht. Ich schnappe mir das Mobiltelefon, setze mich in den ausladenden Rattansessel, beobachte eine Elster, die wiederum mich zu beobachten scheint, und rufe Vesna an. Meine Freundin hat einen etwas pragmatischeren Zugang zu Schönheitsoperationen als ich. „Wenn es hilft“, hat sie gesagt, als ich ihr vom Thema meiner Reportage erzählt habe. Die Frage ist nur, ob so etwas hilft. Und wem. Geld lässt sich damit sicher eine Menge verdienen.

„Du hast es gut“, sagt Vesna jetzt anstelle einer Begrüßung. „Sitzt in Luxusoase und alle passen auf, dass sie nett sind zu dir. Wollen ja, dass du freundliche Geschichte über Schönheitsparadies schreibst.“

„Ich hab ein Säureattentat miterlebt“, widerspreche ich.

„Während ich hier sitze in Büro und habe Sack voller verrückte Flöhe. Slobo will nicht weiter auf Frau von Firmenboss aufpassen. Er sagt, sie ist hysterisch, es gibt niemand, der sie entführen will. Und Draga kann nicht putzen, weil sie glaubt, sie hat Stauballergie. Hat sie Arbeitallergie. Und Kata will, dass ich ihr fixen Job gebe. Aber nicht in Putzabteilung, sondern in anderer Abteilung mit Nachforschungen. Kann aber nichts außer neugierig sein, und das ist für Detektivjob lange nicht genug. Jana hat zu viel auf Uni zu tun. Und die anderen sind eingeteilt. Und ich soll mit Valentin zu Benefizabend.“

Sie hat offenbar nicht einmal wahrgenommen, was ich ihr erzählt habe. „Irgendwann kriegst du einen Herzinfarkt“, warne ich sie.

„Dann ich bin wenigstens nicht in Schönheitsklinik, sondern in richtigem Krankenhaus. Außerdem mein Herz ist gut. Du solltest auch joggen gehen, Mira. – Was ist mit Säure? Hat wer sich an Professor gerächt, weil die Nase nachher mehr schief war als vorher?“

Ich erzähle ihr kurz von der „Behandlung“, die ich beobachten durfte.

„Wir putzen auch mit Säure manchmal. Vielleicht sollte ich neben ‚Sauber! Reinigungsarbeiten aller Art‘ und Nachforschung noch dritte Branche überlegen?“

„Hätte gerade noch gefehlt.“

„Da läutet anderes Telefon. Vielleicht ist neue Mitarbeiterin und sie kann heute zu Notar fahren. Ist allerdings bester und ältester Kunde. Wahrscheinlich ich sollte selbst. Bis bald.“ Und schon hat sie aufgelegt. Ist so ihre Art.

Ich schaue über die Landschaft. Die Sonne steht schon ganz flach über den Hügeln, die Schatten werden lang. Welliges Grün, goldgesprenkelt. Kaum vorstellbar, dass hier vor drei Millionen Jahren vierzig Vulkane gleichzeitig aktiv waren. Damals gab es noch keinen Flugverkehr. Und die Flugsaurier, die waren schon ausgestorben. Als dieser isländische Vulkan ausgebrochen ist, war ganz Europa irritiert. Aschewolke, und das mehrere Tage lang. Fand ich irgendwie ganz witzig, dass alle in die Luft geschaut haben, um dort eben keine Flugzeuge zu sehen.

Von einer der weitläufigen begrünten Terrassen dringt leise Musik herüber. Irgendwas indisch Angehauchtes. Wohl Teil des Atemyogatrainings. Die „Beauty Oasis“ war ursprünglich ein Wellnesshotel, sehr schick, und wenn man dem Internet glauben darf, auch ziemlich gut gebucht. Und trotzdem haben die Besitzer schließlich an Grünwald verkauft. Ist das Hotel doch nicht so gut gegangen? Hat Grünwald so viel bezahlt? Wie reich ist er eigentlich? In den Hochglanzprospekten ist nur davon die Rede, dass dieser Platz ideal für sein Konzept des „Wohlbefindens für Geist, Körper und Seele“ sei. Operationen kommen in diesen Broschüren nur ganz am Rande vor, dafür aber mit genauer Preisliste. Selbst einige Nonnen vom nahe gelegenen Kloster hat Grünwald angeheuert. Zwei dieser „Hildegard-Schwestern“ habe ich schon gesehen: dunkelblaues langes Kleid, schwarze Kopfbedeckung mit weißem Rand. Sind sie für die Abteilung „Seele“ zuständig? Warum wohl machen sie bei so etwas mit? Ich werde mit der Oberin reden. Denken die Klosterfrauen wirklich, dass es hier ums „Wohlbefinden der Seele“ geht? Ist es mit dem katholischen Glauben vereinbar, dass an gesunden Körpern herumoperiert wird? Ich sollte Oskar anrufen. Ich sehe auf die Uhr. Die letzten Sonnenstrahlen verschwinden hinter einem der Hügel. Zehn vor sieben. Um halb acht geht das wöchentliche „Professor’s Dinner“ los. Hat er sich wohl bei einer Kreuzfahrt abgeschaut. Angeblich kommen fast alle Gäste, die momentan in der „Beauty Oasis“ sind. Dann treffe ich endlich Frauen, die sich tatsächlich haben operieren lassen. Ob sie mit mir reden wollen? Meine Fotografin darf jedenfalls nicht dabei sein, hat mir das Büro des Professors mitgeteilt. Irgendwie verständlich. Frau zieht sich nicht ein paar Wochen zur Runderneuerung zurück, um dann im Larvenstadium im „Magazin“ abgedruckt zu sein. Eigenartig, dass mir bisher keine von ihnen begegnet ist. Aber ich bin ja auch erst einige Stunden hier. Die meisten bleiben tagsüber wohl lieber auf dem Zimmer. Langweilig wird mir heute Abend jedenfalls nicht. Ich kann das Vorher-oder-nachher-Spiel spielen. Wer ist schon unter dem Messer gewesen, wer kommt erst dran? Wer hat sich was machen lassen? – Hm. Und was soll ich schreiben? Da bin ich mir noch gar nicht sicher. Wer bin ich eigentlich, um den Wunsch anderer nach einem besseren Aussehen zu bespötteln? Oder dem, was sie eben dafür halten? Warum sollte der Professor damit kein Geld verdienen dürfen? Nur weil ich selber viel zu feige wäre und mich sogar vor einer Spritze fürchte? Andererseits: Was ist das für eine Welt, in der man sich freiwillig unters Messer legt, nur um irgendeinem Schönheitsideal zu entsprechen? – Keinen Zeigefinger erheben, Mira. Das steht dir nicht. Und dem „Magazin“ auch nicht. Es läutet. Oskar. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil er meinem Anruf zuvorgekommen ist. Ja, es gehe mir gut. Der Professor sehe aus, wie wenn er sich selbst ein wenig zu oft operiert hätte. Keine Falte, auffallend gerade Nase, braun gebrannt, zu blaue Augen, unmöglich, sein Alter zu schätzen. Oskar sagt, er sei noch in der Kanzlei und werde dann mit einem Kollegen essen gehen.

„Mit einem Kollegen?“, frage ich nach.

Ich sehe Oskar grinsen. „Ja, einem Kollegen. Männliches Geschlecht. Sonst wäre es eine Kollegin. Habe ich längst von dir gelernt, auf diese sprachlichen Feinheiten zu achten.“

Ich seufze, ich gäbe viel darum, jetzt mit meinem Oskar essen zu gehen. Oder ihn hier zu haben. Zu zweit macht Lästern viel mehr Spaß.

„Lass dir ja nichts wegschnipseln“, sagt er. „Ich mag dich, so wie du bist!“

Wenig später betrachte ich mich nackt im Spiegel. Die Oberschenkel sind zu dick. Der Bauch ist nicht mehr ganz straff. Der Busen ist okay. Der Speck an den Hüften sollte dringend weg, ich bin aus dem Babyalter schon siebenundvierzig Jahre heraus. Was heißt: „Ich mag dich, so wie du bist“? Dass es zwar andere gibt, die viel attraktiver sind, aber er, Oskar, einfach großzügig darüber hinwegsieht? Es heißt, er nimmt wahr, dass ich nicht mehr so top in Schuss bin. Es heißt … Stopp. Er mag mich. Das heißt es. Und ich sollte nicht herumfantasieren, sondern mich dringend anziehen und in den Festsaal eilen.

Meine Überlegung, ob es in so einer Beauty-Oase auch Alkohol gebe, hat sich gleich beim Eingang erledigt. Servierpersonal bietet Champagner, Aperol Sprizz, Fruchtsaft aus der Gegend und Wasser an. Ich entscheide mich für Champagner, halte mich am Glas fest, gehe weiter und sehe mich um. Die Frauen sind hier zwar in der Überzahl, aber es sind auch etliche Männer da. Begleiter? Penisverlängerungen mache er keine, hat mir Professor Grünwald bei unserem Begrüßungsgespräch heute Mittag erzählt und dabei dreingesehen, als rede er vom Normalsten der Welt. Ich habe versucht, ein pubertäres Kichern zu unterdrücken. Ich weiß nicht, warum ich bei so etwas zum Kichern neige. Verlegenheit? Glaub ich eigentlich nicht. Und: Genau betrachtet ist die Vorstellung, dass ein Mann glaubt einen größeren Pimmel zu brauchen, ja auch zum Lachen.

Im Festsaal stehen runde Tische, jeder für sechs Personen. Ein hübscher junger Mann in schwarzem Anzug – er kann nicht älter als achtzehn sein – fordert mich auf, meine Platznummer zu ziehen. Der Professor handhabe das so, damit man neue Leute kennenlerne. Tisch sieben, Platz vier. Ich hasse so etwas für gewöhnlich, aber hier kenne ich ohnehin niemanden, also ist es egal. Oder … Ich sehe eine Frau um die sechzig vorbeigehen, offenbar sucht auch sie den ihr zugewiesenen Stuhl. Die kenne ich doch. Das ist eine Schauspielerin … Wie heißt sie bloß gleich … Dass ich so ein mieses Personengedächtnis haben muss … Und dort. Den kenne ich auch. Das ist Opernverbunddirektor Hochner. Er ist ganz schön voluminös. Fettabsaugung bei Männern … soll ja immer häufiger werden. Sein Kinn ist gerötet. Ich habe ihn erst vor Kurzem interviewt. Da hat sein Hals noch anders ausgesehen, ist beinahe nahtlos in das Gesicht übergegangen. Kann es wirklich sein, dass er sich das Doppelkinn hat verkleinern lassen? Wird ihm kaum gefallen, mich hier zu sehen. Ich werde angerempelt, drehe mich um und sehe einer Frau mit seltsam starren Zügen ins Gesicht. Vielleicht sind irgendwelche Nerven bei irgendeiner Straffung beleidigt worden. Sie entschuldigt sich und ich schaue, wo mein Opernheld geblieben ist. Ich kann ihn nicht mehr entdecken. Vielleicht hat er mich ja auch gesehen und ist abgetaucht.

Meine Tischnachbarn sind eine junge Frau mit einem gewaltigen Pflaster auf der Nase, ein Mann, der mir sofort versichert, der Steuerberater von Grünwald zu sein und ganz gerne bei diesen Dinners „vorbeizuschauen“, zwei reifere Damen, die aussehen wie zwei reifere Damen (werden sie erst operiert oder sind es Achtzigjährige, denen Professor Grünwald den Körper von Fünfundsechzigjährigen verpasst hat? Und: Was haben sie dadurch gewonnen?), und ein Mann um die fünfzig, dessen Gesicht wirkt wie nach einem verlorenen Boxkampf. Wir stellen uns vor und die junge Frau flüstert mir zu, dass sie zum 20. Geburtstag eine „urschöne“ Nase bekommen habe und „total happy“ sei.

Professor Grünwald hat seinen Platz eindeutig nicht per Los gezogen, er sitzt am Tisch auf der Stirnseite des Saales, mit bestem Blick über seine Schäfchen – oder sollte ich „goldene Kühe“ sagen? Sei nicht so missgünstig, Mira. Er steht auf, schlägt einen Gong und spricht mit raumfüllender Stimme. Eindeutig mikrofonverstärkt. Nur dass man das Mikro nicht sieht. Er erzählt, dass er ebendiesen besonderen Gong als Dank für eine seiner ersten Operationen in Bangkok bekommen habe, er erzählt von seiner Freundschaft mit den internationalen Größen der „Ästhetischen Chirurgie“ in Asien und in Lateinamerika, von seinen Studienaufenthalten dort in jungen Jahren, dass seine patentierten Nasen und Wangen gerade in diesen Teilen der Welt unendlich beliebt seien und von seinem Konzept der allumfassenden Schönheit. Er lächelt die rund hundert versammelten Dinnergäste liebevoll an. „Mit meiner ‚Oasis‘ im Steirischen Vulkanland setze ich um, was uns das Land gibt. Aus gewaltigem Feuer, aus Asche und Lava sind liebliche Hügel entstanden. Für Metamorphosen ist es nie zu spät und in keinem Fall zu früh. Geist, Seele und Körper sind eins und werden hier …“ – er macht eine Kunstpause – „… schön.“

Heftiger Applaus, Grünwald setzt sich. Neben ihm die Schauspielerin, deren Name mir immer noch nicht einfällt, auf der anderen Seite der Opernverbunddirektor. Zufall? Oder entscheidet bei den prominenteren Gästen doch nicht das Los darüber, wo sie sitzen?

Das Essen erweist sich leider als mittelprächtig. Das Lachsfilet ist viel zu lange gebraten und schmeckt tranig, Broccoli sind zwar angeblich gesund, aber ob das auch für zu Tode gedämpfte Exemplare gilt, weiß ich nicht. Dafür schmeckt der Wein ausgezeichnet. Er komme aus der Gegend, hat mir der „Oasis“-Steuerberater erzählt. Über Grünwalds Schönheitsimperium will er hingegen nicht sprechen. „Der Professor gehört zu den ganz wenigen wirklich seriösen Schönheitschirurgen“, lässt er mich wissen. Ich langweile mich ein wenig und nehme noch ein Glas Wein. Die junge Frau mit der „urschönen“ eingebundenen Nase hat sich an einen anderen Tisch verzogen und redet auf eine in etwa Gleichaltrige ohne Gesichtsverband ein. Der Mann mit dem Boxergesicht schweigt in seinen Teller. Die beiden reiferen Damen flüstern miteinander. Geht es um die Vorzüge der Oberarmstraffung? Um die Entscheidung zwischen Lifting und chemischem Peeling? Oder tauschen sie bloß ihre Lieblingsrezepte für Marillenmarmelade aus? Und was macht mich hier so durstig? Ich greife nach der Wasserflasche, wohl besser, ich trinke keinen Alkohol mehr, wenn ich mein Zimmer in diesem weitläufigen Schönheitsareal wiederfinden und aufrecht betreten möchte. Aber die Wasserflasche ist leer. Schicksal. Ein kleines Glas Wein geht schon noch.

Das Servicepersonal serviert die Nachspeise ab. Ich habe vom „Himbeerschaum auf Brombeerspiegel“ nur gekostet. Zu süß. Aber ich steh ohnehin nicht auf Desserts. Kleine Teller auf großen Tabletts werden gebracht. Etwas Käse? Das wäre fein. Aber es sind drei Schokobonbons, die vor jedem von uns landen. „Die sind ebenfalls aus der Gegend“, klärt mich der Steuerberater auf. Auch er scheint sich zu langweilen, andererseits aber nicht zu wissen, was er mit mir reden könnte, ohne zu riskieren, Interna der „Beauty Oasis“ auszuplaudern, die keine Journalistin etwas angehen. Ich nicke. Beinahe jeder kennt die Schokomanufaktur im Vulkanland. Gegen ihre ganz dunklen Schokoladen bin nicht einmal ich immun. Ich stecke mir das erste der viereckigen Bonbons in den Mund und zerdrücke es langsam am Gaumen. Mhm, irgendetwas mit Nuss. Das nächste hat mit duftendem Espresso zu tun, das dritte ist zu meiner Freude eindeutig eine Kombination von Ingwer und Schokolade. Die Schokowerkstätte samt angeschlossenem Laden ist inzwischen eine der Hauptattraktionen der Umgebung geworden. Keine Schulklasse, keine Seniorenrunde, die nicht schon einmal dort gewesen wäre. Vielleicht kann ich das irgendwie in meine Story einbauen? Schokolade statt Schönheitsoperation? Schokolade macht glücklich, sagt man. Wahr ist, dass die drei Bonbons meine Stimmung deutlich aufgehellt haben. Und sie machen mich ein wenig übermütig. – Oder ist das der Wein?

„Wie oft ist Professor Grünwald selbst schon operiert worden?“, frage ich laut in die Runde. „Jeder gibt einen Tipp ab, dann geh ich rüber und frag ihn. Und wer am nächsten dran ist, der hat gewonnen.“ Der Steuerberater sieht mich fassungslos an. Der Mann mit dem Boxergesicht taut auf und grinst. Die beiden älteren Ladys scheinen zu überlegen.

„Natürlich ist er nicht operiert“, sagt Grünwalds Berater in Steuerangelegenheiten.

„Ich weiß nicht“, flötet die eine der Damen, „aber ich glaube nicht, dass es sich gehört, ihn das zu fragen.“

„Sicher öfter als ich“, sagt der bisher so ruhige Boxergesichtige. „Das war meine erste und letzte Operation.“

Na sieh an, jetzt endlich kommt ein interessantes Gespräch in Gang.

„Ich bin bloß zur Entspannung da. Das Wellnessprogramm ist einmalig. Und ich liebe diese Hildegard-Nonnen“, gibt Dame zwei bekannt.

Wer es glaubt. – „Was haben Sie sich machen lassen?“, frage ich ins Boxergesicht.

„Tränensäcke entfernen und Oberlider liften. In meiner Branche sollte man nicht zu alt aussehen. Aber es hat mir keiner gesagt, wie sauweh das tut. Und dass einem danach das ganze Gesicht anschwillt.“

„Also bei den Oberlidern hab ich gar keine Probleme gehabt“, schüttelt Dame zwei den Kopf.

Gerade noch hat sie behauptet, sie sei nur zum Wellnessen da!

„Also doch ein kleiner Eingriff!“, bemerkt Dame eins mit gespitztem Mund.

„Das war schon vor einem Jahr“, kontert Dame zwei.

„In welcher Branche sind Sie denn tätig?“ Wie ein Schauspieler sieht der Mann nicht aus, Fernsehentertainer scheint er auch keiner zu sein, jedenfalls nicht in einem Sender, den ich sehe.

„Vertreter. Ich führe Mehrzweckküchenhobel und Ähnliches vor. Die Konkurrenz schläft nicht. Wenn ich mich nicht anstrenge, dann kriegen jüngere Kollegen die großen Messen und ich tingle auf Wochenmärkten in Kuhdörfern herum. Oder ende, wie ein Kollege von mir, in der Versandabteilung. Wenn sie mich nicht überhaupt rausschmeißen. Die fragen heutzutage nicht mehr nach Erfahrung.“

„Ich hatte einen Hobel, mit dem ich mich andauernd geschnitten habe“, wirft Dame zwei ein.

„Sie hätten den Schutz benutzen sollen, alle guten Hobel haben einen Handschutz. Ich sage das den Damen immer und immer wieder: Niemals ohne Schutz arbeiten! Unsere Hobel sind wahre Hochleistungs…“

Ich habe gar nicht bemerkt, dass Professor Grünwald unseren Tisch angesteuert hat. Jetzt steht er da und Dame eins meint aufmunternd in meine Richtung: „Jetzt fragen Sie ihn doch!“

„Wir haben ja noch gar nicht getippt“, murrt Dame zwei.

Professor Grünwald schenkt uns ein strahlendes Lächeln. Wie alt ist er wohl? Ich habe in keiner seiner Biografien das Geburtsdatum gefunden. „Was wollten Sie mich fragen?“, sagt er und sieht mich an wie der freundliche Onkel von nebenan.

„Na wie viele Operationen Sie schon gehabt haben“, antwortet Dame eins. Sie hat offenbar auch ein wenig zu tief ins Glas geschaut. Meine Güte, wie peinlich.

Grünwald wirft mir einen kurzen scharfen Blick zu und antwortet dann in die Runde: „Wahre Schönheit, das sage ich immer, kommt von innen. Und daran will ich mein Leben lang arbeiten.“

„Aber Ihre Nase …“, insistiert Dame eins. „Sie müssen sich ja vor uns nicht genieren …“

Grünwald wirft seinem Steuerberater einen Blick zu, den ich interpretiere als: „Wozu zahle ich dir viel Geld, wenn dir in dieser Situation nichts einfällt?“ Dann lächelt er. „Ich hoffe, das Dinner hat Ihnen geschmeckt. Und da ich an Eingriffen zur Unterstreichung der Schönheit des inneren Ichs nichts Schlechtes finde: Die Nase hat einer der von mir ausgebildeten Kollegen modelliert, es war quasi sein Meisterstück. Er hat inzwischen eine ausgesprochen gut gehende Praxis bei St. Moritz. Meine Oberlider haben, wie bei den meisten Menschen ab einem gewissen Alter, die ein arbeitsintensives Leben führen, zu hängen begonnen und mein Gesichtsfeld verkleinert. Bei einer solchen gesundheitlichen Indikation zahlt sogar die Krankenkasse.“

„Und das Faltenunterspritzen? Was nehmen Sie für sich selbst, Herr Professor? Eigenfett? Polymilchsäure?“, will Dame eins wissen.

„Ich teste gerade eine neue Hyaluronsäurekombination. Natürlich können wir solche Tests nicht an unseren Gästen machen.“

„Sieht gut aus“, meint Dame zwei und sieht ihm neugierig ins Gesicht.

„Na ja“, ergänzt Dame eins. „An den Tränensäcken könnte man noch etwas tun.“

„Apropos Augenlider: Dazu würde ich auch Ihnen raten. Unser Kalender ist voll, aber irgendwie könnte ich Sie morgen einschieben“, sagt Professor Grünwald in meine Richtung.

Ich schüttle den Kopf und lächle. „Ich stehe zu meinem eingeschränkten Gesichtsfeld.“

„Ein eingeschränktes Blickfeld kann sehr gefährlich sein“, kontert Grünwald, es klingt wie eine Drohung. Er dreht sich um und geht davon, zum nächsten Tisch.

„Wir hätten wohl doch nicht fragen sollen“, sagt Dame zwei.

„Ich dachte, zum Faltenaufspritzen nimmt man Botox“, erwidere ich.

Die beiden und auch der Vertreter schütteln den Kopf. „Botox nimmt man, um Mimikfalten ruhigzustellen“, erklärt Dame eins.

Ich finde, ich habe genug gelernt für heute. Außerdem möchte ich, wenn irgendwie möglich, Professor Grünwald in den nächsten Stunden aus dem Weg gehen. Morgen sieht alles wieder anders aus. Da kommt meine Fotografin. Fotografiert zu werden gefällt ihm, da bin ich mir sicher. Ich werde mit einer der Nonnen reden und wenn möglich mit dem Vertreter und einer der beiden reiferen Damen und vielleicht noch mit der jungen Frau mit der „urschönen“ Nase. Eigentlich sollte ich gleich heute mit ihnen einen Termin vereinbaren, wo ich sie alle hier versammelt habe. Aber ich will nicht mehr. Mir ist ein wenig schwindlig. Hat mir Grünwald tatsächlich gedroht oder hat sich das in dieser seltsamen Umgebung für mich bloß so angehört?

Ich habe mich freundlich verabschiedet, abgesehen vom Steuerberater scheinen alle am Tisch ganz froh über meine Einlage gewesen zu sein, hat etwas Leben in den Jungbrunnen gebracht. Ich stehe in der Lobby vor dem Festsaal und überlege: Die Rezeption liegt einen Stock höher oder sind es zwei? Um zum Lift zu kommen, muss ich durch die Halle, dann an ein paar Behandlungsräumen vorbei. Direkt unter uns ist das Hallenbad. – War da nicht auch ein Lift? Der müsste dann gleich hier irgendwo sein, vielleicht im Gang links. Der Steuerberater kommt aus dem Saal und sieht mich sinnend da stehen. Ich werfe ihm ein Lächeln zu, gebe mir einen Ruck, gehe zielstrebig los und tue so, als wüsste ich, wohin. Ich fühle mich weich in den Knien, machen das die dicken Teppiche? – Gewonnen! Da ist wirklich ein Lift! Dein Orientierungssinn ist gar nicht so übel, Mira!

Auch in diesem Lift ist kein Spiegel, hier gibt es auch keine Klimt-Bilder, er ist einfach mit edlem Holz verkleidet. Zwei Stockwerke zur Rezeption. Alles geht hier irgendwie bergauf oder bergab, hat wohl damit zu tun, dass das Hotel als Terrassenanlage in den Hang hineingebaut ist. War vermutlich auch ein Vulkan, dieser Hügel, vor Urzeiten. Wie eruptiv ist Grünwald? Ich schwebe nach unten und steige aus. Irgendwas ist da falsch. Kein Marmor. Keine Teppiche. Liebe Güte, ich hätte nach oben und nicht nach unten fahren müssen. Bin ich bei den Personalzimmern? Wäre spannend, mit einigen Mitarbeitern von Grünwald zu sprechen. Nicht jetzt. Es ist nach Mitternacht. Nimm den Lift und fahr nach oben. Das Licht ist schummriger als im Gästetrakt. Ich tapse langsam den Gang entlang, Zimmertüren in Eiche, keine Beschriftung. Dann eine schwere Brandschutztür. Ob sie sich öffnen lässt? Was ist dahinter? Ich drücke dagegen. Ich sollte umdrehen. Oh nein, heut Nacht will Mira wissen, was in den Eingeweiden der Klinik von Professor Grünwald los ist. Ich drücke noch einmal an, fester, mit einem Ächzen geht die Tür auf. Weitere Eichentüren, dasselbe schummrige Licht. Ich tappe vorwärts. Eine Doppeltür mit Milchglas und der Aufschrift: „Wellnessbereich“. Seltsam, den Wellnessbereich habe ich doch schon gesehen. Er ist einen Stock höher und beim Swimmingpool. Oder waren es zwei Stockwerke? Du solltest nicht so viel Wein trinken, Mira. Ob Grünwald hier einen eigenen Verwöhnbereich für seine Angestellten hat? Nobel, nobel. – Da war ein Schatten. Und ein Lichtschimmer. Grünwald. Was, wenn er mir hier auflauert? Nur weil ich wissen wollte, wie oft er selbst operiert wurde? Er hat mir gedroht. Unsinn. Wenn er jede kritische Journalistin überfallen würde … Ich denke an die Frau mit der verätzten Haut und atme schneller. Idiotisch. Da ist jemand nach der Spätschicht noch in der Sauna. Bei der Außentemperatur? Wir haben heute dreißig Grad gehabt. Macht keinen guten Eindruck, wenn man mich hier findet. Wirkt, als ob ich herumspionieren würde. Dabei ist es bloß mein schlechter Orientierungssinn … Die Tür wird so abrupt aufgestoßen, dass mir der eine Flügel gegen die Schulter knallt. Eine alte Frau in einem blauen, langen Kleid sieht mich entgeistert an.

„Ich hab sie gefunden“, keucht sie. „Ich weiß nicht, was …“

Erst jetzt begreife ich, dass es sich bei der Frau um eine der Nonnen handelt. Ihre Kopfbedeckung ist in den Nacken gerutscht.

„Ich muss die Polizei verständigen.“

Die Luft um mich wird seltsam heiß. Ich sehe durch die offene Tür. Fliesen, Spiegel, Umkleidekabinen. Vielleicht hatte die Nonne eine Vision.

„Gehen Sie nicht hinein“, sagt die Frau. „Die Sauna war aufgedreht. Ich weiß nicht, wie lange. Da ist sonst keiner. Sie liegt drinnen.“

„Sie?“

„Schwester Cordula.“

Schritt für Schritt gehe ich durch den Eingangsbereich, betrete einen ovalen Raum mit blauen Fliesen, einem Tauchbecken ohne Wasser, einer kleinen Bar, die wirkt, als wäre sie schon sehr lange nicht mehr in Betrieb. Die heiße Luft kommt von der halb geöffneten Saunatür her. Ein Holzbrett am Boden. Ich steige darüber und sehe in die Saunakabine. Im Dämmerlicht eine nackte Frau. Sie liegt auf dem Boden, das Gesicht Richtung Tür. Ihre Haut hat einen ungesunden rosaweißen Ton. Oder ist das bloß, weil Nonnen dauernd lange Gewänder tragen und nicht in die Sonne gehen? Woher weiß ich das? Wer sagt, dass das wirklich eine Nonne ist? Sie sieht nicht danach aus. Zu jung. Ich merke, dass die deutlich ältere Nonne hinter mir steht.

„Wie alt war Schwester Cordula?“, frage ich, ohne den Blick von der nackten Frau zu wenden.

„Achtunddreißig.“

Irgendetwas tropft von meiner Stirn auf den Boden. Ich merke, dass ich klatschnass bin, versuche mir den Schweiß aus der Stirn zu wischen.

„Sie war die Jüngste“, flüstert ihre Mitschwester. „Was hat sie da gemacht? Der Trakt ist stillgelegt.“

„Und warum …“

Die alte Nonne schüttelt den Kopf. „Ich weiß es nicht, ich habe keine Ahnung.“

Der Schweiß tropft, es ist, als würde mir das Hirn ausrinnen. Ich stehe nur da, unfähig, etwas zu tun. Wach auf, Mira. Mit dem Schweiß geht auch der Alkohol aus dem Kopf. Denk nach. Sofort. Mit einer raschen Bewegung schalte ich die Saunaheizung aus. Dann drehe ich mich zur Nonne um: „Und warum haben Sie dann hier nach Schwester Cordula gesucht?“

Sie schüttelt den Kopf. „Nicht hier, ich habe überall nach ihr gesucht. Sie war seit drei Tagen verschwunden. Wir haben gedacht, sie ist weggegangen, sie war nicht mehr sehr zufrieden mit dem Leben hier. Aber sie hatte gar nichts mitgenommen. Wir sind zur Armut verpflichtet. Und doch gibt es Dinge, die man mitnimmt, wenn man geht. Und sie hätte sich auch verabschiedet. Hoffe ich.“

„Seit drei Tagen? Das heißt, sie ist vielleicht seit drei Tagen …“

Die alte Nonne nickt. Dann wird ihr Blick wachsam: „Und was machen Sie eigentlich hier?“

„Ich habe mich verirrt“, erwidere ich und bin ganz sicher, dass das stimmt.

Es ist die Nonne, die die Polizei verständigt. Zu meinem großen Erstaunen hat sie aus der Tasche ihres Kleides ein Mobiltelefon gezogen. „Schwester Gabriela von den Hildegard-Schwestern“, sagt sie und beschreibt dann sehr klar und knapp, wo wir sind und was wir sehen. Auf meine Frage, ob wir nicht auch ihren Chef verständigen sollten, meint sie bloß: „Der ist zu weit fort und weiß es ohnehin.“ Schwester Gabriela hat sich im Vorraum auf einen niedrigen Schemel gesetzt, es wirkt fast, als würde sie knien. Sie hat die Hände gefaltet und murmelt Gebete. Gar keine üble Art, sich nicht von mir ausfragen lassen zu müssen. Ich habe mich auf eine der beiden spinnwebenüberzogenen Saunaliegen gesetzt. Hier war wohl tatsächlich schon länger keiner. – Warum dann Cordula, die jüngste der Hildegard-Schwestern? Aber ich traue mich nicht, die betende Nonne anzusprechen.

Die Hitze lässt nur ganz langsam nach. Ich bin immer noch klatschnass. Ich höre den Lift und fahre aus einer Art Dämmerzustand auf. Ich hätte den Tatort inspizieren sollen. Vor Kurzem habe ich einen deutschen Profiler interviewt, der ein hoch spannendes Buch geschrieben hat. Der Tatort erzählt eine Menge. Ich sehe mich rasch um. Alles wirkt wie seit Monaten unberührt. Kein Glas auf der Theke. Kein Handtuch. Staub. Und doch hat jemand die Sauna eingeschaltet und die Nonne darin eingesperrt. Die Tür offenbar mit einem Brett zugenagelt. Rasche Schritte und dann sind sie da. Der Chefinspektor vom Bezirkskommando Feldbach heißt Knobloch und ich will ihn schon fragen, ob ein eigenartiger Nachname Berufsvoraussetzung für den gehobenen Polizeidienst sei und ob er Zuckerbrot, den Leiter der Wiener Mordkommission 1, kenne, aber dann kommt Professor Grünwald und starrt uns beide an.

„Was machen Sie hier?“, sagt er scharf zu mir.

„Sie ist mir begegnet, als ich in höchster Not war“, antwortet die Nonne und sieht ihn nicht eben demütig an.

„Die Fragen stelle ich“, sagt Chefinspektor Knobloch.

Ein Trupp der Spurensicherung kommt näher. „Verdammt, ist es hier heiß“, murmelt eine kräftige Frau im weißen Spurensicherungsanzug.

Ein Mann mit halblangen lockigen braun-grauen Haaren und einer Tasche betritt den ehemals so stillen Wellnessbereich. „Wo ist sie?“, fragt er.

Schwester Gabriela deutet auf die Sauna.

Mir dämmert etwas. Wenn die Frau tatsächlich drei Tage in der eingeschalteten Sauna gelegen ist … „Nicht anfassen!“, schreie ich.

Der Mann dreht sich zu mir um. „Ich darf. Ich bin der Gerichtsmediziner. Karl Simatschek.“

Ich schüttle den Kopf, weiß nicht, wie ich mich so schnell am besten ausdrücken soll, mir fällt nur das ein, was ich aus Billys Küche und diversen Kochbüchern weiß. „Sie ist niedertemperaturgegart!“

„Niedertemperaturgegart?“, sagt der Gerichtsmediziner einigermaßen verblüfft. „Sie meinen, bei geringer Hitze über eine lange Dauer gar gezogen?“

Er scheint etwas vom Kochen zu verstehen. Ich nicke erleichtert. „Und wenn man sie angreift …“

Er nickt. „… könnte das Fleisch von den Knochen fallen.“

Grünwald sieht aus, als könnte ihm keine Schönheitsoperation der Welt mehr helfen. Ältlicher Mann, leicht deformiert, schwitzend in einem gar nicht mehr korrekt sitzenden dunklen Abendanzug.

[ 2. ]

Der Wecker meines Mobiltelefons läutet, als ich gerade von schmelzenden Nonnen träume. Es sind solche wie in den alten Louis-de-Funès-Filmen, mit ausladenden Hauben, aber aus Schokolade, wie Osterhasen oder Weihnachtsmänner. Ich fahre auf, wundere mich über die strahlende Sonne. Es kann noch nicht Morgen sein. – Was war gestern? Die nackte Nonne in der Sauna … Es ist bereits acht. Ich muss dringend noch einmal mit Schwester Gabriela reden. Wir haben im Vorraum der Wellnesslandschaft darauf gewartet, unsere Aussage machen zu können. Bewacht von einem Kriminalbeamten, der gar nicht erbaut darüber zu sein schien, mitten in der Nacht dem Tod einer Nonne nachgehen zu müssen. Zur Aussage wurden wir dann in ein Zimmer hinter einer der dunklen Holztüren gebracht. Es dürfte ein kleiner Seminarraum gewesen sein, seit längerer Zeit allerdings unbenutzt. Wohl ein Überbleibsel vom Vorgängerhotel. Chefinspektor Knobloch hat nicht allzu viel von mir wissen wollen. Vielleicht war er einfach müde. Oder er wollte sich eine Überraschungsattacke aufheben. „Kann sein, dass wir noch einmal miteinander sprechen müssen“, hat er gemeint. Er macht einen ziemlich kompetenten Eindruck. Warum auch nicht? Ich habe doch noch nie geglaubt, dass die Klügeren in Wien sitzen. Der Gerichtsmediziner schien es geschafft zu haben, die Leiche im Ganzen abzutransportieren. Gesehen habe ich sie allerdings nicht mehr. War mir auch recht so. Als Simatschek an mir vorbei ist, hat er mir zugeflüstert: „Ein Hinteres Ausgelöstes vom Galloway, vierundzwanzig Stunden bei siebenundsechzig Grad gegart, ist mir lieber.“

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